Sehnsucht des Fleisches – Patrice Chéreaus Film „Intimacy“

Von Bernd Berke

Immer mittwochs um zwei Uhr nachmittags besucht Claire den Barmixer Jay in dessen schäbiger Behausung. Hastig ziehen sie sich aus. Eine Zeitlang treiben sie’s wild miteinander. Bis zur Erschöpfung krallen sie sich ins Fleisch des Anderen. Ein existenzieller Vorgang. Doch danach geht sie wieder fort. Bis zur nächsten Woche.

Dieser Sex wird durch aufregende Anonymität befeuert. Doch in Patrice Chéreaus „Intimacy“ ist Fleischlichkeit nicht das Ziel allen Begehrens, sondern nur der Beginn. Der mit dem goldenen Berlinale-Bären gekrönte Film spürt dem Ungenügen an der bloßen geschlechtlichen Gier nach und sucht geradezu verzweifelt Wege, die von der schieren Lust zur Liebe führen könnten. Noch im wüstesten Getümmel der Körper nistet die kaum stillbare Sehnsucht, jemandem wahrhaftig anzugehören.

Sex lieber als Rausch denn als Fitness-Übung

Jay (Mark Rylance), aus eigenem Antrieb von Frau und Kindern getrennter Kettenraucher mit stets müden Augen und Bartschatten, ist der Welt überdrüssig. Sein einziger Fixpunkt sind jene Sextreffs mit Claire (Kerry Fox). Ihre Geschlechtsakte vollführen sie heftig, ernst und schweigsam. Wie innig ihr Tun ist, merkt Jay erst so recht, als er es mal mit einer Anderen probiert. Die erweist sich als Lifestyle-Schwätzerin, die den Sex für ihre Fitness einplant. Dann doch lieber den Rausch…

Zugleich wächst Jays Drang, mehr von Claire zu wissen. Eines Tages geht er ihr heimlich nach und findet heraus, dass sie abends in einem Kellerlokal Theater spielt – ausgerechnet das körperlich wie seelisch so zerbrechliche Mädchen Laura in Tennessee Williams‘ Stück „Die Glasmenagerie“. Jay kommt – für Claire von der Bühne aus nicht sichtbar – nun fast zu jeder Vorstellung. Er fragt ihren ahnungslosen Mann, einen Taxifahrer, nach ihr aus, scheint sich gar mit ihm anzufreunden. Eine Heimtücke, die später für bewegende Szenen sorgen wird, wenn dieser so gründlich betrogene Tropf die Wahrheit erfährt. Ein Untröstlicher mehr auf Erden.

Diese unruhigen Menschen im Transit-Zustand

Am Ende hat freilich niemand unmittelbar „gewonnen“. Sie alle haben eine lastende Erfahrung mehr, doch vielleicht auch die Aussicht auf ein ehrlicheres Leben. Etwaige Verbindungen sind noch mehr als zuvor gelöst; doch gelöst im Sinne größeren Freimuts tritt man diesem Befund nun auch entgegen.

Der in manchen Passagen mitreißende, gelegentlich etwas arg aufs Chaos versessene Film (er suhlt sich in Desaster, Suff und Drogen) zeigt allemal Menschen, die aus festen Zusammenhängen heraus geschleudert sind: Figuren im Transit-Zustand. Schon ihre Berufe (Barmixer, Taxifahrer, Schauspielerin) stehen für nächtliche Unbehaustheit.

Bisweilen führen ihre unebenen Wege ins seelische Niemandsland. Claires Theater-Freundin Betty (lächelnde Weisheit in Person: Marianne Faithfull) sagt, sie habe vor vielen Jahren den Tag durchlitten, an dem sie gleichsam selbst gestorben sei, weil eine große Liebe endete. Seither mache sie eben weiter mit dem Leben. Schmerzvoll zwar, doch auch gefasst.

Etliche Reißschwenks der Kamera vermitteln ansonsten innere Unruhe, ein rasendes Stolpern durchs schattenhafte Dasein. Gegen den Mahlstrom wehren sich die Menschen mit Ritualen, Eine Frau in Jays Bar bestellt seit Jahren immer den gleichen Drink, möchte jedoch stets gefragt werden, was sie denn diesmal wünsche. Weil sie wenigstens die Illusion von Selbstbestimmung haben will.