Die Revolution der Cineasten – Bertoluccis Film „Die Träumer“

Von Bernd Berke

Dieser Film knüpft etliche Gedanken- und Emotions-Ketten: Vorabend der Revolte im Mai 1968. Noch dazu Paris. Und dann ein Amerikaner in Paris: Der junge Mann in Bernardo Bertoluccis „Die Träumer“ heißt Matthew und pilgert Abend für Abend in die seit jenen Tagen legendäre Cinémathèque.

Dort laufen Hollywood-Klassiker (von Howard Hawks bis Fred Astaire) und die frischen Filme der Nouvelle Vague (Truffaut, Rivette, Godard). Unvergessliche Kinozeiten. Und in jeder Sequenz das Versprechen der Freiheit. Als der Kulturminister den Leiter dieses Kino-Tempels aus politischen Gründen entlässt, wird der Ort zur Keimzelle der Studentenbewegung.

Sexuelle Spielchen, von der Revolte abgesondert

Bei den Demos lernt Matthew die Zwillingsgeschwister Theo und Isabelle kennen, die gleichfalls passionierte Cineasten sind. Als deren Eltern Urlaub machen, haben die drei ihren Platz für Freiheits-Experimente: Das Trio spinnt sich in der groß bürgerlichen Wohnung in einen Kokon ein. Die brodelnde Realität der Straße nimmt man hier kaum noch wahr. Bertolucci gewinnt daraus eine subtile, anspielungsreiche Studie über Wirklichkeit und Träume, Kunst und Künstlichkeit, politische und persönliche Befreiung.

Schon, zu Beginn, als Matthew im Kino sitzt, erhebt sich eine zentrale Frage: Ist die Leinwand ein Fenster zur Realität, oder ist sie im Gegenteil eine unüberwindliche Grenze?Matthew kultiviert einen weltfrommen Blick, der das göttliche Maß der Dinge noch im Muster einer Tischdecke wahrnimmt. Man möchte ihm beipflichten, wenn er (im hitzigen Streit mit Theo) Buster Keaton gegen Chaplin oder Hendrix gegen Clapton ins Feld führt. Denn Matthew plädiert offenherzig, die neurotischen Geschwister hingegen ziemlich verbiestert.

Doch bis zu einem gewissen Grad lässt sich Matthew hineinziehen. Mit Theo und Isabelle buchstabiert er vorwiegend sexuelle Grenz-Erweiterung anhand von Kino-Mythen durch. Jede Geste ein Filmzitat. Daraus entwickelt sich eine Art Pfänderspiel. Wer das vorgeführte Szenenfragment nicht errät, muss bizarre Aufgaben erfüllen. So soll sich Theo (ähnelt dem frühen Bob Dylan: Louis Garrel) nach dem Wunsch seiner Schwester vor einem Konterfei von Marlene Dietrich selbst befriedigen. Die anderen sehen zu.

Theo stürzt sich in die Realität

Theo wiederum nötigt Matthew und Isabelle zum Beischlaf in der Küche. Er schaut nur flüchtig hin, als sie’s tun – und brät sich Spiegeleier. Cool bis zum Anschlag. Doch die schöne Isabelle, bis dahin zur Revolutions-Ikone stilisiert (wie die Barbusige auf dem berühmten Delacroix-GemäIde), ist noch Jungfrau gewesen.

Derlei mit inzestuösem Begehren durchsetzte Spielchen tendieren zur Selbstüberforderung. Die Stimmung verdüstert sich bis zum Rand des Selbstmords (sogar der ist ein Kino-Zitat: nach Bressons „Mouchette“) und zur hilflosen Regression in verlorene Kindheit: Die drei Salon-Revolutionäre (Mao- und Che-Kultgegenstände stets in Reichweite) verkriechen sich in einem Wohnzimmer-Zelt. So finster erscheint Isabelle die Lage, dass sie nachts den Gashahn aufdreht.

Rettung durch einen Pflasterstein

Rettung bringt ein Pflasterstein, der das Fenster zertrümmert und die Luft der rebellischen Straße einlässt. Da ist sie wieder, die Realität! Theo stürzt sich hinein: Gleich ist er bereit, Molotow-Cocktails zu werfen. Auch seine „revolutionäre“ Energie scheint neurotisch getönt.

Schlussbild: Die Szene friert ein, und man hört Edith Piafs Chanson „Je ne regrette rien“. Doch, doch, da gäbe es manches zu bedauern – und Bertolucci weiß das natürlich. Bis ins Detail ist sein meisterlicher Film durchkomponiert und mit Verweisen gespickt. Nichts an ihm ist Zufall.