Ohne Gedünst: Philippe Herreweghe versachlicht in Essen Bruckners Fünfte

Der Residenz-Künstler der Philharmonie Essen: Philippe Herreweghe. Foto: Bert Hulselmans

Der Residenz-Künstler der Philharmonie Essen: Philippe Herreweghe. Foto: Bert Hulselmans

Die Bruckner-Kritik bedient sich seit etwa einer Generation gerne bestimmter Begriffe, um einen neuen Zugang zu den schwer erklimmbaren Gipfeln des Spätromantikers zu markieren: Bruckner müsse man, so heißt es, vom „Weihrauch“ befreien, seine Klangmassen entschlacken, Pomp und Prunk seiner monumentalen Setzungen aufbrechen, ihn gar entmythisieren oder entkatholisieren.

Da ist was dran; Michael Gielen etwa hat es in seinen Aufnahmen exemplarisch und manchmal verstörend nüchtern gezeigt. Aber der Verdacht, mit solchem bilderstürmerischen Elan von einer in die andere Ideologie zu driften, lässt sich nicht ausräumen. Beispiel „Pomp“: Was soll man davon halten, wenn Bruckner im Finale seiner Fünften Symphonie für den Blechbläserchoral fortissimo bis zum Ende vorschreibt? Damit will er wohl nicht nur die Bedeutung des triumphierenden Hauptthemas aus dem Kopfsatz flankieren – dazu, rein strukturell gedacht, bräuchte er die Bläser nicht feierlich monumental bis an ihre physischen Grenzen fordern. An solchen Stellen darf wohl jenseits aller kompositorischen Notwendigkeit auch an einen Moment des Bekenntnisses gedacht werden – wie auch immer dieses wiederum zu deuten wäre: doch sicher kein leerer, auf bloße Überwältigung hin konzipierter „Pomp“.

Die Fünfte kommt den Vorstellungen, wie Bruckner zu klingen habe, überhaupt nicht entgegen. Er selbst hat sie sein „kontrapunktisches Meisterstück“ genannt und Simon Sechters Kontrapunkt-Abhandlungen lassen aus jedem Satz grüßen. Als wolle er trotzig seine Kritiker zum Schweigen bringen, demonstriert Bruckner wie nie mehr sonst, wie souverän er Sätze konzipiert und miteinander vernetzt.

Die große Klammer des Kopfsatzthemas ist ja nur die auffälligste dieser motivischen Verwandtschaften, die sich bis ins Detail hinein nachweisen lassen. Ganz zu schweigen von den Kombinationen von Formprinzipien wie Sonate und Fuge oder von der strukturellen Bedeutung des Rhythmus für die Wandlung von Themen.

Anton Bruckner auf einer historischen Photographie.

Anton Bruckner auf einer historischen Photographie.

Mit den Essener Philharmonikern macht Philippe Herreweghe durchaus deutlich, wie strukturbetont Bruckner in seiner Fünften denkt. Transparenz ist das Gebot der achtzig Minuten in der nahezu ausverkauften Essener Philharmonie. Die Orchestergruppen sind scharf herausseziert; kein Klanggedünst verschleiert wichtige Nebenstimmen. Selten dürfte sich die Doppelfuge des Schlusssatzes so deutlich konturiert verfolgen lassen. Herreweghe scheint in den Proben jedes Detail herauspräpariert, jeden Verlauf durchmodelliert zu haben. So kann er im Konzert gelassen und ohne Stab mit sparsamen Bewegungen führen. Hier gibt es keine pathetische Parade eines Dirigenten.

Auch die stetigen Tempi kommen dieser Lesart entgegen. Herreweghe meidet Schwankungen, die vermeintlich Höhepunkte markieren; er hetzt nicht und gibt der Polyphonie gebührend Raum. Daran liegt es, dass bei dem derzeitigen Artist-in-residence der Essener Philharmonie das Erhabene nicht in – falsche – Emphase driftet. Die Dynamik kostet Herreweghe aus: Der Gegensatz der sehr leise, aber deutlich markierten Pizzicati des Beginns mit der auffahrenden Fanfare und dem ersten Tutti-Hohepunkt ist ausgeschöpft, aber nicht übertrieben gespreizt. Kontraste sollten auch in den folgenden Sätzen heftig betont werden.

Bei Harmonia Mundi hat Herreweghe mehrere Bruckner-Symphonien aufgenommen, darunter auch die Fünfte.

Bei Harmonia Mundi hat Herreweghe mehrere Bruckner-Symphonien aufgenommen, darunter auch die Fünfte.

Was die Noten betrifft, ist also alles bestens für eine exzeptionelle Aufführung disponiert – selbst wenn das Blech manchmal nicht ganz intonationsrein scheint. Die Probleme beginnen jenseits der Noten – und sie führen dazu, dass Herreweghes Bruckner-Zugang, wie schon in seiner Aufnahme mit dem Orchestre des Champs-Èlysées, nicht befriedigt. Vor allem in den Mittelsätzen baut der Dirigent keine Spannung auf, gestaltet er keine Ereignisse, sondern reiht Zustände und Entwicklungen aneinander.

Es ist kein Widerspruch zu einer strukturell bewussten Sichtweise, etwa die basslosen Streicher einmal leuchten zu lassen; es schadet dem Blick durch das symphonische Geflecht nicht, einer Bläserstimme gestalterischen Atem zu gewähren. So schleppt sich das Adagio ohne Spannung dahin, bleiben die Ländler des Scherzos ohne Charme und tänzerischen Schwung.

So sympathisch bescheiden die Dirigierweise Herreweghes wirkt: Die Essener Philharmoniker machen den Eindruck, als bräuchten sie hin und wieder eine animierende, befeuernde Geste, als wünschten sie sich einen Ausbruch aus der Leisetreterei, hin zu einem Blühen des Klangs und zu einer expressiven Bewegung, die mit Passion das „vivace“ des Satzes erfüllt. Kein Weihrauch, wahrlich nicht, aber mit ihm hat Herreweghe der Fünften auch das Aroma weggelüftet.