Es bleiben lauter ungelöste Rätsel: Michael Ondaatjes ziellos mäandernder Roman „Kriegslicht“

Plötzlich sind das blutige Schlachten, der Bombenhagel und das allgegenwärtige Sterben vorbei. Keine Nächte mehr im Schutzbunker. Kein Umherirren mehr im schummrigen Dämmerlicht des Krieges. Jetzt könnte es beginnen, das richtige Leben.

Jetzt könnten der 14jährige Nathaniel und seine 16jährige Schwester Rachel ihre Freiheit genießen, Freundschaften schließen, die Liebe kennenlernen. Doch daraus wird nichts werden. Das weiß der Leser schon mit dem ersten Satz, mit dem Michael Ondaatje seinen neuen Roman „Kriegslicht“ eröffnet. Ein Satz wie ein dunkles Geheimnis, ein grausames Menetekel, ein unabwendbarer Schicksalsschlag, der alles ändern und das Leben der beiden Jugendlichen fortan bestimmen wird: „Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren.“

Ich-Erzähler Nathaniel wird später versuchen, sich in diese seltsame Zeit der Ungewissheiten hineinzuversetzen, in der die Eltern plötzlich verschwunden waren und das Vertrauen in die Welt der Erwachsenen erschüttert wurde. Immer wieder wird er sich fragen, wohin seine Eltern gegangen sind, warum sie ihre Fürsorgepflicht aufgaben und ihre Kinder mysteriösen Figuren überließen, die geheimnisvolle Existenzen führten, Rennhunde vom Kontinent nach England schmuggelten, wilde Partys feierten und kuriose Tarnnamen führten.

Sind die Eltern skrupellose Spione gewesen?

Irgendwann wird Nathaniel Geheimdienstunterlagen entdecken, aus denen hervorgeht, dass seine Eltern wahrscheinlich Agenten und Spione waren und vor Mord und Verrat nicht zurückschreckten: „Meine Sünden sind vielfältig“, wird Rose, die Mutter Nathaniels, die wie aus dem Nichts wieder auftaucht, sich aufs Land zurückzieht und dort auf ihren Mörder wartet, später einmal auf die insistierenden Fragen ihres Sohnes antworten.

Nichts genaues weiß man nicht, der Krieg ist längst vorbei, doch alle Geschehnisse und alle Einbildungen, alle Rätsel und alle Realien bleiben im Verborgenen, werden umkreist und mit immer wieder neuen Erinnerungen und Erfindungen zu einem unlösbaren Puzzle aus Fragmenten und Fakten.

Warum turnen lebensmüde Studenten nachts über die Dächer Londons? Wer sind, woher kommen und wohin gehen jene dubiosen Gestalten, der „Falter“ und der „Boxer“, die sich um die beiden verwaisten Kinder kümmern und dann plötzlich ins Vergessen abtauchen? Was hat Rose als Agentin in Italien erlebt und warum wurde sie fast zu Tode gefoltert? Wieso erinnert Nathaniel die Jugend als großes Abenteuer, während seine Schwester Rachel am Verlassensein zerbricht und sich von der Familie löst? Und was ist aus Nathaniels Vater geworden, der nie wieder aus dem Schatten der Vergangenheit ins Licht der Gegenwart tritt?

Nie wieder das Niveau von „Der englische Patient“ erreicht

Gerade eben hat Michael Ondaatje für seinen 1992 veröffentlichten und genial verfilmten „Der englische Patient“ den „Golden Booker“ bekommen, nach Meinung der Briten ist das der beste Roman, der jemals den „Booker-Preis“ bekommen hat. Zu Recht. Denn „Der englische Patient“ handelt, von einem furios mit unzähligen Handlungsfäden und verknäuelten Figurenkonstellationen traumwandlerisch jonglierenden Autor verfasst, von den ganz großen Fragen, Liebe und Tod, Verrat und Krieg, Schuld und Sühne. Ein Roman, der wie ein genialer Fels aus der Brandung der ihn umgegebenen literarischen Mittelmäßigkeit herausragt.

Doch seien wir ehrlich: Weder mit „Anils Geist“ (2000), „Divisadero“ (2007) oder „Katzentisch“ (2012) hat Ondaatje jemals wieder das literarische Niveau des „englischen Patienten“ erreicht. Die Erwartungen an das „Kriegslicht“ waren dennoch hoch. Und die Enttäuschung ist nun umso größer. Denn es ist, man mag es kaum laut sagen, ein misslungener Roman. Ondaatje hangelt sich von einem Einfall zum nächsten, lässt Ideen und Personen kurz aufscheinen und wieder verschwinden, mäandert durch seine Geschichten und Geheimnisse wie Nathaniel auf nächtlichen Bootstouren über die dunklen Kanäle Londons.

Eine Erzählkunst, die sich selbst genügt

Ondaatje kann sich nicht entscheiden, was er uns erzählen und wohin er uns führen will. Kein einziges der vielen Rätsel wird gelöst, alles verschwimmt im Nebel einer Erzählkunst, die sich selbst genügt und keine Lust hat, sich dem Leser mitzuteilen. Ondaatje stellt seinem Roman ein geheimnisvoll-rätselhaftes Zitat voraus: „Die meisten großen Schlachten werden in den Falten von Landkarten ausgetragen.“ Wer das gesagt hat und was es bedeuten könnte, das verrät uns der Schriftsteller leider nicht.

Michael Ondaatje: „Kriegslicht“. Roman. Aus dem Englischen von Anna Leube. Carl Hanser Verlag, München. 320 Seiten, 24 Euro.