Wenn die Zeit still steht – Opernheld Hamlet in Dortmund

Dortmund. Hamlet. Ein Monolith in William Shakespeares dramatischem Schaffen, der Schuld und Sühne, Wahn und Realität verhandelt. Der sich an die letzten Dinge wagt. „Sein oder nicht sein“ – die Wucht eines Satzes als Zentrum von Seelenzuständen. Das jedoch hat Christian Jost nicht abgehalten, oder vielleicht geradewegs angespornt, 2009 seinen „Hamlet“ in die musikalische Welt zu werfen. Er hat nichts weniger geschaffen als ein machtvolles Opern-Lamentoso.

Die Musik ergießt sich in breitem Strome, teils heftig aufzuckend in facettenreicher Rhythmisierung, teil dunkel geheimnisvoll raunend. Das Werk, nun in Dortmund zur Premiere gelangte, ist vor allem eine klangliche Nachzeichnung von seelischer Not. Der Komponist selbst spricht von zwölf musikdramatischen Tableaux. Jede dieser szenischen Stationen scheint die Zeit aufhalten zu wollen. Reflexion ist das Gebot der Stunde.

Im Graben sitzen zwei Orchester, ähnlich besetzt, durch einen kleinen Chor voneinander getrennt. Sie lassen raumfüllende Klangflächen aufschimmern, durchzogen von Glissandi, verquickt mit unruhigen, knalligen Blech- oder Schlagwerkattacken. Jost verzichtet in der Instrumentierung auf Oboen und Trompeten. Alles Bukolische und strahlend Helle wird verbannt – herbe Kost für einen bedeutungsschweren Stoff.

Gleichzeitig enthält sich der Komponist dynamischer Extreme. Stets steht der lyrische, teils auch sprechende, bisweilen abenteuerlich figurative Gesang im Vordergrund. Mitunter erinnert das an den Konversationsstil Alban Bergs. Den Solisten wird dabei einiges abverlangt. Wie auch den Chören, die mal geisterhaft polyrhythmisch flüstern, mal als innere Stimmen säuseln, als Landsknechte auftrumpfen oder als Trauergemeinde leiden.

Dieser „Hamlet“, der so viel Sinn sucht und so viel Tod bringt, leidet und klagt an unter brüchig klassizistischen Säulen (Bühne: Sebastian Hannak). Regisseur Peter te Nuyl hat allerdings diesem Purismus der Emotionen mit einem Spiel im Spiel einen Teil seiner Kraft genommen. Die Mimen geben „Hamlet“, sagen teilweise die Tableaux an – das schafft Brüche, die der Musik nicht entsprechen.Andererseits: Wie te Nuyl die Personen sich körperlich verklammern lässt, wie er den Fokus von Hamlet löst, um ihn auf die Gewissensqualen des Brudermörders Claudius zu fixieren, ist von großer Wirkung. Dass die Figuren schließlich elisabethanisches Mobiliar aus Regalen räumen zur Schaffung von Grabstätten, besitzt ganz eigene Symbolkraft. Doch Jost hatte gewiss nicht im Sinn, Shakespeare zu demontieren. Diese „Hamlet“-Oper ist vielmehr spannende Annäherung.

Dortmunds Chefdirigent Jac van Steen hat sich beherzt für die Aufführung des „Hamlet“ eingesetzt. Unter seiner Leitung wachsen Orchester, Chöre und Solisten über sich hinaus. Mit Konzentration und Hingabe wird musiziert und gesungen. Maria Hilmes in der Titelrolle, Bart Driessen (Claudius) oder Fausto Reinhart als Laertes zeichnen vielschichtige Charaktere – flexibel in der Stimmführung, spielfreudig, ja ergreifend.

Weitere Aufführungen: 13. und 25. Mai, 3. und 12. Juni

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(Der Artikel ist am 3. Mai in der WAZ erschienen).