Silvester-Predigt handelte vor 70 Jahren auch vom Kohlenklau: Wie im Winter 1946/47 das Wort „fringsen“ entstand

Joseph Kardinal Frings. Foto: Historisches Archiv des Erzbistums Köln AEK, Bildsammlung

Joseph Kardinal Frings. Foto: Historisches Archiv des Erzbistums Köln AEK, Bildsammlung

Winter 1946/47: Die deutschen Städte sind zerstört, die Menschen hausen in Baracken und Ruinen. Ein stabiles russisches Hoch sorgt für eisige Kälte, Tiefdruckgebiete bringen meterhohen Schnee. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Brennmaterial ist schlecht, bricht vor allem in den großen Städten des Ruhrgebiets und des Rheinlands zeitweise zusammen. In dieser Situation spricht der Kölner Kardinal Joseph Frings ein wegweisendes Wort. Es sollte in die Geschichte eingehen. Das „Fringsen“ wurde in der Nachkriegs-Not zum geflügelten Begriff.

Auch Köln lag in Schutt: Vier Fünftel der Gewerbebauten, so eine zeitgenössische Statistik, waren total verwüstet oder stark zerstört. So predigte der Kölner Erzbischof an Silvester 1946 in der modernen, 1930 von dem bekannten Architekten Dominikus Böhm entworfenen Kirche St. Engelbert in Köln-Riehl. Sein Thema: die zehn Gebote. Da ging es auch um „Du sollst nicht stehlen“. Frings, ein sozialpolitisch fortschrittlicher Kopf, kannte die Not der Zeit, die katholische Moraltheologie und die Soziallehre der Kirche. Sein Predigtmanuskript, erhalten im Archiv des Erzbistums Köln, zeigt, wie er um die richtige Formulierung rang. Was er dann sagte, machte ihn populär:

„Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder Bitten, nicht erlangen kann“.

"Klüttenklau" in der Nachkriegszeit in der Britischen Zone. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-R70463 / CC-BY-SA 3.0

„Klüttenklau“ in der Nachkriegszeit in der Britischen Zone. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-R70463 / Link zur Lizenz: CC-BY-SA 3.0

Für die Menschen, die damals um ihr Überleben kämpften, war dieser Satz eine moralische Entlastung. Vor allem in den schwer zerstörten Städten hatten sie oft keine andere Wahl, als sich die Kohle zum Heizen zu stehlen.

Der „Klüttenklau“ war verbreitet: Um Klütten (Briketts) zu besorgen, sprangen Jugendliche oder Männer auf haltende Kohlenzüge, füllten Säcke mit Brennstoff und warfen sie an vorher vereinbarten Punkten ab. Andere bestiegen Lastwagen und warfen Kohlen ab. Ein gefährliches Treiben; Verletzungen oder sogar Todesfälle konnten die Folge sein. Berichtet wird von Kindern, die nicht mehr aus den Güterwagen klettern konnten und während der eisigen nächtlichen Fahrt erfroren.

Keine Rechtfertigung für Diebstahl

Sehr schnell bürgerte sich im Volksmund für diese Art von Mundraub der Begriff „fringsen“ ein. Das Wort schaffte es bis hinein ins „Lexikon der Umgangssprache“. Dem Erzbischof ging es freilich nicht darum, Diebstahl zu rechtfertigen, im Gegenteil. Die mahnenden Worte nach dem berühmten Satz wurden überhört oder verdrängt. Denn Frings legte seinen Zuhörern auch ans Herz:

„Aber ich glaube, dass in vielen Fällen weit darüber hinausgegangen worden ist. Und da gibt es nur einen Weg: unverzüglich unrechtes Gut zurückgeben, sonst gibt es keine Verzeihung bei Gott.“

Kardinal Frings hat damit eine präzise Auslegung der katholischen Lehre gegeben: Er war sich bewusst, dass Eigentum sozialpflichtig sei. Was der Mensch braucht, um sein Leben und seine Gesundheit zu erhalten, darf er sich unter Umständen größter Not auch nehmen. Aber der Erzbischof wandte sich zugleich scharf dagegen, die Notlage auszunutzen. Zu plündern, um sich zu bereichern, war schon in den zerbombten Städten während des Krieges, aber auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit, nicht selten. Dazu zählte auch der Kohlenklau über den eigenen Bedarf hinaus. Ein Verhalten, das Frings in seiner Predigt verurteilte.

Der „Weiße Tod“ forderte hunderttausende Opfer

Eine Seite des Manuskripts der Predigt. Foto: Archiv des Erzbistums Köln.

Eine Seite des Manuskripts der Predigt. Foto: Archiv des Erzbistums Köln.

Dass der Erzbischof die Lage richtig eingeschätzt hatte, erweist der Rückblick auf diesen Winter 46/47. Er ist als der kälteste Winter des 20. Jahrhunderts im Nordseeraum in die Wetterkunde eingegangen. Die Temperatur-Mittelwerte lagen im Januar 1947 bei minus 4,7 Grad, im Februar bei minus 6,6 Grad. Heute schätzt man, dass allein in Deutschland Hunderttausende an den Folgen von Hunger und Kälte und an Krankheiten wie Lungenentzündung und Typhus gestorben sind.

Der „weiße Tod“ grassierte unter Menschen, denen im britischen Teil von „Trizonesien“ – so die geflügelte Bezeichnung für die drei Besatzungszonen der Westmächte – gerade einmal 900 Kilokalorien pro Tag zustanden. Zum Vergleich: Ein Erwachsener mit durchschnittlichem Gewicht braucht am Tag – je nach Tätigkeit – zwischen 2.000 und 3.500 Kilokalorien.

Frings machte sich damals zum Fürsprecher der Notleidenden und entlastete ihr Gewissen. Bei der britischen Besatzungsmacht kam das nicht gut an: Der Kardinal wurde vorgeladen, aber weil der alliierte Gouverneur, William Ashbury, unpünktlich war, fuhr Frings wieder ab. In seinen Memoiren erinnert sich Frings: „Es gab eine höchstnotpeinliche Untersuchung.“ Er habe den Text seiner Silvesterpredigt sogar bei den Briten einreichen müssen. „Alles war aufs höchste gespannt, und es schwebte wirklich Unheil über mir“.

Frings veröffentlichte am 14. Januar 1947 – nach Zeitungsberichten über seine Predigt – eine Erklärung über die „Grenzen der Selbsthilfe“. Die Alliierten erwogen sogar eine polizeiliche Vorführung, ließen Frings aber dann in Ruhe, wohl weil sie den Unmut der Bevölkerung fürchteten. Es ist also, wie der Kölner sagt, „noch immer jot jejange“.