Lagerfron und „Soma“-Trip: Dominique Horwitz inszeniert Schostakowitsch-Operette in Gelsenkirchen

Die Arbeitsanzüge schweben von der Decke: Eröffnungsszene aus der Schostakowitsch-Operette „Moskau, Tscherjomuschki“ am MiR Gelsenkirchen (Foto: Bettina Stöß)

26 Jahre lang mochte Dmitri Schostakowitsch keine Oper mehr schreiben, nachdem Josef Stalin seine „Lady Macbeth von Mzensk“ öffentlich ächtete und der Komponist lange, schlaflose Nächte in Todesangst verbrachte. Erst in der Tauwetterperiode der Chruschtschow-Ära wandte er sich wieder dem Musiktheater zu.

Zum allgemeinen Erstaunen schrieb er 1958 eine Operette, die sogleich große Beliebtheit errang: „Moskau, Tscherjomuschki“ erzählt von Wohnungsnot und Korruption und vom Glücksstreben einfacher Leute, die sich in der gleichnamigen Trabantenstadt ein besseres Leben erhoffen.

Selten und eher als kleine Produktion auf Werkstattbühnen findet sich die musikalische Komödie heute auf den Spielplänen. Das Gelsenkirchener Musiktheater gönnt dem Dreiakter jetzt sein Haupthaus, vertraut die Inszenierung aber einem Regie-Novizen an, dem prominenten Sänger und Schauspieler Dominique Horwitz. Eine Fehlentscheidung, wie sich leider bald heraus stellt.

Horwitz glaubt nicht daran, dass die Geschichte vom Kampf dreier Paare um das kleine Glück und um den heiß begehrten Wohnungsberechtigungsschein heute noch trägt. Das Werk dient ihm lediglich als Folie, um Systemkritik nach Ost wie West zu üben.

Der Opernchor des MiR in Reih und Glied (Foto: Bettina Stöß)

Bühnenbild und Kostüme von Pascal Seibicke zeigen uns eine Lager-Tristesse, als seien wir versehentlich doch in die „Lady Macbeth“ geraten. Das Aufsichtspersonal trägt Komsomolzen-Grau, die Arbeiter tragen Anzüge in Guantanamo-Orange. Die Ausgabe von Glückspillen hat Horwitz dem dystopischen Roman „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley entlehnt. Dort heißt der Stoff „Soma“ und macht die ach so wundervolle Moderne erst so richtig schön. Das organisierte Fähnchenschwenken zielt auf den Sozialismus, die Beschwörung der Arbeit als allein seligmachender Lebensinhalt auf den Kapitalismus, die rhythmische Sportgymnastik im Rudel auf den Faschismus.

Die Frau als Opfer bleigrau gekleideter Komsomolzen (Foto: Bettina Stöß)

Dergestalt rührt Horwitz allerhand zusammen, ohne dass eine Inszenierung daraus entstünde. Im kollektiven Aktionismus auf der Bühne, der das ausgiebige Rampensingen nicht zu kaschieren vermag, gewinnt keine einzige Figur an Kontur. Welcher Sänger welche Rolle verkörpert, ist in dieser als Paradies besungenen Hölle auch egal. Wiederholt enden Szenen so spannungslos, dass wir uns beklommen fragen, wie es denn nun weitergehen soll. Die Regie weiß darauf sichtlich auch keine Antwort, denn sie lässt in solchen Momenten den Vorhang fallen.

Die eigentliche Handlung wird als Hörspiel aus dem Off angedeutet und ist für Nicht-Eingeweihte kaum zu verstehen. Aus der Fron in der Spielzeug-Fabrik entlassen, streifen sich die Arbeiter Ritter- und Feenkostüme über, fechten Holzschwert-Kämpfe aus und kreischen vor Vergnügen. Wir geraten vom Lagerkoller und einer – übrigens gänzlich unmotivierten – Vergewaltigungsszene geradewegs in einen Kindergeburtstag. Ratlosigkeit macht sich breit.

Ritterspiele: Wenn die Akkordarbeit beendet ist, bricht Kindergeburtstagsstimmung aus (Foto: Bettina Stöß)

So wird die Chance vertan, Schostakowitschs ebenso ungewöhnliches wie unterhaltsames Bühnenwerk einmal so recht ins Rampenlicht zu rücken. Unter dem Dirigat von Stefan Malzew gibt sich die Neue Philharmonie Westfalen durchaus mit Erfolg Mühe, den schmachtend-sentimentalen Walzern und feurigen Galopps russisches Temperament einzuhauchen.

Auch die Tänzer des MiR-Balletts, der Opernchor und das Gesangsensemble sind engagiert und klangvoll dabei, aber eine zündende Party kann es in diesem Tscherjomuschki-Albtraum nicht geben. Sängerinnen und Sänger wie Almuth Herbst, Piotr Prochera, Bele Kumberger, Petra Schmidt und Anke Sieloff können wesentlich mehr, als sie hier zeigen dürfen.

„Und täglich grüßt das Murmeltier“ will Horwitz uns vermutlich sagen, wenn er die Eingangsszene zum Abschluss wiederholen lässt. Zu diesem Zeitpunkt ist es beinahe wie im Film: Es ist doch erleichternd, wenn der Spuk vorbei ist.

Termine und Infos:
https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2017-18/moskau-tscherjomuschki/

(Der Text ist in ähnlicher Form im Westfälischen Anzeiger erschienen)