„Die Ermittlung“: Eine Form für das Ungeheuerliche

Von Bernd Berke

Wuppertal. Aus dem blauen Bühnenhorizont schälen sich Dia-Projektionen heraus: ein Berg von Brillen, der Weg zu einem Lagertor, Blechdosen mit der Aufschrift „Zyklon B“. Man kann die unbegreiflichen Leiden im KZ nicht wirklich abbilden, man kann aber darauf hinweisen, Zeichen setzen. Man kann? Nein, man muss! Peter Weiss‘ „Die Ermittlung“, uraufgeführt 1965, bleibt nicht nur ein wichtiges, sondern ein notwendiges Stück.

Weiss (1916-1982) verhandelte in dem dokumentarischen Drama das ungeheuerlichste Verbrechen der Geschichte, den Massenmord in Auschwitz. Hauptsächliche Quelle war der Frankfurter Auschwitz-Prozeß (1963-65), ein literarisches Muster gaben Dantes Gesänge aus dem „Inferno“ der „Göttlichen Komödie“ vor. Eine Form für das Formloseste, was sich denken läßt. Und ein Inhalt, der es sehr schwer macht, überhaupt von theatralischer Umsetzung zu reden.

In Wuppertal, wo man zur Premiere vor beschämend halbleerem Hause spielte, liegen anfangs Dutzende von leeren Stühlen auf der Bühne. Sie werden im Verlauf der zwei pausenlosen Stunden nach und nach aufgestellt und am Schluß wie zu einem Scheiterhaufen geschichtet. Ein Vorgang, der nicht eben zwingend erscheint.

Regisseur Holk Freytag löst den gerichtlichen Zusammenhang des Stückes auf. Alle zwölf Beteiligten (sechs Männer, sechs Frauen) erscheinen in hellen Uniformen, sie gleiten ständig von Rolle zu Rolle: Jeder ist abwechselnd Angeklagter, Verteidiger, Richter oder Zeuge.

Einmal steht auf diese Weise einem Zeugen ein auf vier Sprecher verteilter Lageraufseher Kaduk entgegen, der zudem noch von chronischem Gelächter unterstützt wird. Übermacht der NS-Schergen, auch noch beim Prozeß? Schmerzhaft deutlich wird jedenfalls, auf welcher furchtbar fühllosen Sach- und Detailebene die Schrecken von Auschwitz vor Gericht abgehandelt werden mußten. Das Eigentliche war den weltlichen Richtern der Justiz und ihren Gesetzen nicht zugänglich.

Der Verzicht auf die Tribunal-Situation und die Rollenwechsel lassen freilich eine gewisse Undeutlichkeit aufkommen. Möglich, daß eine allseitige Kumpanei der Verleugnung gemeint ist oder gar der oftmals beschworene „Hitler in uns allen“. Aber Unkundige (speziell jüngere Zuschauer) könnten den fatal falschen Schluß ziehen, Täter und Opfer seien letztlich austauschbar.

Vielfach, besonders zu Beginn, wird im atemlosen Stakkato geredet. Das bringt nicht nur etliche Sprechfehler mit sich, sondern raubt manchem Satz die nötige Wirkungs-Zeit. Der Atem stockt einem allerdings immer dann, wenn die Inszenierung das Tempo verlangsamt, wenn sie auf dem Festhalten von Einzelheiten besteht, die jede noch so monströse Lager-,,Statistik“ übersteigen. Es werden ja in diesem Stück Untaten geschildert, die einem das Bewußtsein zerspalten müßten.

Es ist daher völlig richtig, daß das Ensemble sich am Schluß nicht zum Beifall verbeugt, sondern uns mit dem Schlußbild allein läßt. Hilflos sitzt man da. Und man versteht vielleicht, warum sich auch das Theater diesem Text nur hilflos nähern kann.

Die nächsten Termine erst wieder im Januar: 4., 5.. 8. und 10. Januar 1997.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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