Jedes Wort ist ein Versteck – Claude Chabrols Film „Süßes Gift“ mit Isabelle Huppert

Von Bernd Berke

In diesem Film wird viel geredet, doch kaum über das, was die Personen wirklich bewegt. Das Entscheidende bleibt allemal unter dem Mantel des Schweigens. Jedes Wort ist ein Versteck. Mit „Süßes Gift“ ist Claude Chabrol wieder so sehr in seinem Element wie lange nicht mehr.

Sein psychologisch subtiler, sanft eindringlicher Thriller schleicht sich in Hirn- und Herzwindungen des gehobenen Bürgertums, wo er haarfeine Lügengespinste und neurotischen Selbstbetrug aufspürt. Doch er bleibt bei solchen Erkundungen so diskret, dass man am Ende nicht sicher weiß, was tatsächlich geschehen ist. Es schwant einem nur. Eine Geschichte auf schwankendem Boden.

Durch Zufall erfährt Jeanne (Anna Mouglalis), dass sie vor rund 20 Jahren als Baby vielleicht mit Guillaume vertauscht und der falschen Familie in die Wiege gelegt worden ist. Der Säuglingsstation waren damals die Markierungs-Bändchen ausgegangen

Als Säuglinge in der Klinik vertauscht?

Seltsam nun: Aus Jeanne ist eine talentierte Klavierspielerin geworden. Und Guillaumes angeblicher Vater André Polonski (Jacques Dutronc) ist just ein berühmter Pianist. Guillaume hingegen hat gar kein Faible für Musik: Wenn Polonski in Tonkaskaden von Franz Liszt schwelgt, lässt der vermeintliche Sohn ungerührt seinen Gameboy piepsen oder lungert vor der Glotze herum. Und Polonskis erste Ehefrau sah Jeanne so ähnlich wie ein Spiegelbild. Nur Zufall?

Jeanne ist irritiert. Es ist, als sei sie im Leben nicht mehr richtig verankert. Sie besucht Polonski, fragt nach dem Vorfall im Kreißsaal. Der Pianist leugnet jede Verwechslung, fühlt sich aber der jungen Frau geistig gleich so innig verbunden, dass er ihr Privatstunden erteilt und sie gar für mehrere Tage einlädt. Liszt vierhändig, welche Harmonie! Oder is’s auch unterschwellige Erotik?

Damit kommt Polonskis zweite Ehefrau „Mika“ (Isabelle Huppert) ins Spiel der verdeckten Absichten. Auch sie, die eine Schokoladenfirma geerbt hat, umgarnt Jeanne mit geradezu schwesterlicher Fürsorge. Ist sie denn nicht eifersüchtig? Sie lässt sich nichts anmerken. Blass und mit etwas wässrigem Blick schaut sie um sich. Nur manchmal lacht sie eine Spur zu spitz,. Mit wachsender Verwunderung und Faszination sieht man Isabelle Huppert beim seelischen Versteckspiel und (paradox genug) der Koketterie mit dem Entdeckt-Werden-Wollen zu.

Die Trinkschokolade und das Schlafmitttel

Denn warum serviert diese „Mika“ ihrer Familie immerzu Trinkschokolade, warum verschüttet sie das Zeug zwischendurch so oft, und warum geht ihrem Gatten schon wieder das starke Schlafmittel Rohypnol aus? Befremdliche.

Da könnte es wohl Zusammenhänge geben, die auch auf den rätselhaften Auto-Unfalltod von Polonskis erster Frau zurückverweisen. Jeannes Mutter betreibt – wie günstig – ein gerichtsmedizinisches Labor. Dort wird die ominöse Schokolade heimlich getestet. Doch bis zum Schluss erfährt man nichts Genaues.

Selbst in Momenten scheinbarer Enthüllung bleibt ein Schleier vor der Wahrheit und allen Worten. Und wie von selbst stellt sich eine bizarre Komik des Verbergens ein. Trotzdem glauben wir genug gesehen zu haben. Wir ahnen nun wohl, wie viel böses Wissen jemand erträgt ohne Aufschrei, ohne sich zu offenbaren; wie sich diese Menschen in fatalen Wiederholungszwängen verfangen haben. Und wie sie dennoch weitermachen – auch nachdem sie in jene Abgründe geblickt haben, die sie füreinander sind.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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