Charisma und Interpretationslust – der Bratscher Antoine Tamestit

Nachdenklich: Antoine Tamestit mit Bratsche. Foto: Eric Larrayadieu

„Ich bin froh, ein junger Wilder zu sein“, sagt Antoine Tamestit. Dahinter steckt natürlich eine gehörige Portion Selbstironie, schließlich ist der französische Bratscher längst zum arrivierten, ausdrucksstarken Künstler gereift, mit Auftritten in aller Welt. Doch das Gastspiel im Dortmunder Konzerthaus, sein letztes in eben jener Reihe „Junge Wilde“, gibt er voller Dankbarkeit, im Bewusstsein, dieses außergewöhnliche Format bereichern zu dürfen.

Die Idee dazu hatten Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa und sein Team vor sechs Jahren: Junge Künstler für drei Spielzeiten ans Haus zu binden, die nicht nur Standardkonzerte geben, sondern außergewöhnliche Programme mitbringen. Die bereit sind, sich dem Publikum zu öffnen: morgens in einer Schulklasse, abends beim offenen Gespräch mit den Zuhörern. Was zaghaft begann, ist inzwischen, kurz vor Ende der 2. Staffel, eine überaus erfolgreiche Veranstaltungsreihe.

Auch Antoine Tamestit, Jahrgang 1979, steht für den Typus junger, unkonventioneller, experimentierfreudiger Solist. Der Bratscher indes war von Beginn an weit mehr als nur ein begnadetes Talent – seine Bühnenpräsenz, gepaart mit einem von der Musik beseelten Bewegungsvokabular, ist Ausdruck intensiver Interpretationslust. Wir sehen ohne Zweifel einen Künstler mit Charisma, keinen virtuosen Blender.

So erfahren wir ihn nun in Dortmund, diesmal als Botschafter seines weitgefächerten Repertoires. Mit dem langjährigen Klavierpartner Markus Hadulla spielt Tamestit Werke von Bach, Brahms und Schostakowitsch. Es ist ein Abend im Geiste der Romantik. Bachs Sonate für Viola da Gamba und Cembalo klingt mit modernem Instrumentarium erheblich verdichtet, Brahms’ Transkription der 1. Klarinettensonate steht für das Wechselspiel seelischer Befindlichkeiten. Und Schostakowitschs Beitrag zu Gattung, kurz vor seinem Tod (1975) komponiert, fällt aus dieser Moderne heraus: Der Russe zieht in schroffer, ätherischer, gespenstisch grotesker Manier die Bilanz seines Lebens. Er bleibt sich und seiner Sprache treu, weitab entfernt von den seriellen Gepflogenheiten der Avantgarde.

Tamestit ist der große Gestalter und Klangfarbengeber. Das mag bei Bach etwas gekünstelt wirken, erweist sich aber in der aufgewühlten, grüblerischen, teils auch verhangen expressiven Brahms-Musik als Glücksfall. Es ist nur schade, dass der Bratscher dem Pianisten dabei immer eine Nasenlänge voraus ist. Erst Schostakowitschs tönender Endzeit verschafft Markus Hadulla wirkmächtige Kontur. Und wenn zum Schluss, offenbar ein wenig mit Material der „Mondscheinsonate“ spielend, die Musik langsam dahinstirbt, noch einmal aufzuckt in einem wehmütigen Bratschensolo, um letzthin im dynamischen Nichts zu entschweben, dann ist das große Kunst.