Schrill, schnell, schlau: „Im Studio hört Dich niemand schreien“ – und zwei weitere Stücke auf Dortmunds kleiner Bühne

Szene mit Ekkehard Freye und Marlena Keil (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Man könnte sagen, daß er ihnen verfallen ist: den frommen katholischen Jugendbüchern, die Heranwachsende mit Drastik vor den Gefahren der fleischlichen Lust zu bewahren suchen, zum einen, den bunten Heftchen mit den immer ähnlichen blutrünstigen Horror-geschichten zum anderen. Und natürlich ist Jörg Buttgereit (Jahrgang 1963) längst auch dem verfallen, was das Kino aus den Heftchen-Vorlagen machte: Slasherfilme mit schlichter Handlung, schrillen Schreien, Blut und sexualisierter Gewalt, gefragte Unterhaltung eben. Im Italien der 70er Jahre waren die „Schundhefte“ (ein Begriff von früher, sagt man heute noch so?) vorwiegend gelb, und das italienische Wort für Gelb gab der Gattung den Namen: Giallo.

Giallo

Giallo – Trash von gestern, wenn man so sagen will. Eine erste Hommage an das Giallo-Genre war Peter Stricklands Film „Berberian Sound Studio“ von 2012, und er findet in der neuesten Buttgereit-Produktion im Dortmunder Theater-Studio seine eigenwillige Nacherzählung. Erarbeitet hat Buttgereit das Stück zusammen mit Anne-Kathrin Schulz, und der Titel gefällt sich in genretypisch schaurigem Anraunen: „Im Studio hört Dich niemand schreien“. Doch eigentlich hat das gar nichts zu bedeuten.

Der Geräuschmann braucht Beruhigung. Szene mit (von links) Caroline Hanke, Christian Freund, Uwe Rohbeck, Ekkehard Freye, Alexandra Sinelnikova. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Geräuschemacher

Alles fängt ganz sachlich-nüchtern an. Wir lernen den deutschen Tontechniker Maximilian Schall (!) kennen, einen schüchternen Geräuschemacher, den der Filmproduzent Dario Winestone nach Mailand geholt hat, damit er den Sound des neuesten Slasherfilms ordentlich pimpt. Der Sound, erfährt man, ist bisher nämlich eher mäßig; es braucht mehr todesängstliches Gekreisch, mehr gruseliges Krachen und Schmatzen, wenn auf der Leinwand die Knochen brechen. Die Bilder des Films sind hingegen Spitze, blankes Entsetzen zeigt sich bei der Vorführung auf dem Gesicht des zerbrechlichen Tonmannes, dem Uwe Rohbeck Gestalt verleiht. Sein schmieriges Gegenüber Winestone gibt Ekkehard Freye, den man unter seinem teppichartigen Schwarzhaartoupet erst gar nicht erkennt, und zusammen sind die beiden ein komödiantisches Dreamteam, wie Dortmund lange keins mehr hatte.

Selbsterklärend. Maximilian Schall (Uwe Rohbeck, links) , Dario Winestone (Ekkehard Freye) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kreischtöne

Zwar funktioniert erwartungsgemäß und Heiterkeit hervorrufend vieles zu Anfang nicht, doch trotzdem wird bald schon kräftig nachvertont. Eine hinreißende Damenriege aus Sekretärin, zweiter Ehefrau und Tochter aus erster Ehe (Marlena Keil, Caroline Hanke und Alexandra Sinelnikova) übt sich trommelfellzerfetzend in hohen Kreischtönen, Maximilian Schall steuert ein, zwei Male Geräusche eines „sabbernden Sexzwergs“ bei, und irgendwie geht es voran und vielleicht wird es auch mal fertig, doch das ist ja eigentlich bedeutungslos.

Buttgereit packt in diese „Rahmenhandlung“ (das Wort ist eigentlich zu anspruchsvoll) jede Menge Trivialmaterial über Kunst und Kino, und auch anspruchsvolleres Kultmaterial ist vor seiner perfiden Lust am Überdreh nicht sicher. So gerät die berühmte Abschaltszene des menschenmordenden Computers HAL aus dem Kultfilm „2001. Odyssee im Weltraum“, in der der demente Rechner am Ende Hänschen klein singt, zu einer naturgemäß heiteren, aber auch unerwartet nachdenklichen dramatischen Miniatur innerhalb des Stücks. Daß Rollennamen wie – eben – Maximilian Schall, Dario Winestone oder später Rock Hammond Spaß sind, ist ja klar. Rock Hammond, der im wirklichen Leben vielleicht Rock Hudson hieß und hier von Christian Freund mit maßvoll schwuler Attitüde gegeben wird, ist Sohn und fallweise natürlich, wie alle anderen Familienmitglieder, Mitwirkender.

Winestone und Argento

Darüber hinaus aber hat es Buttgereit gefallen, diesen Sohn als aufmüpfigen Verächter der väterlichen Softpornoproduktion zu zeichnen. Auch Schwester Asia Winestone liest dem Vater die Leviten, während man Spaghetti ißt. Und die Freunde bunter (gelber!) Nachrichten werden natürlich wissen, daß die Winestones im italienischen Filmproduzenten Dario Argento und seiner Tochter Asia reale Vorbilder haben. Wer indes im Stück der von Péter Sanyó gespielte Donatello Diablo (!) ist, war mir nicht zu klären möglich. Sanyó ist definitiv ein nicht googlebarer Nachname.

Maximilian Schall (Uwe Rohbeck) landet in der Zwangsjacke. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Der Bechdel-Test

Im Verlauf des Spaghettiessens, kehren wir an den Familientisch zurück, haut Tochter Asia ihrem Vater den Bechdel-Test um die Ohren. Mit diesem Test, den die amerikanische Zeichnerin Alison Bechdel 1985 in einen ihrer Cartoons einbaute, läßt sich ziemlich frappant feststellen, ob Frauen in einem Film mehr Bedeutung als nur die von Sexualobjekten haben. Die Fragen sind beschämend einfach und lauten:

  • Gibt es mindestens zwei Frauenrollen?
  • Sprechen sie miteinander?
  • Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann?

In jüngeren Varianten des Tests wird zusätzlich gefragt, ob die beiden Frauen im Film einen Namen haben. Sollte die Antwort auf alle Fragen ja lauten, hat der Film den Test bestanden. Natürlich würde kein einziger von Winestones Filmen diesen Test bestehen, das würde den Produzenten in tiefe Selbstzweifel stürzen.

Rock Hudson und Doris Day

Mit dem Bechdel-Test kommt fast so etwas wie ein reflektorisches Element in die Inszenierung, das ist man von Buttgereits Stücken gar nicht gewohnt. Bevor Verunsicherung Platz greift, deshalb schnell noch eine Dosis Doris Day – Rock Hudson ist ja schon im Spiel – und ein bißchen Anspielung auf derer beider geistreiche Liebeskomödien der 60er Jahre. Und selbstverständlich, an dieser Stelle darf der Hinweis nicht fehlen, gibt es der mehr oder weniger augenzwinkernden Anspielungen viele mehr, die nicht alle Erwähnung finden können.

Gute Unterhaltung

Anspruchslos nicht ohne Anspruch, schrill, schnell, platt, intelligent und manches andere mehr: „Im Studio hört Dich niemand schreien“ ist von Anfang bis Ende wunderbar unterhaltsames Unterhaltungstheater, und dem Publikum bleibe überlassen, ob es darin eher Komödie oder Comedy erkennen will. Wenn Jörg Buttgereit seinen trashigen Obsessionen weiterhin solche Stücke abringt, hat er jedenfalls ernsthafte Aussichten auf die große Bühne im Haus.

Szene mit (von links) Mario Lopatta, BéŽréŽnice Brause und Frieder Langenberger (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Was gab es sonst noch im Studio des Dortmunder Schauspiels zu sehen?

Zum Beispiel die Uraufführung von „Everything Belongs to the Future“ am 12. Oktober. Das Stück entstand aus einer Novelle der britischen Autorin Laurie Penny (Jahrgang 1986), die die Dortmunder Dramaturgin Anne-Kathrin Schulz aus dem Englischen übersetzte. Die dramatische Fassung schließlich stammt von Laura N. Junghanns (auch Regie). Bérénice Brause, Mario Lopatta, Kevin Wilke und Frieder Langenberger heißen die vier Akteure auf der Bühne. Sie sind Schauspielstudenten und kommen aus Graz, weil es in Dortmund etwas Neues gibt, was aber nicht so ohne Weiteres verständlich ist. „Mit Everything Belongs to the Future“ stellt sich das neu am Schauspiel Dortmund beheimatete Schauspielstudio am Theater Dortmund vor“, verlautet die Anstalt. Alles klar?

Ein Medikament verspricht ewiges Leben

Das Stück spielt 2098 in Oxford und dreht sich um das sensationelle Medikament „The Fix“, das regelmäßig eingeworfen ewiges Leben verspricht. Die ewig jugendlichen Reichen feiern endlos Party, das alternde Proletariat darbt. Und die Revolutionäre, irgendwie natürlich personell auch mit der Oberschicht verflochten, planen einen Anschlag. Tja.

Viel passiert nicht mehr

Das ist alles in allem recht ordentlich inszeniert, vielleicht sollte man den jungen Leuten raten, weniger zu überspielen. Doch vom Hocker reißt die Geschichte einen nicht, weil die Handlung kaum mehr als die beschriebene Grundkonstellation zu bieten hat, originelle Wendungen unterbleiben und thematischer Leere oft mit einem Übermaß an Emotion begegnet wird.

Einmal Goebbels, zweimal Hitler; Szene mit (von links) Alexandra Sinelnikova, Uwe Rohbeck und Ekkehard Freye (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Hitler spielen

Nach wie vor ist „Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm“ von Theresia Walser im Angebot (Premiere im Mai). Zwei Herren in Nazi-Uniformen sitzen hier am runden Tisch, Dritte im Bund ist eine junge Dame in einer Art BDM-Outfit, hoch geschlossen, Gretchenzöpfe. Auch sie, gespielt von Alexandra Sinelnikova, gibt hier einen Mann. Er heißt Ulli Lerch und hat schon mal den Goebbels gespielt.

Die anderen beiden aber waren veritable Hitler-Darsteller, was doch etwas ganz anderes ist! Der ältere Franz Prächtel (Uwe Rohbeck) gab ihn quasi naturalistisch, der jüngere Peter Soest eher distanziert. Oder wie oder was? Gleichsam überleitungslos startet, kaum daß das Publikum sitzt, eine diskursive Achterbahnfahrt, bei der es um schauspielerische Eitelkeiten ebenso geht wie um Regietheater und „Naturalismusgeschwuchtel“ und natürlich um die Frage, ob man Hitler überhaupt spielen darf. Und wenn ja, dann wie? Und darf man dafür Geld nehmen? Auf jeden Fall ist Hitler spielen viel verdienstvoller als Goebbels, irgendwie. Und was Dieter Fels daraus gemacht hätte.

So eine Art Verfremdungseffekt. Szene mit Ekkehard Freye (vorn), Uwe Rohbeck und Alexandra Sinelnikova (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nicht ohne Tragik

Hätte Thomas Bernhard diesen Trialog geschrieben, wäre es sicher bald schon trostlos auf der Bühne, verfinge sich ein jeder hoffnungslos in den für diesen Autor typischen Redundanzschleifen.

Theresia Walser geht mit ihren Figuren und auch mit dem Publikum gnädiger um, ohne indes die tragische Dimension dieser Gesprächsrunde wegzublenden, gerade auch dann, wenn es scheinbar nur um das Theater und die Schauspielkunst geht. Dann hat Uwe Rohbeck als Prächtel unser Mitgefühl, wenn er sich darüber erregt, daß man den Hamlet (in einer modernen Inszenierung) jetzt in sieben Rollen aufteilt. „Hämlet“ spricht er ihn, mit ä, so sei es eigentlich richtig, das wisse man, wen man dieser Figur so nahe sei wie er. Und dann rezitiert er, der alte, gestrige Prächtel, und er erinnert sich an seine ersten innigen Kontakte zur Literatur, als er kostbare Sätze hörte, „die mir vorkamen wie eine Beute“.

Kluges Schauspielertheater

Das Stück lädt ein, Analogien zwischen dem Theaterbetrieb und der Nazi-Diktatur zu erkennen, den peinlichen Drang zur Selbstrechtfertigung („Danach habe ich einen KZ-Insassen gespielt“), das Schwanken nachzuempfinden zwischen Faszination und Ekel. Ein kluges Stück Schauspielertheater, das Thorsten Bihegue (auf einer Bühne von Susanne Priebs) klug inszeniert hat. Und bevor es sich in Wiederholungen verliert, ist schon Schluß, nach einer Stunde 25 Minuten. Ein übersichtlicher, aber keineswegs oberflächlicher Theatergenuß also, dem geneigten Publikum vorbehaltlos anempfohlen.

  • Nächste Termine:
  • „Im Studio hört Dich niemand schreien“: 11., 16. November, 23. Dezember 2018. Weitere Termine folgen 2019.
  • „Everything Belongs to the Future“: 17., 25. November. Weitere Termine stehen noch nicht fest.
  • “Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm”: 28. Dezember. Weitere Termine folgen 2019.
  • www.theaterdo.de