In der Steppe vom Sandkorn erzählen – Peter Handkes Roman vom Abenteuer der Wahrnehmung

Von Bernd Berke

Peter Handke scheint die Ödnis zu lieben. Nachdem er seinen Lesern zuletzt das Langstrecken-Exerzitium „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ auferlegte, siedelt er auch seine neue Hauptfigur im Niemandsland an, wo kaum etwas von wahrer Empfindung ablenkt. Jener Apotheker von Taxham (Flecken bei Salzburg) wohnt in einer „Zwickelwelt“ zwischen Bahnlinie, Flughafen und Autobahn-Tangenten. Dort, wo die Ausläufer der Technik in spärlichen Bewuchs übergehen.

Dieser Apotheker wird als unauffälliger, aber „uneingemeindeter“ Mensch beschrieben. Mit seiner Frau lebt er in gütlicher Abgrenzung, die Kinder sind aus dem Haus, vielleicht hat er sie gar vertrieben. Der Mann fühlt sich mal aufgehoben, mal aber auch gefährdet in seinem Alleinsein. Doch der Erzähler will ihm das Geheimnis nicht entreißen: „Keine Erklärungen, keine Begründungen, in der Schwebe lassen „, heißt es einmal. Wie ein Aufbruch ins Ungefähre klingt ja auch der Titel: „In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus.“

Handke unterlegt seine Geschichte mit dem Prägemuster mittelalterlicher Abenteuer-Epen. Eine Art Prüfung hat auch der Apotheker zu bestehen. Er wird zum „Gezeichneten“, indem er ein dunkles Wundmal auf der Stirn trägt – vielleicht das Signal todbringender Krankheit, vielleicht aber auch der Verheißung. Jedenfalls verläßt er nun sein Haus und gerät in eine rätselhafte, verwunschen wirkende Welt. Zugleich verstummt er, um desto genauer zu schauen und zu hören. Zum Beispiel auf eine furiose Grundsatz-Rede über die tiefe Feindschaft zwischen Mann und Frau.

Ein fruchtbares Verirren, ein neues Maßnehmen

Zwischendurch wird er von zwei Desperados begleitet, einem ehemaligen Ski-As und einem Dichter. Ein seltsam dahertaumelndes Slapstick-Trio. Die ganze Reise aber erweist sich – wie könnte es bei Handke anders sein – als „fruchtbares Verirren“, als Gelegenheit zum neuen Maßnehmen an der Welt, an der Wunderkammer namens Wirklichkeit.

In der „Nachtwindstadt“ Santa Fe ereignet sich ein prachtvolles Fest mit faszinierenden Ritualen. Rotten eines völlig fühllosen Menschenschlages drohen im Landstrich die Oberhand zu gewinnen. Schließlich treibt es den Apotheker, diesen Abenteurer der Wahrnehmung, als Eremiten in eine Steppe hinaus. Die Schilderung dieser Wüstenei zwischen den Städten, an deren Rändern wahnwitzige Extremsportlcr aufkreuzen, ist vollends grandios. So aufregend kann Ödland sein, wenn jeder Flügelschlag eines Vogels und jedes Sandkorn, jeder Vorgeschmack und Nachklang so innig erzählt werden.

Der Dichter soll reden wie ein Bergsteiger am Seil

Staunenswert, wie Peter Handke unscheinbarste oder fremdartigste Erscheinungen mit größtmöglicher sprachlicher Einfühlung faßt. So gerüstet, kann er sich mit seinen Figuren erneut auf ferne Vorposten hinauswagen und so zusagen dem Niemandsland Neuland abgewinnen. Ob es auch fruchtbar ist?

Wo aber dieser Erzähler nichts weiß, da stellt er keine Behauptungen auf, sondern tastet sich fragend an die Dinge heran. Das eben unterscheidet Handke etwa von Botho Strauß. Er handelt nicht mit Meinungen, sondern mit Wahrnehmungen. Pures Erzählen der Gegenwart, das Schwerste von allem, ist ihm genug.

Bezeichnender Satz: „So dichten, wie Bergsteiger miteinander reden, während sie am Seil hängen“. Kein überflüssiges Wort also. Freudig bestätigende, knappe Feststellungen wie „Ja. So ist es.“ sind Zielpunkte solchen Schreibens, das freilich allzeit bedroht ist, auf schwindelerregender Anhöhe nur noch in sich selbst zu kreisen.

Peter Handke: „In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus“. Roman. Suhrkamp-Verlag. 316 Seiten. 48 DM.