Innenleben einer Bibliothek: Frans Kellendonks „Buchstabe und Geist“ erstmals auf Deutsch

Eine Bibliothek als Schauplatz eines Romans, kann das spannend sein? Auch wenn hinter den Regalen kein Mord geschieht, kein mittelalterlicher Mönch die Bücher vergiftet, keine Kinder gezeugt werden – die ganz alltäglichen Benutzer einer Universitätsbibliothek und das dort beschäftigte Personal reichen zur Ausstattung eines guten Romans völlig aus.

Schreiben und Übersetzen sind einsame Tätigkeiten. Mancher der so Arbeitenden kann auf Dauer der Versuchung nicht widerstehen, seinen Lebensunterhalt in einem geselligeren Arbeitsumfeld zu verdienen. Der niederländische Autor und Übersetzer Frans Kellendonk nahm, wie wir aus dem Nachwort erfahren, von Januar bis April 1979 eine Stelle in der altehrwürdigen Universitätsbibliothek Leiden an. Wenn auch der Name der Stadt im Roman ungenannt bleibt, wenn auch der Protagonist Felix Mandaat zuvor seine freiberufliche Tätigkeit nicht mit literarischen Erzeugnissen, sondern mit der Organisation von Kongressen bestritten hatte, dürfte Kellendonk die Erfahrungen als Bibliothekar für seinen Roman „Buchstabe und Geist“ verwertet haben.

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Das Aufgehen in einer Gemeinschaft – kann ein solcher Wunsch nach Zugehörigkeit nicht eher im Kreis selbstgewählter Freundinnen und Freunde, beim regelmäßigen Stammtisch oder im Verein erfüllt werden? Ist die Hoffnung, sich über eine Institution zu definieren, auf deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter man als Neuling keinen Einfluss hat, nicht zum Scheitern verurteilt und der Ausgang von Mandaats Selbstversuch voraussehbar? Möglich. Jedoch sind die in einer Bibliothek beheimateten Charaktere – ihre Benutzer gleichermaßen wie die Angestellten – durchaus literaturwürdige Geschöpfe.

In der Universitätsbibliothek trifft man natürlich Studierende, daneben Privatgelehrte, komische Käuze und auch Menschen, die sich aufwärmen möchten und am liebsten über einem Buch einschlafen.

Da ist der Übersetzer, der mit dem Bibliotheksangestellten alle möglichen Synonyme diskutieren will. Unter den Kollegen ist manch einer ein verhinderter Wissenschaftler, dessen sporadische Veröffentlichungen, die gleichwohl seine Eitelkeit nähren, für eine Universitätskarriere nicht ausreichten. Vom Bibliotheksdirektor heißt es, er beherrsche fast fünfzig Sprachen, darunter die in unseren Breiten seltener gehörten wie Oriya, Cebuano, Hiligaynon, aber auch frei erfundene wie Telalog. Kollegen helfen sich gegenseitig mit passenden Ausdrücken aus, wenn einer mal vergessen hat, wie er den Satz beenden wollte.

Bedeutender noch als die Angestellten, mit denen Mandaat tatsächlich zusammenarbeitet, ist für ihn ein dauerhaft Abwesender: Meneer Brugman, der sich auf unbestimmte Zeit hat beurlauben lassen und dessen Lücke Mandaat ausfüllen soll. Gleich bei der Arbeitsaufnahme wird Felix Mandaat als „der Vertreter für unseren Meneer Brugman“ begrüßt, und ein Kurier, der nur Kriegsbücher liest, spricht ihn unumwunden an: „Du bist doch der neue Meneer Brugman?“

Frans Kellendonk (© Stichting Frans Kellendonkfonds)

Frans Kellendonk (© Stichting Frans Kellendonkfonds)

Einmal nimmt sich Mandaat ein Herz und wählt Brugmans Telefonnummer, erreicht aber nur dessen ahnungslose Vermieterin, die ihm rät, es auf der Arbeitsstelle zu versuchen. Mandaats schwangere Assistentin, Mevrouw Qualing, weist ihn immerzu darauf hin, wie Meneer Brugman bestimmte Arbeitsabläufe ausgeführt hat. Gerüchte kursieren, Brugman und nicht etwa ihr Ehemann könnte der Vater des in ihr heranreifenden Kindes sein, aber für den Fortgang der Handlung ist die Antwort (wie so manches) unerheblich.

In seiner Abwesenheit bleibt der Vorgänger zugleich geisterhaft präsent, was den Untertitel „Eine Spukgeschichte“ aber nur vordergründig erklärt. Mag es in dem Magazin der Bibliothek ein bisschen spuken oder auch nicht, unheimlich wird es erst, als ein Kollege dem Protagonisten helfen will, die Geistererscheinung aufzuklären, und sich dabei zu beschämenden Bekenntnissen hinreißen lässt. Doch auch wenn uns der Autor tief in seelische Abgründe blicken lässt, denunziert er seine Figuren nie. Ob er sie mag? Das steht auf einem anderen Blatt.

Beim munteren Fabulieren wird das Erzählen selbst zu einem Thema. In einer der Kaffeepausen erzählt Mandaat die Geschichte seines Großvaters, der auf dem Motorrad, stocksteif vor Kälte und ohne jegliches Gefühl in Armen und Beinen, im Panzer der durch gefrorenen Schweiß starren Kleidung die Maschine weder lenken noch abbremsen kann und an der üblichen Ausfahrt vorbei auf ein ungewisses Ziel zusteuert (Kapitel „Phaeton“). Dabei überlegt der Erzählende unausgesetzt, wie er dem von ihm geschaffenen Erwartungsdruck seiner Zuhörerinnen und Zuhörer am Ende gerecht werden könnte.

Als nach gut drei Monaten klar ist, dass Brugman nicht mehr zurückkommen wird, und Mandaat von seinem Vorgesetzten eine Festanstellung angeboten bekommt, weiß er nichts zu sagen. Im nächsten und zugleich letzten Kapitel befinden wir uns auf Mandaats unspektakulärer Abschiedsfeier in einer gemütlichen holländischen Kneipe. Ein bisher wenig in Erscheinung getretener, ihm nicht unsympathischer Kollege begleitet Mandaat zum letzten Mal zum Bahnhof. Es stellt sich der Eindruck ein, in diesem nicht geradlinig erzählten Roman hätten ebenso gut andere Figuren in den Fokus rücken können.

1982, als der Roman des damals einunddreißigjährigen Autors in den Niederlanden erschien, war viel von postmodernen Erzählkonzepten die Rede. Bei aller Kühnheit der Konstruktion, allen Formexperimenten, Elementen eines Ideenromans und Auflösung des Plots erfüllt „Buchstabe und Geist“ dennoch in hohem Maße Kellendonks Anspruch, unterhaltsam zu sein. Der Erfolg des früh zu einem Kultautor aufgestiegenen Frans Kellendonk, der mit neununddreißig Jahren an AIDS starb, zeugt – trotz aller Fremdheit gegenüber dem Bibliothekspersonal – eindeutig von einer Verbundenheit mit einer größeren Gemeinschaft.

In der gelungenen Übersetzung durch Rainer Kersten ist der Roman jetzt als Band 21 in der schönen Reihe der „Lilienfeldiana“ veröffentlicht worden. Für die Einbandgestaltung hat der Verlag ein Gemälde des in Düsseldorf lebenden Malers Peter Rusam verwendet. In seinem klugen und kenntnisreichen Nachwort erwähnt der Übersetzer einige weitere, noch nicht ins Deutsche übertragene Werke Frans Kellendonks. Bleibt zu hoffen, dass wir – sofern wir des Niederländischen nicht mächtig sind – von diesem stilsicheren Ausnahmeautor demnächst noch mehr auf Deutsch werden lesen können.

Frans Kellendonk: „Buchstabe und Geist. Eine Spukgeschichte.“ Aus dem Niederländischen und mit einem Nachwort von Rainer Kersten. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. 170 Seiten, 19,90 Euro.