Erstarrung vor dem Leben – „Liebesfluchten“: Bernhard Schlinks neue Erzählungen

Von Bernd Berke

Welcher deutsche Schriftsteller hat in den USA jüngst eine Millionenauflage erzielt? Nein, nicht der Literaturnobelpreisträger Günter Grass, sondern Bernhard Schlink. Er ist sozusagen der Autor der Stunde. Mit seinem Roman „Der Vorleser“ kam er (nach einem Auftritt in Oprah Winfreys TV-Talkshow) gar an die Spitze der Paperback-Bestsellerliste in der „New York Times“. Nun sind seine neuen Erzählungen „Liebesfluchten“ erschienen.

„Das Mädchen mit der Eidechse“, die Eingangs-Erzählung des Bandes, knüpft thematisch indirekt beim „Vorleser“ an. Ein kleiner Junge hat sich in besagtes Mädchen auf einem Gemälde, das daheim in Vaters Zimmer hing, so sehr verliebt, dass daneben später jede wirkliche Frau verblassen wird. Damit klingt das Motiv einer Flucht vor der Liebe an. Schlink schildert das Elternhaus dieses seelisch erstarrten Sohnes. Ruchbar wird das Syndrom einer Familie, in der niemals offen geredet wurde.

Doch der Autor belässt es nicht bei Privat-Psychologie. Das familiäre Schweigen hat tiefere (Ab)-Gründe: Die Herkunftsspur des Gemäldes führt zurück zur richterlichen Tätigkeit des Vaters in der NS-Zeit. Ist er ein furchtbarer Handlanger gewesen – oder ein heimlicher Widerstandskämpfer?

Auch in „Der Seitensprung“ verstören politische Vorgänge das Liebesleben. Schon vor der„Wende“ hat sich ein Westdeutscher mit einem ostdeutschen Paar angefreundet. Nach vielen problemlosen Treffen kommt es zur Aufwallung: Die Ehefrau schläft mit ihm. Vollends heillos wird die Wirrnis, als ihr Mann als ehemaliger Stasi-Mitarbeiter enttarnt wird. Er hat seine eigene Frau bespitzelt.

In „Der Andere“ setzt sich ein Witwer auf die Fährte jenes Mannes, mit dem seine Frau einst fremdgegangen ist. Statt den vermeintlich oberflächlichen „Geck“ bloßstellen zu können, muss er von ihm lernen, wie leicht er selbst das Leben hätte nehmen sollen.

Die Untiefen einer Ehe durchmessen

Überhaupt werden viele Verlust-Bilanzen aufgemacht: Noch so ein Erstarrter, der seine Defizite allzu spät erkennt, begegnet uns in „Der Sohn“. Erst auf einer gefährlichen Friedensmission in Mittelamerika dämmert diesem älteren deutschen Professor, dass er seinen inzwischen erwachsenen Sohn vernachlässigt hat.

Etwas schwächer als solche schon fast klassischen Stories ist „Die Beschneidung“ geraten. Recht vorhersehbar wirken sich in einer deutsch-jüdischen Liebesbeziehung geschichtlich geprägte Vorbehalte bis ins Intimste aus.

Auch die ausnahmsweise ironisch getönte Erzählung „Zuckererbsen“ (Der Titel bespielt auf Heinrich Heines Wachtraum vom Lebensgenuss an) zeigt nicht eben Schlinks stärkste Seiten. Die Abenteuer eines Mannes, der gleich drei Frauen dauerhaft beglücken will, passen nicht so recht zum sonst so wohltuend zurückhaltenden Erzählstil.

Atmosphärisch hochverdichtet erscheint jedoch das Schluss-Stück „Die Frau an der Tankstelle“. Auf 25 Seiten werden hier etliche Untiefen eines Ehelebens durchmessen – vom ungelebten Jugendtraum bis zum abermals verspäteten Versuch eines Neubeginns.

Schlink, von Haus aus Jurist, schreibt betont nüchtern, geradezu schmucklos. Er hat einen untrüglichen Blickt für Lebens-„Fälle“, deren Verhandlung sich lohnt. Mit wenigen Strichen vermag er die Grundlinien ganzer Biographien zu skizzieren, deren Fortgang oft schmerzlich offen bleibt.

Manchmal aber lässt sich Schlink verleiten, Geschehnisse fein säuberlich zu bereden und „einzuordnen“. Dann, aber nur dann gerät das sorgsam gewobene Geheimnis seiner Figuren in Gefahr…

Bernhard Schlink: „Liebesfluchten“. Diogenes-Verlag. 308 Seiten, 39,90 DM.