Die Muster des Sichtbaren – Ein ganz Großer der Abstraktion: Ellsworth Kelly und seine Zeichnungen in Bonn

Von Bernd Berke

Bonn. Ein Amerikaner in Paris. Vielleicht hat er sich zwischendurch im Hotel schrecklich gelangweilt. Unentwegt hat er jedenfalls die Fensterkreuze des Zimmers gezeichnet, als gäbe es in dieser Stadt sonst nichts zu sehen. Doch aus solcher müßigen Selbstbegrenzung quillt oft das Ungeahnte in der Kunst.

Ellsworth Kelly, der 1948 aus Boston/USA nach Frankreich kam und dort bis 1954 lebte, gilt heute als einer der ganz großen Abstrakten der Nachkriegszeit. In Fensterformen, Schienenmustern der Pariser Metro, Spiegelungen auf dem Wasser der Seine oder denLinien- und Netzstrukturen von Tennisplätzen entdeckte er seinerzeit serielle Grundmuster oder „Module“, die sich trefflich variieren ließen – erst recht unter gezieltem Einsatz des Zufalls.

Etwa so: Einige Pinselhiebe vollführen, sodann das Bild zerteilen und auf gut Glück neu collagieren. Oder so: Gleich mit verbundenen Augen malen, die Linien frei fließen lassen. Man staunt über die geradezu klassische Formvollendung, die auf solche Weise reifen kann.

Nah am Moment der Ideenfindung

Die größtenteils noch nie öffentlich gezeigten Arbeiten befinden sich überwiegend im Besitz des Künstlers. Der vierfache documenta-Teilnehmer (erstmals 1968) eröffnet somit einen Einblick in seine Werkstatt. 1992 sah man in Münster Kellys Gemälde. Im Bonner Kunstmuseum führen nun die Zeichnungen aus der Frankreich-Zeit zurück zum Moment der Ideenfindung, näher an den Zündpunkt des künstlerischen Prozesses heran.

Kelly fand zu einer Bildsprache, aus der jede individuelle Handschrift getilgt war. Diese Un-Persönlichkeit hat er zeitlebens angestrebt. Expressive Gebärden blieben ihm ebenso fremd wie die Figuration, die nur zu Beginn seines zeichnerischen Oeuvres auftaucht, freilich schon als karge Inventur, gleichsam als Zufalls-Schnappschuss: Man sieht die Mal-Utensilien auf einem Tisch verstreut, dahinter im Spiegel den Unterkörper des Künstlers, kopflos anonym.

In einem weiteren Schritt mutieren die Farbtiegel zu abstrakten Formen. Auf der Suche nach einer „Grammatik“ des Sehens spürt Kelly die offenbar allzeit gültigen Raster hinter den Dingen auf, er lotet Farb- und Raumverhältnisse aus – bis an den Saum der völligen Stille und Leere. Oft scheint es, als sei sein Blick zunächst beiläufig wie im Traum zu diesen Rändern hin geglitten, ja geirrt, dann aber plötzlich „scharfgestellt“ worden.

Das Trinkglas sieht immer wieder anders aus

Der heute 77-Jährige ist kein großer Erklärer seiner selbst, man möchte ihn beinahe für ein wenig schrullig halten. Seine Anekdoten über andere Berühmtheiten der neueren Kunsthistorie bleiben in Ansätzen stecken. „I loved Miró.“ Warum? Nun ja, einfach so.Als er Willem de Kooning oder Gerhard Richter traf, habe man einander Wertschätzung bekundet. Soso. Auch nicht allzu aufschlussreich.

In Bonn beschränkt sich sein Kommentar zur ausgestellten Werkgruppe letztlich auf den Satz „Zeichnen ist wahrnehmen“. Zur Erläuterung nimmt er ein Trinkglas in die Hand, kippt und dreht es. Effekt: Der Kreis der Glasöffnung sieht immer wieder anders aus – je nach Perspektive wie eine Ellipse oder ein bloßer Strich. Ein wahrhaft elementarer, kontemplativer Zugang zur sichtbaren Welt.

„Spectrum Colors Arranged by Chance“ (Spektralfarben, nach Zufall arrangiert) heißt ein Kelly-Bild mit 1600 bunten Quadraten. Man mag kaum glauben, dass es aus dem Jahr 1951 stammt, wirkt es doch wie ein mit Pixeln übersätes Feld der neuesten Computerzeit. Die Zukunft war eben immer schon da.

Ellsworth Kelly: „The Early Drawings“ (Die frühen Zeichnungen). Kunstmuseum Bonn. Bis 10. Sept. Di-So 10-18, Mi 10-21 Uhr. Katalog 59 DM.