Die Ichsucht als bizarrer Horrortrip – Ibsens Drama „Peer Gynt“ in Oberhausen

Von Bernd Berke

Oberhausen. Mit Selbstfindung und Selbstverwirklichung ist das eine ziemlich zwiespältige Sache. Mag sein, daß man tief „drinnen“ seelische Quellen findet, man wird aber wohl auch in Abgründe blicken. Besonders davon handelt „Peer Gynt“, Henrik Ibsens großes Drama einer durch die halbe Welt irrlichternden lchsucht.

Mit diesem Stück, in pathetischen Zeiten volltönend „Faust des Nordens“ genannt, setzt ein Theater manches aufs Spiel. Eine mittelgroße Bühne wie in Oberhausen muß da schon alle verfügbaren Kräfte in die Waagschale werfen.

Zu Beginn des etwa vierstündigen Abends sehen wir Peer Gynt als jugendlichen Aufschneider, der vor seiner Mutter Aase mit neuen Un-Taten prahlt. Dieser Kindskopf erzählt von sich wie von einer Comic-Figur. Doch unbekümmert ist er nicht. Der beachtliche Frank Wickermann läßt bereits spüren, daß es diesen Peer Gynt nicht in der dumpfen norwegischen Enge halten wird, daß er ausbrechen wird ins Unbedingte. Von einem Klettergerüst aus schreit er es in die Welt hinaus: Nichts Geringeres als „Kaiser“ will er werden – und sein Ich schrankenlos ausleben. Auch Ulrike Schloemer als Mutter Aase zeigt einen Widerstreit der Empfindungen: den Stolz der verarmten Witwe ob der unbändigen Kraft ihres Sohnes, aber auch eine gewisse Empörung ob seiner Verfehlungen. Sie könnt‘ ihn verwemsen und herzt ihn doch.

Kugelrunder König der Trolle auf Bierkästen

Aases Mutterliebe trägt eben allemal den Sieg davon. Sie ist ebenso übers Irdische erhaben wie die Liebe der anfangs blutjungen Solveig (großartig, gläsern ätherisch: Sabine Wegmann), die lebenslang darauf harrt, daß Peer Gynt geläutert zu ihr zurückkehrt. Er wird es erst in der Stunde seines Todes tun, wenn der böse Taumel, der Horrortrip der Ich-Anmaßung vorüber ist.

Regisseur Johannes Lepper führt in der äußerst sparsam „möblierten“ Szenerie eine wimmelnde Fülle eingängiger Ideen und Bilder (Bühne: Martin Kukulies) ins Feld, um des ausufernden Stückes Herr zu werden. Peer Gynts Herkunftsprovinz erleben wir als deprimierendes Absurdistan, in dem Tattergreise, Säufer und Schläger ihr Unwesen treiben. Man versteht nur zu gut, daß einer dies alles hinter und unter sich lassen will.

Die einprägsamste Szene spielt im Zwischenreich der Trolle, die Peer Gynt für sich vereinnahmen wollen. Der auf gestapelten Bierkästen hereinrollende Trollkönig (Hartmut Stanke) ähnelt einem kugelrund aufgeblasenen Erich Honecker selig, sein kleiner Hofstaat einem quäkigen, dümmlich schlagerseligen Karaoke-Trüppchen. So könnte die Vorhölle aussehen.

Leider auch Blecheimer und Hüpfbälle

Auch später, wenn Peer Gynt (nun dargestellt von Andrea Bettini, der seiner Figur Überdruß und wissenden Zynismus verleiht) als Tatmensch, Seefahrer, Wüsten-Wanderer, Kriegsgewinnler, Sklavenhändler, Kolonialist und beinahe schon ein Faschist der Ichsucht in die Welt aufbricht, genügen sinnfällige Andeutungen. Die Szenen in Irrenhaus zu Kairo werden durch eine Live-Kamera verfremdet, was tatsächlich ästhetischen Mehrwert erbringt.

Freilich gibt’s auch jene theaterüblichen Blecheimer, in die Verzweifelte ihre Köpfe tauchen oder aus denen allerlei Ekliges rinnt. Und daß die drei Sennerinnen, die Peer Gynt unterwegs begattet, im grotesken NS-Mädel-Look von Männern gespielt werden, die auf Hüpfbällen die Bühne entern, erschließt sich kaum als Akt der Sinnschöpfung.

Obschon gelegentlich etwas zu sehr ins Bizarre vernarrt und nicht mit dem langen Atem für die volle Strecke begabt, beweist diese Inszenierung doch auch Sinn für leise Momente. Man merkt es in den Sterbeszenen, bei denen das Publikum schier den Atem anhält – um sich am Schluß in „Bravos“ Luft zu verschaffen.

Termine: 13., 16., 17. und 24. Januar. Karten: 0208/8 57 80.