Geierabend in der Nach-Bergbau-Ära: Alte Rituale, neuer Drive

Neue Unternehmenskultur à la Bollywood bei Thyssen Krupp

Farbenfroh: neue indische Unternehmenskultur à la Bollywood bei ThyssenKrupp. (Foto: StandOut Bussenius & Reinicke)

Wir schreiben das Jahr 2019. Auch die allerletzte Zeche ist inzwischen geschlossen – doch der Geierabend lebt weiter. Ist er noch zeitgemäß im Jahr 1 nach Ende der Kohleförderung im Ruhrgebiet?

Wird der alternative Karneval im Industriedenkmal Zeche Zollern in seiner 28. Auflage langsam selbst zum Denkmal? Oder fällt den Machern auch in der 28. Auflage noch Originelles ein, zwischen Zechenkulissen und Steiger-Thron? Die Antwort lautet eindeutig: ja. Mit neuem Regie-Team, einem neuen Ensemble-Mitglied und einer moderaten digitalen Erfrischungskur fürs Bühnenbild gelingt ein Abend, der den beliebten Geierabend-Ritualen und Klamauk-Traditionen huldigt, aber gewohnt giftige Pfeile sendet – in alle Richtungen, die es in diesem Jahr eben verdient haben.

Tatsächlich – für den Geierabend hat eine neue Ära begonnen. Günter Rückert, der von Anbeginn für Regie, Kulissen und Geierabend-Spirit verantwortlich zeichnete, hat sich zurückgezogen und seine Geier nun erstmals vom Publikum aus verfolgt. „Zechen und Wunder“ heißt das Programm, das die acht Darsteller und fünf Musiker nun bis Anfang März 37 Mal auf die Bühne bringen – dank der Improvisationskunst und journalistisch-tagesaktuellen Denke des moderierenden „Steigers“ Martin Kaysh sicher jedes Mal ein wenig anders.

„Kaffeefahrt ins Braune"

„Kaffeefahrt ins Braune“ mit allem Drum und Dran. (Foto: StandOut Bussenius & Reinicke)

Weniger Lokalpolitik

Weniger Kulissen, dafür animierte Projektionen im Hintergrund – das ist rein optisch die augenfälligste und durchaus gelungene Änderung unter dem neuen Regie-Team. Ob es auch an der neuen Regie (Heinz-Peter Lengkeit und  Till Beckmann) liegt oder nicht – auffällig ist, dass der Abend zwar nicht weniger politisch, aber weniger lokalpolitisch geworden ist.

Entweder, Dortmund und die anderen Ruhrgebietskommunen hatten anno 2018 zu wenig Satirefähiges zu bieten – oder das Ensemble hat den Schwerpunkt bewusst stärker auf landes-, bundes- und sogar europapolitische Themen gelegt. So wird Ministerpräsident Armin Laschet für den Anti-Preis „Pannekopp des Jahres“ nominiert, weil er dank der Fahrverbote unerwartet sein Wahlversprechen einlösen kann: Weniger Staus auf der A40. Denn wo niemand mehr fahren darf, kann es auch keine Staus geben.

Harte Konkurrenz um „Pannekopp des Jahres“

Laschet konkurriert um den Schrott-Preis mit dem Unternehmen DB Netz, das Herten einen Haltepunkt verwehrt – und der 60.000-Einwohner-Stadt damit zum zweifelhaften Titel „Größten Stadt Festlandeuropas ohne eigenen Bahnhof“ verhilft. Wer den tonnenschweren Orden bekommt, entscheidet das Publikum an jedem Abend per Applaus – bei der Premiere votierten die anwesenden Ehrengäste aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft haarscharf für Laschet.

Zu den Highlights im zweiten Teil gehört die Nummer „Bollywood West“: Weil das indische Unternehmen Tata nun bei ThyssenKrupp einsteigt, ändert sich natürlich auch die Unternehmenskultur. Beim Ruf nach dem Betriebsrat erscheint den Stahlarbeitern plötzlich ein weiß gekleideter Inder, der die Sorgen und Nöte der Malocher einfach wegtanzt. Auch Rechtsradikalismus und Nazis sind (mal wieder) Thema: Bei einer „Kaffeefahrt ins Braune“ gibt es die Argumentationshilfe V3 für die Teilnehmer – Schlagstock statt Heizdecke, bevor es zum „All you can beat“ mit linksversifften Demonstranten geht.

Wenn der „Steiger“ Plastikhalme verteilt

So richtig bitterböse gerät allerdings keine Nummer – die Gutmenschen im Publikum runzeln wohl am ehesten die Stirn, wenn „der Steiger“ Martin Kaysh aus Trotz gegen das entsprechende EU-Verbot einzeln in Plastik verpackte Plastikhalme ans Publikum verteilt.

Die Welt über Tage hat sich verändert

Die Welt über Tage hat sich ziemlich verändert. (Foto: StandOut Bussenius & Reinicke)

„Endlich über Tage“ heißt das titelgebende Stück: Hans-Peter Krüger und Murat Kayi mimen zwei Bergleute, die nach 40 Jahren dank des Ende der Steinkohleförderung erstmals wieder ihre Kopf aus der Erde stecken. Alles was sie wollen, ist ein Bier – doch die Welt hat sich inzwischen verändert. Die Autowerkstatt, in der man früher stets ein Bier schnorren konnte, ist nun ein schickes Lokal, das nur alkoholhaltigen Hopfen-Smoothie im Angebot hat und sich von der Werbeagentur „Zechen und Wunder“ hippe Ideen erhofft. Die Vermarktung und Verkitschung der Bergbau-Ära hat längst begonnen, und ab sofort werden im Ruhrgebiet Kinder in die Nach-Kohle-Zeit geboren, für die die Arbeiterkultur der Malocher nur mehr Content zum Storytelling im Marketing sein wird.

Neu im Ensemble: der Obel

Neu im Ensemble: Andreas Obering alias „Der Obel“. (Foto: StandOut Bussenius & Reinicke)

Mit Andreas Obering aus Hamm, bekannt als „Der Obel“, hat das Ensemble einen veritablen Fang gemacht. Der Dialekt-Profi glänzt als beleidigter „Danke, Merkel!“-Ossi ebenso wie als Kölsche Stimmungskanone, die dem Geierabend-Publikum einmal zeigt, wie richtiger Karneval geht.

Was ist die Mehrzahl von Bier?

Die ewiggleichen Inszenierungen politischer Debatten in TV-Talkshows nimmt die Nummer „Brei mit Illner“ aufs Korn: Vier Politiker reden zwar nicht um den heißen Brei herum, dafür aber mit buntem Brei im Mund, der am Ende auch auf den politischen Gegner abgeschossen wird – das rituelle Ausspeien von Floskeln und Versatzstücken einmal auf seinen Kern reduziert.

Immergleiche Polit-Talkshows

Parodie auf immergleiche Polit-Talkshows. (Foto: StandOut BUssenius & Reinicke)

Kein Geierabend ohne „Die zwei vonne Südtribüne“ – auch wenn mit Hans-Martin Eickhoff 50 Prozent des beliebten „Lollo und Immi“-Duos inzwischen ausgeschieden ist. Der Geierabend schickt weiblichen Nachwuchs auf die Süd. Franziska Mense-Moritz fußball-fachsimpelt nun als „Priscilla“ mit verraucht-versoffener Stimme mit Pelzmantel und Sonnenbrille mit ihrer Kollegin Sandra Schmitz – und natürlich einem Kasten Bier. Denn: „Was ist die Mehrzahl von Bier? Kasten!“

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