Die Kunst braucht eine Seele – Ausstellung über Auguste Rodin und seine Wirkung im Marler „Glaskasten“

Von Bernd Berke

Marl. Das ist Gruppen-Dynamik im ganz elementaren Sinn: Umrundet man Auguste Rodins berühmte Skulptur „Die Bürger von Calais“ (1895), so ergeben sich immer wieder völlig neue, stets aber ausdrucksstarke Ansichten dieser sechs verzweifelten Menschen, die anno 1347 die Schlüssel der Stadt Calais an die englischen Belagerer abgeben mußten.

Von der einen Seite aus sieht man zum Beispiel ein veritables Gebirge von Körperteilen, von einer anderen – höchst filigran – das Spiel einzelner Muskeln.

Das grandiose Jahrhundert-Denkmal hat zahllose Bildhauer beeinflußt und ist jetzt erstmals in Deutschland zu sehen. Im Marler Skulpturenmuseum „Glaskasten“ wird einer von vier tonnenschweren Abgüssen gezeigt, die zu Rodins Lebzeiten entstanden sind. Auch weitere Schlüsselwerke des Franzosen gehören zur teuren Schau, die sich erst ab 50000 Besuchern rentiert. Falls das Ziel nicht erreicht wird, steht der Dortmunder Energiekonzern VEW mit einer sechsstelligen Ausfallbürgschaft für Verluste gerade.

Bis hin zu Bodenplatten und einer versenkten Säule

Konzept der Ausstellung: Rund 60 Skulpturen anderer Künstler (u. a. Lehmbruck, Hoetger, Kollwitz, Giacometti, Hrdlicka) lassen die Kraft- und Wirkungslinien hervortreten, die von Rodins Oeuvre bis in die Gegenwart reichen. Am Schluß des Rundgangs wird deutlich, wie die Skulpturen tendenziell Volumen verlieren und sich schließlich in die flache Ebene ducken. Carl Andre legt nur  noch Bodenplatten aus, Jochen Gerz versenkt gar eine Säule auf Nimmerwiedersehen in einer Erdöffnung. Damit ist wahrlich einNullpunkt erreicht.

Doch zurück zum Ursprung der Moderne und zum Zentrum der Ausstellung: Rodin, der zweimal von der Pariser Akademie abgelehnt wurde und sich daraufhin zugute hielt, dort nie „verbildet“ worden zu sein, durchbrach die herrschende Tradition seelenloser klassizistischer Glätte. Er beseelte das Material. Die Büste „Mann mit gebrochener Nase“, für die ein Stadtstreicher Modell saß, steht bereits für die Auflösung idealer und intakter Körperlichkeit. Figuren wie „Johannes der Täufer“ oder „Adam“ versetzte Rodin in derart expressive Bewegungen, daß die Zeitgenossen geradezu davor erschraken.

Das erste demokratische Denkmal

Auf die Spitze getrieben hat Rodin das dynamische Prinzip im vielfältigen Zusammen- und Widerspiel jener „Bürger von Calais“, die zugleich als erstes demokratisches Denkmal gelten. Denn sie erheben sich nicht mehr auf einem Ehrfurcht gebietenden Sockel. Der Betrachter, Bürger wie die Dargestellten, soll die Plastik „von gleich zu gleich“ anschauen.

Rodin verfuhr zwar konsequenter als andere, aber er war nicht etwa der radikalste Neuerer seiner Ära. Medardo Rosso („Konversation im Garten“, um 1896) löst die redenden Gestalten bereits fast zur Unkenntlichkeit auf. Die Skulptur wird zur zerklüfteten Landschaft, auf der sich das Licht impressionistisch brechen und streuen kann. Für die damalige Zeit eine unerhört abstrakte Schöpfung.

Der Rundgang führt an etlichen Kleinoden vorbei. Vom sonst nur als Maler bekannten Edgar Degas sieht man (posthum gegossene) Tänzerinnen-Figuren, von Henri Matisse zwei weibliche Akte. Die Leiber sind so geformt, als wären sie im Nu aus einem einzigen Block hervorgegangen.

Ganz anders das Verfahren von Auguste Rodin: Der hat vor den „Bürgern von Calais“ einzelne Kopf- oder Handstellungen erprobt, die er hernach In die Gruppe „einbaute“. Zudem hat er die Figuren erst nackt modelliert, bevor er sich an den Faltenwurf der Gewänder wagte. Auch so entsteht also Avantgarde: Schritt für Schritt.

Auguste Rodin – Werk und Wirkung. Skulpturenmuseum Glaskasten, Marl (Creiler Platz). Bis 1. März 1998. Di-So 10 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 40 DM.