Ein großer Tag dämmert den BoSys: Gustav Mahlers Neunte in Bochum lässt tief betroffen zurück

Abschied durchweht das Vierte Sinfoniekonzert der Bochumer Symphoniker (BoSys): Letzte Werke sind angesetzt. Richard Strauss‘ „Vier letzte Lieder“ eröffnen den Abend, Gustav Mahlers letzte vollendete Sinfonie krönt ihn. Zwei Werke, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Bei Strauss ein üppig glühender, langsam in zarten Farben erblassender Sonnenuntergang, harmonisch schwelgerisch, melodisch intensiv. Bei Mahler zerrissenes, drohendes Wetterleuchten und groteske Licht-und-Schatten-Tänze, dann ein fahles Ersterben, in dessen Erlöschen ein Hoffen auf Transzendenz aufscheint.

Steven Sloane profiliert sich als Mahler-Dirigent. Foto: Bochumer Symphoniker

Orchesterchef Steven Sloane profiliert sich als Mahler-Dirigent. (Foto: Bochumer Symphoniker)

Die Bochumer Symphoniker stellen dieses Konzert in den Verlauf ihres Mahler-Projekts, das in den nächsten Jahren „mit neuen Ansätzen auf die Reise durch den Mahler-Kosmos“ gehen soll. Marlis Petersen, gefeiert in Bellinis „La Straniera“ in Essen und als Alban Bergs „Lulu“ in München und New York, gehört zu den schlankstimmigen Strauss-Interpretinnen. Sie hat im „Frühling“ wie viele ihrer hochkarätigen Kolleginnen ein Problem mit der geradezu unverschämten Tiefe, aus der sie dann in blühende Höhen aufbrechen soll. Das geht nicht ohne steifen Glanz ab. Aber in „September“ fühlt sich Marlis Petersen viel wohler, führt die Stimme leicht und leuchtend. Und sie lässt in Hermann Hesses „Beim Schlafengehen“ die „Seele unbewacht“ in wundervollem Bogen „in freien Flügen schweben“. Die BoSys verschmelzen in weichem Streicherschimmer mit der Stimme, tragen sie in freiem Piano und umkleiden sie mit der herbstlichen Farbenpracht von Strauss‘ Instrumentation.

Von dieser güld’nen, melancholisch durchtränkten Stimmungsmalerei ist bei Gustav Mahler nichts zu hören: Steven Sloane macht in der Eröffnung des ersten Satzes radikal deutlich, wie sich diese Musik in fragmentierten Elementen zu sich selbst vortastet, auch in der scheinbaren D-Dur-Klarheit der Episode, die gerne als „Hauptthema“ tituliert worden ist, obwohl Mahlers Neunte mit den Kriterien der an Beethoven geschulten Analyse überhaupt nicht mehr zu fassen ist.

Das Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum. Foto: Werner Häußner

Das Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum. (Foto: Werner Häußner)

Sloane tut also folgerichtig nicht so, als sei im Geflecht der symphonischen Entwicklung irgendein Motiv „wichtiger“ als ein anderes. Er versöhnt nicht, sondern reißt auf. Dass er die Dynamik zügelt, macht die Geröllhalde auf diesem fernen Stern noch fremdartiger. Das Paukensolo, die harschen Harfenakkorde, versprengte, gedämpfte Horn- und Trompetensignale, der dumpfe Zusammenbruch von Celli, Kontrabässen und Fagott, das Seufzen der Bassklarinette: Die Symphoniker lassen in dieser zerrissenen Welt die Schönheit und die Hinfälligkeit, den Balsam und den Schmerz der Töne aufleuchten.

Andererseits wählt Sloane nicht den Weg einer Schärfung um jeden Preis. Die Violinen könnten ihre Linien schmerzhafter ziehen, das Blech könnte anti-brucknerisch grell und aufgepeitscht klingen, auch in den Holzbläsern hält sich schrille Exaltation die Waage mit samtiger Resignation. Mahler wird nicht geschunden und bloß vorgeführt, sondern in den Goldrand einer sanften Distanz gekleidet – wie ein Jugendstil-Gemälde, das Schreckliches in dekorativer Façon zeigt. Ein Weg, der manchen Mahler-Exegeten vielleicht zu wenig radikal erscheint, der aber seinen Sinn hat. Hoffen, Bangen und Verzweifeln werden so noch schmerzvoller.

Groß in Form sind Orchester und Dirigent auch in den Mittelsätzen. Michael Gielen, einer der profiliertesten Mahler-Deuter der letzten Jahrzehnte, hat sie als einen „Rückblick auf Gesellschaftliches, auf Volkstümlichkeit, auf Vulgarität der andern“ beschrieben. Diesen Blick schärft Sloane: Harmlose Ländler-Rhythmen werden zu skurrilen Veranstaltungen, die schroffen Wechsel von Takt und Haltung sind deutlich markiert, die Ironie, mit der Mahler musikalische Floskeln zitiert und zerlegt, entfaltet sich in ätzender Schärfe.

Der Sog zum hexerischen Finale der Rondo-Burleske steigert sich ins Groteske; die BoSys lassen derbe Töne knallen und scharren. Der weite Tonraum zwischen Violin-Flageolett und Kontrabass-Abgrund reißt seinen Schlund auf. Das abschließende riesige Adagio kennt dann noch einmal melancholisch weiche Phrasierungen, wundervolle Abstimmungen zwischen Horn und Blech und – trotz einsetzender Konzentrationsprobleme – idyllisch versöhnten Streicherklang. Im äußersten Pianissimo verfliegt der Ton in die quasi hinzukomponierte Stille. Ein großer Tag für Steven Sloane und sein Orchester.

Nächstes Sinfoniekonzert im Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum am 26./27./28. April mit Richard Wagners „Siegfried-Idyll“ und dem ersten Akt der „Walküre“.