Der Sieg über das Chaos – Wuppertal zeigt Europas erste Werkschau des Amerikaners Adolph Gottlieb

Von Bernd Berke

Wuppertal. Biographischer Zufall bestimmt oft die Wege der Kunst. Beim Amerikaner Adolph Gottlieb (1903-1974) trug es sich so zu: 1937 erlitt er einen Arthritis-Anfall. Auf ärztlichen Rat hin verließ er New York und begab sich ins trockene Klima von Tucson/Arizona. Dort entdeckte er die Kunst indianischer Ureinwohner – und malte fortan ganz anders.

Wuppertals Von der Heydt-Museum widmet ihm eine Retrospektive mit 39 Gemälden, wobei einige Großformate die Logistik des Hauses arg strapazierten. Die Mühe hat sich gelohnt. Fast jedes US-Museum, das auf sich hält, besitzt Gottlieb-Werke, doch in Europa ist es die erste nennenswerte Werkschau überhaupt. Und Wuppertal ist einzige deutsche Station.

Vor allem Deutschland mied Gottlieb, Sohn einer Familie jüdischen Glaubens, die aus der damaligen Tschechoslowakei in die USA ausgewandert war. Zu seinen Lebzeiten, so verfügte er, dürfe es in Deutschland keine Einzelausstellungen mit seinen Arbeiten geben. Verwandte Gottliebs waren im KZ ermordet worden. Da erübrigt sich jede weitere Begründung.

Archaische Zeichen wie im Setzkasten

Museumsleiterin Sabine Fehlemann knüpfte indes Kontakte zur Gottlieb-Stiftung, die sich – Jahrzehnte nach seinem Tod – nicht mehr ans Verdikt des Künstlers gebunden fühlen muss.

Von 1929 bis 1973 reicht der Überblick. Schon mit 17 Jahren war Adolph Gottlieb nach Europa aufgebrochen und hatte in Paris gelebt. Anfangs noch im Bannkreis der klassischen Moderne (Matisse, Picasso, Klee), geraten seine frühen Werke noch nicht sehr charakteristisch, die Entwicklung ist offen. „South Ferry Waiting Room“ (1929) evoziert eine Einsamkeits- und Warte-Stimmung wie gewisse Bilder eines Edward Hopper. Doch diese Linie bricht bald ab.

Gottlieb legt die seinerzeit übliche Strecke vom perspektivisch gerundeten Gegenstand zur abstrahierenden Flächigkeit zurück. Auch erprobt er surrealistische Motive („Box and Sea Objects“), dies freilich in eigener Ausgestaltung und mit spezieller Farbwahl: zunächst erdhaft dunkel, später in äußerst gewagten Zusammenklängen.

Mit dem Rückgriff auf indianische Bildwelten beschreitet Gottlieb vollends andere Pfade. Kunstgeschichtler haben sich auf den Begriff „Piktographien“ geeinigt: Gottlieb „sortiert“ zeichenhafte Kürzel (Spannweite zwischen Schrift und Symbol) wie Zufalls-Fundstücke in eine Gitterstruktur. Es herrscht eine Art Setzkasten-Prinzip. Doch das vermeintliche Ordnungsmuster täuscht, die oft rätselhaften, archaischen und magischen Signale gruppieren sich nach unbewusster, quasi-surrealistischer Kombinatorik – Wegmarken auf der Suche nach dem Ungeahnten.

Kontemplative Sonnenaufgänge

Gottlieb pflog freundschaftlichen Umgang mit Kollegen wie Mark Rothko, Ad Reinhardt und Barnett Newman. Sie standen für ein zunehmend selbstbewusstes Amerika, das besonders nach dem Zweiten Weltkrieg Europa den Rücken kehrte. Sogar in künstlerischer Hinsicht gehörte man damals wohl einer „Siegermacht“ an.

In den Piktographien flackert gelegentlich noch Nervosität. Die späteren „Imaginary Landscapes“ (Imaginäre Landschaften) sind zwar auch sichtlich einer fiebrigen Unruhe abgerungen, wirken aber kontemplativ. Da sehen wir etliche Farb-„Sonnen“ über brodelnden Urgründen aufgehen, als habe der Kosmos das Chaos besiegt und alles Explosive gebändigt. Beruhigt, wie für die Ewigkeit, stehen diese Zentralgestirne weit überm Bildhorizont.

Gottliebs kreativer Drang war schier unstillbar. Rund 3000 Gemälde soll er geschaffen haben. Selbst nach einem Schlaganfall (1970) malte er weiter – vom Rollstuhl aus. Wollte die Hand nicht ruhig bleiben, behalf er sich mit der Tropftechnik. Die Resultate wirken keineswegs hingehudelt, sondern durchaus zwingend. Alles andere als Zufall.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Bis 11. Nov. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 48 DM.