Das Elend des Authentischen: „Träumen“ – noch so ein Lebensroman von Karl Ove Knausgård

Um Karl Ove Knausgård ist ein regelrechter Hype entstanden. Sein sechsteiliger Roman-Zyklus wurde in Norwegen, einem Land von gerade einmal 5 Millionen Einwohnern, über 500.000 Mal verkauft. In Amerika und England schwärmen Kritiker in höchsten Tönen, und die Schriftstellerin Zadie Smith meinte, sie sei „süchtig“ und „brauche den nächsten Knausgard-Band wie Crack“. Jetzt ist auf Deutsch „Träumen“, der fünfte Band der literarischen Autobiografie erschienen, die im norwegischen Original den für deutsche Ohren arg befremdlichen und provokanten Titel „Min Kamp“ („Mein Kampf“) trägt.

Gerade im digitalen Zeitalter, wo Selbstdarstellung und Voyeurismus suchtartige Züge tragen und viele Menschen zwar unzählige virtuelle Freunde haben, aber kaum noch realen Kontakte pflegen, scheint ein großes Bedürfnis nach authentischer, unverstellter Wirklichkeit zu bestehen.

Knausgard

Wenn Knausgård in seinen Romanen die Leser mitnimmt in die Untiefen seines Daseins und ihnen offenbar sämtliche Erlebnisse und Gedanken, Ängste und Selbstzweifel, Siege und Niederlagen mitteilt, dann haben sie das Gefühl, sie würden am Leben des Autors teilhaben – ein typisches Beispiel von Über-Identifikation und eine große Illusion. Denn Leben und Literatur, Erinnertes und Geschriebenes, Erlebnis und Sprache sind nie identisch.

Alles, woran sich Knausgård erinnert und was er bis ins letzte Detail beschreibt, wird intellektuell und emotional bearbeitet. Aus dem Bekenntniszwang entsteht Literatur, die nicht eine reale, sondern eine künstliche Wirklichkeit spiegelt.

Onanie und andere Kleinigkeiten

In den bisherigen Romanen („Sterben“, „Lieben“, „Spielen“, „Leben“) hatte Knausgård schon fast sein ganzes Leben vermessen: In „Träumen“ geht er noch einmal zurück in die Jahre zwischen 1988 und 2002 und beschreibt, wie er mit einem Stipendium an die Literaturakademie in Bergen kommt und dort den Unterricht bei keinem Geringeren als den norwegischen Literaturstar Jon Fosse erlebt und erleidet; wie er sich in der ständig verregneten Stadt eine kleine Wohnung nimmt, mit seinem Bruder Yngve auf Sauftoren geht, sich unglücklich verliebt und mehrmals am Tag mit einem Porno-Heft auf dem Klo verschwindet, um ausführlich zu onanieren.

Sein erster Romanversuch scheitert, er schmeißt das Studium hin, versucht sich in vielen Jobs, heiratet und hat irgendwann tatsächlich einen ersten kleinen literarischen Erfolg. Doch als ihm nach einer erotischen Eskapade der Vorwurf der Vergewaltigung gemacht wird, verlässt er seine Frau, geht ins Exil nach Schweden und beginnt dort mit dem gigantischen autobiografischen Roman-Projekt, mit dem er sich endgültig frei schreiben und einen Namen machen wird.

Wo alles gleichermaßen (un)wichtig ist

Knausgård bietet den Lesern wieder genau das, was sie erhoffen und erwarten. Wer nicht genug davon bekommen kann, ein ganzes Menschenleben aufzusaugen und noch in der kleinsten Banalität nach authentischem Leben zu fahnden, kommt auch hier wieder auf seine Kosten. Wer allerdings gegen den Wirklichkeitstaumel resistent ist und dem Suchtpotenzial des Alltäglichen widersteht, wird gelangweilt sein vom ewigen Einheits-Brei eines Literatur-Quarks, bei dem alles gleich wichtig – oder eben: unwichtig – ist.

Wenn alles in einem gleichförmigen Erzählfluss mäandert und die frühzeitige Ejakulation des Autors beim Geschlechtsverkehr denselben Stellenwert hat wie seine Beschäftigung mit Paul Celans „Todesfuge“, dann sehnt man sich nach literarischer Gewichtung und poetischer Konzentration. Doch die wird man bei Knausgård, für den das Leben und das Schreiben ein permanenter Kampf sind, nicht finden.

Über den jungen Literaturstudenten lästert einmal ein Kommilitone, Knausgård sei ja wirklich ein schöner Mann, aber leider ein ganz schlechter Autor. Der ständig zwischen Versagensangst und Größenwahn schwankende Knausgard leidet bei solchen hämischen Bemerkungen wie ein Hund. Doch wo der einstige Kommilitone recht hat, hat er recht.

Karl Ove Knausgård: „Träumen“. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Literaturverlag, München. 796 S., 24,99 Euro.