Die schnelle Gegenwart ist wie ein Spuk – Milan Kunderas Roman „Die Langsamkeit“

Von Bernd Berke

„Weshalb ist das Vergnügen an der Langsamkeit verschwunden? Ach, wo sind sie, die Flaneure von einst?“ So klagt Milan Kundera in seinem neuen Roman. Weiß er auch Rat und Hilfe?

Wer aus einem schlichten Überhol-Vorgang mit dem Auto einen literarischen und philosophischen Exkurs über „Die Langsamkeit“ (Buchtitel) entwickelt, muß seiner Mittel sehr sicher sein. Bei dem berühmten Tschechen („Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“), der seit vielen Jahren in Frankreich lebt, muß man nicht bangen. Neben dem Schweden Lars Gustafsson ist Kundera derjenige Gegenwartsautor, der hohe Reflexion und pralle Handlung am souveränsten verknüpft. Kein Vergleich mit dem schönen, aber konventionellen Themen-Vorläufer des Deutschen Sten Nadolny, der vor Jahren „Die Entdeckung der Langsamkeit“ betrieb.

Kundera hält die Romanform ungleich durchlässiger, offener. Ein Auslöser ist Vivant Denons Novelle „Nur eine Nacht“ aus dem 18. Jahrhundert über die Ehefrau eines Marquis und ihre erotische Eskapade mit einem Zweit-Liebhaber. Dem sagt sie nicht eilends: „Geh’n wir zu mir oder zu dir?“ Nein, sie betreibt im Vorfeld des Liebesspiels raffinierte Konversation, somit lustvolle Verzögerung. Keine wilde Jagd nach schnellen Multi-Orgasmen, sondern sorgsame Steigerung des Verlangens, selbst bei einer Eintages-Beziehung.

Kundera folgert: Aus solcher Langsamkeit erwächst wohlige Erinnerung, die heutige Rasanz hingegen fördere nur das Vergessen und Verschwinden. Die Essenzen der alten Novelle spielt Kundera auf verschiedenen Gegenwarts-Ebenen durch. Beobachter ist ein Autor, der mit seiner Frau ein abgelegenes Schloß aufsucht, wo sich all seine Gestalten wie im Spuk begegnen: zum Beispiel Vincent, Abgesandter einer hochmütigen Intellektuellen-Clique. Er steht für jene Ungeduld, die stets auf Revolte aus ist. Ein Gegenpol ist Berck, nur noch auf TV-Kameras begieriger Politiker und Eintänzer populärer Meinungen. Er steht für die Hatz nach Ruhm.

Historische Umbrüche nur als Minutendramen

Eile, wohin man auch blickt. Und schließlich ist da ein gleichsam aus der Zeit gefallener – tschechischer Insektenforscher, der ehemals von Kommunisten des Amtes enthoben und auf den Bau geschickt wurde. Nun, beim West-Kongreß nach der „Wende“ wird er zunächst mit Rührung betrachtet, dann aber alsbald wie ein Tölpel verhöhnt. Denn selbst ein epochaler Vorgang wie der Zusammenbruch des Realsozialismus ist im Zeitalter der Geschwindigkeit nur noch ein historisches Minuten-Thema. Und überhaupt: Die Krisengebiete des Erdballs verdrängen einander im löchrigen Gedächtnis der Medien-Konsumenten durch das schiere Tempo der Katastrophen.

Und so geraten auch die Figuren in einen Zustand der Formlosigkeit. Als würden sie allesamt vom Sog oberflächenglatter Schnelligkeit erfaßt, kommen sie in einer Art Geister- und Hexentanz samt erotischer Walpurgisnacht zusammen. Die ganze Historie mit ihren ehemals feinen Unterschieden droht als einziger Klumpen im Orkus der Gegenwart zu verschwinden.

Gegen derlei „postmoderne“ Gefahren setzt Kundera beschwörend (und nur verhalten hoffend) seine Wunschbilder der Langsamkeit. Man möchte ganz genüßlich langsam lesen, um dem Titel zu entsprechen – und tut’s doch schnell, weil Kundera mitreißend schreibt.

Milan Kundera: „Die Langsamkeit“. Roman. Hanser-Verlag. München. 150 Seiten. 34 DM.