Die Hippie-Mutter ist so frei… – Ralf Rothmann versöhnt zwei Generationen in seinem Roman „Flieh, mein Freund“

Von Bernd Berke

Jetzt, wo Mitglieder der 68er Generation die Regierungsgeschäfte besorgen, ist es allmählich an der Zeit, diese Jahrgänge mit den eine Dekade später Geborenen zu versöhnen. Irgendwann muß jeder mit ins Boot.

Gelegentlich spukt dieses Projekt durch die deutsche Literatur der letzten Jahre. Nun nimmt sich der Autor Ralf Rothmann („Stier“, „Wäldernacht“) der Sache an. „Flieh, mein Freund“ heißt sein Roman. Der Ich-Erzähler, Spitzname „Lolly“, wurde vor 20 Jahren im Ruhrgebiet geboren, lebt nun in Berlin und salbadert im teils erlauschten, teils nachgestellten Jugendjargon („voll geil“) drauflos: von Null auf Hundert.

Es geht über Stock und Stein. Die flockige Rede handelt von Gott und der Welt, dem Einkauf bei Aldi, alten Damen, Katzen, Durchfall, Vaters affiger Werbeagentur, tausend Dingen – vor allem aber von Mädchen, Mädchen, Mädchen. Da hapert s also: Der schmalbrüstige „Lolly“ schielt fürchterlich und ist – Zitat – „nicht nur schüchtern; das ginge ja noch. Ich bin gleichzeitig immer geil… und dann werde ich melancholisch, weil ich alle Mädchen haben möchte und keins kriege…“

Vanina aus der Krähen-WG und ihr unförmiger Po

Schließlich kriegt er aber doch eine, nämlich die ihrerseits etwas verkorkste Vanina aus der feministischen „Krähen-WG“. Vanina hat freilich einen derart unförmigen Po, daß „Lolly“ sich seiner Zuneigung zu schämen beginnt. Ein sonderbares Identitätsproblem erwächst daraus, das „Lolly“ intensiv mit seiner Mutter bearbeiten möchte und die ist nun mal eine flippig gebliebene „Achtundsechzigerin“. Sie raucht in schönster Hippie-Manier noch täglich ihre Joints, liebt das (erotische) Chaos und hat sich vom Vater getrennt. Überkommt sie eine Laune, nagelt sie auch schon mal ein Zelt ins Zimmer – auf teuren Parkettboden. Kurzum: Sie ist ungleich frecher, selbstbewußter und vitaler als ihr Sohn, und es müßte mit dem Teufel zugehen, könnte er davon nicht profitieren…

Die Botschaft rollt gleichsam auf einer Einbahnstraße daher: Die „79er“ können von den „68ern“ noch eine ganze Menge Lebenslust lernen. Nun, eigentlich müßte man das von Fall zu Fall beurteilen.

Wovon handelt das Buch eigentlich?

Ralf Rothmann (selbst Jahrgang 1953) legt hier keinen geschlossenen Roman vor, sondern episodisches Patchwork mit ausfransender Stoffmenge. Rothmann zeigt uns sozusagen seine (zuweilen beachtlichen) erzählerischen Instrumente, wendet sie aber nicht wirklich an. Immer wieder stellt man sich die Frage: Worüber hat der Mann eigentlich schreiben wollen? Sollte es ein flottes Jugendbuch werden, eine Etüde auf schwierige Reifeprozesse, oder etwa eine Mixtur aus Reiseführer und Drogenkrimi? Darauf deutet der Rückblick auf die Jugenderlebnisse der Mutter im Mittelteil hin (Schauplätze: Barcelona und Mexiko), die in einem ganz anderen Stil geschildert werden als „Lollys“ Nöte.

Ab Seite 180 aber nimmt wieder „Lolly“ das Heft in die Hand. Von Liebeskummer um Vanina gequält, wirft er sich mit geradezu inzestuöser Intensität an die Brust seiner Mutter, als gelte es, die Generationen vollends miteinander zu verschmelzen. Schließlich überwindet er all seine Vorbehalte und tritt – Schluß mit schlampig! – als Werbetexter in Papas Agentur ein. Willkommen im bürgerlichen Erwachsenendasein!

Ralf Rothmann: „Flieh, mein Freund“. Suhrkamp-Verlag. 278 Seiten. 39,80 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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