Für den Olymp kommt keiner in Frage – Marcel Reich-Ranicki über berühmte deutschsprachige Kritiker

Von Bernd Berke

Unser Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki hat ein Buch über seine berühmten Vorläufer seit Lessing geschrieben. Ja, gab es denn vor ihm überhaupt nennenswerte Kritiker?

Offenbar ja, denn der Band „Die Anwälte der Literatur“ (nein, nicht „Staatsanwälte“) umfaßt immerhin 23 Porträt-Essays. Und doch auch wieder nicht, denn die allermeisten finden vor Reich-Ranicki wenig Gnade.

Nehmen wir Gotthold Ephraim Lessing selbst, den vermeintlichen „Vater“ der deutschen Kritik. Der hatte zwar laut Reich-Ranicki einen aufrechten Charakter, verkannte oder unterschätzte aber viele literarische Talente seiner Zeit, schrieb etliche Rezensionen nur aus Gefälligkeit und hatte weder eine Antenne für Wieland noch für Goethe. Apropos: Goethe selbst sei der absolute Anti-Kritiker gewesen, denn er habe nur gefügige Leser gewollt.

Alfred Kerr war töricht, Walter Benjamin abseitig 

Und der berühmte Alfred Kerr? Nun gut, der lag oft intuitiv richtig. War aber ein unruhiger Geist, eitel bis dorthinaus, übersah Brechts Genie, urteilte töricht über Thomas Mann. Und Überhaupt: Er hat der Kunst kaum gedient. Schnell weggetreten, Kerr!

Das wohl krasseste Verdikt erlaubt sich Reich-Ranicki über Walter Benjamin. Dieser Egozentriker habe sich nur abseitige Themen ausgesucht, ansonsten aber alles verschlafen. Auch er kommt also keineswegs für den Rezensenten-Olymp in Frage. Wer aber dann? Friedrich Sieburg? War eher an kulturellen Seilschaften interessiert. Alfred Polgar? Ja, der vielleicht. War aber leider zu bescheiden. Es ist schon ein Kreuz. Der eine ist zu eitel, dem anderen fehlt’s an Arroganz. Und so passieren sie alle Revue: Heine, Börne, Tucholsky usw. Jeder hat gewisse Stärken, doch jedem läßt sich auch kräftig am Zeug flicken.

Am Ende einer großen Ahnenreihe

Besser ergeht’s dem nüchternen „Praktiker“ Theodor Fontane und Friedrich Luft, der auch „für den Gemüsehändler“ verständlich geschrieben habe. Unter den Heutigen nimmt Reich-Ranicki seine Jury-Freunde Walter Jens und Joachim Kaiser ins Visier. Sie kommen ungeschoren davon. Wie war das noch mit den Gefälligkeits-Kritiken?

Wer solch ein Buch verfaßt, stellt sich unausgesprochen selbst an den gloriosen Schluß der großen Ahnenreihe. Und wer seine Kollegen dermaßen durchschaut, wird doch wohl alle bei ihnen erkannten Fehler tunlichst vermeiden? Hier wollen wir höflich schweigen. Immerhin wird Reich-Ranicki an einer Stelle ungewohnt bescheiden: „Im Grunde müßte man wie Polgar schreiben können, um zu zeigen, wie er schreiben konnte.“

Nur wenige Worte über die jüngsten Vorwürfe (Tätigkeit für den polnischen Geheimdienst) an Reich-Ranickis Adresse. Da scheint es mehr um Entmachtung eines vielfach Ungeliebten als um Erkenntnis zu gehen. Hellmuth Karasek, Reich-Ranickis Mitstreiter beim „Literarischen Quartett“ im ZDF, hat im „Spiegel“ dieser Woche wenn schon nicht den Inhalt, so doch die Schwere der Vorhaltungen entkräftet, indem er den Zeitbezug wachrief. Auch das eine Gefälligkeit, aber eine notwendige.

Vorbildliche Kritiken von Reinhard Baumgart

Zurück zum Buch. Die besten Passagen sind jene, in den Reich-Ranicki die anderen Kri~ tiker ausgiebig zitiert. Die markantesten Stellen ergeben Ansätze zu einer Geschichte des Rezensionswesens. Die allerdings müßte noch – aus neutraler Position – geschrieben werden.

Eines der klügsten Porträts ü b e r Reich-Ranicki hat bereits 1964 Reinhard Baumgart verfaßt. Baumgarts gesammelte Kritiken sind jetzt in einem sehr lesenswerten Sammelband erschienen. Dieser Rezensent geht wohltuend behutsam und doch meinungsfreudig zu Werke. Er weckt zwar keine lautstarken Kontroversen wie Reich-Ranicki, ist aber ein leuchtendes Vorbild in Sachen angemessener Wahrnehmung von Literatur.

Marcel Reich-Ranicki: „Die Anwälte der Literatur“. Deutsche Verlagsanstalt (DVA). 360 Seiten. 39,80 DM.

Reinhard Baumgart: „Deutsche Literatur der Gegenwart“. Kritiken – Essays – Kommentare. Hanser Verlag, 600 Seiten, 68 DM.