Allen Krisen zum Trotz: Jürgen Habermas will das Projekt Europa retten

Die Euro-Krise scheint kein Ende zu nehmen. Die zögerlichen und halbherzigen, oft populistischen Reaktionen der Politik lassen ein Scheitern des europäischen Projekts als reale Möglichkeit erscheinen. Da kommt ein Buch von Jürgen Habermas gerade recht. Der bekannteste lebende Philosoph Deutschlands – wenn nicht sogar der ganzen Welt – hat einen Essay („Zur Verfassung Europas“) geschrieben, mit dem er in die Debatte um die Zukunft des Kontinents eingreifen und der sich ausbreitenden Europa-Skepsis einen philosophischen Antikrisenplan entgegensetzen will.

Wenn allerdings „Die Zeit“ meint, es sei „das Buch der Stunde“, werden falsche Erwartungen geweckt: Denn Habermas gibt keine Handlungsanweisung zur Rettung des angeschlagenen Euro. Es geht ihm nicht um Rettungsschirme oder Eurobonds, sondern, im doppelten Sinne, um die Verfassung Europas: Wie haltbar ist die europäische Idee und wie sollte eine europäische Verfassung im Sinne umfassender Demokratisierung und Transparenz aller Entscheidungsprozesse aussehen? Habermas will Denkblockaden beiseite räumen und dazu animieren, in der größten Krise auch die größten Chancen für eine Neugestaltung und Weiterentwicklung Europas zu sehen: Ein Scheitern der europäischen Idee, da hat Habermas Recht, würde die Demokratisierung Europas um mindestens ein Jahrhundert zurückwerfen.

Mit Blick auf die politische Klasse kann der Philosoph geradezu polemisch werden: Er spricht von „hinhaltendem Taktieren“, „selbstdestruktivem Verhalten“, bizarren Auftritten „nationaler Potentaten“, die keine verbindliche Idee mehr von Europa haben und, gemessen an überzeugten Europäern wie Willy Brandt oder Joschka Fischer, nur noch „europäische Schandflecken“ sind. Mag da jemand ernsthaft widersprechen?

Zentraler Kritikpunkt ist die zunehmende, sich verselbständigende Macht des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs: Das sei „postdemokratische Herrschaftsausübung“. Mit der Idee umfassender, transparenter Demokratie habe das, was in Brüsseler Hinterzimmern und Kungelrunden beschlossen wird, nichts zu tun. Da ist er sich mit Hans Magnus Enzensberger einig. Beide haben fast gleich lautende Bücher veröffentlicht (Habermas: „Ach, Europa“, Enzensberger: „Ach Europa!“). Doch während Enzensbergers jüngster Essay („Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas“) sich wie eine politische Satire auf Demokratiekrise und bürokratische Uniformierung liest und darauf spekuliert, dass Europa an seinen inneren Widersprüchen zugrunde geht, träumt Habermas von einer „transnationalen Demokratie“. Mehr noch: Er entwirft die Utopie einer Verfassung, die nicht nur die europäischen Völker und Menschen versöhnt, sondern Grundlage einer „kosmopolitischen Gemeinschaft“ wird. Für alle, die es vergessen haben, zeigt Habermas noch einmal, welche Fortschritte Menschenrechte und Menschenwürde von der amerikanischen und französischen Revolution bis in die europäischen Einigungsverträge genommen haben. An die politische Klasse appelliert er, das bisher hinter verschlossenen Türen betriebene europäische Projekt endlich auf den „hemdsärmeligen Modus eines lärmend argumentierenden Meinungskampfes der breiten Öffentlichkeit umzupolen.“

Doch so richtig und wichtig die Vorschläge sind, so wenig Einfluss werden sie auf die aktuellen Entscheidungen haben. Die politischen Eliten haben sich längst vom intellektuellen Diskurs abgekoppelt, sie schielen nur noch auf Umfragewerte und Wahlen. Wenn Habermas früher über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ philosophierte oder eine „Theorie des kommunikativen Handelns“ entwarf, ging ein Raunen durch die politischen Denkfabriken: vorbei und vergessen. Wahrscheinlich wird man in 50 oder 100 Jahren den Essay als Meilenstein der demokratischen europäischen Verfassung preisen. Einstweilen aber werden die europäischen Träume eines Habermas an der fantasielosen Realpolitik von Merkel und Sarkozy ungehört und ungelesen abprallen. Leider.

Jürgen Habermas: „Zur Verfassung Europas“. Ein Essay. Suhrkamp, 130 Seiten, 14 Euro.