Kulturhauptstadt 2010: Essen tritt offiziell an – Ruhrgebiet soll jetzt an einem Strang ziehen

Von Bernd Berke

Essen/Bochum. Eigentlich ging es „nur“ darum, welche Stadt mit ihrem Briefkopf für die Revier-Bewerbung zur europäischen Kulturhauptstadt 2010 einsteht. Dennoch lagen die Nerven der beiden Kulturdezernenten Oliver Scheytt (Essen) und Hans-Georg Küppers (Bochum) gestern ziemlich blank, als die KVR-Verbandsversammlung zur Abstimmung schritt.

Noch bevor das Resultat verkündet wurde, sah man dem Mienen- und Gebärdenspiel der „Kontrahenten“ an, wie die Sache ausgegangen war. Küppers blickte ein wenig betrübt drein und nahm tiefe Trost-Züge aus seiner Zigarette, Scheytt hingegen schwoll an vor Stolz. „Natürlich bin ich ein bisschen enttäuscht“, bekannte Küppers später: „Aber jetzt ziehen wir den Karren gemeinsam.“ Oh, friedliche Kultur! Wenn etwa Schalke die Dortmunder Borussen schlägt, gibt es danach weitaus weniger verbalen Schmusekurs.

Bochum unterlag nur knapp

Essen (z. B. mit Weltkulturerbe Zollverein, Aalto-Oper und Folkwang Museum) hat also Bochum (Schauspielhaus, Jahrhunderthalle usw.) in der Vollversammlung des Kommunalverbandes Ruhrgebiet (KVR) mit 23 zu 20 Stimmen bei einer Enthaltung knapp distanziert. Bei einem Patt wäre gelost worden.

Ganz gleich, wie das Ergebnis zustande gekommen ist (Gerüchte wollten sogar von telefonischer Einflussnahme im Vorfeld wissen): Nun möchten beide Städte, möglichst im Verbund mit dem gesamten Ruhrgebiet, an einem Strang ziehen. Zunächst gilt es, die weiteren NRW-Bewerber Köln, Münster sowie den Kreis Lippe (um Detmold) auf die Plätze zu verweisen.

Insgesamt noch 16 deutsche Kandidaten im Rennen

So geht’s jetzt weiter: Bis zum 30. Juni wird die NRW-Landesregierung, beraten von einem hochkarätigen Fachgremium, ihre Entscheidung über den Bewerber aus dem Lande fällen. Dann führt der Weg politisch weiter bergauf: Das Bundesaußenministerium ist am Zuge, es bereitet die Entscheidung des Bundesrates vor. Ist klar, welche Stadt (oder Region) deutschlandweit den Vorzug genießt, so wird der Europäische Rat der EU wohl Ende 2005 darüber befinden. Fest steht jedenfalls: 2010 ist Deutschland mit einer Kulturhauptstadt an der Reihe. Insgesamt sind derzeit noch 16 Kandidaten auf dem Parcours – von Bremen und Lübeck bis Augsburg und Potsdam. Harte Konkurrenz.

Kosten-Horizont von 48 Millionen Euro

Beim Kommunalverband Ruhrgebiet (ab 1. Oktober 2004: RVR = Regionalverband Ruhr) wertet man die gestrige Abstimmung als „historisch“. Verbandspräsident Gerd Willamowski versprach, im Erfolgsfalle werde nicht nur Essen profitieren: „Die gesamte Region wird Spielfeld der Kulturhauptstadt sein.“

Willamowski betonte, dass eine Ernennung zur Kulturhauptstadt „ein riesiges Stadtentwicklungsprojekt“ bedeute – fast so wie (dem Revier entgangene) Olympische Spiele. Essen müsste, wenn es die Palme fürs Revier erringt, für die Jahre 2007 bis 2010 eigens insgesamt 6 Millionen Büro bereitstellen. Dezernent Oliver Scheytt hält dies für machbar. Hinzu kämen rund 12 Mio. Euro vom Regionalverband, (vielleicht) ebenfalls 12 Mio. Euro vom Land, 8 Mio. Euro vom Bund und 1 Mio. Euro aus EU-Töpfen. Macht 39 Mio. Euro. Da das gesamte Projekt auf 48 Millionen taxiert wird, sollen Sponsoren etwa 9 Mio. Euro aufbringen.

______________________________________

Kommentar

Ein neues Ziel

Eitel Zuversicht herrschte gestern in Essen, weil die Kommune als „Bannerträger“ (so die Sprachregelung) für die Revier-Bewerbung zur Kulturhauptstadt 2010 gewählt wurde. Von den wahrlich zahlreichen und gewichtigen Kandidaten aus anderen Landstrichen war da nur noch am Rande die Rede. Das Revier, so schien es, fasst überaus selbstbewusst ein neues, ein europäisches Ziel ins Auge. Salopp gesagt: Olympia war vorgestern, jetzt lautet die Parole eben: „Kulturhauptstadt“! Man darf sich auf spannende Debatten und eine hoffentlich faire Konkurrenz freuen.

Indem die Versammlung des Kommunalverbands Rühr (KVR) die Wahlentscheidung traf, bekam das Geschehen tatsächlich einen überörtlichen, regionalen Anstrich. Doch wir wollen nicht gleich wieder von der ominösen „Ruhrstadt“ sprechen.

Heikle Frage der Finanzierung

Es ist noch nicht heraus, wie sehr sich die anderen Gemeinden des Ruhrgebiets für die Bewerbung ins Zeug legen werden. Mit immerhin 12 Millionen Euro will der Kommunalverband (und künftige Regionalverband Ruhr) die Stadt Essen unterstützen, sollte sie sich denn bundesweit durchsetzen. Heikel wird es, wenn’s um das bei den Kommunen so knapp vorhandene Geld geht. Per Verbands-Umlage müssten auch jene Mitglieds-Städte besagte Summe mitfinanzieren, die vielleicht gar nicht viel vom Ertrag spüren würden.

Gibt es etwa „Spielverderber“?

Wenn KVR-Verbandsdirektor Gerd Willamowski schon jetzt verspricht, das gesamte Revier werde „Spielfläche“ der Kulturhauptstadt sein, so richtet sich der darin verborgene Appell weniger an die kleineren Revierstädte, sondern vorwiegend an Dortmund und Duisburg, die sich von Essen (und Bochum) ein wenig an den Rand gedrängt fühlen könnten. Hier wie dort glaubt man beim KVR noch vornehme Zurückhaltung zu spüren, was die Bewerbung angeht. Sollte es sich da etwa um „Spielverderber“ handeln?

Wohl kaum. Doch man wird aus Dortmunder, Hagener oder Duisburger Sicht gewiss fragen und sorgsam prüfen dürfen, ob die Veranstaltung die in Aussicht gestellte regionale Breitenwirkung entfaltet. In diesem Sinne: Glückwünsche nach Essen, Daumendrücken fürs Revier. Fürs ganze Revier.

                                                                                                                       Bernd Berke