Das Salz, der Tabak und die Ärzte

Der Befund ist wahrlich nicht brandaktuell, es finden sich seit den alten Griechen über Molière bis zur Neuzeit immer wieder zahllose Hinweise darauf, somit haben wir eine kulturgeschichtliche Konstante: Ärzte stochern oft im Nebel.

Gestern standen gleich zwei einschlägige Beiträge in der FAZ-Sonntagszeitung. Im einen ging es darum, dass Salzverzehr womöglich gar nicht so gesundheitsschädlich (Blutdruck!) ist, wie bislang weithin angenommen und ziemlich penetrant propagiert. Ja, es gibt sogar eine wachsende Mediziner-Fraktion, die davor warnt, zu wenig Salz zu konsumieren. Längst nicht alle, die diese Meinung vertreten, dürften im Sold der Salz-Industrie stehen. Ähnliche Trendwenden oder auch vergleichbaren Wankelmut kennt die Medizingeschichte zuhauf. Es soll sogar Raucher geben, die darauf hoffen, dass der Tabak eines Tages rehabilitiert wird.

Arzt-Spielkoffer für Kinder (Bild: Bernd Berke)

Arzt-Spielkoffer für Kinder (Bild: Bernd Berke)

Im zweiten Artikel wird gleichfalls ein fast schon banal anmutender Dauerbrenner aufgegriffen, nämlich die viel zu hohe Anzahl der Operationen, die eben mehr Gewinn abwerfen und eine bessere Auslastung teurer Geräte garantieren als andere, vielleicht schonendere Methoden. Die Diagnose ließe sich dann schon zurechtzurren, da es ja eh keine letzte Gewissheit gibt.

Solche Texte fallen einem auch deshalb auf, weil man selbst schon ähnliches erlebt hat. Einen gerissenen Fußnagel hat ein Chirurg sogleich mit ambulanter OP unter Narkose entfernen wollen. Da sagt man doch wie Herman Melvilles unsterblicher Erzählungs-Antiheld „Bartleby“: „Ich möchte lieber nicht!“ Und tatsächlich. Ein Dermatologe hat dann eine Tinktur aufgestrichen, die das hornige Gebilde buchstäblich in Wohlgefallen auflöste. Salopp gesagt: Der Chirurg hat das Schnippeln gelernt, also will er auch schnippeln.

Anderer, schon schwerer wiegender Fall aus diesen Tagen: Im Labor erfasste Blutwerte veranlassen zwei Ärzte zu völlig gegenläufigen Diagnosen. Der eine weist mit besorgter Miene in die Klinik ein, der andere entlässt den Patienten sogleich wieder, denn besagte Werte könnten auf zweierlei hindeuten – und hier handele es sich just um die harmlose Variante. Von Bakterien spricht der eine, von Viren der andere. Offenkundig ein Grenzfall. Da fühlt man sich auf unsicherem Gelände. Nicht nur auf hoher See und vor Gericht ist man ist Gottes Hand…

Naiv also, wer bloße Zahlenwerte für objektiv hält. Sie sind durchaus interpretationsbedürftig, denn die Medizin ist in diesem Sinne nicht nur Natur-, sondern auch Geisteswissenschaft – zudem mit handwerklichem und meinetwegen auch „künstlerischem“ Einschlag. Man möchte lieber nicht wissen, wie oft dabei vage, vollends ungesicherte Einschätzungen im Spiele sind. Statt dessen möchte man nur zu gern auf Gespür und Erfahrung der Ärzte vertrauen.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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