Dreiautorentreffen: Peter Henisch, Franz Kafka, Karl May

HENISCHKAFKAMAY

Zu Beginn von Peter Henischs, im Februar 2012 nach der Erstauflage 1994 erneut im Residenz Verlag aufgelegter Romanerzählung „Vom Wunsch, Indianer zu werden“ erbricht sich ausdrücklich drastisch nicht etwa Ottos Mops und auch kein Pferd vor irgendeiner Apotheke, sondern ein noch junger Mann von 25 Jahren, der sich, etliche Seiten später, als Franz Kafka herausstellt. Das heißt: seinen vollen Namen erfahren wir offiziell erst auf Seite 68, wie auch kurz zuvor den jenes anderen Schriftstellers, dem (samt zweiter Ehefrau Klara) Franz Kafka auf seiner fiktiven Überfahrt nach New York völlig unerwartet begegnet und der sich als erster (nach bereits am Vortag zufällig erfolgter erster Bekanntschaft miteinander) vorstellt, nämlich jetzt mit seinem richtigen Namen, und damit sein anfängliches Inkognito (= Mr. und Mrs. Burton) lüftend: Karl May; oder auch: „Dr. Karl May“, wie er etwas hochstaplerisch sagt.

Doch auch der Untertitel des Romans („Wie Franz Kafka Karl May traf und trotzdem nicht in Amerika landete“) – nicht unähnlich den partiell vorwegnehmenden Kapitelüberschriften, wie man sie mitunter bei Grimmelshausen, E. T. A. Hoffmann oder Irmtraud Morgner finden kann – hatte auch so schon bereits verraten, dass wir auf die Begegnung der so interessant ungleichen Schriftsteller May und Kafka gefasst sein dürfen, die sich, wie alsbald vermittelt wird, zur gleichen Zeit (Anfang September 1908) auf einer mehrtägigen Schiffsüberfahrt von Bremerhaven nach New York befinden. Die lizenzierte, inzwischen vergriffene Ausgabe des Fischer Taschenbuch Verlags vom Februar 1996 hat mit der Wahl des Titelphotos (fahrendes Ozeanschiff + Silhouette von New York) im Übrigen auch Letzteres von vornherein nahegelegt.

Nun aber! Welch schöner Lesezustand hätte das sein können, so male ich es mir aus, wenn nicht der Untertitel und auch nicht der Waschzettel des Verlags und auch kein Prospekt oder Zeitungsbericht irgendetwas vorher verraten hätte, und wir Lesende uns hätten einlassen können auf diese noch nicht sofort identifizierten Figuren! Ab wann hätten wir es denn dann gemerkt, dass die Rede von Franz Kafka ist, einerseits, und andererseits von Karl May und von dessen 2. Ehefrau Klara? Vielleicht hätten wir uns daran erinnert, dass es einen kurzen Prosatext Franz Kafkas mit eben dem Titel gibt, den Henisch für seinen Roman als Haupttitel gewählt hat, und dies schon als Fingerzeig genommen. Doch ohne Titelhinweis? – Spätestens als der junge Mann dem Herrn Burton, hinter dem sich niemand anderer als Karl May verbirgt, seinen eigenen Kurzprosatext „Vom Wunsch, Indianer zu werden“ auswendig vorträgt, wäre für eingeweihte Kafka-Leser die Identität enthüllt. “Spätestens“ sage ich, denn auch vorher werden Indizien, signalartige Hinweise für literarische Rätselrater von Zeit zu Zeit eingestreut; allerdings wie selbstverständlich, und vollkommen unaufgeregt.

Übrigens verwendet der Einstiegssatz, der erste Satz des Romans, nicht etwa die feinere Bezeichnung „sich erbrechen“, sondern unumwunden und gezielt das kräftigere, drastischere Wort „kotzen“. Gleich im ersten Satz des Romans wird (wiewohl noch anonym) ein kotzender Franz Kafka gezeigt. Er ist seekrank geworden. – Die Auskunft lautet sonach rigoros verknappt: Kafka steht an der Reling und kotzt. Das klingt so drastisch wie körpermäßig real.

Und doch: So ganz stimmt das nicht. Erzählt wird zunächst ganz entschieden im Konjunktiv II. Der Wechsel in das erzählerische Imperfekt erfolgt erst nach und nach; und reizvoll überschaubar.

Heraufbeschworen wird insgesamt eine real nicht zustandegekommene Begegnung von Franz Kafka und Karl May zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt. Zu einem Zeitpunkt, der genau datiert wird: 6. September 1908 und die Tage danach.

Von Anfang an ist klar: Wir werden dazu eingeladen, uns eine Situation vorzustellen, die es s o nie gegeben hat. Und die große Kunst des Autors Peter Henisch besteht darin, uns dazu zu bringen, dass wir uns ausgesprochen gerne auf dieses Spiel einlassen, bis wir uns unversehens vorstellen können: Es hätte alles so sein können. Beziehungsweise: War es nicht so? – Fakten und Hintergründe aus Franz Kafkas und Karl Mays Leben werden so klug wie einleuchtend, ja geradezu schwerelos in das erfundene Geschehen auf dem Atlantikdampfer eingebunden, dass wir den Eindruck haben, sehr viel Authentisches über diese beiden so sehr unterschiedlichen Menschen und Schriftsteller zu erfahren; aber nicht nur über diese beiden, sondern ähnlich viel über Karl Mays Frau Klara, dank und vermittels derer aus der im Untertitel suggerierten Zweierkonstellation durchaus pointiert eine unverkennbar geschehensbedingende wie heuristisch aufschlussreiche Dreieckssituation wird.

Auf diese Weise kann der Roman, ohne irgendwo allzuschwer zu lasten, auf sehr verschiedenen Ebenen gelesen werden: a) als ein vielfältig verschlungenes bzw. mehrbödiges Spiel von Fiktion und Realität, b) als ein doppelter bzw. versteckt dreifacher Künstlerroman im Spannungsfeld von sogenannter E- und U-Literatur, c) als ein Dreiecksroman in der grundierenden Konstellation älterer Mann und jüngere Frau und junger Mann, d) als ein erzählerisch-szenischer Versuch über den Erfolg und das Scheitern, e) als eine romanhafte Erkundung der Happy-End-Frage, wie auch – und das nicht nur hierarchisierend-bildhaft (vgl. Schiffsmetapher) – f) der sozialen. Die einzelnen Kapitel des Romans (sieben an der Zahl) folgen sinnvoll und folgerichtig aufeinander, binden behutsam und beglaubigend Rückblicke mit ein und vermögen jeweils in sich abgerundet für sich zu stehen. Strukturierende Entsprechungen und Variationen im Verlauf gibt es auch: Zu Beginn des 1. Kapitels „rettet“ das Ehepaar Burton alias May den eigentlich nur seekranken jungen Mann, der sich allerdings so weit vornüber beugt, dass er über Bord zu stürzen droht, und nach der Séance mit dem Ehepaar May (im 6. Kapitel) befindet sich der Herr Franz so sehr in Trance, dass er unmittelbar anschließend abermals über Bord zu gehen zu drohen scheint und abermals von Herrn May auf das Geheiß seiner Frau „gerettet“ wird. Die Situation des Anfangs kehrt also auf ähnliche Weise wieder und ist doch nicht bloß Wiederholung, wie der weitere Fortgang zeigt.

Bei dieser Doppelung einer bestimmten Rettungssituation könnte im Übrigen folgender literarische Vergleich erhellend sein: Die erste Situation gemahnt vielleicht an eine Episode aus Thomas Manns Künstlernovelle „Tonio Kröger“, dort aus dem 7. Kapitel: „Aber dort hinten stand, tief über Bord gebeugt, der junge Mann aus Hamburg und ließ es sich schlecht ergehen.“ Und die zweite Situation erinnert womöglich an Heinrich Heines Gedicht aus dem Gedichtzyklus „Die Nordsee“: „Seegespenst“, das auch in Fontanes „Effi Briest“ eine gewisse Rolle spielt, und dessen Schlussstrophe wie folgt lautet: „Aber zur rechten Zeit noch / Ergriff mich beim Fuß der Kapitän, / Und zog mich vom Schiffsrand, / Und rief, ärgerlich lachend: / „Doktor, sind Sie des Teufels?““ –

Das 5. Kapitel in Henischs Roman ist durchgängig als eine Folge von Briefen bzw. in Form eines einzigen langen, immer wieder neu ansetzenden Briefes von Franz (Kafka) an Max (Brod) gestaltet. Die derart wechselnde Kapitelgestaltung lockert das Ganze auf, wirkt überdies auch glaubhaft, weil Kafka tatsächlich in dieser Zeit so manchen Brief an Max Brod geschrieben hat. Auch stilistisch nehme ich diesen langen untergliederten Brief als einen Franz Kafka (zumindest der Figur Franz Kafkas, wie wir sie bei Henisch kennenlernen) durchaus zuschreibbaren hin, ohne allerdings ernsthaft stilistische Briefschreibvergleiche durchgeführt zu haben oder auch nur durchführen zu wollen. Zu sehr leuchtet mir die Henischsche Briefschreibversion von ihr selber her ein.

Zusätzlich erwähnt werden mag, dass die „Neuauflage“ 2012 als „eine vom Autor überarbeitete“ (S.4) daherkommt. Der genaue Vergleich mit der lizenzierten Taschenbuchausgabe von 1996 führte bei mir zu folgendem Befund: Peter Henisch hat seinen erstmals 1994 erschienenen Roman nirgends verändert. Sogar die alte Rechtschreibung hat er beibehalten. Da er ansonsten frühere Werke in bearbeitenden Neuauflagen durchaus verändert hat (vgl. z. B. den ebenfalls sehr lesenswerten Roman „Die kleine Figur meines Vaters“), bedeutet „überarbeitet“ in diesem aktuellen Falle wohl: Noch einmal durchgesehn und für gut befunden! Auch ich habe in der ersten Auflage nichts gefunden, was der Autor in der Neuauflage hätte ändern sollen. Ein durchweg gelungenes Buch, das viele Leser… verdient. Und beileibe nicht nur im Karl-May-Jahr 2012.

Peter Henisch: Vom Wunsch, Indianer zu werden / Wie Franz Kafka Karl May traf und trotzdem nicht in Amerika landete, 153 Seiten, Residenz Verlag, vom Autor überarbeitete Neuauflage 2012, € 19,90