Über dem Abgrund

Obwohl sie oft nur wenige Straßen voneinander entfernt wohnten, sind Franz Schubert und Ludwig van Beethoven sich wohl nur flüchtig begegnet. Zur Verehrung des 27 Jahre jüngeren Schubert für den großen Meister, der auf dem Höhepunkt seines Ruhmes stand, gesellten sich Respekt und Scheu bis hin zur Verzagtheit („Wer vermag nach Beethoven etwas zu machen?“).

Wie sehr er gleichwohl über Beethoven hinaus wollte, hinaus musste, klingt in seinen drei letzten Klaviersonaten an, geschrieben in den zwei Monaten vor seinem frühen Tod im November 1828. Schmerzlich schwanken diese Sonaten zwischen Dur und Moll, zwischen zarter Anmut und donnerndem Ausbruch. Ihre Melodien stocken, reißen oft gänzlich ab, lauschen ins Nichts hinein.

Die japanische Pianistin Mitsuko Uchida interpretiert Schuberts letzte Klaviersonaten im Konzerthaus Dortmund als Resümee einer lebenslangen Auseinandersetzung. Mit Schwung geht die Künstlerin die Sonate c-Moll D 958 an, verleiht ihr eine prasselnde Prägnanz, die Mozarts kristalline Klarheit mit Beethoven’schem Ingrimm vereint. Das entbehrt nicht einer gewissen Aggressivität, rückt den modernen Steinway-Klang indes auch an den des historischen Hammerklaviers. Uchidas Spiel klingt zupackend, aber auch nach Übungsfleiß und Exerzitien. Dass sie sich dabei überhastet, zieht leichte Fehlgriffe nach sich.

Im Kopfsatz der Sonate A-Dur D 959 wirkt diese Unruhe nach. Einigen duftig eingestreuten Skalen zum Trotz bleibt Uchidas Fingerfertigkeit überpräsent. Das Andantino bringt stille Melancholie ohne Weltschmerz. Aber im Schlusssatz gönnt die Pianistin uns eine jener Schubert-Melodien, die scheinbar leicht daher geschlendert kommen und sich doch ins Unendliche verströmen. Im Fluss dieses Legato-Spiels leuchtet das Genie des Komponisten auf, der einer ganzen Epoche mit kindlicher Unschuld den Todesstoß versetzt.

Von hier aus greift die Pianistin nach dem Höchsten. Schuberts Schwanengesang, die Sonate B-Dur D 960, breitet unter ihrem nun samtig unterfütterten Anschlag die Flügel aus. Uchida ist jetzt keine Pianistin mehr: Sie ist ein Mensch, der von Wehmut und Verzicht erzählt, von den Schmerzen unerreichten Glücks. Im Andante sostenuto öffnet sie mit jeder harmonischen Wendung neue Welten. Uchida erzählt vom Schweben über dem Abgrund, vom letzten, wehmütigen Blick zurück. Das Finale ist bei ihr die tastende Suche nach einem ungewissen Neubeginn. Das weist weit über das Klavier, weit über Schuberts Zeit, weit auch über diesen Konzertabend hinaus.

Programm des Konzerthauses: http://www.konzerthaus-dortmund.de