Wie geht es weiter mit „Occupy“?

Vielleicht wird das Jahr 2011 in die Geschichte eingehen als Beginn einer neuen politischen Zeitrechnung. Denn nicht nur in den von Armut und Willkür beherrschten arabischen Diktaturen, auch in den Zentren des westlichen Turbokapitalismus, in denen Banken und Börsen schrankenlos walten können, haben Massenproteste die Straßen und Plätze erobert.

Nach revolutionären Umwälzungen in Tunis, Tripolis und Kairo, nach jugendlichen Aufständen und Zusammenrottungen in Madrid und London, hat sich eine globale Welle der Empörung breitgemacht. Seit die „Occupy“-Wall-Street-Bewegung den Zuccotti Park im New Yorker Finanzzentrum besetzt hat, zelten überall in der Welt Aktivisten gegen den Kapitalismus. Unter dem Motto „We are the 99 percent“ kämpfen sie für soziale Gerechtigkeit und die strikte Trennung von Wirtschaft und Politik, entwerfen sie Modelle für eine lebenswerte und menschliche Gesellschaft. Wie „Occupy“ entstand und welche Perspektiven diese neue antiautoritäre Bewegung haben könnte, davon berichtet jetzt eine mit flinken Fingern erstellte Dokumentation.

Neben atmosphärisch dichten und emotional aufgeladenen Reportagen sowie Tagebuchnotizen über den heißen Herbst in New York, versammelt der Band auch intellektuell anregende Essays über die ökonomischen Hintergründe und politischen Aussichten des Aufstands. Marco Roth, Mitbegründer des „Occupy“-Magazins „n+1“, schreibt bittere „Abschiedsbriefe an den amerikanischen Traum“; Anwältin und Schriftstellerin Marina Sitrin reflektiert über die Kraft der „neuen horizontalen Bewegungen“; Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz legt Zahlen über die immer größere Kluft zwischen arm und reich in Zeiten der globalen Finanzkrise vor; und Philosoph Slavoj Zizek meint, es gehe jetzt, nach dem lauten Nein, um die Formulierung von Zielen: „Welche Gesellschaftsordnung kann den bestehenden Kapitalismus ablösen? (…) Welche Organe, einschließlich derer zur Kontrolle und Repression, brauchen wir?“

Anstelle eines Nachworts formulieren die Herausgeber ein paar Vorschläge: „Verstaatlicht die Banken“ und „Verbot aller Parteispenden von Unternehmen“ liest man da, aber auch: „Kostenlose Fahrräder für alle“, und: „Nie wieder Arbeitsessen!“ Klingt, als hätten die „Occupy“-Unterstützer ziemlich viel Spaß.

Wer es ernsthafter mag, dem sei das Fazit von Ökonom Stiglitz empfohlen: „Die oberen Zehntausend besitzen die schönsten Häuser, Zugang zu den besten Bildungseinrichtungen und den Top-Kliniken, sie führen das bestmögliche Leben, doch es gibt etwas, das sie mit Geld offenbar nicht kaufen konnten: die Einsicht, dass ihr Schicksal untrennbar an das der übrigen 99 Prozent geknüpft ist. In der gesamten Geschichte der Menschheit habe die Führungsschichten diese Tatsache am Ende immer eingesehen. Allerdings zu spät.“

„Occupy! Die ersten Wochen in New York“. Eine Dokumentation. Hg. von C. Blumenkranz u.a. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2012, 94 Seiten, 5,99 Euro.