Heimatlose Engel – Cees Nootebooms „Paradies verloren“

Höchst merkwürdige Wandlungen und Metamorphosen gehen im neuen Roman von Cees Nooteboom vor sich. Die junge Alma gerät in ein Elendsviertel von Sao Paulo und wird dort von einer ganzen Horde vergewaltigt. Kann sie nach diesem höllischen Erleiden jemals wieder ein halbwegs normales Leben führen?

Raumgreifender Szenenwechsel. Ein paar Kapitel später durchstreift sie mit ihrer Freundin Almut die Weiten und Wüsten von Australien. Sie sucht ein Ersatz-Paradies in den nomadischen Mythen der Aborigines, der Ureinwohner also; ganz im Geiste des früh verstorbenen ,,Traumpfade“-Autors Bruce Chatwyn, der freilich nicht ausdrücklich genannt wird. Doch auch diese urzeitliche Vorstellungswelt ist von den Marktkräften der Zivilisation vernichtet worden. Die rätselhaften Bilder der Aborigines machen nur noch weiße Galeristen reich.

Die Suche nach dem verlorenen Paradies bekommt sodann absurde Züge: Bei einem Theaterfestival im abgelegenen australischen Perth verwandelt sich Alma in einen „Engel“, der sich in einem Schrank verbergen muss. Beim Suchspiel (denn um ein solches geht es) wird sie von einem gründlich frustrierten niederländischen Kulturredakteur entdeckt. Dieser Literaturkritiker verliebt sich sogleich in ihre melancholische Unergründlichkeit. Doch im chaotischen Gewoge der Abschluss-Party verlieren sie einander auf lange Zeit. Dabei hatten sie sich doch schon paradiesisch ausgezogen…

Drei Jahre später absolviert besagter Redakteur (der mit Vorliebe heimische Größen wie just Cees Nooteboom „verreißt“…) eine strenge Kur in einem gottverlassenen Schneedorf in Österreich. Und wer ist seine Masseuse? Richtig, es ist Alma. Doch wiederum entzieht sich die Weitgereiste – offenbar ist sie unterwegs in eine unbestimmte Sphäre, in der wohl die letzten, die gänzlich heimatlosen Engel sich bewegen. Und diese Wesen sind nun einmal nicht für Menschen bestimmt, wie sie sagt.

Überdies sorgt Nooteboom für eine ebenso wundersame Rahmenhandlung. Da trifft er im Flugzeug nach Berlin und im Zug nach Moskau jene Leserin, die eben „Paradies verloren“ in den Händen hält.

Eine solche Mär mag man sich nicht von jedem Autor erzählen lassen. Doch der selbst weltweit gereiste Nooteboom lädt seine bildkräftige Geschichte von unverhoffter Wiederkehr und Spiegelungs-Effekten mit zuweilen hinreißenden Alltags-Exkursen auf. Er kennt sich mit Fastenkuren ebenso aus wie in Kulturredaktionen und fernen Ländern. Und ganz ohne arroganten Gestus verabreicht er nebenher edles Bildungsgut – von den Engel-Darstellungen der Renaissance-Maler bis hin zu Miltons Dichtung „Paradise Lost“ Sie schildert die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies.

Ein Engel wies bekanntlich den beschwerlichen Weg ins irdische Jammertal. Zwischen Hölle und Himmel angesiedelt, ist es trotz allem das vielleicht interessanteste Gefilde überhaupt. Denn die Hölle hält niemand aus, und im Paradies – so heißt es hier – gibt es gar keine spannenden Missverständnisse mehr.

Cees Nooteboom: „Paradies verloren“. Suhrkamp, 157 Seiten, 16,80 Euro.

(Der Beitrag stand am 15. Juli 2005 in der „Westfälischen Rundschau“)