Stilles Heldentum in finsteren Zeiten – Erich Hackls bewegender Recherche-Bericht „Am Seil“

Seit der ehemalige Lehrer und Lektor Erich Hackl 1987 mit der Erzählung „Auroras Anlass“ als Schriftsteller debütierte, wächst das literarische Werk des Autors langsam aber stetig an. Seine in über 25 Sprachen übersetzten Romane und Erzählungen werden von der Kritik regelmäßig gelobt und mit Preisen bedacht. Trotzdem ist dem in Wien und Madrid lebenden Schriftsteller der ganz große Durchbruch in die Liga der Bestseller-Autoren – leider – nie so recht gelungen.

Sein neues Buch trägt den Titel „Am Seil. Eine Heldengeschichte“. Es geht um den authentischen Fall einer gefährlichen Lebensrettung, über der viele Jahre der Mantel des Schweigens lag: Denn der Retter – der Handwerker Reinhold Duschka – war bis zu seinem Tode 1993 der Meinung, er habe nur seine menschliche Pflicht getan; und die Geretteten (die Jüdin Regina Steinig und ihre Tochter Lucia) wollten nach dem Krieg lieber verdrängen als sich erinnern.

Vor dem Vernichtungslager bewahrt

Doch irgendwann war der Wunsch von Lucia einfach zu groß, den passionierten Bergsteiger und wortkargen Handwerker zu würdigen und dem Autor Erich Hackl in allen Einzelheiten zu berichten: wie Duschka es schaffte, sie und ihre Mutter von 1941 bis 1945 vor der Deportation ins Vernichtungslager zu bewahren; wie sie zu dritt an ein unsichtbares Seil gebunden waren und dann mit Glück und Vertrauen überlebten.

Hackl berichtet, was Lucia ihm über die Lebensrettung erzählt hat, er befragt Bekannte, Verwandte, Freunde, macht die Widersprüche in den Erinnerungen deutlich und füllt die Leerstellen der Geschichte mit eigenen Vermutungen: so entsteht ein literarisches Puzzle über stilles Heldentum, Moral und Menschlichkeit.

Vier Jahre lang im gefährlichen Versteck

Als der Abtransport in die Vernichtungslager bevorsteht, tauchen Regina und Lucia in die Illegalität ab und finden bei Reinhold Unterschlupf: in seiner Werkstatt hausen sie vier Jahre lang, immer in der Gefahr, von Kunden, die bei ihm aus Kupfer, Messing und Zink gefertigte Gegenstände kaufen wollen, als Juden erkannt und denunziert zu werden. Nur selten trauen sie sich zu einem kleinen Spaziergang ins Freie. Als die Werkstatt kurz vor Kriegsende ausgebombt wird, besorgt Reinhold einen neuen Unterschlupf und versorgt die beiden mit Nahrung, Kleidung und Büchern.

Nach dem Krieg: Traum vom „normalen Leben“

Als der Krieg vorbei ist, versucht jeder, in ein normales Leben zurück zu finden: Reinhold heiratet eine Musikerin und wird kaum je ein Wort über die Ereignisse verlieren, schon weil er fürchtet, dass im notorisch antisemitischen Österreich Bergkameraden und Kunden sich von ihm abwenden könnten. Regina wird jahrelang darum kämpfen müssen, ihre Arbeitsstelle als Chemikerin in einer Klinik wieder zu bekommen. Erst mit 91 lässt sich Reinhold überreden, seine Heldentat öffentlich zu machen und erklärt sich bereit, von der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet zu werden.

Es ist ein Glücksfall akribischer Recherche und literarischer Fantasie, wie Erich Hackl diese fast vergessene Heldengeschichte rekonstruiert und uns davon erzählt: ohne jeden moralischen oder politischen Zeigefinger; ganz so, als wäre Zivilcourage das Normalste von der Welt.

Erich Hackl: „Am Seil. Eine Heldengeschichte.“ Diogenes, Zürich. 118 Seiten, 20 Euro.