Psychologisches Tieftauchen – André Téchinés Film „Alice & Martin“

Von Bernd Berke

Martin giert nach Gewalten, die viel größer sind als er selbst und die ihn möglichst verschlingen sollen. Als Kind haßt er seinen Vater so sehr, daß er in eine Fieberkrankheit flüchten will. Also zieht er den Pyjama aus, reißt das Fenster auf und stellt sich bibbernd vors eisige Schneegestöber. Später wird er sich ebenso todesverachtend in die tosenden Fluten des Meeres stürzen. Ein Masochist? Ein Verrückter?

Der seltsame Held in Andre Téchinés Film „Alice & Martin“ glaubt, er habe schwere Schuld auf sich geladen. Beim Handgemenge mit dem Vater ist jener tödlich gestürzt. Hals über Kopf rennt der nun 20jährige Martin davon. Er irrt mit gehetztem Blick durch Feld und Flur.

Unterwegs geht’s rustikal zu: Martin schläft frierend im Freien und zieht vor lauter Hunger den Hühnern im Stall die Eier unterm Gefieder weg, um sie sofort roh auszuschlürfen. Überleben ist erst mal alles.

Zeitsprung: Inzwischen polizeilich vom Mordverdacht entlastet, zieht Martin nach Paris, wo sein schwuler Halbbruder lebt. In dessen ärmlicher Behausung begegnet Martin der schönen Alice, einer Violinîstin (Juliette Binoche). Wird jetzt alles gut?

Wer hofft, daß nun einer dieser leicht hingetupften Liebesfilme à la française beginnen möge, sieht sich enttäuscht. Um Liebe geht’s hier zwar auch. Doch vor allem steht psychologisches Tieftauchen auf dem Spielplan. Der so heillos in die Welt geworfene Martin (Alexis Loret) kommt Alice befremdlich vor. Erst recht, als dieser einsame junge Mann sie auf all‘ ihren Wegen heimlich verfolgt – zu Proben, in die Metro, in Bistros. Als sie ihn zur Rede stellt, gesteht er seine brennende Liebe.

Hoffen auf den inneren Frieden

Sie ist irritiert – und spielt traurig auf der Violine Tango, jene Musik, die (wie es bedeutungsschwer heißt) seelische Wunden nicht schließt, sondern schmerzlich offen hält. Nun vollführt der oft etwas fahrig wirkende, vom Leid seiner Figuren mitgezogene Film eine Kehre. Martin macht Karriere als Model, er gibt sich offenbar ganz dem schönen Schein hin. Doch in seinem Inneren brodelt es.

Ausgerechnet als Alice ihrer Liebe inne wird, schwelt seine Krise. Und als sie schwanger ist, bricht das Unheil aus: Wer weiß schon, was in Martins Kopf vorgeht? Mag sein, daß er, der seinen eigenen Vaterkonflikt noch nicht bewältigt hat, den Makel der Schuld nicht als „Erbsünde“ an ein Kind weiterreichen will. Vielleicht hegt er die Idee unbedingter Reinheit, für die er sich bis aufs Blut quält; ganz wie in einer Märtyrer-Legende.

Jedenfalls geht Martin so unerbittlich in sich und würgt derart an seiner vermeintlichen Schuld, daß er in die Psychiatrie eingewiesen wird. Den Heilungsvorschlag stammelt er selbst hervor: Des Vaters Witwe müsse ihn des Mordes bezichtigen, damit er endlich weltliche Richter und damit inneren Frieden finde…

Das kommt uns nun doch ein wenig herbeigezerrt und etwas arg existentialistisch aufgestylt vor, so daß wir nach Linderung Ausschau halten – und Alice noch mehr in unser Blickfeld gerät. Ganz aufopferungsvoll Liebende, kämpft diese Frau fortan um Martins Seelenheil und eine gemeinsame Zukunft mit Kind. Wundervoll. Doch einer Juliette Binoche würde man selbst dann stundenlang zusehen wollen, wenn sie fast gar nichts täte.