Menschen in einem Zufluchtsraum – Dieter Giesing inszeniert „Die Zeit und das Zimmer“ von Botho Strauß in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Damit hatte der Kulturbetrieb nicht gerechnet: Letzten Freitag machte sich der angeblich so weltenthobene Schriftsteller Botho Strauß in der FAZ Gedanken über eine mögliche schwarz-grüne Zukunft der Republik: Auch dabei zog er allerdings ganz große Grundlinien und begab sich nicht etwa in die „Niederungen“ der Tagespolitik.

Sein 1989 uraufgeführtes Stück „Die Zeit und das Zimmer“, jetzt von Dieter Giesing in Bochum imzeniert, scheint zwar weit jenseits des Alltags ins Ungefähre zu schweben. Doch das Traumspiel in der Spät-Nachfolge eines Strindberg geht aus schmerzlich genauen Beobachtungen des Mittelschicht-Lebens hervor.

Das leere weiße Zimmer im wundersam wechselnden Dämmerlicht, das Karl-Emst Hermann gebaut hat, bedeutet als Zufluchtsraum zugleich die jetzige Welt in all ihrer Mobilität und Haltlosigkeit. Es ist Schauplatz flüchtiger Menschen-Passagen. Wie Geistererscheinungen gleiten die Figuren zueinander und aneinander vorbei. Wen sie gestern oder vorhin geliebt haben und warum, das haben sie schon nieder vergessen. Jede Begegnung trägt hier schon das Vergehen in sich.

Dasein als Durchgangsstation

Es ist die ebenso sorgsame wie gelassene Arbeit eines in Leben und Theater gewiss erfahrenen Regisseurs. Sehr präzise und doch mit luftigen Freiräumen führt Giesing die durchweg inspirierten Darsteller durch die Aggregatzustände dieses Daseins als Durchgangs-Station. Alter Befund im neuen Gewand: Die Frauen, vor allem jene so selbstverständlich und umstandslos auftretende Marie Steuber (so überaus klar, dass sie schon wieder geheimnisvoll wird: Catrin Striebeck), die Frauen also wirken vorwiegend naturhaft, wie unterwegs zu einem wieder gefundenen Mythos.

Diese Marie weckt Männerphantasien: Ist sie etwa eine „heilige Hure“, furienhafte Medea oder doch nur eine erotisch Berechnende, die auf einen Job aus ist? Wohl nichts von alledem. Fest gefügte Identitäten gibt’s hier ohnehin nicht.

Untiefen allzu großer Ehrlichkeit

Die Männer hingegen scheinen gesellschaftlich verbogen zu starren, eher bizarren Charakteren. Doch auch bei ihnen keimt die Weigerung, noch etwas anzustreben oder Meinungen zu hegen. Mal wieder geradezu kultverdächtig lakonisch gibt Ernst Stötzner den Skeptiker „Julius“, der sich ein buddhistisches Nichts-mehr-Wollen zu eigen machen möchte. Zusammen mit Olaf (wunderbareer Widerpart: Burghart Klaußner) steigert er sich gar in eine Art Sketch über die Untiefen allzu großer Ehrlichkeit hinein – irgendwo zwischen Beckett, Loriot und eben Strauß.

Das Stück sammelt gängige Floskeln und Neurosen ein, zielt aber kühn ins Jenseitige: Es spielt nach und hinter allen gescheiterten Verliebtheiten oder auch feministischen Aufregungen. Die wechselnden Begegnungen im Zimmer evozieren Schrecken und Zauber der Wiederkehr. Die Kraft der Sprache ist zuweilen so beschwörend wirksam, dass sogleich geschehen kann, wovon eben gesprochen wurde.

Die 100 pausenlosen Minuten vergehen wie in Traum und Flug. Atemlos folgt man den rasch verwehenden Spuren der Menschenwesen. Großer Beifall fürs Regieteam und das gesamte Ensemble.

Termine: 4., 12., 15., 19., 20., 27. November. Karten: 0234/3333-5555.

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Zur Person

• Botho Strauß wurde am 2.12.1944 in Naumburg (Saale) geboren.

• Von 1967 bis 1970 war er Redakteur bei der Fachzeitschrift „Theater heute“, dann bis 1975 Dramaturg an der Berliner Schaubühne bei Peter Stein.

• 1989 erhielt er den Georg-Büchner-Preis.

• Eine Auswahl wichtiger Werke: 1976 „Trilogie des Wiedersehens“ / 1978 „Groß und klein“/ 1981 „Paare Passanten“ / 1984 „Der junge Mann“ / 1988 „Besucher“ / 1994 „Wohnen Dämmern Lügen“ / 2001 „Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia“ / 2004 „Der Untenstehende auf Zehenspitzen“.