Hermann Ungars Roman „Die Klasse“: Ein Lehrer leidet wie ein Hund

Einer gegen alle: Der Lehrer Josef Blau fühlt sich immerzu von aufsässigen Schülern umzingelt und im Wesenskern bedroht. Falls er kein strenges Regiment führt und dabei jede Maßnahme strategisch plant, droht die allzeit schlummernde Rebellionsbereitschaft aufzulodern und ihn zu vernichten. So denkt Blau jedenfalls. Kein Augenblick, der nicht mit Angst getränkt wäre. Einer gegen alle, auch gegen sich selbst.

Hermann Ungar hat 1927 in seinem Roman „Die Klasse“ eine Innenansicht des Verfolgungswahns gezeichnet. Gemeint ist nicht nur die Schulklasse, sondern auch die Klasse als soziale Schichtung. Man kann hier schaudernd in die Gefühlswelt eines durch und durch verkorksten Pädagogen jener Zeit eintauchen. Vor allem in der ersten Hälfte liest sich das Buch über weite Strecken als aufregend dicht gewobenes Psychogramm, als beklemmende Studie einer Gemütskrankheit, die nicht nur zeitbedingte Seiten hat.

Das Elend dieses Lehrerdaseins wuchert weit über schulische Fragen hinaus. Auch privat fühlt sich dieser Josef Blau zuinnerst mickrig – neben seiner drallen Partnerin Selma, die ein Kind von ihm erwartet, was der Erzeuger freilich bloß als tragische Verstrickung erlebt, die er am liebsten aller Welt verschweigen würde. Mit dem feschen Leopold taucht just jetzt ein neuer Lehrertypus als Gegenfigur an der Schule auf; ein Mann der neuen Zeit, beliebt bei allen Schülern, Naturbursche und Turner, gewiss auch Frauenheld, wie Blau argwöhnt. Deshalb zwingt er Selma, der er pauschal Gelüste auf andere Männer unterstellt, bodenlange Röcke zu tragen und das Haar abzuschneiden, damit sie nur ja keine Begehrlichkeiten wecke. Das ganze puritanische Arsenal.

Zu allem Überfluss lässt sich Blau vom barock-gargantuesken „Onkel Bobek“, einer mit Inbrunst gezeichneten, vor Fress- und Sauflust schier berstenden Gestalt, eine namhafte Bürgschaft abschwatzen. Und das, obwohl der Lehrer (gerade im Vergleich zu seinen großbürgerlichen Schülern) in bescheidenen Verhältnissen lebt. Wehe also, wenn Bobek das Geld vertrinken sollte!

Auch damit noch nicht genug, es sammelt sich weiteres Unheil über diesem Hiob: Einziger Ratgeber Blaus ist eine Jugendbekanntschaft, ein mephistophelischer Mensch namens Modlizki, der alle Bürger mitsamt den Aufsteigern (auch Lehrer) hasst, jedoch mit den übelsten Schülern im zwiespältigen Bunde zu stehen scheint. Er geleitet die – wie man damals vielleicht gesagt hätte – „mannbaren“ unter ihnen auch schon mal ins „Frauenhaus“, vulgo Bordell, um sie zu verderben. Aus Lust an Skandal und Untergang flüstert er Blau einen Hinweis zu, wann es wieder so weit sein wird. Fürchterliche Folge: Der Schüler Laub (Obacht: die gleichen Buchstaben wie im Namen Blau) erhängt sich, weil er sich vom Lehrer am Ort der Fleischeslust ertappt sieht. Nun, das ist eben doch schon ein paar Jahrzehnte her.

Leider steigert sich die Geschichte von jetzt an geradezu haltlos in ein existenzielles, quasi-religiöses Läuterungsdrama hinein. Blau sieht nun überall Gotteszeichen, spricht gleichsam in Zungen, stammelt wie ein seltsamer Heiliger. Alles, was jemals von ihm ausgegangen ist, möge getilgt werden. Alle Menschen sind Schüler einer einzigen großen Klasse. Und überhaupt…

Trotz solcher Einwände lohnt es sich, Hermann Ungars Roman zu lesen. 1929 mit nur 36 Jahren gestorben, hat er ein schmales Werk geschaffen, das anfangs die Aufmerksamkeit, ja den Enthusiasmus Thomas Manns weckte, der allerdings bald vor Ungars Radikalität der Menschenschilderung zurückschreckte. Man hat ihn in einer Traditionslinie zwischen Kafka und Freud sehen wollen. Solche Vergleiche sind meistens misslich. Ungar ist Ungar. Und das ist in vielen Belangen mehr als genug.

Hermann Ungar: „Die Klasse“. Roman. Nachwort von Ulrich Weinzierl. Manesse Verlag. 320 Seiten, 19,95 Euro.