Ganz einfach durch die Lüfte schweben – Paul Austers neuer Roman „Mr. Vertigo“

Von Bernd Berke

„Da habe ich es zum erstenmal getan… Ganz langsam hob sich mein Körper… Ich war nicht weit vom Boden höchstens ungefähr eine Handbreit – , aber dort hielt ich mich ohne Mühe.“ Staunend stammelt dies ein kleiner Junge namens Wait. Er hat soeben einen Menschheitstraum verwirklicht: Fliegen aus eigener Kraft, ohne Hilfe von Maschinen.

Er ist nicht etwa ein Gaukler oder Scharlatan, sondern überwindet wirklich die Grenzen der Physik. Doch welch einen dornenreichen Weg hat der Ich-Erzähler in Paul Austers Roman „Mr. Vertigo“ bis dahin zurücklegen müssen! Sein Lehrmeister, der geheimnisumwitterte „Mister Yehudi“, hatte den vogelfreien Neunjährigen 1924 in St. Louis von der Straße aufgelesen und dann in Kansas jahrelangen Torturen unterworfen.

Harte Strecke bis zur Leichtigkeit

Wait, der eigentlich viel lieber Boogie hören und Baseball spielen möchte, lebt dort – völlig isoliert von Altersgenossen – in einer Art Minderheiten-Kommune. Yehudi selbst ist ungarischer Jude. Hinzu kommen eine alte Indianerin und ein behindertes farbiges Genie namens Äsop. Diese Gemeinschaft wirkt wie ein Humus für das Außerordentliche.

33 Stufen des Bewußtseins, so Yehudi, müsse Wait überwinden, um sein Ich zu reinigen und die nötige Trance zu gewinnen. Brutale Methoden: Wait muß schuften bis zum Umfallen, er wird geprügelt, wird lebendig eingebuddelt, und Yehudi amputiert ihm ohne Narkose einen Finger. Mit einer seltsamen Mixtur aus Verzweiflung und Schnoddrigkeit quittiert Wait diese Qualen. Später wird er den strengen Meister verehren, denn der hat ihn durch Heulen und Zähneklappern auf den Pfad der wundersamen Leichtigkeit geführt.

Eines Tages ist es nämlich soweit: Wait hebt wirklich ab. Alsbald vollführt er Saltos und besteigt imaginäre Treppen in den Lüften. Und der Meister geht mit dem Wunderknaben auf triumphale Tournee.

Schutzgeldkassierer in Chicago

Paul Auster, zuletzt als Drehbuchautor des exzellenten Films „Smoke“ erfolgreich, hat auch mit „Mr. Vertigo“ einen Stoff gleichsam aus dem Nichts gewoben. War dort der verwehende Rauch das Medium des Lebens, so ist es hier die schiere Luft. Auch den neuen Roman kann man sich gut und gerne verfilmt vorstellen: Schon die Tournee durch die US-Provinz der 20er Jahre ist gesättigt mit bildkräftiger Atmosphäre. Und bevor Wait das Schweben wegen ungeheurer Kopfschmerzen aufgeben muß (sein Preis für den Sieg über die Schwerkraft), fügt Auster noch eine Kriminalgeschichte (Entführung Waits und Lösegeldforderung durch dessen Onkel) hinzu.

Auch damit nicht genug: Nach dem Ende seiner Flugkarriere, das mit der Weltwirtschaftskrise („Schwarzer Freitag“) zusammenfällt und sozusagen die bessere alte Zeit beschließt, verdingt sich Wait in den Jahren der Alkohol-Prohibition ganz erdenschwer und bodennah als Schutzgeldkassierer bzw. Nachtclubbetreiber der Mafia von Chicago. Das Lokal heißt sinnigerweise „Mr. Vertigo“, übersetzt etwa: „Herr Höhenangst“.

Alle Fühler ausgestreckt

Auster verästelt die Handlung derart, als wolle er lauter kleine Fühler ausstrecken, um jeden Aspekt des damaligen Amerika zu ertasten. Dabei scheint ihm zuweilen die Autoren-Herrschaft zu entgleiten, es weht ihn hierhin und dorthin, als fliege er tatsächlich haltlos durch sein Werk.

Am Schluß läßt Auster mal eben rund fünfzig weitere Lebensjahre Waits im Zeitraffer abschnurren. Da franst die Story vollends aus. Der Autor hat uns endgültig schwindelig geschrieben. Gespannt und willig ist man all dem Auf und Ab, ist man all den Windungen dieses Romans gefolgt.

Und am Schluß erfährt man, daß doch eigentlich jeder Mensch das Zeug zum Fliegen habe. Na schön. Worauf warten wir noch? Legen wir das Buch beiseite. Breiten wir die Schwingen aus.

Paul Auster: „Mr. Vertigo“. Roman. Übersetzt von Werner Schmitz. Rowohlt-Verlag. 319 Seiten. 34,80 DM.