Kliffhänger mit einem Schuss Sakralkitsch: Die Ruhrtriennale zeigt die Deutsche Erstaufführung der Performance „Falaise“

Weiß auf Schwarz: Mit „Falaise“ (Klippe) hat das Kollektiv Baro d’evel ein Gegenstück zu seiner Produktion „Là“ geschaffen. (Foto: François Passerini/Ruhrtriennale)

Sie sind immer kurz vor dem Absturz. Krallen sich mit den Fingerkuppen fest, an Vorsprüngen in der senkrechten Wand. Kraxeln weiter, zwängen sich durch Löcher, die sie zuvor mit den Füßen durch Wände gestoßen haben. Denn auf dieser Bühne sind die Kulissen aus Gips. Was nach Felsen aussieht, bröckelt, bröselt, gerät als Geröll ins Rutschen. Wo ist da noch Halt? „Falaise“ (Klippe), eine Performance des französisch-katalanischen Kollektivs Baro d’evel, zeigt eine Welt kurz vor dem Kollaps – und acht Menschen, die sich durchhangeln.

Die Ruhrtriennale, die das Stück in der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks als Deutsche Erstaufführung zeigt, hat damit eine Produktion eingekauft, die sich in keine Schublade stecken lässt. Was Camille Decourtye, Blaï Mateu Trias und ihr Ensemble geschaffen haben, passt zu den genreübergreifenden „Kreationen“, die seit Gründungsintendant Gerard Mortier ein Markenzeichen des Festivals sind.

Wer aufsteigt, kann auch fallen: Szene aus der Produktion „Falaise“ (Foto: Caroline Seidel/Ruhrtriennale)

In „Falaise“ trifft das moderne Tanztheater auf den Zirkus, denn ein Pferd und ein Taubenschwarm spielen ebenfalls mit. Ein paar Szenen liebäugeln mit der Barockoper. Das achtköpfige Ensemble singt und tanzt, zeigt Slapstick-Komik und eine Artistik, bei der die Gefahr von Knochenbrüchen durchaus einkalkuliert scheint. Waghalsig stürzt es sich von meterhohen Bühnenwänden herab, hangelt an Gerüsten, schlägt Salti, bildet ein Knäuel aus Leibern, das sich krakengleich über den Boden bewegt.

Eine Handlung gibt es nicht: In einem dystopischen Raum zeigt die teils improvisierte Performance Variationen von Aufstieg und Fall, Chaos und Anmut, Zerfall und Erneuerung. Was gesprochen wird, oft in hektischer Suada und hoher Fistel, ist – wie bei einer Clownsnummer – nicht so wichtig. Baro d’evel lädt Szenen mit Bedeutung auf, bis sie zur Metapher werden.

Zuweilen ist das plakativ. Wie erstarrt wirken beispielsweise ein Mann und eine Frau in Gipskleidung, die nach und nach von ihren Körpern abplatzt, je mehr sie sich für Bewegung entscheiden. Danach stehen sie – Achtung, Symbolik! – in einem Scherbenhaufen. Die schwarzen Wände bemalen die Ensemblemitglieder nach und nach mit Zeichen in weißer Farbe. Immer wieder lassen sie sich aus erheblicher Höhe fallen, als wollten sie Verse von Hölderlin nachspielen: „Es schwinden, es fallen die leidenden Menschen, wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, Jahr lang ins Ungewisse hinab“, schrieb der Dichter in „Hyperions Schicksalslied“.

Die Interaktion zwischen Mensch und Tier fasziniert in der Performance „Falaise“ (Foto: Caroline Seidel/Ruhrtriennale)

Für poetische Bilder sorgen das weiße Pferd und die weißen Tauben. Sie bilden den Lichtblick auf der düsteren Bühne, den Gegenpol zum menschlichen Aktionismus. Wenn dazu noch Barockmusik eingespielt wird, ist die Grenze zum Sakralkitsch erreicht. Das muss dem Kollektiv wohl selbst aufgefallen sein, denn es versucht, solche Momente ironisch zu brechen. Wenn einer der Performer eine Barockarie eher jault und kräht als singt, ist es mit der Pseudoreligiosität natürlich schnell vorbei.

Kichern und Glucksen ist im Publikum nicht nur an dieser Stelle zu vernehmen. In „Falaise“ trifft der Weltuntergang auf Buster-Keaton-Komik und anarchische Fröhlichkeit. Zugleich weiß natürlich jeder im Saal, was die Stunde geschlagen hat. „Hier sind überall Löcher!“, ruft eine der Tänzerinnen gegen Ende. Bevor das Pferd alleine auf der Bühne zurückbleibt und der Vorhang fällt, fragt eine andere: „Und was machen wir morgen?“

(Karten und Informationen: https://www.ruhrtriennale.de/de/programm/falaise/187)




Bis die Kriegsgewalt bröckelt – Alexander Kluges Bilderatlas „Sand und Zeit“

Da haben wir also wieder ein Buch vom inzwischen 93-jährigen Polyhistor Alexander Kluge, der stets die entferntesten Dinge produktiv zusammen bringt und hellsichtig Funken aus seinen Blickwechseln schlägt.

Diesmal beginnt die fruchtbringende Gedankenreise bei den akuten Verheerungen im Gazastreifen, wo vieles nicht einfach „nur“ zerstört wurde, sondern schier zu Sandkörnern zerriebene Wüstenei geworden ist. Vielfach erwogen wird in der Folge, ob dem allfälligen Krieg und der Gewalt Einhalt zu gebieten sei – ganz gleich, zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort des geschundenen Erdenrunds.

Damit wären die beiden Pole des Bandes „Sand und Zeit“ schon einmal benannt. Das zu Sand zermalmte Land kehrt später – gründlich verwandelt – im Kinder-Sandkasten und sodann in „Sandkasten-Spielen“ der Militärstrategen wieder. Auch werden einzelne Sandkörner physikalisch vermessen und mikroskopisch betrachtet. All das gipfelt in einem wesentlich aus Sand bestehenden Kunstwerk von Anselm Kiefer, das wiederum Ingeborg Bachmann seine Inspiration verdankt. Alles kann mit allem zusammenhängen, wenn man es denn recht zu betrachten weiß.

Auf der Suche nach Gegenkräften

Gewisse Gegenkräfte zur Kriegsgewalt, so scheint sich ahnungsvoll zu zeigen, dürften beispielsweise in dennoch abgetrotzten glücklichen Augenblicken liegen. Während der altgriechische Zeitgott Kronos alles fressen will (sogar die eigenen Kinder), verkörpert Kairos den geglückten Moment als kaum minder scharfes Gegengift. Eine vage, aber immer neu mit Zuversicht zu nährende Hoffnung kennzeichnet dieses Motto zu Beginn: „Die einzige Verlässlichkeit in zerrissener Zeit beruht auf der Beobachtung, dass auch die kriegerische Macht stolpert…“ Alle noch so imposanten Imperien der Geschichte, so ein zentraler Befund, stürzen irgendwann, nichts ist von ewiger Dauer. Ein Gedanke, bei dem einem – allem waltenden Elend zum Widerspruch – warm ums Herz werden könnte.

Kluge ruft kreuz und quer verschiedenste historische Szenarien auf – von der deutschen Nachkriegs-Trümmerzeit samt Wiederaufbau über altägyptische und altrömische Verhältnisse (Punische Kriege = Rom vs. Karthago), den jetzigen Ukraine-Krieg, die Kreuzzüge, den Krimkrieg (ab 1853), die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs und den (wenn überhaupt möglich) noch schlimmer wütenden Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs, die Religionskriege, die in den Westfälischen Frieden von 1648 mündeten… Die Phänomenologie so vieler Waffengänge umfasst auch die seltene, vorbildliche Großzügigkeit generöser Sieger, die den Besiegten nach deren Kapitulation zunächst freies Geleit und fortan freie Entfaltung gewähren – beispielhaft erfasst in Velázquez‘ berühmtem Gemälde „Die Übergabe von Breda“.

Immer wieder neue Perspektiven

Geschildert und ausgiebig bildlich dargestellt (auch mit „virtuellen Kameras“, also KI-Hilfe) werden sowohl das große Ganze als auch gleichsam herangezoomte Nahansichten. Da gibt es erschütternde Bilder, die die brüllende Maschinerie des Krieges so vergegenwärtigen, wie es eben geht. Beim Lesen sollte man diese Illustrationen keinesfalls schnell überblättern, sie erheischen nachdrücklich Aufmerksamkeit. Derlei rasche und harsche Perspektivenwechsel, so Kluge im vorsichtig bilanzierenden Nachwort, können die Kontraste der Zeitläufte besser erfassen als reine Texte. Daher nennt er sein Buch im Untertitel „Bilderatlas“. Ein anregendes Vorbild ist ausdrücklich Aby Warburgs legendäre, größtenteils verschollene „Kriegskartothek“ zum Ersten Weltkrieg gewesen. Technisch auf der Höhe, bietet Kluges Buch übrigens auch (teilweise filmische) Ergänzungen an, die man mit Hilfe abgedruckter QR-Codes ansteuern kann.

Einen freien Erzählraum erzeugen

Alexander Kluge muss nicht nur über eine riesige Bibliothek und die Erfahrungen eines langen Lebens, sondern auch unendlich viele „Zettelkästen“ oder eben Datensammlungen verfügen, denen er immer wieder entlegene (und gleichzeitig prägnante) Beispiele entnimmt, so etwa, wenn es um die letzten Kriegstage rund um das Volkswagenwerk oder die zeitgleiche Kapitulation einer deutschen Munitionsfabrik geht.

Es ist Kluge um die Schaffung eines „freien Erzählraumes“ zu tun, um den Konjunktiv als Möglichkeitsraum. Erst im beherzten Sprung auf die andere Seite, in eine andere Zeit, sei es denkbar, die tendenziell verarmten Ausdrucksweisen unserer Tage zu überwinden. Bei Beschwörung des Überblicks kehrt Kluge verbal zu seiner Frühzeit zurück, indem er die hohe Zirkuskuppel als Bild aufruft. Wir erinnern uns an seinen Filmtitel „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“. Gegen alle Ratlosigkeit geht er im gesegnet hohen Alter immer noch und erst recht an – wie einst Elias Canetti unverdrossen gegen den Tod focht. Das darf und muss man heldenhaft nennen.

Alexander Kluge: „Sand und Zeit“. Bilderatlas. Suhrkamp, 168 Seiten, zahlreiche Abbildungen. 25 Euro.

 




„Die Besessenheit“ – Annie Ernaux‘ Selbsterforschung zur Eifersucht

Die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux sieht sich als „Ethnologin ihrer selbst“. Ihre Romane und Erzählungen kreisen immer um ihr eigenes Leben, berichten von schmerzlichen Kindheitserinnerungen, privaten Nöten, erotischen Obsessionen: eine oft quälende, aber immer ungemein aufschlussreiche Lektüre. Leider werden ihre Bücher zumeist mit großer Verspätung ins Deutsche übersetzt: „Die Besessenheit“ (Originaltitel „L’occupation“) ist bereits 2002 in Frankreich herausgekommen.

In klaren Sätzen und fast klinischen Worten beschreibt Annie Ernaux, wie sie von der Wucht einer Eifersucht ergriffen wurde, die sie an den Rand der Selbstauflösung und Selbsterniedrigung führte. Jeder Gedanke drehte sich um eine Frau, von der sie zunächst nichts wusste, außer dass sie die neue Geliebte ihres Liebhabers ist: „Das Sonderbarste an der Eifersucht ist, dass man eine Stadt oder die ganze Welt mit einem Menschen bevölkert, dem man vielleicht nie begegnet.“

Sie will wissen, wie die fremde Frau heißt, wo sie wohnt, was sie beruflich macht. Sobald ihr (ehemaliger) Geliebter, mit dem sie sich immer noch gelegentlich im Café trifft, nur eine kleine Andeutung über die fremde Frau macht, begibt sie sich auf Spurensuche, versucht sich ein Bild dieser geheimnisvollen Fremden zu machen, sieht in jeder Frau, die ihr zufällig auf der Straße oder in der Metro begegnet, ein Spiegelbild der Anderen. „Die Frau füllte meinen Kopf, meine Brust und meinen Bauch, begleitete mich überallhin, diktierte mir meine Gefühle. Gleichzeitig ließ mich diese ständige Anwesenheit intensiver leben.“ Die aus dem Nichts aufgetauchte „Besessenheit“ schärft ihre Sinne, befähigt sie, sich schreibend zu analysieren. Das Schreiben führt zu psychoanalytischer Erkenntnis und seelischer Katharsis: „Ich schreibe über die Eifersucht, so wie ich sie durchlebt habe, indem ich meine damaligen Wünsche, Gefühle und Handlungen aufspüre und erforsche. Schreiben ist im Prinzip nichts anderes als eine Eifersucht auf die Wirklichkeit.“

Nachdem sie einiges über die fremde Frau in Erfahrung gebracht hat, begreift sie, dass sie selbst nicht einzigartig, sondern nur Teil einer Serie im Liebesleben ihres ehemaligen Geliebten ist, der mit Anfang dreißig sich stets zu älteren Frauen hingezogen fühlt: Frauen, die (wie Annie Ernaux und die neue Geliebte) finanzielle Unabhängigkeit mitbringen, vielfältige erotische Erfahrungen und die Fähigkeit zu zärtlicher Bemutterung.

Sich schreibend von der „Besessenheit“ zu befreien, heißt für Annie Ernaux, ihre Scham zu überwinden, ihre Obsessionen zu benennen: „Ich will nur die Fantasien und Verhaltensweisen der Eifersucht erforschen, die in mir am Werk war, will etwas Individuelles, Intimes zu einer greifbaren, verständlichen Substanz machen, zu etwas, das fremde Menschen sich vielleicht aneignen können.“ Genau dieses Kunststück gelingt Annie Ernaux: Denn sie beschreibt nicht nur ihr Verlangen und ihre Eifersucht, sondern ein Verlangen und eine Eifersucht, gibt sich selbst preis und zeigt ihre Wunden, um anderen zu sagen, dass man sich, wenn man radikal ehrlich ist, selbst aus dem Sumpf der „Besessenheit“ emporziehen kann: Ein Buch von großer gedanklicher Klarheit und bedrückender sprachlicher Schönheit.

Annie Ernaux: „Die Besessenheit“. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp, 2025, 68 Seiten, 20 Euro.




Hinüber ins Ungewisse – Mariette Navarros Roman „Am Grund des Himmels“

Zu (beinahe) 100 Prozent und viele Jahre lang hat die Erzählerin „funktioniert“, in der gläsernen Karrierewelt der globalen Hochhäuser, hier wahrscheinlich in einem ziemlich degenerierten Viertel von Paris. Nun aber will sie ein für allemal ausbrechen aus diesem sterilen Irrsinn mit seinen Mechanismen des kläglichen Dazugehörens.

Durch eine Dachluke begibt sich Claire eins Abends – „nach Dienstschluss“ – in gefährlich schwankende Höhen über der Stadt, wo starke Winde wehen und der Abgrund erschreckend nah ist. Desertieren aus all dem Gewöhnlichen, gut und schön. Aber was geschieht danach, wie kann man sich droben und außerhalb halten? Und überhaupt.

Ihre bescheiden und sparsam gebliebenen Eltern haben gefragt: Denkt ihr da oben auch an Leute wie uns? Bisher gewiss nicht. Claire hat sich als einfaches Mädchen vom Land bis in die Höhen der Metropole hochgearbeitet, hat Körper und Seele verleugnet. Doch wozu? Damit soll nun Schluss sein.

Ist es nicht eine etwas banale Frontstellung, die Mariette Navarro da aufruft? Freiheits-Vorstellungen mit Phantasien vom Fliegen und Tanzen. Klischees vom Aussteigen. Zuletzt hat diese Autorin (in „Über die See“) literarisch die aufwühlenden Untiefen des Meeres erkundet, jetzt ist sie – nicht minder bedrohlich – „Am Grund des Himmels“ angelangt. Aber wächst dort nicht auch Hoffnung?

Die Nacht vergeht. Anderntags sind die Etagen des Hochhauses seltsam leer. Ist eine Katastrophe passiert, hat es eine Feuersbrunst gegeben, ist Claire vom Dach gestürzt, ist sie selbst hinunter gesprungen? Alles ist Spekulation, bloße Mutmaßung.

Ihr plötzlich so entschiedenes Handeln steht vollends quer zur aller vermeintlichen Ordnung, allem angeblichen Fortschritt. Dazu dauernd diese Menetekel an den Wänden und ins Glas geritzte Zeichen!

Einem Mann namens Marc, der in der namenlosen Organisation nicht mehr mitmachen mochte, hatte man ein ganzes Stockwerk überlassen, wo er verzweifelt ins Nichts arbeitete. Es war nicht zum Aushalten.

Schließlich bewegen sich Claire und etliche andere (es werden immer mehr) in Taucheranzügen zum reißenden Fluß. Wo soll das enden? Ein Losschwimmen ins Ungewisse, ins gänzlich andere Sein, woanders hin. Wird es jemals ein Ankommen geben?

Mariette Navarro: „Am Grund des Himmels“. Roman. Kunstmann Verlag, 160 Seiten, 22 Euro.




Köstlich ohne Wenn und Aber – Gesammelte Kolumnen von Max Goldt

Gar manches in Max Goldts neuem Buch „ABER?“ kommt einem, sofern man seine Schöpfungen öfter goutiert, womöglich bekannt vor – sei’s aus Hörbüchern (Live- und Studio-Mitschnitte) oder aus den irrwitzigen Cartoons und Comics, die das Duo Katz & Goldt reihenweise hervorbringt.  Hier kann man es in anderer Form nachschmecken. Und es bleibt köstlich.

Hohe Auszeichnung schon, dass die Testimonials, die Goldts Kolumnen-Schaffen auf dem Umschlag preisen, von Daniel Kehlmann und Durs Grünbein stammen, also aus der allerersten Garde der kunstreich auf Deutsch Schreibenden. Kehlmann fühlt sich durch Goldts perfekte Syntax mitsamt der feinsinnigen Ironie an Thomas Mann erinnert. Hört, hört!

Nun denn: Auf solch erhellende Weise Frauenfußball und „Ehe für alle“ oder auch Frisösen, Lesben und Tierpflegerinnen zu einem herzhaften Amalgam zu verarbeiten, das gelingt den Wenigsten. Zwischendurch geht’s auch schon mal auf die Meta-Ebene, etwa indem Max Goldt erwägt, was denn eigentlich Humor und wie er von Witz und Komik abzugrenzen sei. Da kann man wirklich was lernen.

Herrlich sodann die fiktive, aber im Grunde glaubhafte Szenenfolge von der Gala zum „Unwort des Jahres“. Dazu sei nur verraten, dass am Ende alle Beteiligten „knülle“ sind. Auch die Bedeutung des Einwort-Buchtitels soll hier nicht erläutert werden, dazu nur eine Reminiszenz: Zuletzt ist mir das Wort derart prägnant in einer Kita begegnet, wo die Fachkräfte kindliche Einwände jeder Sorte stets mit dem Satz zu entkräften suchten: „ABER ist nach Hause gegangen!“

Doch verzetteln wir uns nicht, schauen wir lieber weiter ins Buch – etwa auf diese Kardinalfrage: Wenn es so viele Hurensöhne gibt, wie steht’s dann um die Strichjungentöchter? Auch dürfen wir eine Kinderführung im Museum belauschen – mit furchtbar abgebrühten „Know-it-all-Kids“ aus saturierten Mittelschichtskreisen.

Goldt parliert auch über Fährnisse aus seinem Berufsleben, schildert Vorfälle bei Lesereisen und ruchlos ihm untergeschobene Zitate, die für den einen oder anderen Shitstorm gesorgt haben. Ein besonders feines Stück sind seine Erinnerungen an den früh verstorbenen Wiglaf Droste, mit dem er in den frühen 1990ern eine teilweise etwas chaotische Lesetournee bestritten hat. Keine kollegiale Lobhudelei wird daraus, sondern ein grundehrlicher Bericht, der Drostes Macken und Marotten nicht verschweigt.

Durchaus zu beherzigende Medienkritik kommt erheiternd hinzu – am ZDF in Sachen Schwachsinns-Nachruffloskeln auf David Bowie, am „Spiegel“ wegen eines unfassbar naiven Interviews mit der Indie-Popgröße Morrissey. Schon legendär der folgende Satz, der abgewandelt auch als T-Shirt-Aufdruck existiert: „So einen Käse können Sie der Funke-Mediengruppe erzählen, aber nicht mir!“

Und immer wieder bewundert man den bestens geeichten Kompass des Max Goldt, der zu allermeist weiß, wo es gesellschaftlich langgehen sollte. Doch daraus macht er kein Aufhebens. Er wird das vielleicht nicht gern hören, aber neben allen Lachanreizen bietet er mit seinen Texten auch Orientierung.

Ach, man möchte am liebsten noch und noch das Weitere erwähnen, aber das wäre unsinnig. Lest doch gefälligst selbst! Aber ein bisschen plötzlich! Oder auch – besser noch – geruhsam und gelassen genießend.

Max Gold: „ABER?“ dtv (Hardcover), 158 Seiten, 24 Euro. 

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P. S.: Das erste Päckchen der Verlagsauslieferung hat nur den Lieferzettel enthalten, aber kein Buch. Im zweiten Anlauf lag das willkommene Rezensionsexemplar bei. Was dieser Zweischritt wohl wieder zu bedeuten hat?




Kreisende Lichtgewitter: Die Uraufführung von „Oracle“ bei der Ruhrtriennale erweist sich als prozessverliebtes Spektakel

Oben und unten, damals und heute: Szenenfoto aus der Uraufführung von „Oracle“ bei der Ruhrtriennale (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Vielleicht ist es eine Folge omnipräsenten Konsums: Bei einer aufwendigen, bombastischen Verpackung stört es viele Menschen nicht mehr, wenn der Inhalt nicht einmal die Hälfte des Volumens füllt. Als solch vorgebliche Wundertüte entpuppt sich die Uraufführung der Multimediashow „Oracle“ bei der Ruhrtriennale, mit der Regisseur Łukasz Twarkowski seine Wissenschafts-Trilogie fortsetzt.

In der Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord berauscht sich das Publikum an einem gut vierstündigen Spektakel mit Lichtgewittern, Livekameras und dröhnenden Beats, das sich um Fragen der Künstlichen Intelligenz dreht. Das ist im Wortsinn zu verstehen, denn die Bühne – und mit ihr die Produktion – kreist stundenlang um sich selbst. Die Gemeinschaftsarbeit mit dem Dailes Theatre (Riga) wird auf Lettisch gezeigt, mit deutschen und englischen Untertiteln. Interessant wird sie aber erst im Abspann. Der liefert in mehreren Textblöcken nach, welche Personen am Spiel um den britischen Mathematiker Alan Turing mitgewirkt haben – und warum.

Im britischen Zentrum für Kryptoanalyse im Zweiten Weltkrieg spielt der erste Teil von „Oracle“. Der Darsteller von Alan Turing lehnt an der Wand: Wie er heißt, verrät leider weder der Programmzettel noch die Website der Triennale. (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Von Leben und Werk des genial begabten Turing, Urvater der Algorithmen und Pionier der Computerentwicklung, wird nur eine Episode näher beleuchtet: die Erfindung der sogenannten „Bombe“, ein elektromechanisches Gerät, das den als unknackbaren geltenden Enigma-Code der Nazis entschlüsseln konnte und so den Zweiten Weltkrieg um einige Jahre verkürzt hat. Den Weg zu diesem Durchbruch zeigt Twarkowski in fragmentierter Form, aufgeteilt auf Videowände (für die Bilder der Live-Kameras) und auf Innenräume in verschiebbaren Würfeln, die teils transparent, teils durch Jalousien geschützt sind. Bletchley Park, das britische Zentrum für Kryptoanalyse im Zweiten Weltkrieg, erinnert im Bühnendesign von Fabien Lédé an ein Hauptquartier aus amerikanischen TV-Krimiserien.

Die Verschachtelung der Ebenen und Erzählstränge, das Nebeneinander der Zeitfenster ist gewollt. Es gibt Risse und Sprünge, zum Beispiel vom Großbritannien der Kriegsjahre zu einer fiktiven Fernsehshow im Jahr 2023, in der ein gewisser Blake darauf beharrt, dass die Künstliche Intelligenz ein Bewusstsein hat, statt es nur zu simulieren. Dass es sich dabei um Blake Lemoine handelt, einen Google-Ingenieur, verrät erst der Abspann.

Der Darsteller von Alan Turing und die Hedy Lamarr verkörpernde Schauspielerin (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Auch andere Figuren bleiben lange rätselhaft. Die Frau mit dem Sternenkranz auf den Schultern ist der Hollywood-Star Hedy Lamarr, die einst als „schönste Frau der Welt“ galt, zugleich aber mit dem Komponisten George Antheil das Frequenzsprungverfahren entwickelte, das Torpedos steuern half und zur Grundlage von Technologien wie Bluetooth, WLAN und GPS wurde. Aber wer genau sind Helen, Thommy, Joan? Ist mit Werner vielleicht Werner Heisenberg gemeint? Spielt Ada auf die englische Mathematikerin Ada Lovelace an, Tochter des Dichter Lord Byron? Soll der Chinese, der gelegentlich auftaucht, die technische Bedrohung aus dem Reich der Mitte symbolisieren? Fragen über Fragen. Nicht einmal der Programmzettel macht sich die Mühe, die Rollen aufzuführen, die das Ensemble verkörpert.

Den Text für „Oracle“ hat Anka Herbut während der Proben geschrieben, als Reaktion auf die Darstellenden. Vieles ist aus Improvisationen entstanden. Das fehlende Skript merkt man der Produktion deutlich an. Zu erleben ist eine ebenso ambitionierte wie misslungene Stückentwicklung: ausufernd, mit oft banalen Dialogen, die sich vor der Folie der Kriegsereignisse bedeutungsschwer geben.

Wo es um Muster („Patterns“) geht, um die Struktur von Zahlenfolgen, liegt das Spiel mit Wiederholungsschleifen („Loops“) natürlich nahe. In dieser Uraufführung wirken sie jedoch nicht sinnfällig, sondern redundant. Anderes ist dafür bis zur Unverständlichkeit elliptisch: Wer nicht weiß, dass Turing vermutlich Selbstmord beging, indem er in einen vergifteten Apfel biss, wird kaum begreifen, warum Schneewittchen durch die Szene geistert (deren Gesicht Walt Disney nach dem Vorbild von Hedy Lamarr schuf).

Fehlfarbener Wahn: Dem vierstündigen Stück hätte eine Kürzung um die Hälfte nicht geschadet. (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Das Schauspielensemble macht seine Sache großartig, ist aber nicht zu beneiden. Denn nach der Pause trudelt die Produktion vollends ins Haltlose. Weil Alan Turing homosexuell war und der frühe Tod seines Jugendfreunds Christopher Morcom ihn anregte, sich intensiv mit Fragen des Bewusstseins und mit der Möglichkeit „denkender“ Maschinen zu beschäftigen, inszeniert Twarkowski eine Séance. Die Kameraleute filmen, wie sich die Darstellerriege um einen Tisch versammelt und Ada zum Medium auserkoren wird. Der Rest gleicht einem exorzistischen Exzess. Gebrüll, zuckende Lichter, wummernde Musik, verzerrte und fehlfarbene Figuren auf Videoleinwänden. Wer sich das zumuten möchte, sollte besser nicht herzkrank sein.

Desillusioniert blickt die Darstellerin der Hedy Lamarr am Ende in den Spiegel. Sie wolle lieber für ihre Erfindungen in Erinnerung bleiben, sagt sie, als für ihr schönes Gesicht, für den oberflächlichen Reiz eines Glamour-Girls. Nach diesem Abend möchte man ihr zurufen: „Vielleicht sollten Sie sich das abschminken, Mylady.“

(Karten und Informationen: https://www.ruhrtriennale.de/de/programm/oracle/176)




Die Sache mit den zwei roten Kühlschränken

Steht der da einfach so auf der Straße herum….

Hin und wieder macht sich der Mensch Gedanken über den Zufall, fühle er sich nun vom selbigen begünstigt oder nicht. Mir ist gestern etwas „zugefallen“, was in der Wahrscheinlichkeitsrechnung wohl einem ordentlichen Lotterie-Gewinn gleichkäme.

Der Reihe nach: Nach etlichen Jahren musste ein neuer Kühlschrank her. Das alte Gerät (Retro-Look, kirschrot) wurde bei der Lieferung des neuen zur fachgerechten Entsorgung mitgenommen. Über Nacht stand es abholbereit und aufgetaut in der Küche, anderntags habe ich es noch einmal schnell fotografiert. Man hat ja so manchen Einkauf und manche Mahlzeit miteinander zugebracht. Kein Wunder, dass einst Axel Hacke eine veritable Beziehung zu seinem Kühlschrank namens Bosch gepflegt hat.

…und erinnert einen an den eigenen, der Stunden zuvor geholt wurde. (Fotos: Bernd Berke)

So weit, so alltäglich. Nachmittags hatte ich einen Termin in der Innenstadt. Auf dem Fußweg zur S-Bahn stand vor einer Haustür ein abholbereiter Kühlschrank – und siehe da: ebenso im Nostalgie-Design und ebenso kirschrot, allerdings ein anderes Fabrikat. Und Türanschlag rechts statt links. Aber das sind nur Petitessen.

Welch ein unwahrscheinlicher Zufall! Nie zuvor im Leben habe ich einen roten Vintage-Kühlschrank vor einem Haus stehen sehen, ich schwör‘. Nur jetzt, am Tage, da wir selbst einen solchen abholen ließen. Da steht der andere auf einmal (einige Kilometer entfernt) da wie ein Mahnmal des Zufalls. Was will er mir wohl bedeuten?

Oder sollte es sich etwa so verhalten, dass ich vormals nie auf derlei Kühlschränke geachtet habe, die im Laufe der Jahre dutzendweise herumgestanden hätten? Dass es nur eine Frage der anders gelenkten Aufmerksamkeit war? Wechselst Du selbst einen Kühlschrank, nimmst du eher andere Kühlschränke wahr. Das mag ja sein. Aber Retro und von derselben Farbe? Nein, nein, kommt mir bloß nicht pragmatisch und prosaisch!

Schade eigentlich, dass es – aus unerfindlichen Gründen – kein Kühlschrank-Lotto gibt. Unter notarieller Aufsicht, versteht sich. Ich würde jetzt zu den Hauptgewinnern gehören.* Zahlbar per sofort ohne Abzug.

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*Würde, würde Fahrradkette




…und wieder wird die angebliche Jugendsprache totgeritten

Blick ins heimische Bücherregal: Produkte aus dem Langenscheidt-Kerngeschäft sind mir irgendwie weitaus lieber als die PR-Masche mit den Jugendwörtern. (Foto: Bernd Berke)

Schon seit 2019 gehört der Wörterbuchverlag Langenscheidt – unter Beibehaltung der Marke – zum einstigen Konkurrenten Pons. Rasch war das Kartellamt damals mit der Fusion einverstanden, weil es sich bei Wörterbüchern und Sprachführern um einen „Bagatellmarkt“ (!) handele.

Trotzdem (oder gerade deshalb?) mag man es bei Langenscheidt partout nicht aufgeben, alljährlich wiederkehrend das „Jugendwort des Jahres“ wählen zu lassen. Ein Vorgang, den man eigentlich bei der Gesellschaft für Deutsche Sprache ansiedeln würde. So aber haben es (bereits 2008) ein paar Verlagsleute privatisiert und hauen darob bis heute eminent wichtig auf die Pauke. Ob es ihren Ruf gesteigert oder gemindert hat? Tja.

Bis zum 17. Juli konnten diesmal Vorschläge eingereicht werden, jetzt wurden schon mal – mehr oder weniger medienwirksam – die Top Ten verkündet. Man fragt sich demnach wieder, wer da eigentlich Vorschläge einreicht. Ob es wirklich mehrheitlich Jugendliche sind, möchte man bezweifeln, denn wie üblich hinkt man der mutmaßlichen Sprach-Realität teilweise um Jahre hinterher. Befragt man echte Jugendliche nach der „Shortlist“, schütteln sie nur die Köpfe. Auch diese Diskrepanz ist schon ein alter Hut.

Bringen wir’s hinter uns. Hier sind die zehn Favoriten für 2025:

„Checkst Du“ (kapierst du’s), „Das crazy“ (entspricht annähernd dem Loriotschen „ach was“), „Digga(h)“, „goonen“ (onanieren), „lowkey“ (etwa: „ganz nebenbei“), „Rede“ (ungefähr: Da sagst du was Wahres, das kannst du laut sagen), „Schere“ (meine Schuld), „Sybau“ (Abkürzung für „Shut your bitch ass up“ = Halt’s Maul), „tot“ (furchtbar langweilig oder peinlich) und „tuff“ (krass, cool etc.).

So. Genug gegrinst oder gegähnt. Insbesondere „Digga“ klingt inzwischen dermaßen klischeehaft altbacken, dass die Anrede beinahe als Boomer-Wendung durchgehen könnte. Niemand sollte auch nur auf die Idee kommen, sich an Jugendliche (erst recht nicht an Gruppen) mit einem dieser vermeintlichen Jugendworte heranzuwanzen. Mindestens Ignoranz oder Spott, vielleicht auch Verachtung wären einem als verdienter Lohn zuteil. Wer lässt sich schon gerne unberufen dilettantisch in seine Ausdrucksweise hineinpfuschen?

Langenscheidt aber lässt und lässt nicht locker und verkündet schon mal den weiteren Fahrplan: Vom 29. Juli (also heute) bis zum 2. September erfolgt demnach das Top-10-Voting, vom 9. September bis zum 8. Oktober folgt das Top-3-Voting. Schließlich gibt’s am 18. Oktober die Bekanntgabe des Gewinner-Wortes auf der Frankfurter Buchmesse. Zu fürchten steht freilich, das alles sei nicht tuff, sondern tot.




Gnadenlos hinsehen: Heinz Strunks Geschichten ohne Geld, Glück und Sprit

In diesem Buch begegnen wir wahrlich bizarren Personen und Zuständen. Vielfach stehen Fäulnis und Verfall menschlichen Lebens im Brennpunkt der Kurzgeschichten (besser noch: Miniaturen), die Heinz Strunk mit einer Mischung aus Abscheu und diabolischem Vergnügen schildert. Der Mann redet nicht um den heißen Brei herum, sondern steuert geradewegs drauflos und hat sich damit eine treue Anhängerschaft erschrieben.

„Kein Geld Kein Glück Kein Sprit“ steht als Titelschriftzug mit Durchstreichungen auf dem Cover. Warum nur habe ich statt Sprit zuerst immer Spirit gelesen? Naja, egal. Muss ich mit mir selbst ausmachen. Wobei Sprit ja Benzin oder Schnaps bedeuten kann. Der Titel wird jedenfalls in diversen Storys wortwörtlich und fast wie nebenbei aufgegriffen.

Schauen wir aufs Figureninventar:

Ein offenbar linkischer Nerd bewundert im Berliner Szenecafé zwei Frauen aus scheuer Distanz. Überraschend erweist sich später, dass er ein weltweit tätiger Dirigent ist. Alles eine Frage von Perspektive und Kontext? Ein einstiger Hörbuch-Sprecherkönig, ehedem allgegenwärtig, gerät nach und nach überall in fürchterliche Ungnade. Ähnlich abschüssig diese Story: Gealterter Filmstar wird von einer genusssüchtigen „Crew“ ins Luxushotel eingeladen, benimmt sich dort aber komplett daneben. Statt die Clique geistreich zu amüsieren, wie man es nach seinen medialen Auftritten zu hoffen wagte, sondert der Suffkopp allenfalls öde Peinlichkeiten ab.

Eine Frau hat permanenten Schluckauf und sinnt auf Suizid. Ein Rockstar trifft beim Festival die völlig abgehalfterte Lieblings-Band seiner Jugend – welch‘ hochnotpeinliches Backstage-Erlebnis. Sodann die Leiden eines früher dicklich-verweichlichten Jungen, der sich irgendwann brachial ermannen will und schließlich doch wieder in einer Hundehütte vegetiert.

Fragen sondergleichen: Wie empfindet jemand seinen ersten Tag unten im Grab, den ersten von so endlos vielen? Wie ergeht es einem 2,11 Meter langen Mann mit Glasknochen, der einen vierstündigen Flug auf viel zu beengtem Sitz absolviert? Es ist dies – unter gar manchen – wohl eine der verstörendsten Phantasien des Bandes. Obwohl: Da ist ja z. B. auch das greise Ehepaar, das (ohne jeden Bezug zur Außenwelt) in seiner einst prächtigen, nun aber schimmelig verfallenen Villa verfault. „Shit happens“ lautet der lapidare Befund des Erzählers.

So viele zu Tode Entkräftete finden sich hier, die einfach nicht ihrer fatalen „Bestimmung“ und misslichen Verhältnissen entkommen oder gar elendiglich aus besseren Zeiten abrutschen. Aufstiege gibt es hier nicht, etwaige Aufbrüche sind zweckloses Gezappel, letztlich geht es immerzu abwärts. Welch eine deprimierende Lektüre! Heinz Strunk beschönigt nichts, er beschreibt all die Not gnadenlos hinsehend, mit „bösem Blick“, abermals gewohnt schnoddrig und hart am Rande des Zynismus.

Etwas läppisch und albern erscheint nur die Geschichte, in der ein Mann im Yoga-Kurs unablässig furzen muss. Das scheint denn doch „Pennäler-Humor“ zu sein, wie man es früher zu nennen pflegte. Ansonsten gilt immer wieder: Bei Strunk unterhält man sich bestens, allen Abgründen zum Trotz.

Heinz Strunk: „Kein Geld Kein Glück Kein Sprit„. Rowohlt. 192 Seiten, 23 Euro.

 




Zum Tod von Claus Peymann – ein paar Worte von „damals“

Claus Peymann, seinerzeit Intendant des Berliner Ensembles, im Mai 2013 bei der Berliner Konferenz „Theater und Netz“ der Heinrich-Böll-Stiftung. (Wikimedia Commons, Foto Stephan Röhl) – Link zur Lizenz:
https://www.creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Mit Claus Peymann (geb. 7. Juni 1937 in Bremen, gest. 16. Juli 2025 in Berlin-Köpenick) ist einer der wirkmächtigsten deutschsprachigen Theatermacher der letzten 60 Jahre gestorben. Hier noch einmal eine kurze Würdigung zu seinem 60. Geburtstag, erschienen in der Westfälischen Rundschau und eben auch schon 28 Jahre her. Um jetzt spontan einen Nachruf zu schreiben, wenn nichts von langer Hand Vorbereitetes in der Schublade (sprich: Festplatte) schlummert, ist „man“ denn doch zu bewegt. Auch darum dieser Rückgriff:

Von Bernd Berke

Es war die „Publikumsbeschimpfung“, mit der Claus Peymann erstmals weithin Aufsehen erregte. Doch der Regisseur, der 1966 Peter Handkes Stück im Frankfurter Theater am Turm uraufführte, hat sich eigentlich nie mit den Zuschauern, sondern viel lieber mit Politikern angelegt. Morgen wird Peymann, noch Intendant der Wiener „Burg“, ab 1999 dann Chef des Berliner Ensembles, 60 Jahre alt.

Theaterkundige Revierbewohner trauern natürlich besonders Peymanns Bochumer Ära (1979 bis 1986) nach. Als er nach Wien wechselte, gab es sogar Leute, die für seine Premieren bis an die Donau pilgerten – ganz ähnlich, wie ihm Anhänger aus Stuttgart (wo er von 1974 bis 1979 als Schauspieldirektor arbeitete) nach Bochum nachgereist waren.

Peymann hat vermeintlich staubtrockenen Klassikern wie Goethes „Iphigenie“ frisches Leben eingehaucht. Stücke, die man für gar nicht mehr spielbar hielt, etwa Kleists „Hermannsschlacht“, gerieten unter seiner Ägide zu aufregenden Abenteuern. Doch das Theater verdankt Peymann auch wegweisende Uraufführungen, zumal der Stücke von Thomas Bernhard („Vor dem Ruhestand“, „Minetti“ , „Ritter, Dene, Voss“) und Peter Handke („Der Ritt über den Bodensee“, „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“).

Trunken vor lauter Spielfreude

Ohne grandiose Schauspieler wie Gert Voss, Kirsten Dene, Traugott Buhre oder Martin Schwab, wäre Peymann wohl nicht erklärter Favorit der Feuilletons geworden. Doch eine seiner größten Leistungen besteht ja just darin, hochkarätige Ensembles zusammengeführt, inspiriert und lange beieinander gehalten zu haben. Peymanns oft herrlich spieltrunkener Inszenierungsstil war nie „Regietheater“ in dem Sinne, daß die Darsteller durch starre Konzepte an den Rand gedrängt worden wären.

Feinde hat er sich auch gemacht. Als er in Stuttgart Spenden für die zahnärztliche Behandlung der inhaftierten RAF-Terroristin Gudrun Ensslin sammelte, kam es zum politischen Eklat. Mißtrauisch empfing man ihn später auch in Wien. Österreichs Kulturkonservative fürchteten, der „Piefke“ Peymann (Sohn eines Bremer Studienrats) werde die Traditionen am Burgtheater gefährden.

Wie er auch das Burgtheater eroberte

Immerhin: Er hob die Preise für bessere Plätze drastisch an und verbilligte die anderen. Das galt besonders der giftigen Wiener Presse schon als sozialistische Untat. Doch als Peymann das Publikum mit grandiosen Inszenierungen wie „Richard III.“ von Shakespeare auf seine Seite zog, konnte man ihm nicht mehr so viel anhaben. Nun wagte er es auch, im November 1988 (zum 100jährigen Bestehen des Burgtheaters) Thomas Bernhards „Heldenplatz“ auf die Bühne zu bringen, jenes Stück, in dem die NS-lastige Historie des Hauses bohrend zur Sprache kam.

Im „Heldenplatz“-Umfeld kam es gar zu einer Art Regierungskrise in Wien. So etwas gibt es eben nur in Österreich, wo Theater und Oper eine geradezu staatsbildende Rolle spielen wie sonst wohl nirgendwo auf der Welt. Vielleicht wird Peymann einen Hauch dieser Atmosphäre im nüchternen Berlin vermissen.




Wenn alles verloren geht – Marlene Streeruwitz‘ Roman „Auflösungen“

Marlene Streeruwitz ist eine der politisch profiliertesten Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ihr neuer Roman heißt „Auflösungen“.  Denn alles löst sich auf: gesellschaftliche Zusammenhänge, soziale Strukturen, politische Gewissheiten, kulturelle Übereinkünfte, familiäre Beziehungen.

Der Soziologe Andreas Reckwitz hat kürzlich den „Verlust“ als „Grundproblem der Moderne“ beschrieben. Der Roman von Marlene Streeruwitz ist der Versuch, das Gefühl des Verlusts literarisch einzufangen und zu demonstrieren, wie ein Individuum komplett aus der Bahn geworfen wird, zu einem modernen weiblichen Odysseus mutiert und nirgendwo mehr Halt und Heimat findet.

In den Ruinen ihres Lebens

Nina Wagner lebt als Lyrikerin in Wien und steht vor den Ruinen ihres Lebens. Ihre Ehe ist geschieden, ihre Tochter will kaum noch etwas von ihr wissen. Ihre Versuche, sich als bisexuelle Freu mit erotisch wechselnden Interessen wieder frisch zu verlieben, scheitern kläglich. Die Marotten und Moden der Kunst-Schickeria gehen ihr genauso auf die Nerven wie der Sumpf aus Korruption und Vetternwirtschaft in der Politik. Sie will einen Neuanfang, nimmt im März 2024 einen Lehrauftrag an der Uni in New York an, hofft, ihrem Leben eine Wendung zum Positiven geben zu können. Doch sie kommt vom Regen in die Traufe: Denn auch Amerika ist längst in Auflösung begriffen und reißt sie in einen aberwitzigen Strudel aus Verlust und Angst, bringt sie in einen Zustand wahnhafter Verwirrung, der ihre Gedanken untergräbt und auch ihre Sprache regelrecht auflöst.

Irrfahrt durchs höllische Labyrinth

Die Suche nach ihrem Apartment gleicht einer Irrfahrt durch ein höllisches Labyrinth. An der Uni herrscht seit dem Massaker der Hamas und dem Krieg in Gaza ein Klima der Angst und Überwachung. Durch ihren Kopf flackern Erinnerungen an ihre schwierige Kindheit und ihre kaputte Ehe, sie vermischen sich mit sexuellen Träumen und erotischen Obsessionen, werden übermalt von den aktuellen Erlebnissen. Freunde haben sich ins Private zurück gezogen, ihre Studenten fürchten sich, offen ihre Meinung zu sagen.

Wochenlang versucht Nina, ihrem neuen Alltag einen festen Rahmen zu verleihen. Dann stürzt sie abrupt ins absolute Chaos und gerät, nachdem sie auf der Straße überfallen wurde, in einen bizarren Höllentrip, auf dem ihr kuriose Typen begegnen und sie vor Schmerzen kaum denken kann.

Sturzflut aus Gedanken und Gefühlen

Die Erzählerin ist immer ganz nah bei Nina, scheint in ihrem Kopf zu leben. Die Sprache ist so abgehackt und brüchig wie alles, was gerade ungefiltert durch Ninas Gedankenwelt und Gefühlschaos rauscht. Die Sätze bestehen manchmal aus nur einem einzigen Wort. Oft haben sie keine Verben und keine Richtung. Dann muss der Leser der Sturzflut aus krausen Gedanken und ambivalenten Gefühlen einen Sinn abringen. Eine mühsame, aber lohnende Lektüre, spürt man doch, dass die Autorin uns sprachlich fragil und intellektuell ungeschützt mit den Grundproblemen der Moderne konfrontieren will. Man braucht starke Nerven und großes Durchhaltevermögen.

Marlene Streeruwitz: „Auflösungen“. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2025, 417 Seiten, 28 Euro.




Sinnlich, saftig, manchmal faulig: Ahlen zeigt „Früchte in der Kunst“

Pierre-Auguste Renoir: „Nature morte aux pommes et grenades“ (Stillleben mit Granatäpfeln), um 1910, Öl auf Leinwand (Courtesy Kunststiftung Rainer Wild, Heidelberg © VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Es dürfte sozusagen die saftigste Ausstellung des Jahres sein, auf jeden Fall ist es die fruchtigste: Mit „Ein Genuss! Früchte in der Kunst“ präsentiert das Kunstmuseum Ahlen – erstmals in NRW – Ausschnitte der einzigartigen Sammlung des Heidelberger Unternehmers und Wissenschaftlers Prof. Rainer Wild, der sich just auf künstlerische Darstellungen von Früchten spezialisiert hat. Eigentlich kein Wunder, importiert und verarbeitet seine Firma doch Früchte aus aller Welt.

Über 100 Arbeiten von 77 Kunstschaffenden des 20. und 21. Jahrhunderts sind in Ahlen zu sehen. Da finden sich reihenweise große Namen aus der neueren Kunstgeschichte, beispielsweise (alphabetisch sortiert): Giorgio de Chirico, Lovis Corinth, André Derain, Rainer Fetting, Jörg Immendorff, Alexej von Jawlensky, Anselm Kiefer, Paul Klee, Markus Lüpertz, Pablo Picasso, Pierre-Auguste Renoir, Andy Warhol. Für ein solches Kunst-Aufkommen hat man wohlweislich die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt. Keine sonderliche prophetische Gabe ist nötig, um einen regen Publikumsandrang vorherzusagen. In solcher Erwartung öffnet das Haus samstags früher als sonst.

Rainer Fetting: „Äpfel aus Karwe I“, 1993, Öl auf Leinwand (Courtesy Kunststiftung Rainer Wild, Heidelberg © Rainer Fetting)

Gemalte Früchte haben eine lange Tradition. So wird denn auch in der Gegenwartskunst häufig aus dem historischen Fundus zitiert: Mal scheint ein berühmtes Bild von Caravaggio, bewusst unscharf gehalten, hindurch (bei Slawomir Elser), mal wird rückblickend auf die berühmten Frucht-Gesichter von Arcimboldo (goldene Skulptur von Miguel Berrocal) verwiesen – oder auf die Machart famoser Trompe-l’œil-Schöpfungen niederländischer Barockmeister. In all diesen Kontexten sind Früchte symbolisch „aufgeladen“. Oft stehen sie für schiere Lebenslust und Luxus, nicht selten aber auch für Vergänglichkeit und Verfall. Reife, sinnlich pralle und sodann allmählich verfaulende Früchte (prototypisch in Cony Theis‘ „Bananenzyklus“, 1992) deuten auf Phasen des Daseins hin, mit denen sich natürlich auch der Mensch gemeint fühlen sollte. So lässt sich denn in dieser Schau zwar vielfach schwelgen, doch hält sie ebenso viele nachdenklich oder melancholisch stimmende Momente bereit.

Karin Kneffel: „Ohne Titel (Goldene Trauben)“, 1998, Öl auf Leinwand (Courtesy Kunststiftung Rainer Wild, Heidelberg © VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Ahlens Museumsleiterin Martina Padberg macht beim Rundgang zudem darauf aufmerksam, dass Stillleben ein besonderes Genre der Kunst seien – schon weil hierfür kein Modell stillsitzen musste, sondern das Arrangement (Obstkorb und dergleichen) für lange Zeit unverändert vor Augen stehen konnte. So kommt es, dass manche Künstler gerade im Spätwerk zum Motiv der Früchte zurückkehrten, sich damit gleichsam „die Ruhe antaten“ und innere Einkehr hielten. Wunderbare Beispiele hierfür sind etwa Bilder von Giorgio de Chirico oder Auguste Renoir.

Vielfältig sind die Zugriffe aufs Thema. Als sinnvoll erweist sich in Ahlen die Abfolge von Räumen, die je einer Frucht gewidmet sind (Äpfel, Bananen, Trauben, Zitronen etc.), so dass der vergleichende Blick sich auf künstlerische Details richten kann. Gerade die hie und da angewandte „Petersburger Hängung“ (Bilder dicht an dicht beisammen) bewirkt solche Konzentration. Abgesehen von individuellen Eigenheiten, ist es schon ein wesentlicher Unterschied, ob es sich z. B. um Arbeiten aus dem Geiste des Impressionismus, der Neuen Sachlichkeit oder aus dem Umkreis der Pop-Art handelt.

Ganz nebenbei geben einzelne Werke auch sachliche Rätsel auf: Auf welcher Grundlage konnte Christian Rohlfs schon 1903 ein „Stillleben mit Ananas“ anfertigen? War ihm die damals noch sehr exotische Fruchtsorte bereits zur Hand? Zumindest erhob sich diese Frage während der Pressevorbesichtigung (Lösungsansatz siehe am Ende des Beitrags).

Hans Op de Beeck: „Vanitas (variation) 1″, 2015, Holz, Gips, bemalt (Courtesy Kunststiftung Rainer Wild, Heidelberg @ Hans Op de Beeck and Courtesy Galerie Krinzinger, Wien)

Nun noch ein paar willkürliche Schlaglichter auf weitere Einzelheiten: Max Kaminskis Triptychon „Garten der Lüste“ (2004) zeigt gleich eingangs die katastrophal bedrohte Umwelt, in der auch einstmals paradiesische Früchte zu vergehen drohen – wie denn überhaupt die biblische Apfelszene mit Adam und Eva zu den dauerhaftesten Überlieferungen zählt. Stephan Balkenhols schrundige Skulptur eines nackten Mannes mit Weinkrug und Trauben („Bacchus“, 2011) macht derweil aus dem Gott der rauschhaften Fruchtbarkeit ein reichlich normales, bodenständiges, ja etwas unberaten wirkendes Wesen. Karin Kneffels Bild „Ohne Titel (Goldene Trauben“, 1998) changiert unterdessen zwischen fotorealistischer Anmutung und genuin malerischer Behandlung.

Hans Op de Beeck stellt, nahezu raumfüllend, das riesige, Grau in Grau überzogene Blow-up-Abbild dreier Brombeeren dreidimensional vor Augen – ein Kunstwerk, um das man buchstäblich kaum herumkommt. Die Anregung sollen Geschmacks- und Geruchs-Erinnerungen aus der Kindheit gegeben haben – fast wie einst jene berühmten Madeleine-Kekse, mit denen sich Marcel Proust auf die folgenreiche „Suche nach der verlorenen Zeit“ begeben hat.

Damit an dieser Stelle genug! In einer Ausstellung, in der Ernst Barlachs Skulptur „Melonenesser“ (1906) im Jahrhundert-Abstand auf Ai Weiweis Wassermelone trifft (Auflagenstück aus Porzellan, 2006), herrscht an vielfältigen Anstößen zu eigenen Entdeckungen wahrlich kein Mangel.

„Ein Genuss! Früchte in der Kunst von Renoir bis Ai Weiwei“. Kunstmuseum Ahlen, Museumsplatz 1, 59227 Ahlen. Vom 6. Juli bis 26. Oktober 2025. Öffnungszeiten: Mi-Fr 15-18 Uhr, Sa, So und feiertags 11-18 Uhr. Eintritt 7 Euro, ermäßigt 5 Euro, Kinder/Jugendliche bis 18 Jahre frei. Kleinformatiges Katalogbuch (144 Seiten) 12 Euro.

Weitere Infos: www.kunstmuseum-ahlen.de

P. S.: Vielversprechend auch das Begleitprogramm. Da geht es etwa um die Verhältnisse im globalen Früchtehandel oder um die erbärmlichen Bedingungen für Erntehelfer im Süden Europas. Früchte können eben auch „politisch“ sein.

P. P. S.: Zur Ananas-Frage: Der rasch aufgerufene KI-Auszug der Suchmaschine ergibt, dass die Ananas bereits seit dem 17. Jahrhundert in deutschen Gegenden bekannt gewesen sei, zunächst „als exotische Delikatesse in herrschaftlichen Gärten und später als Importware“. Bereits ums Jahr 1700 gelang demnach ein Ananas-Anbau in Potsdam. Anno 1779 sollen dort 400 Früchte geerntet worden sein. Bis ins 20. Jahrhundert seien diese Früchte sehr teuer und nur begrenzt verfügbar gewesen.




Zehn Jahre nach dem Weltkrieg: Als deutsche Abstrakte in Paris reüssierten

Karl Otto Götz: Ohne Titel (9.9.1954) (Drouin-Bild, 1954) / Sammlung von Morgen, Berlin (Foto: Oskar Lee / Emil Schumacher Museum, Hagen)

Abstrakte deutsche Kunst in Paris zeigen – nur zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs? Das muss ein heikles Unterfangen gewesen sein. 1955 sah man darin von Staats wegen auch eine diplomatische Mission zur Annäherung ans vormals befeindete Nachbarland. Trotz vieler Streitigkeiten im Vorfeld wurde die Schau ein Erfolg und brachte manchen Künstlern den Durchbruch. Wer es in Paris geschafft hat, der damaligen Welthauptstadt der Kunst, konnte es überall vollbringen.

Jetzt, 70 Jahre später, ist die legendäre Ausstellung fürs Hagener Emil Schumacher Museum (ESMH) zu wesentlichen Teilen rekonstruiert worden. Sie führt auf eine Zeitreise in ästhetische Gefilde der 50er Jahre. Es gibt wenige Fotos vom Pariser Ereignis und Schnipsel eines Kino-Wochenschau-Berichts („Blick in die Welt“, dem feinsinnigen Thema zum Trotz im schnarrenden Stil jener Zeit kommentiert). Solche Aufnahmen empfangen einen wandfüllend zu Beginn des Rundgangs in Hagen. Schon ist man eingestimmt.

Möglichst viele Bilder und Skulpturen von damals aufzutreiben, erforderte eine Menge Fahndungsarbeit. 98 Arbeiten von 37 Urhebern (kaum Frauen dabei) wurden 1955 in Paris gezeigt, 56 Exponate konnte Gastkuratorin Anne-Kathrin Hinz von der Bonner Uni-Forschungsstelle Informelle Kunst ausfindig machen, 41 können in Hagen gezeigt werden. Einige Werke sind nicht mehr transportfähig, andere werden aus diversen Gründen nicht verliehen. Schon bald dürfte eine solche Zusammenstellung gar nicht mehr möglich sein. Überhaupt war die Vorarbeit (sowohl 1955 als auch diesmal) fast ebenso spannend wie die schließlich gezeigte Kunst.

Ernst Wilhelm Nay: „Instrumentation“, 1952. Öl auf Leinwand. MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher (Foto: Olaf Bergmann, Witten)

Ganz anders als 1955, als die vielfach frisch aus den Ateliers kommenden Kunstwerke im Cercle Volney (nahe der Pariser Oper) dicht an dicht präsentiert wurden, können sie in Hagen auf größerer Fläche weitaus luftiger ausgestellt werden. 1955 war dem auf deutscher Seite organisatorisch federführenden Iserlohner Künstler Wilhelm Wessel sehr daran gelegen, auch die allerneuesten, noch nicht etablierten Positionen zu zeigen, zu deren Protagonisten z. B. just der Hagener Emil Schumacher oder Karl Otto Götz zählten. Deren frühe, teilweise noch nicht ausgereifte Schöpfungen – Schumacher fand recht spät zu seiner ureigenen Bildsprache – hingen unmittelbar neben denen bereits bekannter Künstler wie Willi Baumeister, Ernst Wilhelm Nay oder Fritz Winter.

Gegen dieses anti-hierarchische Konzept regten sich damals starke Widerstände – einerseits aus den Reihen der arrivierten Künstler, die eine Abwertung ihrer Oeuvres fürchteten, vor allem aber vom eher konservativen „Deutschen Kunstrat“, der dem Außenministerium angegliedert war und nur längst anerkannte Spitzenkunst zulassen mochte. Doch Wilhelm Wessel, damals Vorsitzender des Westdeutschen Künstlerbundes, und sein französischer Mitstreiter, der Galerist René Drouin, setzten sich durch.

Die Presse war vom Ergebnis überwiegend angetan bis begeistert, was man auf der Gegenseite nicht wahrhaben wollte. Auch Rezeption und Folgen der Pariser Ausstellung werden nun dokumentiert, sogar Seiten aus dem Gästebuch von damals sind zu sehen. Wie kühn die Schau war, lässt sich ermessen, wenn man bedenkt, dass kurz darauf die allererste Kasseler documenta eröffnet wurde, die noch weitgehend an die klassische Moderne aus Vorkriegszeiten anknüpfte.

Rupprecht Geiger: „Wjasma“ (1955), Eitempera auf Leinwand. (Archiv Geiger, München / Foto: Nikolaus Steglich, Starnberg)

In Hagen erweist sich, dass es etliche abstrakte Wege der Kunst gibt und eben auch schon 1955 gegeben hat. Die oftmals spontanen Prozesse der Gegenstandsferne weisen in verschiedene Richtungen. Von den vielfach düster vergitterten Nachkriegsbildern hebt sich vor allem das frühvollendete, farbintensive Schaffen eines Rupprecht Geiger ab, dem eine singuläre Stellung im Kontext dieser Ausstellung zukommt. Auch die filigranen Skulpturen von Norbert Kricke fanden erst später breiteren Zuspruch.

Man ahmt in Hagen nicht die ursprüngliche Sortierung nach, die etablierte und unbekannte Künstler nach Kräften mischte. Ordnungsprinzip sind vielmehr die Arbeitsorte der Künstler, z. B. Frankfurt (K. O. Götz, Bernard Schultze u. a.), das Rheinland (Georg Meistermann, Hann Trier, Hubert Berke u. a.) oder München (Rupprecht Geiger, Fred Thieler u. a.). Westfalen ist mit Emil Schumacher und Wilhelm Wessel vertreten. Diese Abfolge hat etwas für sich: Jeweils in räumlicher Nähe wirkend, haben sie einander wohl verstärkt beeinflusst. Der Genius Loci scheint immer noch lebendig zu sein.

Die Hagener Rekonstruktion lässt es ahnen: Im Rückblick ist es kaum zu überschätzen, was die Ausstellung 1955 und danach für den deutsch-französischen Kulturaustausch bewirkt hat. ESMH-Direktor Rouven Lotz hält es für denkbar, dass auch die jetzige Schau Folgen hat – wenn etwa Nachfahren der damaligen Künstler aufmerksam werden und auf weitere Werke hinweisen. So entstehen womöglich ungeahnte Zusammmenhänge.

„Paris 1955. Deutsche Abstrakte im Zentrum der Moderne“. Noch bis zum 3. August 2025. www.esmh.de

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Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen: www.westfalenspiegel.de




Wenn die Dinge immer schlechter werden: „Die Verkrempelung der Welt“

Der Titel dieses silbrig glitzernden Buches aus der ehrwürdigen edition suhrkamp ist ein Coup. Hätte der Band „Kritik der überflüssigen Dinge“ oder ähnlich betulich geheißen, hätte wohl kaum ein Hahn danach gekräht. So aber nennt er sich „Die Verkrempelung der Welt“. Da horcht man auf, da will man Näheres wissen.

Nicht alle Befunde des Autors Gabriel Yoran (umtriebiger, mehrfacher Startup-Gründer mit eher „links“ anmutendem geistigen Rüstzeug) sind brandneu, aber schon der Einstieg ist hübsch: Er dreht sich um einstmals bewährte Dinge wie Herdknebel (früher übliche Bedienknöpfe) und konventionell sinnreiche Duschschläuche. Heute muss oft für einfachste Verrichtungen ein komplizierter Touchscreen mit allerlei irrwitzig verzweigten Optionen herhalten.

Erstes Zwischenfazit: Um noch mehr Gewinn zu generieren, nehmen Konzerne ihren jeweils neuesten Produkten gute und vernünftige Eigenschaften weg, um diese hernach als Premium-Features deutlich zu teurer zu verkaufen. Anders gesagt: Statt vormals guter oder wenigstens passabler Sachen erhalten wir vielfach „Krempel“; es sei denn, wir bezahlen enorme Aufpreise.

Die früher prägende „Fortschritts-Erzählung“ des Immer-besser-Werdens, so Yoran weiter, sei kurzatmig geworden, überhaupt sei der bis dahin im Westen recht unerschütterliche Fortschrittsglaube mit dem 11. September 2001 (für Jüngere: Terroranschlag aufs World Trade Center) kollabiert. In diesem Zeitklima falle es gar nicht mehr so sehr auf, wenn Produkte sich permanent verschlechtern. Sollten wir uns etwa an all den Krempel gewöhnt haben?

In der verqueren kapitalistischen „Logik“ liegen zudem immer kürzere Verfallszeiten der Produkte. Früher hielten bessere Waschmaschinen 30 Jahre lang, heute sind es allenfalls 10 Jahre. Dieser mäßige Wert reicht inzwischen schon als erfülltes Kriterium fürs Warentest-Urteil „Sehr gut“. Nachhaltiges Wirtschaften sähe wahrlich anders aus. Als Gegenbeispiel wird das legendäre DDR-Handrührgerät RG 28 aus Suhl aufgeführt, das über Jahrzehnte hinweg unverändert zuverlässig blieb. Tempi passati.

Das Buch scheint nun den anfangs gesponnenen Faden etwas zu verlieren, es gerät mehr und mehr zum Grundkurs in Warenkunde, ohne die wir Konsumenten ziemlich aufgeschmissen seien. Vom kostspieligen und in rechtsextremen Ruch geratenen Sonderweg von Manufactum ist die Rede. Ein solcher Satz lockt ein Grinsen hervor: „Die Manufactum-Katalogprosa wimmelt nur so vor letzten sorbischen Muhmen, die dank des Versandhändlers wieder Bierdeckel handfilzen.“ Inzwischen ist die Edel-Klitsche an Otto verkauft worden – und der Manufactum-Gründer hat Zeit genug, höchst zweifelhafte Bücher auf den Markt zu werfen.

Der geschichtliche Rückgriff führt bis zum Deutschen Werkbund, in dem auch Künstler eine „Moral der Dinge“ etablieren wollten, und zu den Ursprüngen des zunehmend autoritären Funktionalismus, der sich in Gestalt von Adolf Loos zum Lehrsatz verstieg, jedes Ornament sei ein Verbrechen. In der Gegenwart wird die krempelhafte, unnötig Aufmerksamkeit fressende Computer- und Online-Kommunikation gegeißelt.

Schließlich verbeißt sich der Autor geradezu in ein Thema, das ihm wohl speziell am Herzen liegt: die Entwicklung der Kaffee-Zubereitung im Spannungsfeld zwischen Vollautomaten und Siebträger-Maschinen. Auch aus persönlichen Gründen fand ich ein Kapitel interessant, das davon handelt, welche Dinge in anderen Ländern womöglich besser sind als bei uns. Ein Beispiel: Türen und Fenster in Dänemark, die sich nach außen hin öffnen. Warum haben wir nicht die Wahl?

Eine aufs große Ganze zielende Schlussfolgerung steht in den letzten Sätzen, die bedeutsam, ja beinahe gravitätisch ausschwingen, als hätte ein Adorno das Wort:

„Wir werden nicht herumkommen um die gemeinsame Suche nach dem guten Leben miteinander, nach den legitimen Bedürfnissen.

Noch die progressivste Warenkunde wäre nur der Schein der Laterne – der Schlüssel liegt anderswo. Es ist nur sehr unbequem, dort zu suchen“. 

Gabriel Yoran: „Die Verkrempelung der Welt. Zum Stand der Dinge (des Alltags)“. edition suhrkamp. 186 Seiten, 22 Euro.

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P. S.: Im werblichen Anhang des vorliegenden Bandes habe ich eine unverhoffte Wiederentdeckung gemacht. Dort wird eine Fortschreibung von Wolfgang Fritz Haugs „Kritik der Warenästhetik“ (1971) angepriesen, die wir zu Studentenzeiten in den 1970er Jahren zustimmend goutiert haben. Angefügt sind neue Erkenntnisse zur „Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus“. Das Buch erscheint für 19 Euro als Print on demand-Ausgabe. So ändern sich die Zeiten.




Salz im Nudelwasser und viele andere Küchenfragen

Gewichtige Frage, fürwahr: „Wann kommt das Salz ins Nudelwasser?“ Sofort oder etwas später? Das Magazin der Süddeutschen Zeitung (SZ) hat nach und nach eine Menge Fachleute (beileibe nicht nur mit professoralen Weihen) aufgeboten, um bei solcherlei Problemen Klarheit zu schaffen. Nun liegen die gesammelten Resultate in Buchform vor.

„Ein für alle Mal“ sollen hier – laut Untertitel – die wichtigsten Küchenfragen geklärt werden. Dabei zeigt sich doch rückblickend an etlichen Stellen, wie sehr solche Abwägungen zeitbedingt und dem Wandel unterworfen sind. Und gar manches Mal heißt es: „Die Antwort lautet Jein.“ Es lebe die feine Differenzierung.

Um den Titel gleich aufzugreifen: Das Salz gehört erst dann ins Nudelwasser, wenn Letzteres schon zu kochen beginnt. Es hat mit dem Siedepunkt zu tun, der sich bei vorschneller Dreingabe energetisch ungünstig darstellt. Tja.

Sodann geht es Schlag auf Schlag, so ungefähr nach der Parole: „Was Sie schon immer wissen wollten, aber kaum zu fragen wagten“. Wohlan denn, beispielsweise:

Alkohol verdampft beim Kochen eben n i c h t vollständig, also Vorsicht. Kartoffeln und Zwiebeln sollten in Papiertüten und/oder Pappschachteln gelagert werden, dunkel und trocken sowieso. In der Regel ist Ober-Unterhitze besser als Umluft, ein Air-Fryer ist der Fritteuse vorzuziehen, Gas u n d Induktion sind die Mittel der Wahl am Herd. Ein gekochtes Ei hält sich zwischen 2 und 4 Wochen lang. Angeschimmeltes aller Art (auch schon vor dem „Schimmelrasen“) sollte stets entsorgt werden, da ist einfach nichts mehr zu retten. Oder die richtige Reihenfolge beim Salatdressing: erst Gewürze, dann Essig, schließlich Öl.

Und weiter, Frage um Frage: Dürfen Pilze gewaschen werden? Deuten Schraubverschlüsse auf minderwertige Weine hin? Warum werden Bananen so schnell braun? Ist Butter gesünder als Margarine – oder gibt es da vielleicht einen Mittelweg? Wie reklamiere ich im Restaurant? Wie sieht die ideale Sitzordnung beim mehr oder weniger festlichen Essen aus? (Bloß nicht den immerzu nörgelnden Miesepeter neben Seinesgleichen setzen, auch nicht zwei Kasper zueinander).

Genug! Lest selbst mehr davon. Und haltet euch dran. Aber nicht sklavisch.

Süddeutsche Zeitung Magazin: „Wann kommt das Salz ins Nudelwasser?“ Die wichtigsten Küchenfragen ein für alle Mal geklärt – Expertenwissen kurz und knapp. DuMont Verlag, 176 Seiten, 20 Euro.




Die Wahrheit hinter der Wahrheit – Ralf Rothmanns „Museum der Einsamkeit“

Als Prosaautor debütierte Ralf Rothmann 1986 mit der Erzählung „Messers Schneide“, sein erster Roman, „Stier“, kam 1991 heraus und wurde gleich im „Literarischen Quartett“ besprochen. Seitdem sind 20 weitere Bücher des in Schleswig geborenen, im Ruhrgebiet aufgewachsenen und seit vielen Jahren in Berlin lebenden Autors erschienen. Jetzt legt er unter dem Titel „Museum der Einsamkeit“ eine Sammlung von Erzählungen vor.

Menschen hadern mit ihrem Leben, brechen auf in neue Ungewissheit, fürchten sich vor dem Tod, verfallen in existenzielle Einsamkeit. Rothmann erzählt von den Mühen des Alltags, der Furcht vor dem Alter, dem Ärger mit Berufskollegen und Nachbarn, der Trauer um eine kaputte Ehe, von Ratlosigkeit und Verzweiflung eines Jungen, der allein zu Hause ist und auf seinen kleinen Bruder aufpassen muss, während seine Eltern sich eine Auszeit vom Arbeitsalltag gönnen und die Nacht durchtanzen.

Einmal beschreibt Rothmann, wie jemand zeitlebens von den Furien einer Kindheits-Erinnerung geplagt wird, sich nach 50 Jahren aufmacht, um einen einst von ihm drangsalierten Mitschüler um Verzeihung und Vergebung zu bitten – und damit eine Kette von Ereignissen lostritt, die nur neues Leid und neue Schuld bewirken. Oder er schildert das Leben einer enttäuschten Frau, die aus der Einsamkeit der Provinz in die Anonymität der Großstadt geflohen ist. Jetzt, an der Schwelle zum Alter, begleitet sie ihre greise Mutter beim Kauf eines Apartments in einer Senioren-Residenz mit Meeres-Blick: Die Mutter hat nach dem Tod ihres Mannes ihr Haus in Süddeutschland verkauft und hofft, die Einsamkeit des Alters in einer idyllisch verklärten Umgebung am Meer vertreiben zu können, natürlich vergeblich.

Kleine Episoden aus dem Leben einzelner Protagonisten, verdrängte Erinnerungen, kurz und knapp erzählt; Stories, die einen romanhaften Schatten werfen und genügend Freiraum und Luft für die Fantasie des Lesers lassen. In der finalen Erzählung, „Psalm und Asche“, geht es dann um viel mehr: die Vernichtung der europäischen Juden, darum, wie die Opfer in Vieh- und Güterwagen in die Vernichtungslager transportiert werden, die Mörder später ihre Taten leugnen, verdrängen und schön reden. Die Verteidigungsrede des Nazi-Täters, der meint, immer nur seine Pflicht getan und Befehle ausgeführt zu haben, wird collagiert mit der Stimme einer jüdischen Frau, die auf dem Transport in den Tod ist und sich um das Baby einer Verstorbenen kümmert, die Reste einer Schokolade mit ihrem Speichel verdünnt und dem greinenden Baby als süßlichen Ersatz für fehlende Muttermilch in den zahnlosen Mund gibt.

Einer anderen Frau im Waggon, die sich immer noch von irgendwo her Hilfe erhofft, entgegnet sie: „Wieso sollte uns jemand helfen? Nichts und niemand wird das tun. Auch Klagen hilft nichts. Es raubt dir die Kraft, die du dafür brauchst, das Ende zu akzeptieren. Das Letzte im Innern, die Wahrheit hinter der Wahrheit, kann dir sowieso niemand nehmen. Wenn du das verstehst, bist du frei, und das Leben ist wieder wunderbar, auch hier, auch in diesem Moment.“ Wen das kalt lässt, dem ist wahrlich nicht zu helfen. Rothmann ist ein Meister der sprachlichen Magie, ein großer Erzähler, der ein tief-trauriges, wunderbares Buch geschrieben hat.

Ralf Rothmann: „Museum der Einsamkeit“. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025, 268 Seiten, 25 Euro.




Peppa Pig, die KI und der Rest

Familienaufstellung der kunterbunten Schweinchenfamilie, wie sie von der Firma Simba Toys hergestellt wird (von links): Mama Pig, Peppa Pig, George, Papa Pig. Mittlerweile ist noch das Baby Evie hinzu gekommen. (Foto: Bernd Berke)

Alle Welt schreibt und/oder podcastet über Künstliche Intelligenz (KI, anglophon bekanntlich AI abgekürzt). Jetzt hatte ich auch so ein kleines, aber bezeichnendes Erlebnis damit. Wie auf diesem Felde üblich, war es gleichermaßen faszinierend und erschreckend.

Es ging mir darum, eine bestimmte Szene (fröhliches Mädchen auf der Waage bei der Kinderärztin) mit dem berühmten Comic-Schweinchen Peppa Pig („Peppa Wutz“) darzustellen. Meines Wissens existierte eine solche Szene im Peppa-Kosmos noch nicht. Also habe ich mal bei ChatGPT angefragt, ob sich da was machen ließe…

Frau Mümmel als Kinderärztin

Und siehe da: Die wohl bekannteste aller KI-Apps ließ sich nicht lange lumpen. Zwar bat sie um ein paar Minuten „Bedenkzeit“, weil es gerade eben so viele Bildanfragen gebe. Doch nach ca. 3 Minuten hatte sie es und legte eine Zeichnung vor, die man kaum oder gar nicht von anderen, originalen Peppa-Kreationen unterscheiden konnte. Tatsächlich stand Peppa frohgemut auf der Waage – und neben ihr die zünftig mit Stethoskop und anderen Insignien ausgerüstete Kinderärztin, verkörpert von „Frau Mümmel“, der stets in mancherlei Rollen schlüpfenden Häsin.

Was würde Boris Johnson sagen?

Selbstverständlich werde ich das erstaunliche Resultat hier nicht ausbreiten, denn ich möchte – anders als offenbar die KI-Betreiber – partout nicht mit dem bislang üblichen Urheberrecht in Konflikt geraten. Täuschend ähnlich das Personal, täuschend ähnlich (oder vielmehr: frappierend gleich) der Stil. Selbst für kleine und große Fachleute absolut verwechselbar. Keine nennenswerte Distanz oder eigene „Schöpfungshöhe“, wie die Juristen sagen. Was wohl der erklärte Peppa-Fan Boris Johnson, Ex-Premierminister von Großbritannien, dazu sagen würde? Vermutlich ließe sich der Politclown etwas immens Schnoddriges, halbwegs Witziges einfallen. Doch was hülfe es?

Urheberrecht? Muhahaha!

In ähnlicher Weise, wenn auch jeweils mit etwas anderem Drall, hätte sich die besagte Szene nach Art anderer Figuren nachbilden lassen, beispielsweise mit Loriotschen Knollennasenmenschen, nach Asterix-Art, nach „Peanuts“-Vorbild oder im Stile eines US-Undergroundzeichners wie Robert Crumb oder Gilbert Shelton. In allen Fällen wären Urheberrechte eklatant verletzt worden.

Es scheint so, als hätte sich schon der bloße Gedanke des Urheberrechts weitgehend erledigt; ganz gleich, ob Text, Bild oder Video betreffend. Wie will man das jemals wieder einfangen und zurückholen? Überdies ist vermutlich auch die einstmals bedeutsame Unterscheidung zwischen echt und unecht, zwischen wahr und falsch obsolet. Längst schon eine Binse, ich weiß. Aber wenn jetzt schon die niedlichen Schweinchen gefälscht werden…




Flaschenpost aus finsteren Zeiten – Sebastian Haffners Roman „Abschied“

Ob Männer oder Frauen, alle umschwirren die geheimnisvolle Teddy wie Motten das Licht. Vor den strengen Eltern ist sie von Berlin nach Paris entflohen. Hier haust sie in einer Mansarde, flaniert auf den Boulevards, streift durch Museen, feiert mit Freigeistern und Lebenskünstlern das Jetzt.

Um seiner früheren Geliebten wieder nah zu sein, hat sich Rechtsreferendar Raimund Pretzel ein paar Tage von seinem tristen Berliner Alltag losgeeist und sich auf den Weg nach Paris gemacht, genießt das Glück des Augenblicks und freut sich über jeden Kuss, den er von seiner Angebeteten erbetteln kann. Die Zeit fliegt nur so dahin. So viel gäbe es noch zu erleben in dieser Stadt der Liebe und der Kunst! Doch der Zug, der Raimund zurück nach Berlin bringen wird, wartet nicht. Die Stunde des Abschieds naht, und beide wissen, es wird ein Lebewohl für immer sein. Denn am Horizont lauert bereits der Zivilisationsbruch, der das Böse an die Macht bringen, die Welt ins Kriegs-Chaos stürzen und den Untergang einer ganzen Epoche herbei führen wird.

Aus den Tiefen der Archive ist jetzt ein Manuskript aufgetaucht, eine Flaschenpost aus der Vergangenheit, eilig hingeworfen im Herbst 1932 von einem vierundzwanzigjährigen Autor, der sein eigenes Leben in Literatur verwandelt, mit prophetischer Gabe die große Katastrophe kommen sieht und „Abschied“ nimmt von allem, was ihm bis dahin lieb und teuer war.

Raimund Pretzel, den Erzähler des bisher unveröffentlichten Romans, hat es wirklich gegeben. Und alles, was er so temporeich und freizügig beschreibt, auch seine unerwiderte Liebe zur lebensfrohen Teddy, beruht auf realen Erlebnissen. Wir kennen ihn heute besser als Sebastian Haffner, also unter jenem Namen, den der ehemalige Jurist, der den Nazis nicht länger dienen wollte und sich lieber mit journalistischen Arbeiten durchschlug, annahm, nachdem er 1938 Deutschland verließ und seiner jüdischen Frau nach Großbritannien folgte. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil wurde er ein zentraler und meinungsstarker Publizist der Bonner Republik und entschlüsselte mit seinen „Anmerkungen zu Hitler“ auf der Folie gesellschaftlicher Verwerfungen die politischen Abgründe und massenpsychologischen Dimensionen des Faschismus.

Teddy, die im Roman die Vielfalt des Lebens feiert und jede Engstirnigkeit verabscheut, hieß im wahren Leben Gertrude. Als Jüdin ahnte sie früh, was auf sie zukommen würde und kehrte Berlin 1930 den Rücken. Nur einmal noch, 1933, kehrte sie kurz nach Berlin zurück und nahm Abschied von Deutschland und von Raimund, den sie noch einmal mit ihrem Pariser Duft und ihrer französischen Freiheitsliebe verzauberte.

Bis ins hohe Alter haben die beiden, die im Roman gemeinsam durch Paris irrlichtern, bevor sie Abschied nehmen und in den Höllenschlund der Vernichtung blicken, lockeren Kontakt gehalten.

Sebastian Haffner: „Abschied“. Roman. Mit einem Nachwort von Volker Weidermann. Hanser, 192 Seiten, 24 Euro.




Erfolgreiche Spenden-Aktion: Münter-Gemälde kann für Dortmund angekauft werden

Um dieses Bild geht es in Dortmund: Gabriele Münter „Abend vom Fenster (Blick auf Rue Lamblardie, Paris“), 1930 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Weiterer Nachtrag als neuer Vorspann, weil es einen entscheidend anderen, durchaus erfreulichen Sachverhalt gibt: Gabriele Münters Gemälde „Abend vom Fenster (Blick auf Rue Lamblardie, Paris) von 1930 kann fürs Museum Ostwall im Dortmunder U angekauft werden. Das entsprechende Crowdfunding-Projekt hatte – nach zögerlichem Beginn – doch noch Erfolg. Es wurden sogar etwas mehr Mittel als die benötigten 75000 Euro eingeworben, nämlich 77620 Euro = 103% (Stand vom 2. Juni, 14 Uhr).

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Blick zurück ohne Zorn: Anfangs hatte es nicht so rosig ausgesehen. Am 29. März hieß es (eher missmutig) bei den Revierpassagen:

Bleiben wir zunächst einmal trocken sachlich und regen uns (noch) nicht gleich auf. Das Dortmunder Museum Ostwall, für die bildende Kunst bei weitem das erste Haus am Platze, wird in diesem Jahr 75 Jahre alt. Die vereinigten „Freunde des Museums Ostwall“ (Freundinnen sind natürlich auch dabei) wollen dem im „Dortmunder U“ ansässigen Institut zum Jubiläum ein Bild schenken, das sich zum Sammelschwerpunkt Expressionismus fügt und von einer sehr bekannten Künstlerin stammt: „Abend vom Fenster (Blick auf Rue Lamblardie, Paris)“, 1930 von Gabriele Münter gemalt. Ganz bewusst wurde das Bild einer Künstlerin ausgewählt, denn Frauen sind bislang im Museumsbestand stark unterrepräsentiert.

Die „Freunde des Museums Ostwall“ geben für den Ankauf 30000 Euro, hinzu kommt „eine bedeutende Summe“ der Dortmunder Kulturbetriebe und ein Beitrag des Museums selbst. Um weitere 75000 Euro für den Kaufpreis aufzubringen, wurde – mit Unterstützung der örtlichen Volksbank – am 3. März ein Crowdfunding-Projekt gestartet. „Viele schaffen mehr“ heißt die Plattform, auf der sich das Geldsammeln abspielt. Bis zum 1. Juni soll der Betrag beisammen sein. So weit, so gut.

Von 75000 Euro noch ganz weit entfernt

Doch jetzt kommt’s, jetzt wird’s betrüblich bis beschämend: In der eh nicht sonderlich als Heimstatt der Kunst glänzenden Stadt mit ihren rund 600000 Einwohnern haben sich bislang (Stand 29. März mittags, also nach immerhin 26 Tagen) gerade einmal 19 Spenderinnen und Spender gefunden, die insgesamt 1575 Euro aufgebracht haben. Das sind gerade einmal knapp 2 Prozent der angestrebten Summe. Es ist also wahrlich noch ein weiter Weg bis zu den benötigten 75000. Dabei wurden Informationen über  das Sammelprojekt inzwischen an die regionalen Medien gereicht, die auch etwas dazu veröffentlicht haben. Zu vermuten steht, dass einige große Firmen der Stadt (Namen bitte hinzudenken) offenbar lieber – derzeit auch nicht eben fruchtbringende – Sponsoren-Millionen in Richtung Borussia Dortmund werfen, während das kulturelle Leben beiseite steht. Gern ließen wir uns eines Besseren belehren.

Nur der Schatten einer vitalen Stadtgesellschaft

Mehr noch: Unter den bisherigen Spendern finden sich Leute, die anonym bleiben möchten. Andere hingegen sind eindeutig zu identifizieren als Menschen, die dem Museum beruflich eng verbunden sind. Ein Nachname taucht allein dreifach auf, da hat sich offenbar die halbe Familie eingebracht. Aus der oftmals beschworenen „Stadtgesellschaft“ (aka Zivilgesellschaft), die hier eh nicht gerade imponierend breit gefächert ist, ist kein wesentlicher, zählbarer Zuspruch zu vernehmen.

Man stelle sich vor: Nähme man die Dortmunder „19″ zum Maßstab, kämen im ungefähr doppelt so großen München (was die Einwohnerzahl betrifft) dementsprechend nur 38 Spendenbeiträge zusammen, im etwa dreimal so großen Hamburg lediglich 57. Eigentlich undenkbar. Dort würden die privaten Finanzquellen gewiss ungleich reichlicher sprudeln. Das bürgerschaftliche Engagement ist in Dortmund, allem Strukturwandel des Reviers zum Trotz, immer noch vergleichsweise unterbelichtet. Wir haben es ja geahnt, doch jetzt haben wir wohl ein weiteres Indiz.

Hier der Link zur Crowdfunding-Plattform: https://www.viele-schaffen-mehr.de/projekte/expressionistin-fuer-museum-ostwall

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Nachtrag am 1.4.2025: Na, da schau her! Stand 1. April (ca. 11.30 Uhr) sind es nunmehr 25 Spenden mit einem Gesamtbetrag von immerhin 9575 Euro, was rund 12 Prozent der erstrebten 75000 Euro entspricht.

Nachtrag am 10.4.2025, abends: Nun, es läppert sich offenbar doch noch. Jetzt sind es 45 Unterstützerinnen und Unterstützer, die insgesamt 22730 Euro beigesteuert haben, also rund 30 Prozent der angepeilten Summe.

Nachtrag am 7.5.2025, abends: Rund 80 Spenden summieren sich nun zu 49790 Euro, etwa 66% der Zielsumme. Wie heißt es in derlei Fällen so schön: „Da geht noch was“.




Hol dir, gönn dir!

 

Genau! Alles, und zwar jetzt. Sofort! (Foto: Bernd Berke)

Wie war das noch, vor soundsovielen Jahren, als im 68er-Umfeld der „Konsumterror“ lauthals angeprangert wurde?

Damals lösten gerade erst einige Supermärkte die bis dahin gängigen „Tante-Emma-Läden“ ab. Welche eine vergleichsweise beschauliche Verbraucherwelt das noch gewesen ist! Was hätte man bloß gesagt, hätte man kommen sehen, was wir heute haben – mit allseits in letzte Winkel und Ritzen dringendem Internet-Wahnwitz und obenauf gesetzter „Künstlicher Intelligenz“, die sich in alles hineinfrisst und sich alles einverleibt. Nun, da man gar nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht und wo es noch Restbestände von vermeintlicher Wirklichkeit gibt.

Allüberall wird man verbal, bildlich und medial verfolgt, gnadenlos, ohne Unterlass: „Hol dir“, „Gönn dir“, „Sichere dir“. Versäume nicht, zögere nicht, ergreife den Vorteil, sichere dir Premium, Premium Plus oder Pro. „Ergattere“ dies und jenes, schlage anderen ein Schnippchen, hol dir das Schnäppchen, den Schnapper. Exklusiv. Nur für Dich! Das große Gelingen. Eigentlich kein übles Wort, jedoch dem verbalen Missbrauch preisgegeben.

Immerzu ist Sale, Angebote und Preise sind mega, ja giga. Alles ist Hammer! Geiz ist geil, immer noch, obwohl dieser Spruch schon älter ist. Und ständig herrscht Beben. Mark(t)erschütternd. Schon morgen kann es zu spät sein, vielleicht hört die Gelegenheit schon gleich auf. Carpe diem! Yolo! Du lebst nur einmal. Hau rein. Deal!

Und wenn nicht? Dann Apokalypse. Dann Doomsday. Dann Untergang. Finale Finsternis. Und damit Tschüss, nech?!




Zum Schunkeln und Mitsingen: „Carmen“ als Comic in Berlin

Szene aus „Carmen“ am Berliner Maxim Gorki Theater – mit (v. li.): Catherine Stoyan, Till Wonka, Lindy Larsson, Via Jikeli, Marc Benner. (© Foto: Ute Langkafel / MAIFOTO)

In einem pinkfarbenen, mit Rüschen verzierten und lässig über den Boden schleifenden Flamenco-Kleid bringt Carmen stolzen Schrittes und flammenden Blickes die zur Wachablösung versammelten Soldaten um den Verstand und die militärisch ohnehin ziemlich schlappe Parade völlig aus dem Tritt.

Die in zitronengelben Uniformen und mit kalkweißen Gesichtern wie computergesteuerte Wesen der Künstlichen Intelligenz fremdgesteuert herum zappelnden Soldaten haben nur noch Augen für die hünenhafte Drag-Queen, die da gerade im feinsten Fummel zur Mittagspause aus der Zigarettenfabrik schlendert und es auf José, den kleinen Kerl, abgesehen hat, der sich sichtlich unwohl fühlt in seinem knallgelben Outfit und mit ängstlichen Glupsch-Augen zu Carmen hinüber linst. Dass ausgerechnet diese von allen Machos umschwärmte Diva dem mickrigen Männlein erotische Avancen macht, ihm kokett eine Blume vor die Füße wirft und mit kräftigem Gesang davon trällert, dass die „Liebe bunte Flügel“ hat, erregt José, macht ihn fassungslos und zieht ihn in einen von Eifersucht und verletzter Männlichkeit beherrschten Liebesrausch, der, wir wissen es alle, tödlich enden wird.

Christian Weise bringt seine ganz eigene Sicht auf George Bizets „Carmen“ auf die Bühne des Berliner Maxim Gorki Theaters. Der Regisseur, der seit einigen Jahren auch am Nationaltheater Mannheim spielerisch und bildgewaltig, komödiantisch und musikalisch die Klassiker des Musik- und Sprech-Theaters zerfleddert, macht auch mit der 1875 in Paris uraufgeführten Oper das, was er immer macht: Er liest sie gegen den Strich, streut Fremdtexte ein, reibt sich an Klischees, zerstört tradierte Rollen und entwirft neue Identitäten.

Raus aus der alten männlichen Ordnung

Der Schwede Lindy Larsson, hoch gewachsener Schauspieler-Sänger und Abkömmling umherziehender Roma, schlüpft in die aufreizenden Kostüme der geheimnisvollen Carmen, die man einstmals diskriminierend als „feurige Zigeunerin“ bezeichnete und zur Projektionsfläche gefährlicher erotischer Versuchungen aufbaute: Wenn José sie in rasender Eifersucht tötete, war das zwar bedauerlich, stellte aber die alte männliche Ordnung wieder her.

Davon mag die von Christian Weise auserkorene Carmen nichts wissen. Lindy Larsson unterbricht immer wieder die sich erstaunlich nahe an Bizets Vorlage entlang schlingernde Handlung und setzt dann zu englischsprachigen Monologen an, erzählt von seinem Alltag als Roma und erklärt, sie sei es müde, seit 150 Jahren immer wieder alle Männer durch einen Märchenwald aus Liebe und Hass lotsen zu müssen und schließlich nur, weil sie ein freies, emanzipiertes Leben führen wolle, mit dem Messer abgestochen zu werden. Deshalb nimmt sie ihr Schicksal jetzt selbst in die Hand und erscheint zum blutigen Finale ganz in Schwarz. Sie wirkt wie eine Witwe, die ihren eigenen Tod schon betrauert, bevor sie ihn erleiden muss, fordert José auf, endlich sein Messer zu zücken und die ganze leidige Carmen-Show ein für alle Mal zu beenden.

Natürlich tut José, wie ihm geheißen. Er ist Wachs in Carmens Händen und fühlt sich erbärmlich in seiner Rolle. Kein Wunder: Er ist eine Frau, heißt mit bürgerlichem Namen Via Jikeli und ist eine wunderbar-wandelbare Schauspiel-Sängerin. Sie agiert linkisch wie Charlie Chaplin und singt herrlich-schräg und zittrig-schön. Fast könnte man bei all der parodistischen Verballhornung vergessen, dass einst Opern-Größen wie Maria Callas und Agnes Baltsa einer Carmen ihre silbrig schillernden Stimmen liehen, Enrìco Caruso und Placido Domingo als José brillierten.

Schnelle Lachnummern und Gassenhauer

Aber von „großer Oper“ hält Weise nicht viel. Seine Slapstick-Komödie zielt auf schnelle Lachnummern und einen bunten Unterhaltungs-Reigen. Deshalb schleppt auch der abgehalfterte Stierkämpfer Escamillo (Till Wonka) einen dicken Bierbauch durch die Gegend und muss immer wieder sein kerniges Trinklied „Auf in den Kampf“ wie einen fröhlichen Gassenhauer intonieren. Da möchten manche gern schunkeln und mitsingen. Oder mit Carmens Widersacherin Michaela (Riah Knight), die mit ihren bodenlangen Zöpfen aussieht wie Rapunzel und die Unschuld vom Land gibt, ein kesses Tänzchen wagen.

Musiker Jens Dohle (Schlagwerk, Vibraphon und Klavier) und seine beiden Mitstreiter (Cello, Kontrabass und Akkordeon) verwandeln Bizets komplizierte Arien und erotisierenden Duette in poppige Schlager, schleimige Schnulzen und schlüpfrige Chansons. Dazu passend gestalten Julia Oschatz und Felix Reime die Bühne zum Comic-Heft, in dem man lustvoll blättern kann. Auf die weißen Wände werden schwarze Wörter, Sätze, Skizzen und Regieanweisungen projiziert. Alles sehr komisch. Wie die ganze kurzweilige Bizet-Persiflage. Intellektuellen Mehrwert aber hat das ganze muntere Treiben eigentlich nicht.

Weitere Aufführungen am 17. und 18. Juni sowie am 11. Juli (jeweils 19.30 Uhr). Maxim Gorki Theater, Am Festungsgraben 2, 10117 Berlin. Kartentelefon: 030/20221115. www.gorki.de

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Zur Person

Christian Weise wurde 1973 in Eisleben geboren. Er studierte 1992-1996 Puppenspiel an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin, arbeitete danach als Puppenspieler und Schauspieler. Seit 2002 ist er freier Regisseur, inszenierte in Stuttgart und Köln, Halle und Dessau, Düsseldorf und Darmstadt, Weimar und Berlin. Als Hausregisseur brachte er am Nationaltheater Mannheim u. a. „Die Räuber“ (2018) und „Die Möwe“ (2019) auf die Bühne, außerdem inszenierte er „Das Floß der Medusa (2021), „Was ihr wollt“ (2023), „Die Dreigroschenoper“ (2024) und für die 22. Internationalen Schillertage „Wilhelm Tell“ (2023).

 

 

 

 




Trunk, Zeitreise, Einsamkeit und mehr – ein Stapel mit neuen Büchern

Was die Dichter im Glase hatten

Welch eine Idee, gegenläufig zum oft eher abstinenten Zeitgeist: vorwiegend alkoholische Lieblings-Drinks ruhmreicher Schriftsteller, wie sie in ihren Werken vorkommen, als Rezepte herauszubringen und mit anekdotischen Anmerkungen zu versehen. Das Resultat, übersetzt aus dem amerikanischen Englisch: „Trinken wie ein Dichter. 99 Drinks mit Jane Austen, Ernest Hemingway & Co.“ (Klett-Cotta, 217 Seiten, 24 Euro). Die größten Fraktionen bevorzugen – in allerlei Formen und Kombinationen – entweder Gin oder Whisky, dahinter folgen die Anhänger von Rum und Wodka. Einige Beispiele: Edgar Allan Poe hielt es mit Brandy, Rum und Schlagsahne. Gustave Flaubert bevorzugte Apfelcider mit Calvados und Aprikosenbrand. James Joyce nahm – wenig überraschend – gern Kaffee mit irischem Whisky zu sich. E. T. A. Hoffmann mixte sich sozusagen „Elixiere des Teufels“, z. B. aus Lipari-Wein, Kirschwasser und Champagner. Novalis fand die „Blaue Blume“ mit Hilfe von Bittermandel-Schnaps, Kirschsaft und – Mohnsirup. Pablo Neruda goss vorzugsweise Cognac und Cointreau ins Glas, Sylvia Plath hingegen Wodka und Martini, der notorische Trinker Joseph Roth schlichtweg am liebsten Pernod, während Friedrich Dürrenmatt Bordeaux-Wein mit Rum zusammenbrachte. Und Goethe? Verkostete schon mal das eine oder andere Glas fränkischen Weines. Prosit!

Ein Frauenleben im Rausch

Wir schließen thematisch ans vorherige Buch an: Wohin verschärfter Alkoholkonsum führen kann, schilderte anno 1929 Colette Andris (Pseudonym für Pauline Totey) in ihrem Debütroman „Eine Frau, die trinkt“ (Aus dem Französischen von Jan Rhein, Wagenbach, 156 Seiten, 22 Euro), der als lohnende Wiederentdeckung erschienen ist. Die Autorin führte in den „wilden Zwanzigern“ – also vor rund 100 Jahren – ein bewegtes Leben mit allen Höhen und vor allem Tiefen. Sie war eine der allerersten Nackttänzerinnen, wurde hernach Schauspielerin und eben Autorin. Eine durchaus mögliche Professorinnen-Karriere hatte sie zuvor in den Wind geschlagen. Bereits mit 8 Jahren war sie das erste Mal betrunken, um die Eltern gezielt zu schockieren. Der Suff wurde später ihr täglicher Begleiter. Nur im Rausch glaubte sie, gewisse Männer ertragen zu können. Ein Inferno aus Lebensdurst und Abstürzen, trotz der historischen Distanz ungemein gegenwärtig.

Auf eine Zeitreise geschleudert

Der Schweizer Christian Kracht war vor allem zu Zeiten seines Romans „Faserland“ enorm „angesagt“ und galt als große literarische Hoffnung seiner Generation. Nun hat er mit „Air“ (Kiepenheuer & Witsch, 215 Seiten, 25 Euro) erneut die literarische Szene betreten und sogleich wieder Scharen von Rezensenten auf den Plan gerufen. Erlesen schon die bloßen Orte der weit ausgreifenden Handlung: Paul, ein Schweizer Innenarchitekt, lebt auf den abgelegenen schottischen Orkney-Inseln und erhält einen rätselhaften Auftrag aus Norwegen, er soll den perfekten White Cube erschaffen. Durch eine Sonneneruption wird er freilich auf eine Zeitreise geschleudert, die ihn u. a. in eine mittelalterlich anmutende Welt führt. Wer will, kann nun am großen Motiv-Entschlüsselungs-Wettstreit teilnehmen – zwischen germanischen Mythen, KI-Phantasien, Dichtung und Philosophie. Wahrhaft gehobene Fantasy, zuweilen poliert wie ein Design-Produkt erscheinend, doch staunenswert reichhaltig und nicht nur ästhetisch überzeugend.

Ein allgegenwärtiges Gefühl

In letzter Zeit haben manche Politiker das Thema Einsamkeit als eines entdeckt, das sie mit ihren begrenzten Mitteln bekämpfen wollen. Die Erfolgsaussichten sind freilich fraglich, denn Einsamkeit könnte ja vielleicht als Konstante zur universellen Conditio humana gehören. Allerdings sollte man sich nicht einfach damit abfinden, und man darf auch die jeweiligen Ursachen und Beweggründe nicht verkennen. Der in Kassel lebende Janosch Schobin, studierter Soziologe, Hispanist u n d Mathematiker (!), legt mit „Zeiten der Einsamkeit. Erkundungen eines universellen Gefühls“ (Hanser, 224 Seiten, 24 Euro) ein Standardwerk zum Thema vor, das so ziemlich alle Ausfaltungen des Phänomens in Historie und vor allem Moderne erkundet. Einsamkeit zeigt sich dabei keineswegs nur als individuelles, sondern als kollektives, gesellschaftliches Problem. Für solche Bücher werden am besten feste Plätze im Regal reserviert – zur ständigen „Wiedervorlage“.

Bis in die Bochumer Discos

Maja aus Montenegro wird in Deutschland aufwachsen. Die Geschichte ihres spurlos verschwundenen Vaters Miko und seiner Familie kennt sie noch nicht. Ihre Mutter wird sie ihr erzählen. Es ist eine rasante, ziemlich abenteuerliche Migrations-Geschichte, die in den 1980er Jahren aus einem montenegrinischen Dorf bis nach Bochum und in die dortigen Discos führt. Die 1978 in Gelsenkirchen geborene Ines Habich-Milović, auch als Theatermacherin und Theaterautorin tätig, kündet davon in ihrem Romandebüt „Dein Vater hat die Taschen voller Kirschen“ (Rowohlt Berlin, 302 Seiten, 24 Euro). Der Titel bezieht sich auf einen Kirschenklau in Nachbars Garten, der hier eine treibende Rolle spielt. In mancherlei Facetten geht es darum, wie kulturelle Identitäten überhaupt entstehen. Dieses Buch beweist, dass Unterhaltsamkeit und Anstöße zur Nachdenklichkeit durchaus miteinander einhergehen können.

Neue Rock- und Pop-Geschichten

Wir bleiben in Bochum: Der aus dieser Stadt stammende Ulli Engelbrecht ist ein Kenner und emsiger Sammler von Rock- und Popmusik. Zudem häuft er allerlei Geschichten rund um Songs und Sounds an, die gewiss einen wesentlichen Teil seines Lebens und des Lebensgefühls seiner Altersgenossen ausmachen. Man tritt ihm sicherlich nicht zu nahe, wenn man Leute wie den Mit-Bochumer Frank Goosen und den Briten Nick Hornby zu seinen Anregern zählt. Auch im neuen Buch mit dem zunächst seltsam klingenden Titel „Klaus Nomi war ja eigentlich Konditor“ (BoD / Books on Demand, Paperback, 180 Seiten, 13 Euro) erzählt Engelbrecht wieder amüsante Rock- und Popgeschichten, vornehmlich gespeist aus den 70er- und 80er Jahren. Er scheint auf ein schier unerschöpfliches Reservoir an solchen Stories zurückgreifen zu können. Bisher lagen aus diesem Themenkreis bereits vor: „Mir brennen die Schläfen“, „Klingende Wunder“ und „Runde Dinger“. Wohl dem, der ein dermaßen gut sortiertes Archiv hat und es so launig ausbreiten kann!

Lektüre vorzeitig abgebrochen

Dass der Franken Verlag als ambitioniertes Projekt in Dortmund an den Start geht, hat sich verheißungsvoll angehört. Gleich mit der ersten Publikation wird die Vorfreude etwas gedämpft. Die aufs Jahr 1992 und die Folgezeit bezogene, nacholympische Stadterkundung „Feinschnitt Barcelona“ von Adrià Pujol Cruells (Aus dem Katalanischen von Matthias Friedrich, Franken Verlag, Dortmund, 256 Seiten, 24 Euro) mag im Original ein großer Wurf sein, doch das teilt sich in der deutschen Übertragung nur bedingt mit. Der Franken Verlag will Übersetzerinnen und Übersetzer durch Namensnennung auf dem Cover eigens würdigen. Gut so. Auch gebührt prinzipiell allen Respekt, die sich übersetzend ans Katalanische begeben. Nun kann ich mangels Kenntnis dieser Sprache nicht beurteilen, inwieweit die vorliegende Übersetzung gelungen ist. Ich nehme allerdings wahr, dass das Resultat im Deutschen gewöhnungsbedürftig klingt. Gleich die ersten Sätze lauten so: „Aus den Laternen auf der Plaça del Sortidor rinnsalt kränkliches Licht… Die Stadtreinigung hat die Pflastersteine mit phreatischem Wasser begossen…“ – „Rinnsalt“, „phreatisch“. Das sind einfach hinderliche Lesebremsen. In ähnlichem Duktus geht es vielfach weiter. Ich gestehe freimütig, die Lektüre vorzeitig abgebrochen zu haben. Vielleicht passe ich ja einfach nicht zu diesem Buch.




„Exil“ für die Kunst – Meisterwerke aus Odesa in Berlin (und später in Heidelberg)

Antwerpener Meister (Umkreis des Frans Floris): „Lot und seine Töchter“, um 1550. (Odesa, Museum für Westliche und Östliche Kunst)

Auch Helden haben ihre schwachen Momente. Überwältigt von allzu ausschweifendem Weingenuss, gerät sogar Herkules, verehrt wegen seiner übermenschlichen Kräfte, in eine hilflose Lage. Er kann sich kaum auf den Beinen halten und wird von einem Satyr und einer Nymphe gestützt. Keule und Löwenfell, die Attribute seiner Stärke, sind in den Händen eines Fauns, der sich die Löwenhaut übergeworfen hat, ein feistes Grinsen aufsetzt und freche Grimassen schneidet.

Peter Paul Rubens hat das lasterhafte Bild gemalt und damit sein 1612 erworbenes Privathaus in Antwerpen geschmückt. Das Original hängt zwar heute im „Zwinger“, der Gemäldegalerie der Alten Meister in Dresden. Aber der geschäftstüchtige Rubens hatte nichts dagegen, dass in seiner Werkstatt von seinen Schülern täuschend echte Kopien hergestellt wurden, die gegen gutes Geld ihren Weg in die Herrschaftshäuser und Museen dieser Welt fanden.

Gemälde werden im temporären „Exil“ restauriert und neu gerahmt

Eine dieser Versionen logiert seit Jahrzehnten im „Museum für Westliche und Östliche Kunst“ in Odesa (in Anlehnung an die ukrainische Schreibweise). Doch mit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 entschloss sich die Museumsleitung, die ebenso kunst- wie wertvolle Rubens-Kopie sowie etliche weitere Werke ihrer Sammlung vor der Zerstörung durch Bombardierungen zu schützen und in Sicherheit zu bringen. Weil die Gefahr bestand, dass die zunächst in einem Notlager unter schlechten klimatischen Bedingungen untergebrachten Kunstwerke zu Schaden kommen, nahm man Kontakt zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin auf und fand in der Gemäldegalerie auf dem Kulturforum einen Partner, der bereit war, den Werken ein temporäres Zuhause zu geben, sie zu restaurieren, neu zu rahmen und der Öffentlichkeit in ganzer Breite zu präsentieren.

Emile Claus: „Sonniger Tag“, 1895. (Odesa, Museum für Westliche und Östliche Kunst)

„Von Odesa nach Berlin. Europäische Malerei des 16. bis 19. Jahrhunderts“ heißt die Schau, die unter Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht. Zu den Werken, die ihren Weg aus der südukrainischen Hafenstadt und dem erst vor 100 Jahren gegründeten Museum in Odesa nach Berlin fanden, gehören Bilder bedeutender Künstler wie Andreas Achenbach, Francesco Granacci, Frans Hals, Cornelis de Heem, Roelant Savery, Bernardo Strozzi, Alessandro Magnasco und Frits Thaulow.

Liberaler Geist mit Neigung zur westlichen Welt

Johann Baptist von Lampi d. Ä.: „Porträt von Admiral Joseph de Ribas“, um 1769. (Odesa, Museum für Westliche und Östliche Kunst)

Die Ausstellung ist in neun Kapitel gegliedert und beginnt mit einer Einführung zu dem Projekt und seinem zeitgeschichtlichen Kontext. Neben einem Foto der von russischen Bomben zerstörten Kultur- und Prachtbauten in Odesa hängen zwei Ölgemälde, die das ganze politisch-kulturelle Dilemma der noch jungen Stadt zeigen: Von oben herab richtet der sich stolz in ordensgeschmückter Uniform präsentierende Joseph de Ribas (1749-1800) auf einem Bild von Johann Baptist von Lampi seinen Blick auf den Betrachter. Aus katalanischem Adel stammend, diente er im Rang eines Admirals der russischen Marine und bekam von Zarin Katharina II. 1794 den Auftrag zur Gründung der Stadt Odesa. Daneben hängt das von Thomas Lawrence gemalte Porträt des russischen Grafen Michail Woronzow (1782-1856), der eine Zeitlang Generalgouverneur von Neurussland mit Sitz in Odesa war, sich als aufgeklärter, liberaler Geist für die kulturelle und wirtschaftliche Anbindung an die westliche Welt einsetzte, Bibliotheken, Gymnasien, wissenschaftliche Gesellschaften gründete, aber heute wegen seiner unrühmlichen Rolle beim Kolonialkrieg gegen die muslimischen Bergvölker des Nordkaukasus in der Ukraine stark umstritten ist.

Immer wieder werden die politisch-kulturellen Fallstricke in die Schau einbezogen und in umfangreichen Kommentaren den Werken in deutscher, englischer und ukrainischer Sprache zur Seite gestellt. Das Auge des Kunstflaneurs entdeckt herrliche Landschaften und idyllische Stillleben, biblische und mythologische Historien und das in die Moderne weisende Spiel mit Licht und Farbe.

Die Irrungen und Wirrungen der Kunst

Unter dem Stichwort „Porträts und Charakterköpfe“ finden sich auch zwei Bilder von Frans Hals, der neben Rembrandt und Vermeer zu den herausragenden Malern des 17. Jahrhunderts zählt. Niemand weiß, warum Frans Hals, der sonst kaum je religiöse Werke schuf, eine kleine Serie von vier Evangelisten-Darstellungen gemalt hat, von denen zwei, die Bilder von Lukas und Matthäus, auf verschlungen Pfaden nach Odesa kamen. Lange hielt man sie dort für Werke eines unbekannten russischen Künstlers und verbannte sie ins Depot. Erst 1959 identifizierte man die Bilder mit den sehr lebendig wirkenden, zottelbärtigen und rotwangigen Evangelisten, die sich weise lächelnd in dicke Bücher vertiefen, als Hals-Originale. Die Schätze der Kunst geben uns mit ihren Irrungen und Wirrungen immer wieder Rätsel auf.

Gemäldegalerie Kulturforum Berlin: „Von Odesa nach Berlin. Europäische Malerei des 16. bis 19. Jahrhunderts.“ Bis 22. Juni 2025. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Mo geschlossen, Eintritt 16 Euro, ermäßigt 8 Euro. Freier Eintritt für Geflüchtete. Infos unter www.smb.museum/odesa, Katalog (Hirmer Verlag), 244 Seiten, 139 Abb., Preis im Museum 32 Euro, im Buchhandel 39,90 Euro.

Unter dem Titel „Meisterwerke aus Odesa. Europäische Malerei aus dem 16. bis 19. Jahrhundert“ wird die Ausstellung vom 19. Oktober 2025 bis zum 22. März 2026 im Kurpfälzischen Museum der Stadt Heidelberg gezeigt.

 




Landschaft mit Goldrand: Ausstellung zelebriert „1250 Jahre Westfalen“

Der vergoldete Silberschrein des heiligen Liborius, des Paderborner Dom- und Bistumspatrons, sonst im benachbarten Diözesanmuseum beheimatet, gehört zu den prachtvollsten Schaustücken der Westfalen-Ausstellung des Museums in der Kaiserpfalz. (Foto: LWL / B. Mazhiqi)

Welcher Gedanke liegt wohl nahe, wenn eine große Ausstellung „775 – Westfalen“ heißt? Nun, dann wird der Landesteil wohl 775 Jahre alt werden? Weit, weit gefehlt: Er wird vielmehr stolze 1250 Jahre alt.

Die „775″ steht dabei für die Jahreszahl der allerersten Erwähnung des Namens in einer Urkunde, etwas genauer: in den Reichsannalen jener Zeit, verfasst am Hofe Karls des Großen. Nun ist das unschätzbar wertvolle Zeitdokument in einer frühen, aus der Pariser Nationalbibliothek geliehenen Abschrift (entstanden um 820, in einer Abtei bei Lüttich) im Paderborner LWL-Museum in der Kaiserpfalz zu sehen.

Ankerprojekt eines weit ausgreifenden Themenjahres

Wir reden vom zentralen Ankerprojekt eines ganzen Themenjahres, das der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ausgerufen hat und das 44 größere Maßnahmen umfasst, die sich zu weit über 300 Einzelveranstaltungen verzweigen. Rund 3 Millionen Euro beträgt die gesamte Fördersumme der LWL-Kulturstiftung. An der heutigen Ausstellungseröffnung in Paderborn hat auch der Schirmherr, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, teilgenommen, u. a. flankiert vom NRW-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst. Die Schau macht einen streckenweise hochveredelten Eindruck, mit geradezu feierlicher Illumination und zahlreich schimmernden Goldtönen. LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger hofft auf rund 60000 bis 80000 Ausstellungs-Besuche. Solche Zahlen wären auch finanziell hilfreich.

Von den Franken besiegt und erstmals erwähnt

Kurz zurück zur erwähnten karolingischen Urkunde. „Die“ Westfalen (also nicht der noch gar nicht definierte Landesteil, sondern die Leute) fanden nebst anderen Volksstämmen – Ostfalen und Engern – Erwähnung als durch die Franken Besiegte. Damit war der Begriff schriftlich in der Welt und konnte sich durch die Epochen realiter vielfach entfalten – etwa als Herzogtum Westfalen um 1180, mit einem klimatisch bedingten, für Getreideanbau günstigen Boom um 1200 und einem ebenfalls klimatisch eingeleiteten Niedergang im 14. Jahrhundert (Stichwort „Wüstungen“), viel später dann als Schauplatz des Westfälischen Friedens (Münster/Osnabrück) anno 1648, mit dem der Dreißigjährige Krieg endete.

Wiederum ein ganz anders geartetes Land war sodann ab 1807 das französisch regierte „Königreich Westphalen“ unter Jérôme Bonaparte, dem jüngsten Bruder Napoleons. Seinerzeit zählten übrigens weder Münster noch Dortmund hinzu, die wir heute als die westfälischen Metropolen betrachten. Westfalens Hauptstadt hieß damals Kassel. Gar manche Westfalen begrüßten die gewachsenen bürgerlichen Freiheiten unter französischer Herrschaft, doch bald regte sich Unmut, weil Napoleon westfälische „Landeskinder“ als Soldaten für seinen Russlandfeldzug rekrutieren ließ.

Die Schau endet mit den Folgen des Wiener Kongresses von 1815, mit dem die napoleonische Ära endete und Preußen die Grenzen seiner Provinz Westfalen neu und dauerhaft festlegte. Damit wurden auch bis heute prägende Grundmuster der Infrastruktur geschaffen.

Ein „Wanderweg“ durch die Lande und Zeiten

Die Ausstellung breitet ihre Schätze (etwa 500 Exponate) auf rund 1000 Quadratmetern in Form eines „Wanderweges“ durch Lande und Zeiten aus. Ein Epilog, basierend auf Umfragen unter westfälischen Bürgern der Gegenwart, zeichnet schließlich Zukunfts-Perspektiven – nicht zuletzt visualisiert mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI), die heute ja nirgendwo fehlen darf.

Eine Leitfrage der gesamten Unternehmung lautet: Was macht denn eigentlich Westfalen aus? LWL-Landesdirektor Georg Lunemann ist überzeugt, dass die heutige Heimat von rund 8,3 Millionen Menschen schon immer ein gesellschaftliches „Versuchslabor“ gewesen sei. Ein Menschenschlag habe diese Landschaft geprägt, der zwar zurückhaltend und bodenständig, aber auch stets prinzipiell offen (gewesen) sei. Hier wolle man die Probleme anpacken statt sie nur zu verwalten oder zu vertagen. Nun ja, so oder ähnlich muss man es als LWL-Chef wohl sagen. Westfalen war und ist im Vergleich zum Rheinland jedenfalls ländlicher geprägt und hat auf deutlich mehr Fläche weniger Einwohner. Selbst die westfälischen Ruhrgebietsstädte entstanden auf vormals ländlichen Arealen erst spät und dafür umso rasanter.

Ein Tragaltar für den Paderborner Bischof aus dem 12. Jahrhundert, gefertigt aus Eichenholz, vergoldetem Silberblech, Steinschmuck und Perlen. (Foto: LWL / B. Mazhiqi)

Als die Region bis zur Ostsee reichte

Martin Kroker, Leiter des Paderborner Museums in der Kaiserpfalz, legt Wert auf die Feststellung, dass es keineswegs eine klare, durchgehende Linie von 775 bis 1815 oder gar bis heute gebe, was Westfalen anbelangt. Größere Eindeutigkeit entstand erst mit der preußischen Ordnung im 19. Jahrhundert, namentlich unter Ägide des Freiherrn vom Stein. Zuvor hatten die als „westfälisch“ wahrgenommenen Ländereien zeitweise bis zur Ostsee gereicht, die eingangs der Ausstellung gezeigten alten Karten sind für heutige Begriffe geradezu verwirrend.

Die jetzige Gestalt ist eben erst nach und nach entstanden. Westfalen, wie wir es kennen (oder zu kennen glauben), konkretisierte sich erst allmählich im 19. Jahrhundert, damals entstanden zahlreiche Heimatvereine, einschlägige Denkmäler wurden errichtet und das treuherzige „Westfalenlied“ (1868/69) ward komponiert. Aus all dem leitet sich die generelle Erkenntnis her, dass Westfalen – wie so vieles, ja eigentlich alles – eine dem historischem Wandel unterworfene „Konstruktion“ ist, mit der sich die Menschen dann freilich im Idealfalle identifizieren können. Und überhaupt: Was Westfalen bedeutet, wird stets von Menschen bewirkt.

Die Ausstellung sucht den schier unerschöpflichen Themenkreis vor allem mit archäologischen Funden und markanten Schriftstücken zu fassen. Der Wanderweg wird freilich auch von in Westfalen gewachsenen Pflanzen begleitet, was den Museumsleiter Martin Kroker zunächst beunruhigt hat. Pflanzen neben uralten Schriften? Und was war mit womöglich schädlichen, feuchten Ausdünstungen? Nun, die begleitende Vegetation gedeiht hier völlig ohne Wasser, sie wird aber bis zum Ende der Ausstellung u. a. mit Glycerin konserviert. Gewusst wie! Jedenfalls ist man dank Pollenanalysen heute in der Lage, die westfälische Pflanzenwelt seit der Karolingerzeit im Wesentlichen zu bestimmen.

Abendmahls-Gemälde mit westfälischem Schinken

Und so schreitet man entlang früher Waffenfunde aus kriegerischen Zeiten, bestaunt Zeugnisse der Christianisierung, die mit etlichen Klostergründungen als „Erfolgsmodell“ dargestellt wird, belegt auch durch prachtvolle Altarbilder westfälischer Provenienz. Eine Abendmahls-Darstellung enthält gar typisch westfälischen Schinken als kulinarische Dreingabe. Weitere Höhepunkte sind etwa der kostbar vergoldete Paderborner Libori-Schrein, die penibel ausgetüftelte Sitzordnung zu den Verhandlungen über den Westfälischen Frieden oder die barocke Pracht westfälischer Fürstbischöfe.

Kritische Seitenblicke bleiben nicht aus. So gab es im Gefolge der Befreiungskriege auch in Westfalen nach 1815 nicht nur romantische Verklärungen der Region, sondern auch nationalistisch gewendete Überhöhungen. Manche Westfalen verstanden und gerierten sich nun als die allerbesten und echtesten Deutschen. Da sind einem die „sentimentalen Eichen“, die Heinrich Heine in Westfalen als knorrig-liebenswerten Menschentypus erlebte und bedichtete, doch allemal lieber.

„775 – Westfalen. 1250 Jahre Westfalen“. Paderborn, Museum in der Kaiserpfalz, Am Ikenberg 1 (neben dem Dom). Vom 16. Mai 2025 bis 1. März 2026. Täglich außer montags 10-18 Uhr, jeden ersten Mittwoch im Monat 10-20 Uhr. Eintritt 11 Euro, ermäßigt 6 Euro, Kinder/Jugendliche unter 18 Jahren kostenlos. Katalogbuch (352 Seiten) 35 Euro.

 

 




Der Maler, der die Frauen zerstört – Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“

Louis Creutz ist ein Maler, der nach anfänglicher Mühsal längst internationalen Erfolg hat. Er lässt nur noch eigene Maßstäbe und Perspektiven gelten, die er häufig dozierend in gewundenen Sentenzen ausbreitet. Überdies betrachtet er sich selbst in jeglicher Hinsicht als unabhängig. Etliche Frauen zeigen sich davon beeindruckt.

Seine langjährig treuesten Käufer und Mäzene heißen Beate und Rudolf, Letzterer ist Mitinhaber einer weltweit operierenden Hydraulik-Firma. Deren Geschäfte führt vor allem sein Bruder Dietrich, ein unscheinbarer Mensch, der jedoch durch Beständigkeit und Verlässlichkeit ungemein gewinnt. Seine Abgründe, die es durchaus zu geben scheint, werden durch bescheidene Liebenswürdigkeit ausbalanciert.

Damit hätten wir bereits wesentliches Personal aus Martin Mosebachs neuem Roman „Die Richtige“ beisammen. Die den Titel inspirierende Frau kommt hinzu: Es ist jene, vermeintlich etwas naive, jedenfalls ausnehmend hübsche, munter plaudernde und bis dato grundsätzlich lebensfrohe Halbschwedin Astrid, die eines Tages in diese begüterten Kreise gerät. Opernsängerin hat sie einst werden wollen. Nun arbeitet sie in einem Intendanten-Büro. Aber das nur nebenbei.

Zunächst langsam, dann aber fatal gerät die Handlung in Gang, als der Künstler jenen Dietrich und Astrid in einem abgekarteten Spiel zusammenbringt, bis sie tatsächlich zueinander finden und heiraten. Eine ungleiche Allianz? Nein, es scheint sich wundersam zu fügen. Doch dann die Versuchung und Verstrickung, die Gift ins scheinbar beruhigte Glück träufelt: Während Dietrich wochenlang geschäftlich in China unterwegs ist, kann Louis Creutz nicht widerstehen und will – uraltes Motiv der Künste – Astrid als ideales Aktmodell recht eigentlich „besitzen“. Das Widerstreben währt nicht lange, sie lässt sich darauf ein. Sitzung folgt auf Sitzung, bis das offenbar „Unvermeidliche“ geschieht. Aus der Gemengelage zwischen Maler und Modell erwächst dann freilich unversöhnlicher Streit, der schließlich in eine Tragödie von zermalmender Wucht mündet.

Rückblicke offenbaren des Künstlers seit jeher zerstörerische Wirkung. Seine rasend eifersüchtige Ex-Frau Ira ist erloschen auf der Strecke geblieben, sein langjähriges Modell Flora Ortiz ist vollends entgleist und geistert vogelfrei als obdachlose „Ver-rückte“ durch die Stadtlandschaft. Zerstörerisch auch die Auswirkungen auf Astrid. Details dazu seien hier verschwiegen, sie würden den Spannungsbogen bei der Lektüre erheblich mindern.

Derweil leugnet Creutz jeden Zusammenhang zwischen seinem Leben und den künstlerischen Resultaten, die angeblich den Niederungen des Alltags enthoben sind und nur den ewigen Gesetzen der Kunst gehorchen. An biographischen Nachforschungen eines Galerie-Mitarbeiters namens Rucktäschel mag er denn auch nicht mitwirken, er nennt ihn eine „Archivwanze“. Wo käme der selbstgerechte Malerfürst denn hin, wenn er sich schnöden Ursachen oder womöglich gar einer Verantwortung stellen müsste! Ja, man könnte diesen Louis Creutz von Herzen verachten, doch man hüte sich vor Eindeutigkeit. Von Zeit zu Zeit erlaubt sich der Künstler – im Gefolge seines Schulfreundes Ed Weiss – Ausflüge ins klein- bis mittelkriminelle Milieu. Es könnte ja einmal nützlich sein…

Martin Mosebach erzählt abermals ausgesprochen gediegen, meisterlich gliedernd und zergliedernd, vergleichsweise konventionell bis konservativ, stets hochkulturell grundiert. Es ist sozusagen Bildungsliteratur, die mal an die Übergröße Thomas Mann, mal auch an Martin Walser zu dessen besten Zeiten gemahnt. Auch dürfte etwas von Goethes „Wahlverwandtschaften“ als Muster durchscheinen. Auf viel geringeren Höhen sollte man nicht über Mosebach reden. Seinem Duktus kann man sich lesend gut und gerne anvertrauen. Er geleitet uns trittsicher, sprachmächtig u n d mit angenehmer Diskretion durch die Kältezonen der Kunstwelt ebenso wie durch Brutalitäten im Jagdrevier oder Abgründe des Begehrens.

Martin Mosbach: „Die Richtige“. Roman. dtv. 348 Seiten. 26 Euro.




Erst Rocksängerin, dann Bildhauerin – Pia Bohr: „In der Kultur haben es Frauen immer noch schwerer“

Im Atelier: Pia Bohr mit ihrer Skulptur „Big Engel“. (© Foto: Melanie Hoessel)

Geht’s um Frauen im Kulturbetrieb, so kann Pia Bohr (61) fundierte Auskunft geben. Zuerst hat die Dortmunderin sich über 25 Jahre lang als Sängerin der international gefeierten Kultband „Phillip Boa & the Voodooclub“ verdingt, dann ist sie nach und nach in die Kunstszene gewechselt und hat sich als Bildhauerin etabliert – zuerst mit Holzskulpturen, seit einiger Zeit mit ebenso organischen und biomorphen Schöpfungen in Bronze, weil die Arbeit mit diesem Material körperlich weniger aufreibend ist.

Besuch in ihrer Werkstatt im Dortmunder Klinikviertel, Dudenstraße 4. Hier blüht buntes Leben: Im selben Hinterhof befinden sich eine Kita und das BVB-Fanprojekt. Wir sitzen inmitten einiger ihrer neueren Arbeiten. Ihr Werkstatt-Raum atmet die angenehme Atmosphäre früherer Zeiten, hat gleichsam Patina – bis hin zum nostalgischen Radio aus den 1960er Jahren. Es funktioniert noch einwandfrei. Auch ihre Bronze-Skulpturen, so Pia Bohr, „werden so ziemlich alles überdauern. Sie schmelzen erst bei 1100 Grad.“ Bei dieser Temperatur entstehen sie auch – in einer hochspezialisierten Gießerei im münsterländischen Drensteinfurt. Bundesweit gibt es nur noch ganz wenige vergleichbare Betriebe. Veredeltes Handwerk.

Ja, für Frauen sei es in der Kultur immer schwieriger als für Männer, auch heute noch. Als Sängerin habe sie vielen Fans und Kollegen bloß als „blondes Schätzchen“ gegolten, dabei habe sie selbst etliche Songs für Phillip Boa geschrieben. Gut, dafür fließen (oder rinnen) immer noch ein paar Tantiemen, aber die Anerkennung hielt sich in Grenzen. Überdies gab es abstrusen Rechtsstreit: Als Sängerin hieß sie Pia Lund, doch wurde ihr juristisch untersagt, diesen Namen auch als Bildhauerin zu tragen. Dann halt Pia Bohr. Zur Bandgeschichte gehört schließlich auch, dass ihre damalige Ehe zerbrochen ist. Eine tolle Zeit war es gleichwohl, als die Gruppe beispielsweise mit dem Produzenten von David Bowie arbeiten konnte.

Wie war es dann als Künstlerin? Auch da habe sie kämpfen müssen. Nun nicht mehr in konfliktreicher Gruppendynamik, sondern als Einzelne – mit größeren Freiheiten, aber auch gewachsenen Risiken. Ein männlich dominierter Künstlerbund habe sie partout nicht aufnehmen wollen. Es gab gar Kollegen, die ihr ausreden wollten, Skulpturen mit glatten Oberflächen zu gestalten. Warum? Tja. Einfach mal so. Bestimmen wollen. Herrschaft ausüben. Überdies hatte sie kein Kunststudium vorzuweisen, erst recht nicht bei einem prominenten Professor. Als käme es im Schaffensprozess nicht auf andere Dinge an. Auf Liebe zum Material und Beseelung des Stoffes. Auf Formfindung und Proportionen. Auf innere Wahrhaftigkeit. Und dergleichen mehr. Als Bezugsgrößen für ihr Schaffen nennt Pia Bohr die Oeuvres von Hans Arp, Francis Bacon und Louise Bourgeois.

Vor Relikten des früheren Hoesch-Stahlwerks: Pia Bohrs Arbeit „Die Spionin“. (© Foto: Bruno de Piero)

Und die Zukunft? Scheint, gerade für Frauen, nicht eben rosig zu werden. Pia Bohr beobachtet vielfach eine Wendung rückwärts. Mühsam erstrittene Frauenrechte seien zunehmend bedroht, sagt sie. Im Gefolge des Rechtspopulismus machten sich sogenannte „Trad Wives“ (etwa: Traditionsweibchen) breit, die vorzugsweise mit Trachten oder Schürzen dienende Rollen annähmen, fast wie die „braven Muttis“ in den 1950er Jahren. Dementsprechend erstarke auch der Machismo, keineswegs „nur“ in der kulturellen Sphäre. Wehmütig lächelnd erinnert sich Pia Bohr des Titels ihrer digitalen Graphik: „Das Ende des Patriarchats“. Schön wär’s ja…

Als Ur-Dortmunderin hadert sie, wie so viele, gelegentlich mit dieser Stadt: „Dortmund ist kulturelle Provinz.“ Und nebenan? Nun, schon in der Unistadt Bochum sehe es besser aus. Ungleich lebendiger sei es in Berlin, wie sie kürzlich wieder erleben durfte. Doch da wolle sie nicht dauerhaft hin. „Da gibt es schon so viele Künstlerinnen und Künstler.“

Von Selbstverwirklichung in den Künsten redet sie nicht gern. Noch weniger mag sie die Redensart, jemand mache „das Hobby zum Beruf“. Nein, kulturelles Schaffen sei vor allem harte Arbeit. Es sei freilich wunderbar, wenn sie sehe, wie Leute ihre Skulpturen liebevoll berühren. Dabei werden, neben geglätteten Partien, auch Narben und Verletzungen in Holz oder Bronze spürbar. Schmerzliche Schönheit. Frauen riskierten derlei haptische Annäherung übrigens eher und inniger als Männer. Woran es wohl liegt?

Über all die Jahre hinweg macht Pia Bohr dieselbe Erfahrung: Oft ist unklar, wann der nächste Gig (Auftritt) oder Kunstkauf ansteht. Daraus folgt permanenter Druck. Zwar kann sie inzwischen von der Bildhauerei leben, doch haben ihr die Zeiten der freischaffenden Existenz nur einen kümmerlichen Rentenanspruch eingebracht. Wir nennen den Betrag hier nicht, es könnten einem schier die Tränen kommen. In wilder bewegten Jahren macht man sich ja auch wenig Gedanken über Einkünfte im „Ruhestand“. Auch so ein Wort, das ihr widerstrebt.

„Frauen in der Kunst“ – das Thema findet Pia Bohr wichtig. Aber: „Dass es eigens hervorgehoben wird, zeigt auch, dass es leider immer noch nicht selbstverständlich ist.“ Wo sie recht hat…

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Der Text ist zuerst im Kulturmagazin Westfalenspiegel (Münster) erschienen: www.westfalenspiegel.de

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Vom 10. Mai bis zum 8. Juni 2025 ist unter dem Titel „helle wachträume“ eine gemeinsame Ausstellung von Pia Bohr und Sonia Ruskov zu sehen, und zwar in der Produzentengalerie „Friedrich 7″ (Friedrich-Ebert-Straße 7, 44263 Dortmund). Öffnungszeiten: Mittwoch 16-18 Uhr, Samstag/Sonntag 14-17 Uhr.

Weitere Infos über die Künstlerin: www.bohrskulpturen.de




Im Geniekult vergessen: Vor 200 Jahren starb der Komponist Antonio Salieri

Antonio Salieri auf einer um 1815 entstandenen Lithografie.

Er gehört zu den bedeutendsten musikalischen Figuren im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Aber die Nachwelt hat aus Antonio Salieri einen zweitrangigen Kleinmeister und Rivalen Mozarts gemacht. Noch in seinem Theaterstück „Amadeus“ – weltbekannt geworden durch Miloš Formans gleichnamigen Film von 1984 – benutzt Peter Shaffer die längst widerlegte Legende, Salieri habe Mozart mit Gift beseitigt.

Der Film erzählt, wie der Italiener das kindlich-amoralische Genie „Amadeus“ durch seelischen Druck langsam ums Leben bringt. Er will damit Gott seine Macht zeigen: Jenem Gott, der sich in Mozarts perfekter Musik offenbart. Ihn, Salieri, dagegen hat er dazu verdammt, als einziger zu erkennen, wie mittelmäßig seine eigenen Kompositionen in Wirklichkeit sind. Und das, obwohl sich Salieri Gott mit all seiner kreativen Kraft und einem moralisch einwandfreien Leben als Instrument der Offenbarung zur Verfügung gestellt hat.

Die Wirklichkeit ist weniger melodramatisch: Mozart und Salieri waren im Wien Josephs II. keine Konkurrenten und schon gar keine Gegner, im Gegenteil. Alle Äußerungen in den Quellen, die etwa von „Cabalen“ gegen die „Hochzeit des Figaro“ raunen, halten einer Überprüfung nicht stand. Mozart selbst berichtet in seinem letzten Brief an seine Frau Constanze, Salieri habe „Die Zauberflöte“ mit aller Aufmerksamkeit gesehen: „ … von der Sinfonie bis zum letzten Chor, war kein Stück, welches ihm nicht ein bravo oder bello entlockte.“ Salieri sorgte nach dem Tod Mozarts weiterhin für Aufführungen seiner Werke und Constanze gab ihren jüngsten Sohn Franz Xaver bei ihm in den Kompositionsunterricht. Feindschaft sieht anders aus.

Warum also die haltlosen Gerüchte, woher die Abwertung Antonio Salieris und die Schmähung seiner Musik als bedeutungslos? Da spielt der gerade in Deutschland gepflegte Geniekult des 19. Jahrhunderts eine gewichtige Rolle: Gegen den strahlenden Stern Mozarts hatten italienische „Kleinmeister“ keine Chance zu bestehen. Der antiitalienische Affekt des ersten Mozart-Biographen Franz Niemetschek tat ein Übriges: Das Genie wurde dem intriganten Haufen „verdienstloser Menschen“ und ihrem „welschen Geklingel“ gefährlich und entfachte den „Neid mit der ganzen Schärfe des italienischen Giftes“, unterstellt er.

So verschwanden Salieris rund 40 Opern von den Spielplänen. Bei seinem Tod am 7. Mai 1825 in Wien war er als Autorität hoch geachtet, als Komponist jedoch schon so gut wie vergessen. Seine Schüler Ludwig van Beethoven und Franz Schubert hatten ihn verdrängt, das Rossini-Fieber die Wiener Opernbühne geradezu ins Delirium versetzt. Aber seine pädagogische und organisatorische Arbeit wirkte nach: Der Pianist Karl Czerny gehört zu seinen Schülern, der Komponist Joseph Leopold von Eybler, ebenso Johann Nepomuk Hummel und der Franzose Ferdinand Hérold. Er nahm Franz Schubert unter seine Fittiche. Salieri unterrichtete Größen wie Giacomo Meyerbeer, der zu den einflussreichsten Opernschöpfern des 19. Jahrhunderts gehört, Simon Sechter, den Lehrer Anton Bruckners, und in seinen letzten Lebensjahren den jungen Franz Liszt. Er war 1823 an der Gründung des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien beteiligt. und bildete zahlreiche exzellente Sänger aus, so auch Mozarts „geläufige Gurgel“ Catarina Cavalieri.

Erst in den letzten Jahrzehnten sind die Werke Salieris wieder entdeckt worden, seit 1975 sein „Falstaff“ in Verona wieder aufgeführt wurde. Seine erfolgreichen Pariser Opern in der Nachfolge Christoph Willibald Glucks („Tarare“, „Les Danaïdes“) ließen die Eigenart seiner Kompositionsweise einem staunenden Publikum vor Augen treten: Salieri bleibt stets nahe am Text, deutet lebhaft, farbig und dramatisch dicht die Aussagen des Librettos aus. Nicht umsonst haben Kapazitäten wie Cecilia Bartoli  Salieris Musik für sich entdeckt. 2004 sang Diana Damrau eine der extrem anspruchsvollen Sopranpartien von Saliers „L’Europa riconosciuta“ anlässlich der Wiedereröffnung des renovierten Mailänder Teatro alle Scala. Das innovative, bei der Uraufführung enthusiastisch gefeierte Werk erklang 1778 zur Eröffnung der Scala zum ersten Mal.

Salieris Freude an der Textdeutung kommt seinen satirischen Werken zugute – eine Facette, die Mozart kaum gepflegt hat: Die aus politischen Gründen unaufgeführt gebliebene Oper „Cublai, großer Khan der Tartaren“ („Cublai, Gran kan de‘ Tartari“) erwies sich bei ihrer Entdeckung 1998 am Theater Würzburg als beißender Spott auf beschränkt-gefährliche Machthaber, manipulative Priester und Erzieher, intrigante Hofschranzen und eitle Liebhaber. In dieser Produktion sang Diana Darmau die Rolle der persischen Prinzessin Alzima. Eine ähnliche politische Satire, „Catilina“, konnte erst 1994 in Darmstadt uraufgeführt werden.

Derzeit in Salzburg zu erleben ist eine Rarität aus der Feder Antonio Salieris: „Il mondo alla rovescia“ („Die verdrehte Welt“). Hier ein Szenenfoto mit Luke Sinclair, Alexander Hüttner und dem Unterstimmenchor. (Foto: SLT/Tobias Witzgall)

Zum Salieri-Jubiläum 2025 – zu feiern ist am 18. August auch der 275. Geburtstag des italienischen Meisters – veranstaltet seine Heimatstadt Legnago eine Serie „Salieri 200“ mit Konzerten und einer Aufführung von „Falstaff“. In Legnago verlebte der Kaufmannssohn die ersten 16 Jahre seines Lebens, bis er 1766 vom Komponisten Florian Leopold Gasmann in Vendig entdeckt und nach Wien mitgenommen wurde, wo er ab 1774 als Kammerkompositeur und Kapellmeister der italienischen Oper wirkte .

In Wien steht Salieris Gedenkjahr im Schatten des Johann-Strauß-Jubiläums. Dennoch bietet eine Initiative „Salieri 2025“ zahlreiche Veranstaltungen wie Vorträge, Symposien, Konzerte mit seiner Musik und der seiner Schüler sowie ein Opernprojekt zur Satire „Prima la musica, poi le parole“ an. In Salzburg zeigt das Landestheater noch bis 27. Mai „Il Mondo alla Rovescia“ („Die verdrehte Welt“), ein absurdes Spiel um Geschlechterrollen und -identitäten.

https://www.salieri2025.at/
https://teatrosalieri.it/salieri200/
https://www.salzburger-landestheater.at/de/produktionen/die-verdrehte-welt-il-mondo-alla-rovescia.html?m=535




Theatertiere, tragikomisch: Das Berliner Ensemble gastiert mit „Warten auf Godot“ bei den Ruhrfestspielen

Sie können nicht mit und nicht ohne einander: Estragon (Matthias Brandt, mit Brille) und Wladimir (Paul Herwig). (Foto: Jörg Brüggemann)

Die Gräuel des Zweiten Weltkriegs waren noch allgegenwärtig, als der Ire Samuel Beckett 1948 das Schauspiel „Warten auf Godot“ schrieb: jenes Endzeitstück um zwei tragikomische Landstreicher, die an einem undefinierten Ort zu unbestimmter Zeit auf einen Herrn warten, den sie gar nicht richtig kennen. Godot aber bleibt fern, seine Existenz bloße Behauptung, ein mythenumwobenes Hörensagen. Er könnte auch der Messias sein oder der Herrscher aus Franz Kafkas Roman „Das Schloss“. Oder ein Sinnbild für die immerwährende Hoffnung auf ein besseres Morgen.

Die Ruhrfestspiele Recklinghausen zeigen diesen Klassiker des absurden Theaters jetzt in einer Version, die der belgische Regisseur Luk Perceval mit dem Berliner Ensemble (BE) erarbeitet hat. Die exzellente Darstellerriege aus der Hauptstadt wird um den prominenten Namen eines festen Gastes ergänzt: Matthias Brandt, jüngster Sohn des Alt-Bundeskanzlers, spielt Estragon, den grantig-depressiven Weggefährten von Wladimir, den Paul Herwig mit hoffnungstoller Virtuosität verkörpert.

Die Bühne ist angemessen leer und düster. Statt unter einem Baum zu warten, tappen die beiden Clochards hilflos in einem Wald aus Scheinwerfern umher. Auf dieser Bühne (Katrin Brack) wird keine Natur mehr angedeutet, sondern von vorneherein Theater gespielt. Die Souffleuse, für alle sichtbar auf der Seitenbühne platziert, spricht Regieanweisungen ein. Wladimir und Estragon schauen sie dann so irritiert an, als widerstrebte es ihnen zu gehorchen. Dabei haben sie längst kein eigenes Leben mehr. Sie sind im Vakuum des Wartens erstarrt, in der Ausweglosigkeit des Nicht-anders-Könnens, zur Zweisamkeit verdammt.

Wie Yin und Yang: Der aktive, ums Überleben bemühte Wladimir (Paul Herwig r.) und der depressive, todessehnsüchtige Estragon (Matthias Brandt, l. Foto: Jan Brüggemann)

Groß wird dieser Theaterabend nicht durch die berühmten Namen, sondern weil Luk Perceval und das Ensemble Becketts Dystopie zu einem schillernden Ozean von Bedeutungen weiten. Unter der Oberfläche lakonischer Sätze tut sich ungeahntes Leben auf. Tiefer und tiefer führt diese Reise in die Widersprüche menschlicher Existenz. Todtrauriges vermischt sich mit Groteskem. Wladimir und Estragon, der Lebensmutige und der Todessehnsüchtige, verhalten sich wie ein altes Ehepaar, das laut über eine Trennung nachdenkt, den Worten aber nie Taten folgen lässt. Mit ihren Erinnerungslücken und dem ständigen An- und Ausziehen von Kleidungsstücken könnten sie aber auch leicht demente Insassen eines Altersheims sein.

Matthias Brandt (Estragon) zeichnet mit rauer Stimme einen Zyniker, der vom Leben gleichermaßen gequält wirkt wie von seinen ständig schmerzenden Füßen. Von ihm geht eine dauerdepressive Stimmung aus, die immer wieder in Wut umschlägt. Dann beschimpft er Wladimir, lässt aber selbst in seinem Gebrüll noch Nuancen der Anhänglichkeit mitschwingen.

Noch differenzierter spielt der großartige Paul Herwig (Wladimir). Als optimistischerer Gegenpart setzt er Brandts Urgewalt eine vibrierende Nervosität entgegen, die viele feine Nuancen kennt. Beständig mit dem Kopf zitternd, tapst und wankt und tänzelt er über die Bühne, als suchte er nach einem Ausweg aus der Sinnleere. Es grenzt an ein Wunder, dass er sich bei seinen umständlichen An- und Ausziehmanövern nicht den Hals bricht.

Als der Herrenmensch Pozzo auftaucht, Lucky wie ein Tier am Strick führend und immer wieder auspeitschend, ist es Wladimir, der sich über diese Unmenschlichkeit empört. Oliver Kraushaar spielt Pozzo so aasig aufgeräumt, dass sich leichte Übelkeit regt. Da gibt sich Brutalität den Anstrich von Rechtschaffenheit: Es ist zum Fürchten, wie bekannt einem das vorkommt.

Der Herrenmensch Pozzo (Oliver Kraushaar, 2. v.l.) und der von ihm geknechtete Lucky (Jannik Mühlenweg, 3. v.l. Foto: Jörg Brüggemann)

Jannik Mühlenweg wird als Lucky zu einer beängstigend animalischen Kreatur, die mit einem blinden weißen Auge in die Welt starrt. Einmal von der Leine gelassen, pflügt er während seines langen Monologs wie ein Berserker durch die Sitzreihen. Es gibt Szenenapplaus für diese brachiale Suada, mit der er das Haus vom Parkett bis zu den Rängen aufmischt.

Das Geschehen wird von Live-Musik von Philipp Haagen untermalt, der auf der Tuba und dem präparierten Klavier fremdartige Klänge durch den Raum schickt. Luk Perceval stellt die Brillanz des Ensembles vollkommen in den Dienst der Sache. Der Hintersinn von Becketts Dialogen wirkt so prägnant, dass mancher Satz sich wie ein Pfeil ins Gedächtnis bohrt. Vermutlich wird jeder sich an anderer Stelle getroffen fühlen von dieser großen Etüde der Vergeblichkeit, dieser zeitlos gültigen Studie über Macht und Ohnmacht. „Es ist eine Schande, aber es ist so“, sagt Pozzo. Und Estragon erwidert: „Man kann es nicht ändern.“

(Informationen und Karten: www.ruhrfestspiele.de)




Fünfmal glimpflich ausgegangen – und jetzt?

Aus der allzeit beliebten Reihe „Bebilderte Redensarten“: nur nicht gleich „auf die Palme bringen“ lassen, vieles erledigt sich wie von selbst. (Foto: Bernd Berke)

Seltsam: In den letzten Tagen hat sich manches „in Wohlgefallen aufgelöst“, wie man einst zu sagen pflegte. Dies und jenes ist glimpflich ausgegangen, keine Befürchtung hat sich bewahrheitet. Sollte es sich um eine Glückssträhne handeln? Oder soll man sich in Sicherheit wiegen, während hinter all den Kleinigkeiten insgeheim etwas weitaus Größeres lauert? Auch kommt einem vielleicht Goethes berühmtes Diktum in den Sinn, nichts sei schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen.

Doch der Reihe nach: Auf einer ohnehin schon elend langen Autofahrt (ca. 1300 km) drohte ganz am Schluss noch eine Straßensperrung in Richtung Dortmund, die weitere Verzögerung bedeutet hätte. Überall war sie bedrohlich ausgeschildert. Dennoch der kühne Entschluss, nicht die empfohlene Umleitung zu nehmen (wie es Tausende taten), sondern auf der angeblich im weiteren Verlauf gesperrten Strecke zu bleiben. Und siehe da: Die Sperrung existierte gar nicht. Offenbar hatten sie nur versäumt, die Warnschilder abzubauen. Ha!

Sodann funktionierte die Übertragung der Navigation via CarPlay plötzlich nicht mehr. Nur noch dürre Ansagen mit teilweise fürchterlicher Aussprache, jedoch keine Kartenanzeige mehr. Viele Versuche, aber nichts zu machen. Anderntags die unscheinbare, aber rettende Idee: nur einmal kurz die Enden der Kabelverbindung durchpusten. Ffffft! Ffffft! Und schon ging alles wie gewohnt. Offenbar hatte es an ein paar Staubkörnchen oder einer winzigen „Wollmaus“ gelegen.

Drittens: Für auch nicht gerade geringfügige 96,52 Euro in südfranzösischer Gottseinsamkeit getankt, an einer unbemannten („unbemenschten“) Zapfsäule. Auf dem Kontoauszug wurden jedoch anschließend saftige 200 Euro Abbuchung angekündigt. Ein gewisser Schock. Sollte etwa Kriminelle Zugriff gehabt haben? Zuerst ließ es sich gar nicht zuordnen, auf den Tankvorgang musste man erst einmal kommen. Was mir zuvor nicht bekannt war: Beim vollautomatischen Tanken werden zunächst oft Quasi-Beträge aufgerufen, die hernach – bei der wirklichen Abbuchung – nach unten korrigiert werden. So war es dann auch in diesem Falle. Alles korrekt. Also abermals „davongekommen“.

Fehleranzeige der Waschmaschine: Auch hier trog der Schein. (Foto: BB)

Auch nach der Rückkehr aus Frankreich hörte es noch nicht auf: Angesichts der aufgetürmten Urlaubswäsche streikte die Waschmaschine, zeigte die kryptische Fehlermeldung „F9″ und dazu einen rot leuchtenden Schraubenschlüssel, als müssten nun ganze Kohorten von Handwerkern anrücken. Auch hier verliefest freilich harmlos. Es musste lediglich ein Flusensieb gereinigt werden – und schon war wieder alles in Ordnung.

Habe ich noch etwas vergessen? Richtig, eine Petitesse: Habe nach längerer Abstinenz versucht, mich zur Entspannung bei einem Streamingdienst einzuloggen. Nix ging. Zwecklos. Später zeigte sich: Der Druck auf eine einzige Fernbedienungstaste beseitigte das Malheur.

Gibt es etwas zu lernen? Vielleicht von Anfang an gelassener an die Dinge heranzugehen und nicht gleich in panische Zustände zu verfallen? Aber nicht, dass wir hier noch in einen Psycho-Jargon abrutschen oder die üblichen Ratgeber-Formeln der „Lebenshilfe“ nachstottern! Drum Schluss jetzt.




Duell der Giganten: Gil Mehmert inszeniert am Broadway ein Stück über Bernstein und Karajan

Gil Mehmert, der an der Folkwang Hochschule Essen lehrt, setzt Bernstein und Karajan am Broadway in Szene. Foto: Felix Rabas

Gil Mehmert goes Broadway: Der Regisseur, der seit 2003 im Fachbereich Musical an der Folkwang Hochschule in Essen lehrt und in den Theatern im Revier kein Unbekannter ist, hat sich in New York mit einem Stück über zwei Dirigier-Giganten des 20. Jahrhunderts vorgestellt.

Leonard Bernstein und Herbert von Karajan, jedem Musikfreund ein Begriff, trafen sich zum letzten Mal 1988 im legendären Hotel Sacher in Wien. Die beiden Rivalen um Marktmacht und musikalische Meinungen verbrachten eine Nacht in der „Blauen Bar“, mit einem einzigen Zeugen, dem Kellner. Der bemerkt dreißig Jahre später, wie der amerikanische Schriftsteller, Filmemacher und Komponist Peter Danish Bernsteins Gesammelte Briefe liest, erzählt ihm von dieser Begegnung – und der fantasiebegabte Autor füllt die dürre Information mit Leben und imaginiert die Inhalte des nächtlichen Gesprächs. Peter Danish kennt die Welt der klassischen Musik gut; sein Debütroman „The Tenor“, 2014 erschienen, erzählt auf der Basis der frühen Biografie von Maria Callas die Geschichte eines jungen Opernsängers, dem der Zweite Weltkrieg die Karriere ruiniert.

Begegnung im Hotel Sacher: Leonard Bernstein (Helen Schneider) und Herbert von Karajan (Lucca Züchner); in der Mitte der Kellner als einziger Zeuge des Abends (Victor Petersen). Die Bühne schuf Chris Barreca, die Kostüme René Neumann. (Foto: Maria Barnova)

Mit „Last Call“, so der Titel des neuen, im März in New York uraufgeführten Stücks, wagt die junge Kölner Produktionsfirma apiro Entertainment den Sprung an den Broadway und hat mit Gil Mehmert einen erfahrenen Regisseur mitgenommen. Er hat u. a. „Cabaret“ an der Volksoper Wien und Michael Kunzes & Sylvester Levays „Elisabeth“ in Wien inszeniert. Seit er 2011 „Ganz oder gar nicht“ von David Yazbek und 2016 Webbers „Sunset Boulevard“ am Theater Dortmund auf die Bühne gebracht hat, ist er immer wieder als Regisseur auch in der Region hervorgetreten, so zuletzt mit Sondheims „Sweeney Todd“ in Dortmund und John Kanders „Chicago“ an der Oper Bonn.

„Last Call“ kreist 90 Minuten lang um Tiefsinn und Tratsch: Danish verwebt mit der leichten Hand des geübten „well made play“-Autors spritzige Pointen mit komplexen Themen. Es geht um die Art der Lebensführung – der ernsthafte Karajan versus den lockeren Lebemann Bernstein –, um die jüdischen Proteste gegen den Auftritt des im Dritten Reich regimenahen Österreichers mit mazedonischen Wurzeln 1955 in der Carnegie Hall, um Karajans Vergangenheit im Nazi-Reich und um Bernsteins unkonventionellen Zugang zur Musik, um Homosexualität und Lebensgenuss, um originäre und nachschöpferische Kreativität, aber auch um Selbstzweifel und Lebensbilanzen.

Und so spitzen die beiden Kontrahenten ihre Wortspiele zu und rüsten sich zum Duell der Taktstöcke. Das Publikum in einem der fünf „New World Stages“-Theater, einem Off-Broadway-Kulturkomplex, geht lebhaft mit: Viele Zuschauer sind zu jung, um die beiden Musik-Giganten noch persönlich erlebt zu haben. Wann und warum gelacht wird, lässt durchaus einen Generationen-Unterschied erkennen, aber das Florett der Worte touchiert auch die Jüngeren treffsicher. Man ist offenbar gut informiert. Und lässt sich auch von einer Debatte über den passenden Zugang zu Bruckner und Mahler mitreißen.

Helen Schneider als Bernstein. (Foto: Maria Barnova)

Weil es Gil Mehmert, wie er in einem Interview sagt, mehr auf die Seelen, Herzen und Gedanken als auf die äußere Erscheinung der beiden Protagonisten ankommt, hat er sie mit zwei Frauen besetzt: Helen Schneider, die brillante Musical-Darstellerin und Weill-Interpretin, gibt der Figur Bernstein die weltläufige Nonchalance, den souveränen Humor, eine heitere Gelassenheit, aber auch eine spitze Angriffslust und den beweglichen Intellekt. Ihre Mimik, wenn sie über Karajans Sottisen die Augen rollt oder seine künstlerischen Belehrungsergüsse mit einer beiläufigen Geste beiseite wischt, zieht Lacher und Sympathie auf ihre Seite.

Lucca Züchner als Karajan. (Foto: Maria Barnova)

Die Münchner Schauspielerin und Musicalsängerin Lucca Züchner schafft es als Karajan, dem Charmebolzen stand zu halten. Wie sie den alten, vom Schmerz gezeichneten Dirigenten mit den typisch nach hinten frisierten grauen Haaren durch die Szene wanken lässt, hat große Klasse. Bei ihr blitzt Karajans Energie auf, die sich aus dem Willen zu unbedingter Professionalität, künstlerischer Qualität, musikalischer Vollkommenheit speist. Sie verkörpert in manchmal schnarrender Härte, was der „echte“ Karajan in einem Spiegel-Interview 1979 gesagt hat: „Ich gehe auf keine Party. Was ich liebe, ist das Gespräch mit einem oder zwei Menschen, bei dem ernsthaft diskutiert wird. Mich interessieren eigentlich nur Leute, von denen ich was lernen kann. … Party-Geschwätz passt nicht in mein Dasein. Ich habe Besseres zu tun.“

Was für ein Gegensatz zu Bernstein, dem der Gesellschafts-Glamour und die „unterhaltende“ Musik wichtig war – was ihm Lucca Züchner mit vorschnellendem Zeigefinger auch vorwirft. Deutscher Ernst gegen amerikanische Lässigkeit: Solche Szenen belichten die Gegensätze in aggressiver Pointe, um sie Sekunden später witzig und leichtfüßig zu entschärfen, aber nicht zu verharmlosen. Schauspieler-Theater vom Feinsten, zu dem auch Victor Petersen als Kellner seinen Beitrag leistet.

Wenn Peter Danishs Dirigenten-Gefecht etwas vermissen lässt, dann ist es ein Spannungsbogen, der auf einen finalen Coup zuläuft. Sicher beeindruckt, wenn die alten Herren auf der Toilette alleine reflektieren und dabei die Zweifel und Wahrheiten ihrer Existenz streifen. Das Ende allerdings strebt nach Friede, Freude, Sachertorte; der „last call“ gibt sich versöhnlich im Zeichen der Musik. Ein Stück, das man in einer flotten deutschen Übersetzung gerne auf intimer Bühne oder bei Musikfestspielen wiedersehen würde – unterhaltsam reflektierend, wo Grenzen und Größe epochaler Musiker wie Bernstein und Karajan liegen.

Info: https://lastcalltheplay.com/




Im Bann der miesen Machenschaften – Andreas Maiers Roman „Der Teufel“

Eine Kindheit in den frühen 1970er Jahren, vermeintlich recht speziell und doch wohl typisch. Da wird der kleine Junge dauernd vor dem Fernsehgerät „geparkt“ und guckt schier alles weg – von der Sesamstraße bis zum „Blauen Bock“. Bald darauf bemisst sich die soziale Stellung unter Schulfreunden danach, ob jemand eine Carrera-Bahn hat oder nicht. Kommt einem irgendwie bekannt vor, wenn man ein paar Jährchen auf dem Buckel hat, nicht wahr?

Immer wieder lesenswert sind all die Episoden, die Andreas Maier so unprätentiös aus seiner Kindheit und Jugend hervorholt. Was muss der Mann für einen Schatz an Notizen und Tagebüchern haben! Oder ein untrügliches Gedächtnis, gepaart mir ausschmückender Phantasie… Jedenfalls hat er Friedberg, die Wetterau, Bad Nauheim und angrenzende Gebiete nachhaltig der literarischen Landkarte einbeschrieben. Er entwirft keine großen Geschichten und erfasst doch – von unscheinbaren Rändern her – abermals einige Essenzen der 70er und 80er Jahre. Auch dieser Band ist wieder Teil seines fortwährenden Projekts der Vergegenwärtigung.

In Maiers neuem Buch „Der Teufel“ geht es wiederholt um heftig gewollte, bewusst lancierte Zuschreibungen guter und vor allem böser Eigenschaften, nicht zuletzt in den Fernsehnachrichten. Alle paar Jahre wurden dort neue „Teufel“ ausgerufen und hernach vorzugsweise flugs mit Hitler verglichen, die man bis dahin nicht einmal namentlich gekannt hatte. Beispielsweise in Panama, in Rumänien, im Irak, in Serbien (Noriega, Ceausescu, Saddam, Milosevic). Wie da auf einmal der vormals so nette und gastfreundliche Dragoslaw vom örtlichen Jugo-Grill misstrauisch beäugt wurde! Und so weiter, immer fort. Mehrfach taucht zwischendurch und gegen Ende hin der gemalte „Friedberger Teufel“ auf, wie er offenbar in der örtlichen Stadtkirche vorgefunden werden konnte, die – allen linken Umtrieben zum Trotz – eine seltsame Anziehungskraft auf den Heranwachsenden ausübt. Oder sollte dieser Teufel schließlich unversehens verschwunden sein, wie so vieles aus der Vergangenheit?

Jene Zeiten waren ein vielfaches Entweder-Oder: entweder katholisch oder evangelisch, entweder CDU oder SPD, entweder Fleischmann oder Märklin, entweder links oder spießig und (schon etwas feiner justiert): entweder Led Zeppelin oder Roxy Music. Es waren jene Jahre, als man in links sich wähnenden Kreisen Svende Merians sensibilistisch frauenbewegtes Buch „Der Tod des Märchenprinzen“ las. Um es mit einem Titel von Peter Rühmkorf zu sagen: „Die Jahre, die ihr kennt“. Im Gefolge Merians hat sich der jugendliche Erzähler fest vorgenommen, beim Debüt mit der neuen Freundin bloß nicht machomäßig zu ejakulieren. Und so sehr betont er im Nachhinein, man sei damals keinesfalls „uniformiert“ herumgelaufen, dass das Dementi geradezu eine Bekräftigung ist.

Prägnant auch jene eingestreuten Skizzen, etwa vom grotesken Tanzlehrer, vom allfälligen kollektiven Abhängen in Jugendjahren, vom geistig geschwächten Onkel, der sich in ängstlicher Beflissenheit an den schütteren Meinungsfragmenten seines Bruders (Vater des Erzählers) zu orientieren sucht, wenn sie gemeinsam Tagesschau gucken. Auch die gleichförmigen Tage der Oma, die zusehends auf den Tod zulebt, verdichten sich ebenso qualvoll wie anrührend von Zeile zu Zeile. Sodann 1989 und die Folgen: die lästigen „Ossis“, die nun auch in Hessen penetrant auftauchten und z. B. in HiFi-Geschäften begehrlich Bauklötze staunten.

Andreas Maier lotet das Verhältnis des privaten Nahbereichs zu den großen Polit-Machenschaften der Zeit aus. Die Letzteren erweisen sich als üble Kulissenschieberei, während es doch für die Einzelwesen aufs Privatleben ankommen sollte. Verfeindet sind freilich auch Zweige der Familie, die einander wiederum teuflische Eigenschaften zuschreiben. Allenthalben werden Teufel an die Wand gemalt. Fast möchte man meinen, es sei hohe Zeit für eine Teufelsaustreibung. Aber wie? Doch nicht etwa wie gehabt?

Andreas Maier: „Der Teufel“. Roman. Suhrkamp Verlag, 248 Seiten, 25 Euro.

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P. S.: Hier noch ein krittelnder Hinweis auf Seite 62, zur Nachbearbeitung empfohlen: „…und schindeten dadurch Eindruck bei den Frauen…“ ist einfach kein herkömmlich korrektes Deutsch. Oder lässt der Duden auch das schon wieder gelten?

 

 




Haschisch, DDR, CSU und Afghanistan – Polit-Satire von Jakob Hein

Der damalige CSU-Chef Franz-Josef Strauß besuchte gern Diktatoren, um die Weltpolitik aufzumischen. 1983 verhandelte er mit DDR-Devisenhändler Schalck-Golodkowski auf einem Landgut im Chiemgau, reiste danach zu Honecker an den Werbellinsee und brachte als Geschenk einen Milliardenkredit mit. Als Gegenleistung versprach Honecker, die Selbstschuss-Anlagen abzubauen.

Es war ein Husarenstück mit Fragezeichen: Gerüchten zufolge bekam Strauß eine satte Provision für den Deal. Außerdem hatte die DDR längst ohnehin damit begonnen, die Selbstschuss-Anlagen abzubauen, weil sie unkontrolliert in der Gegend herumballerten und die eigenen Grenzsoldaten verletzten. Bis heute ist es ein Rätsel, was Strauß und Kanzler Kohl wirklich bewogen hat, der DDR den Kredit und damit noch eine Gnadenfrist bis zum endgültigen Zusammenbruch zu gewähren.

Der Schriftsteller Jakob Hein spürt mit einer Polit-Satire dem deutsch-deutschen Geheimnis hinterher. „Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste“ schaut mit literarischer Raffinesse hinter die bröckelnde Fassade der DDR und entlarvt das ideologische Brimborium als dreistes Lügengespinst. Seinem Helden Grischa geht es nicht um historische Wahrheit, sondern um die Macht der Fantasie. Grischa arbeitet in der „Staatlichen Planungskommission“ und ist für die Zusammenarbeit und den Handel mit den „kleinen Bruderländern“ zuständig, zu denen auch das damals von der Sowjetunion besetzte Afghanistan gehört. Das Problem: Afghanistan hat eigentlich nichts, womit es handeln könnte.

Als subversiver Freigeist brütet Grischa dann aber doch eine Idee aus, die seine vorgesetzten Genossen erst verschreckt, dann zum Nachdenken und schließlich zum Handeln bringt. Da Afghanistan auf den Anbau von Drogen spezialisiert ist: Wäre es nicht ungemein profitabel, daran teilzuhaben und Cannabis legal zu verkaufen? Man könnte es als „Medizinalhanf“ deklarieren und im Niemandsland der Grenzstellen an Westbürger gegen harte D-Mark verkaufen.

Der Probelauf wird zum Verkaufsschlager: Westbürger passieren die Grenze, zahlen den Mindestumtausch, kaufen im „Deutsch-Afghanischen Freundschaftsladen“ ein Tütchen „Schwarzen Afghanen“ bester Qualität und reisen sofort wieder nach Westberlin zurück. Die Westberliner Polizei kommt ins Rotieren, die Bonner Politiker ins Grübeln: Wie kann man dem kriminellen Treiben Einhalt gebieten, das ja, weil man die DDR nicht anerkennt, ihrem Selbstverständnis nach auf dem Boden der BRD stattfindet?

Stasi-Chef Erich Mielke, Geheimdienst-Chef Markus Wolf, CDU-Politiker Rainer Barzel, von der CSU Friedrich Zimmermann: sie besprechen die Lage. Das Treffen artet zu einer bizarren Slapstick-Nummer von bekifften und sinnlos kichernden Polit-Fratzen, die sich auf die zufällig in den Haschischraum geworfene Zahl von einer Milliarde DM einigt, die es sich der Westen kosten lässt, wenn die DDR nicht zum Dealer wird und Deutschland mit Drogen überschwemmt. Honecker und Strauß müssen es nur noch abnicken.

Literarisch ist das alles nicht besonders filigran, aber es ist unterhaltsam und schafft es, die dunklen Abgründe der DDR mit nostalgischem Augenzwinkern ein bisschen aufzuhellen und schön zu reden. Kann man mögen. Muss man aber nicht.

Jakob Hein: „Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste.“ Roman. Galiani Berlin, 254 S., 23 Euro.




Wunderbare Welt der Waldameisen – Fotografien im Dortmunder Naturmuseum

In Hessen aufgenommene Fotografie einer roten Waldameise (Arbeiterin), die wissenschaftlich Formica polyctena heißt und in Lebensgröße etwa 7 Millimeter misst. (Foto: © Ingo Arndt)

Es sind phänomenale Bilder, die der international renommierte Tierfotograf Ingo Arndt von seinen Expeditionen in die Welt der Waldameisen mitgebracht hat. Da sieht man etwa eine größere Gruppe dieser Tiere, die Ameisensäure versprüht, als sei’s ein prächtiges Silvesterfeuerwerk. Oder man beobachtet – weit, weit überlebensgroß – wie eine Ameisenkönigin Eier legt. Einen solchen Moment muss man erst einmal erhaschen und sodann adäquat ins Bild setzen.

Derlei fotografische Kunststücke sind jetzt im Dortmunder Naturmuseum zu sehen. „Waldameisen – Superheldinnen auf sechs Beinen“ heißt die neue, in sieben Kapitel unterteilte Sonderausstellung.  Rund 41 großformatige Fotografien geben erstaunliche Einblicke in die wunderbare Welt der Ameisen. Manche Bilder sind sorgsam aus Hunderten von Einzelstücken zusammengesetzt: Nur auf diese Weise sind Größe und Schärfe vereinbar. Andernfalls wären sie so „verpixelt“, dass nichts mehr zu erkennen wäre.

Matriarchat mit alsbald „nutzlosen“ Männchen

Noch wunderbarer als die fotografischen Künste stellen sich Leben und Alltag der Ameisen dar. Auf Ingo Arndts Fotos erscheinen die Ameisen z. B. als Architektinnen, Jägerinnen, Gärtnerinnen und Viehhalterinnen. Museums-Mitarbeiter Dr. Oliver Adrian erläutert, dass die Gesellschaft der Waldameisen ein striktes Matriarchat sei, daher auch die feminine Titel-Bezeichnung „Superheldinnen“. Die Königin und Millionen dienstbarer Arbeiterinnen (gleichsam aufgeteilt in „Innen- und Außendienst“ für Materialbeschaffung, Brutpflege etc.) haben eindeutig Vorrang und leben ungleich länger als die nach Begattung und Befruchtung quasi „nutzlosen“ Männchen, die nur wenige Wochen überstehen, während die weiblichen Exemplare der Gattung 6 bis 20 Jahre alt werden können.

Heizen der Hügelbauten mit Körperwärme

Bevor Ingo Arndt seine Ameisen-Fotografien überhaupt anfertigen konnte, musste er sich erst einmal solides Wissen über diese Tiere aneignen. Dazu arbeitet er – auch bei sonstigen Projekten – eng mit Fachwissenschaftlern zusammen. Was sich dabei im Falle der Ameisen zeigt, ist wahrlich spektakulär: Wenn Waldameisen in ihren ausgeklügelten, bis zu 2 Meter hohen Hügelbauten aus der Winterstarre erwachen, drängen sie millionenfach zum Sonnenlicht. Die dabei entstehende Körperwärme nutzen sie, um anschließend das Innere des Baus zu „heizen“ – hinein und hinaus, immer und immer wieder, bis die Innentemperatur der Behausung stimmt. Sie kommunizieren übrigens vorwiegend über Duftdrüsen und durch Berührung mit ihren Fühlern.

Nein, die Waldameise reitet nicht auf dem glänzend blauen Laufkäfer, sondern sie zerlegt das tote Geschöpf  zwecks Nestbau. (Foto: © Ingo Arndt)

„Umzüge“ im Gefolge des Klimawandels

Nicht genug mit der Heizperiode im Frühjahr: In die Hügel haben die Ameisen zuvor ein System von Lüftungsschächten eingebaut, die für ausgeglichene Klimatisierung sorgen sollen – wie die Ameisen denn generell ein sehr empfindliches Gespür für klimatische Feinheiten und Temperaturschwankungen haben. Im Falle zu starker Veränderungen wechseln sie zunächst die „Etagen“ im Hügel oder ziehen mit Sack und Pack gänzlich um. So sind im Gefolge des Klimawandels schon massenhafte Ameisen-Wanderungen beobachtet worden. Zu kleinteilig darf man sich das nicht vorstellen: In Argentinien soll gar eine über rund 6000 Kilometer sich erstreckende, vielfach vernetzte Superkolonie von Ameisen existieren.

Vorbildlicher Straßenbau und Verkehrsführung

Der Mensch kann von den perfekt organisierten Ameisen-„Staaten“ offenbar eine Menge lernen. So gibt es inzwischen Verkehrsprojekte, die in manchen Punkten den vorbildlich effektiven „Straßenbau“ der Ameisen nachzuahmen suchen. Geradezu irrwitzig mutet es allein schon an, dass und wie das immens dichte Gewimmel der Ameisen dennoch „unfallfrei funktioniert“. Sollten sich da etwa auch wertvolle Hinweise auf Stau- und Karambolagen-Vermeidung in unseren Städten finden?

Ein Naturmittel gegen Bakterien

Bei einem kundig angeleiteten Rundgang (den die Bildtexte in der Schau nur ansatzweise ersetzen können) kommt man aus dem Staunen kaum heraus. So nutzen Waldameisen Baumharz als antibakterielle Barriere, sprich: Sie postieren die Substanz so, dass alle Artgenossen auf ihren Wegen in den Ameisenbau hinüber müssen und somit besser gegen Bakterien gefeit sind. Zu vermuten steht, dass sich auch die Pharma-Industrie einen solchen Effekt zunutze gemacht hat. Auch haben die ungemein feingliedrigen Greifwerkzeuge der Ameisen bionische Entwicklungen angeregt, die zunehmend in der (Roboter)-Chirurgie Verwendung finden dürften.

Freundliche Symbiose mit Blattläusen

Die Arbeiterinnen tun alles Erdenkliche, um ihre Königin vor Unbill zu schützen. Gelegentlich kommt es vor, dass ganze Ameisenvölker einander bekriegen, dass es veritable Invasionen in „feindliche“ Ameisenhügel gibt. Hauptfeinde sind jedoch einige Vogelarten, bestimmte Käfer, Spinnen und manchmal Wildschweine. Nicht ganz ohne Eigennutz „befreundet“ sind die Ameisen hingegen mit den Blattläusen, an deren Sekret (Honigtau) sie sich laben. Daher verteidigen die Ameisen sie auch gegen Marienkäfer. Mehr noch: Sind die Pflanzen, auf denen sich Blattläuse tummeln, nicht mehr so ergiebig, tragen die Ameisen sie bereitwillig zu vitaleren Gewächsen.

Die Biologie und das Soziale

Nicht zuletzt Beobachtungen des Ameisendaseins haben die Soziobiologie hervorgebracht, welche das soziale Leben dieser und anderer Wesen erforscht. Auch in Deutschland gibt es einige Lehrstühle der sicherlich spannenden Fachrichtung. Apropos Forschung: Es gibt Experten, die Ameisenhügel Schicht für Schicht fachgerecht abtragen, sie zeitweilig ins Labor bringen und die (schon seit rund 200 Jahren unter Naturschutz stehenden) Tiere mitsamt Hügel nach vollbrachten Experimenten wieder genau so in den Wald setzen, wie sie sie abgeholt haben. Bei Robert Lembkes heiterem Beruferaten („Was bin ich?“) wäre damals wohl niemand auf diesen Spezialisten-Job gekommen.

Der vielfach preisgekrönte Fotograf Ingo Arndt, ständig weltweit (u. a. für Zeitschriften wie Geo oder National Geographic und zahlreiche Buchprojekte) unterwegs, ist derzeit in Chile tätig und konnte daher nicht zur Eröffnung seiner Ausstellung nach Dortmund kommen. Am 2. Juli (19 Uhr) aber wird er das Museum besuchen, einen Vortrag und eine Führung absolvieren. Naturinteressierte sollten sich das nicht entgehen lassen.

„Waldameisen – Superheldinnen auf sechs Beinen“. Naturmuseum Dortmund (Münsterstraße 271). Bis 28. September 2025, Eintritt Sonderausstellung 4 Euro (ermäßigt 2 Euro), ständige Sammlung kostenlos. Öffnungszeiten Di bis So 10-18 Uhr, Mo geschlossen.
dortmund.de/naturmuseum
Mail: naturmuseum@stadtdo.de / Tel.: 0231/50-24 856.

P. S.: Zur Ausstellung gehört auch ein Kinderbereich, in dem Ameisen aus Pfeifenputzern und Bleistiften gebastelt oder gemalt werden können.




„Interventionen aus dem Ruhrgebiet“: Gerd Herholz stellt sein Buch „Gespenster GmbH“ in Dortmund vor

Autor Gerd Herholz auf dem Podium einer anderen Veranstaltung. Das Namensschild auf dem Tisch vor ihm enthält leider einen Lapsus. (Foto: © Friedhelm Krischer)

Sonst haben wir’s ja nicht so mit bloßen Termin-Ankündigungen. Diesen kündigen wir aber gern an: Gerd Herholz, bis 2018 langjähriger Literaturvermittler beim Literaturbüro Ruhr (Gladbeck), zudem freier Autor und Journalist, kommt am nächsten Dienstag, 8. April (19.30 Uhr), nach Dortmund, um aus seinem Buch „Gespenster GmbH“ zu lesen, und zwar im Dortmunder Literaturhaus am Neuen Graben 78.

Gerd Herholz zählt dankenswerterweise auch zu den Autoren dieses Revierpassagen-Blogs. Noch besser und passender: Der Band „Gespenster GmbH“ (Untertitel: „Interventionen aus dem Ruhrgebiet“) enthält auch einige Texte, die Herholz ursprünglich just für die Revierpassagen verfasst und fürs Buch überarbeitet hat. Der Einfachheit halber verlinken wir hier noch einmal die Rezension, die an dieser Stelle erschienen ist. Wir haben das Buch empfohlen, also empfehlen wir auch die Lesung. So einfach ist das. Nicht nur pro domo, sondern aus Überzeugung.

Ergänzend sei aus einer Pressemeldung der Stadt Dortmund zitiert: „Neben polemischen Betrachtungen versammelt der Band Begegnungen, engagierte Plädoyers und kritisch würdigende Porträts einzelner Autorinnen und Autoren für eine Literatur, die beharrlich gegen ,Gespenster‘ anschreibt. In seinen Beiträgen und Essays spießt Herholz spöttisch die Blähvokabeln eines Kulturbetriebs auf.“ Nun ja, so gänzlich frei vom üblichen Kulturjargon ist diese städtische Anpreisung auch nicht. Aber sei’s drum, wenn’s doch für die lesens- und hörenswerte Sache ist.

Zur Lesung im Literaturhaus lädt jedenfalls das Dortmunder Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt ein. Arnold Maxwill vom Hüser-Institut, auch Herausgeber des Buches, wird den Abend moderieren. Sportliche Ausflüchte gelten übrigens nicht: Das Spiel Barcelona vs. BVB findet erst am folgenden Abend (9. April) statt…

Gerd Herholz: „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“. Aisthesis Verlag, Bielefeld (Reihe Nyland Dokumente), 240 Seiten, 25 Euro. 

 

 




Ein Fest für alle soll es werden: Ruhrtriennale zielt 2025 auf Besucherrekorde

Was verbindet uns? Wie wollen wir morgen leben? Das fragt die Ruhrtriennale 2025. Hier ein Szenenfoto aus der Oper „We are the lucky ones“ des britisch-deutschen Komponisten Philip Venables. (Foto: Koen Broos)

Vorweg kommen die Loblieder, das ist wenig überraschend. Bei der öffentlichen Vorstellung des neuen Programms der Ruhrtriennale preist NRW-Kulturministerin Ina Brandes die im Vorjahr erreichten Resultate. Von 70.000 Besuchern und von einem „gigantischen Erfolg“ für das erste Jahr der Intendanz von Ivo Van Hove spricht sie. Wie praktisch, dass der Glanz zugleich auf den Initiator und größten Geldgeber ausstrahlen dürfte, mithin auf das Land NRW.

Die „Sehnsucht nach Morgen“ (Longing for Tomorrow) ist weiterhin Motto des Festivals. Es soll diesmal um die Frage gehen, wie wir morgen leben wollen und wie wir Verbindungen zueinander herstellen können. Vom 21. August bis 21. September präsentiert die Ruhrtriennale 35 Produktionen und Projekte in vier Städten (Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck). Erneut will sie zeigen, wie sich Kreativität an den Schnittstellen der Künste entzündet. Diesmal turnt sie munter zwischen Theater, Tanz, Performance, Oper, Konzert, Zirkus und Multimediaspektakel. Fünf Uraufführungen, eine europäische Erstaufführung und neun Deutsche Erstaufführungen finden sich im Spielplan, 45.000 Tickets gingen direkt nach der Pressekonferenz (2. April 2025) in den Verkauf.

Ein Fest soll die Ruhrtriennale nach dem Willen des Intendanten werden, und zwar für möglichst viele Menschen. An der Eröffnungsproduktion lässt sich gut ablesen, wie Ivo Van Hove den Erfolg fortschreiben will. Das Strickmuster gleicht demjenigen aus dem Vorjahr auffallend: Ließ der Triennale-Chef damals Sandra Hüller Songs von PJ Harvey singen, konnte er diesmal den phänomenalen Schauspieler Lars Eidinger sowie die Grimme-Preisträgerin Larissa Sirah Herden gewinnen.

Larissa Sirah Herden und Lars Eidinger sind die Stars der von Ivo Van Hove inszenierten Eröffnungsproduktion „I did it my way“. (Fotos: Max Sonnenschein/Ingo Pertramer)

Mit ihnen inszeniert er den Abend „I did it my way“ zur Musik von Frank Sinatra und Nina Simone. Ein kleines Tanzensemble und eine Band sind auch wieder dabei. Ob dieser Abend tatsächlich eine Geschichte von (weißen) Beharrungskräften und (schwarzer) Befreiung erzählt, statt einfach eine Abfolge von Songs zu bebildern, bleibt abzuwarten. Angekündigt ist diese Koproduktion mit der Staatsoper Stuttgart als „interdisziplinäres Musiktheater“.

In die Kategorie Musiktheater fällt auch die Deutsche Erstaufführung einer Oper des britisch-deutschen Komponisten Philip Venables. „We are the lucky ones“, eine Koproduktion mit der Dutch National Opera, zeichnet ein klingendes Porträt der Generation der Babyboomer. Basierend auf Interviews, entwickelten die Dramatikerin Nina Segal und der Regisseur Ted Huffman ein Mosaik, zu dem Venables – laut Programmheft – „überwältigende Orchesterklänge und intime Arien“ komponierte. Die Bochumer Symphoniker spielen unter der Leitung des polnisch-libanesischen Dirigenten Bassem Akiki.

Weißes Pferd und Taubenschwarm: In „Falaise“ (deutsch: Klippe) erzählt die französisch-katalanische Truppe Baro d’evel poetisch von Untergang und Wiedergeburt der Menschheit. (Foto: François Passerini)

Von den großen Schauspiel-Produktionen sind zwei multimedial: Mit „Oracle“, einem Stück von Anka Herbut über das tragische Leben des Computer-Pioniers Alan Turing, kehrt Lukasz Twarkowski zur Ruhrtriennale zurück. Es geht darin um die dunkle Seite der Technik und eine von der KI geprägte Zukunft. Ganz ohne Worte kommt die Bühnenproduktion „Guernica Guernica“ aus, für die das Theaterkollektiv FC Bergman 2023 auf der Biennale von Venedig den Silbernen Löwen erhielt. Inspiriert von Picassos gleichnamigen Gemälde, reflektiert es die Unmöglichkeit, Krieg darzustellen, indem es die Bühne mit zwei Tribünen umrahmt und neben 80 Statistinnen und Statisten auch das Publikum einbezieht. Ein Hauch von Zirkusluft dürfte mit der Deutschen Erstaufführung von „Falaise“ (zu deutsch: Klippe) einziehen. Acht Darstellende, ein weißes Pferd und ein Taubenschwarm werden Bestandteil eines lebendigen Freskos in Schwarz-Weiß. „Falaise“ erzählt poetisch und akrobatisch von Untergang und Wiedergeburt der Menschheit, soll aber auch für Familien mit Kindern ab 10 Jahren geeignet sein.

Für den Tanz hat die Triennale die Zusammenarbeit mit Stefan Hilterhaus gesucht. Der Künstlerische Leiter von PACT Zollverein spricht über die Uraufführung von „Delay the Sadness“, mit dem die S-E-D Dance Company und die vielfach ausgezeichnete Choreographin Sharon Eyal gastieren. Von der Kraft indigenen Wissens und südamerikanischen Mythen erzählt „Último Helecho“, das Nina Laisné gemeinsam mit François Chaignaud und Nadia Larcher in Deutscher Erstaufführung präsentiert.

Um südamerikanische Mythen und die Kraft indigenen Wissens geht es im Tanzabend „Último Helecho“ auf PACT Zollverein. (Foto. Nina Laisné)

Als Choreographie-Rebellin gilt Roby Orlin aus Südafrika: Ihre Show „… how in salts desert is it possible to blossom…“ wird als farbensprühende Performance über die Auswirkungen der Kolonialisierung angekündigt. Und dann ist da noch der als „Upside Down Man“ bekannte belgisch-tunesische Choreograph und Tänzer Mohamed Toukabri, der sich in einem Solo auf die Suche nach seinen eigenen tänzerischen Wurzeln begibt und so zum Archäologen seines eigenen Körpers wird.

Die Konzerte haben mit klassischer Musik fast nichts zu tun. Immerhin wird der 150. Geburtstag von Maurice Ravel mit einer „Rave-L Party“ gewürdigt. Das französische Kollektiv „Les Apaches!“ sorgt dafür, dass sein berühmter „Bolero“ in die Gefilde des Jazz und schließlich des Techno hinübergleitet und die Zeche Zweckel in Gladbeck zum Dancefloor wird. Chorwerk Ruhr feiert sein 25-jähriges Bestehen gemeinsam mit dem New Yorker Instrumentalensemble „Bang on Can All-Stars“. Gemeinsam bringen sie „before and after nature“ von David Lang zur Deutschen Erstaufführung.

Pablo Picasso mit der Make des Minotaurus. Das Theaterkollektiv FC Bergman ließ sich von seinem berühmten Anti-Kriegsgemälde zu dem Abend „Guernica Guernica“ inspirieren. (Foto: Gjon Mili_The LIFE Picture Collection)

Der Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood hat mit „124 Years of Reverb” ein achtstündiges Werk für Orgel komponiert, das Eliza McCarthy und James McVinnie im Essener Bergmannsdom aufführen werden. Das Publikum darf diese Musikmeditation entweder ganz oder in zweistündigen Zeitabschnitten genießen. Eine Pionierin der elektronischen Musik war die Grammy-Gewinnerin Wendy Carlos, die in der Reihe „Erased Music“ gewürdigt wird. Kunstlieder über Themen, die die Realität vieler Schwarzer Menschen in den USA widerspiegeln, schreibt Tyshawn Sorey, der in der Neuen Musik ebenso zu Hause ist wie im Jazz. Er und sein Trio werden in der Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle auftreten.

Post-Punk und Rock aus Anatolien vermischt die feministische Sängerin und Gitarristin Gaye Su Akyol, die als eine der aufregendsten Stimmen des Bosporus angekündigt wird. Aus Island kommt die Oscar-prämierte Komponistin und Cellistin Hildur Gudnadóttir, die Dubstep und indonesischen Ethno-Punkt in einer Lichtshow mit dem Namen „OSMIUM“ zusammenbringt. Ein wenig Händel darf es schließlich auch noch sein, vielleicht auch deshalb, weil der venezolanische Sopranist Samuel Mariño sich nicht nur stimmlich einer Frau anverwandelt. Begleitet wird der Künstler vom Originalklangensemble Capella Cracoviensis unter der Leitung von Jan Tomasz Adamus.

Natürlich gibt es noch weit mehr zu entdecken: den internationalen Festivalcampus, das „Wunderland-Wochenende“, die Literaturreihe „Brave new Voices“, die öffentlichen Künstlergespräche mit dem Intendanten (immer dienstags), die Verleihung des Mortier Awards 2025 (am 21. September in der Jahrhunderthalle), das umfangreiche Programm der „Jungen Triennale“, das jungen Menschen vom 3. Lebensjahr bis zum Studienalter viele attraktive Angebote macht. Wer weiter stöbern möchte, schaue einfach nach unter www.ruhrtriennale.de




Wachsendes Interesse an Musik von Frauen: Warum der Weg ins Repertoire verwehrt blieb und was sich heute ändern muss

Zur „Wiederentdeckung des Jahres“ kürte das Fachmagazin „Opernwelt“ Louise Bertins Oper „Fausto“, die am Aalto Musiktheater im vergangenen Jahr ihre deutsche Erstaufführung feiern konnte. Jetzt war das Stück erneut in Essen zu erleben, mit Mirko Roschkowski (Fausto, rechts) und Almas Svilpa (Mefistofele). (Foto: Froster)

Komponierende Frauen gibt es, seit es die europäische Kunstmusik gibt, nur ist ihnen die Beachtung über den Tag hinaus versagt geblieben. Erst in jüngster Zeit gelingt es Komponistinnen, dauerhaft im Blick der musikalischen Öffentlichkeit zu bleiben. Die vor wenigen Tagen verstorbene Sofia Gubaidulina ist eine von ihnen, oder die Finnin Kaija Saariaho, die 2023 gestorben ist und deren letzte Oper „Innocence“ am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen eine großartige deutsche Erstaufführung erlebt hat.

Für das Defizit gibt es vielerlei Gründe, die nicht in der Qualität der Musik liegen: Im 19. Jahrhundert etwa waren Frauen wie die Italienerin Orsola Aspri (um 1807-1884) selbstverständlicher Bestandteil des römischen Operngeschäfts, wie die Wiener Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld festgestellt hat. Warum Werken von Frauen den Weg ins historische Repertoire verwehrt wurde, hat gesellschaftliche und ideologische Gründe: eine männlich geprägte Presse, männliche Träger der Überlieferung und der Wissenschaft, schließlich auch der „Geniekult“ des 19. Jahrhunderts, für den ein auf Augenhöhe komponierendes „schwaches Weib“ undenkbar war.

In den letzten Jahren wächst das Interesse an dem, was Frauen hinterlassen haben. Bevor die Qualität ihrer Musik einem nach heutigen Kriterien fundierten Urteil unterworfen werden kann, muss sie erst einmal entdeckt und gehört werden. Denn noch so sorgfältige Editionen, noch so detaillierte musikhistorische Vergleiche nützen nicht viel, wenn sie nur zum Rascheln von Papier führen.

Merle Fahrholz bei der Pressekonferenz zu ihrer Vorstellung als neue Essener Intendantin 2021. (Foto: Werner Häußner)

Merle Fahrholz, die 2022 angetretene und 2027 schon wieder scheidende Intendantin des Aalto-Theaters Essen hat sich dieses Themas schon als Dramaturgin in Dortmund angenommen und für ihre Intendanz die Sicht- bzw. Hörbarkeit der Stimmen von Frauen zu einem programmatischen Schwerpunkt erklärt. Dass ein solches Projekt beim eher vorsichtig-traditionell geprägten Essener Publikum nicht gleich auf heftige Gegenliebe stößt, müsste auch den Verantwortlichen klar gewesen sein, die Fahrholz ihr Vertrauen geschenkt haben. Dass es nun ab 2027 wohl wieder weitergehen könnte, wie gehabt, ist bedauerlich.

Ein französischer „Faust“

Dabei ist nicht recht einzusehen, warum eine Oper wie Louise Bertins „Fausto“ – 2023 in deutscher Erstaufführung auf die Aalto-Bühne gebracht – auch bei einem eher das Gewohnte liebende Publikum nicht auf Gegenliebe stoßen sollte. Die Französin Bertin, eine körperlich beeinträchtigte junge Frau, die von ihrem Vater in jeder erdenklichen Weise gefördert wurde, konnte immerhin drei ihrer vier Opern auf Pariser Bühnen unterbringen – und der Konkurrenzdruck war um 1830 riesig!

Die Essener Aufführung in der Inszenierung von Tatjana Gürbaca, die im Februar noch einmal für eine kleine Serie wieder aufgenommen wurde, zeigt Bertins Eigenheiten im Umgang mit dem Stoff: Sie benutzt andere Quellen als Goethe und schildert einen Faust, der einem unerreichbaren Glück hinterherjagt und dafür bereit ist, die Existenz der jungen Margarita zu zerstören. Die Menschen in diesem Stück sind wankelmütig, manchmal zynisch, aber auch den Zwängen ihrer Gesellschaft unterworfen. Für die Mädchen etwa ist die Liebe Segen und Fluch zugleich: Sie sehnen sich nach Beziehung, wissen aber auch, wie ambivalent die Ehe als einzige akzeptierte gesellschaftliche Form sein kann. Und Mephisto ist bei Bertin eher ein Kommentator, der sich wundert, wie die Menschen sich ihr Glück und Leben selbst zugrunde richten.

Komponistin Louise Bertin. (Foto: Bru Zane Mediabase)

Das ist ein Stoff, der unter den Libretti bekannter Opern problemlos mithalten kann. Und die Musik? Bertin ist sich ihrer Mittel bewusst. Sie kennt den „Tonfall“ ihrer Zeit: Kantilenen á la Donizetti, Buffoneskes nach Art Rossinis, dazwischen Lyrismen, die aus dem Zauberkasten der erfolgreichen Opern Daniel François Esprit Aubers stammen könnten. Aber der Ton ist auf eine charmante Weise eigen, das Eklektische in der Musik hat seinen Platz. Man spürt, dass es dieser komponierenden Frau ums Ganze geht.

Blick in die Vergangenheit reicht nicht

Den Blick nur in die Vergangenheit zu richten, wäre eine halbe Sache: Frauen gehören in der zeitgenössischen Szene zwar vorbehaltlos dazu. Eine „Quote“ wäre auch abwegig und würde ihrer Musik einen Stempel aufdrücken, der ihr nicht bekommt. Gespielt werden soll, was gut ist. Aber neue Stücke müssen sich durchsetzen – und das bedeutet, dass eine Uraufführung hier und da zwar dienlich, aber nicht nachhaltig ist.

Das Fahrholz-Team weiß das, und hat für eine deutsche Erstaufführung die Oper „The Listeners“ der Amerikanerin Missy Mazzoli nach Essen geholt. Ein Werk, das den Stand des Komponierens in den USA anschaulich repräsentiert. „Accessible and surprising“ beschreibt Mazzoli ihre Absicht, mit ihrer Musik Menschen zu erreichen, ohne Kompromisse in der Qualität zu machen. Bei ihr stehen nicht Form und Struktur im Vordergrund, sondern der Klang, den der Essener GMD Andrea Sanguineti „eine Umarmung“ genannt hat.

Szene aus der Deutschen Erstaufführung von Missy Mazzolis „The Listeners“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Alvise Predieri)

„The Listeners“ ist ein ambivalenter Titel: Es geht um Menschen, die einen Brummton hören, der nicht von innen kommt und als Teil der Außenwelt feststellbar ist. Claire bricht – von diesem Ton gepeinigt – aus ihrer geordneten Lehrerinnen- und Familienwelt aus. Sie schließt sich mit Kyle, einem ihrer Schüler, der den „Hum“ auch hört, einer Selbsthilfegruppe an, die immer deutlicher sektenähnliche Züge zeigt. Schließlich entlarvt Claire den charismatisch-manipulativen Führer Howard und wird selbst zur Anführerin der Gruppe der „Hörenden“. Ein offenes Ende, denn Claire hat sich zwar von ihren bisherigen Rollenzwängen befreit, ob sie aber die Gruppe in eine bessere Zukunft führt, ist fraglich.

Manipulation und Befreiung

Das Thema des Librettos nach einer Erzählung von Jordan Tannahill lässt unterschiedliche Verständnisfacetten zu: Es schildert typische Mechanismen einer Sektenbildung und die Dynamik einer Manipulation, wie sie etwa bei Scientology beobachtet wurde. Aber es rückt auch den Entwicklungsprozess einer Frau ins Zentrum, die zu ihrer eigentlichen Bestimmung durchbricht. Die vieldeutige Figur eines Koyoten, dargestellt von einem Tänzer, eröffnet zusätzliche Horizonte, wenn man die Rolle des Tieres in der amerikanischen Mythologie einbezieht oder in ihm ein Symbol von „Wildheit“ oder „Natur“ erblickt. Anna-Sophie Mahlers Inszenierung hat diese Aspekte von Mazzolis Oper anklingen lassen, ohne sich zu sehr festzulegen.

Zur letzten Vorstellung von „The Listeners“ stellt sich im Rahmen des Festival „her:voice“ die extra angereiste Komponistin Missy Mazzoli den Fragen des Publikums. (Foto: Werner Häußner)

„The Listeners“ ist auch beachtenswert, weil es gelingt, einen zeitgenössischen Stoff ohne literarische Vorbilder oder historische Bezüge auf die Bühne zu bringen. Das erreichte auch Kaija Saariahos „Innocence“, zu der die finnische Librettistin Sofi Oksanen die Grundlage geliefert hat. Auch hier geht es um Gegenwärtiges: Zehn Jahre nach einem Schulmassaker müssen sich die Familie und die Schulfreunde des Amokschützen ihren Erinnerungen, ihren Gefühlen und auch ihrer Mitschuld stellen. In der Regie von Elisabeth Stöppler und der musikalischen Ausdeutung durch Valtteri Rauhalammi gelang ein erschütternder Abend im Musiktheater. Derzeit wird das Werk auch an der Semperoper Dresden in einer Inszenierung von Lorenzo Fioroni gezeigt.

Für die Amerikaner ist das „well made play“ ein wichtiges Kriterium für ein Stück – ein Konzept, das von manchen von Intellekt triefenden Libretti der deutschen Opernszene weit entfernt ist. Mazzolis Librettist Royce Vavrek gehört zu den am meisten gefeierten Musiktheater-Literaten der USA. Warum, war nicht nur in „The Listeners“ erfahrbar: Die Oper „Dog Days“ etwa, die er mit dem Komponisten David T. Little 2012 geschaffen hat, war in Bielefeld, Schwerin und Braunschweig zu sehen und hat in ihrer dystopischen Rätselhaftigkeit den Ruf Vavreks bestätigt. Für die „New York Times“ hat die Oper das Zeug zum „bahnbrechenden amerikanischen Klassiker“.

Kammermusik und Symphonik

Viel mehr noch als für die Oper haben Frauen im Bereich der Kammermusik geleistet. Sie waren entweder selbst ausübende Musikerinnen wie Clara Schumann, Sängerinnen wie Pauline Viardot-Garcia, oder hatten die private Sphäre eines Salons als Plattform, um sich als Komponistin zu zeigen. Wie diese Werke klingen, war in Essen beim zweiten Komponistinnenfestival „her:voice“ hörbar: In einem Kammerkonzert erklang Musik von Alma Mahler-Werfel, die derzeit auch im Essener Museum Folkwang in einer Ausstellung („Frau in Blau – Oskar Kokoschka und Alma Mahler“) präsent ist. So gut wie unbekannt sind ihre Zeitgenossinnen Evelyn Faltis (1887-1937) und Mathilde Kralik von Meyerswalden (1857-1944).

Alma Mahler stand auch beim Symphoniekonzert der Essener Philharmoniker im Zentrum: Bearbeitet für Alt und Orchester von Jorma Paula, erklangen fünf ihrer Lieder, die erhalten sind, weil sie der begeisterte Gustav Mahler im Druck erscheinen ließ. Es sind lyrische Miniaturen, durchtränkt von spätromantischer Melancholie, in denen sich Liebende im weiten Wald in sternlosem Dunkel finden und im düsteren Nebel ein Kindermund ein „Lichtlein“ aufgehen lässt. Bettina Ranch sang die Kostbarkeiten, gestützt von der gekonnt revitalisierten romantischen Orchestersprache, eher auf Klang als auf Deklamation bedacht mit weich strömenden Vokalen und Brokatschimmer im Timbre.

Auch im Falle der Symphonik wirkt in der Entstehung des „Kanons“ von Beethoven bis Bruckner und Mahler ein analytischer Filter mit: Relevant und anerkannt ist, was gattungsgeschichtlich Neues mit sich gebracht hat. Zu den nicht wenigen Symphonien, die diesen Anspruch nicht erfüllen, aber dennoch satztechnisch tadellose, abwechslungs- und einfallsreiche Musik bieten, gehören nicht nur Werke komponierender Frauen. Auch Symphoniker wie Charles Gounod oder Louis Théodore Gouvy ereilte das Schicksal einer – zudem nationalistisch gefärbten – Nichtbeachtung. Wie viel schwerer haben es in solchem Ambiente komponierende Frauen wie Emilie Mayer (1812-1883), Louise Farrenc (1804-1875) oder Charlotte Sohy (1887-1955) mit ihrer einzigen Symphonie.

Einfallsreich und professionell

Wer die Werke hört, die sich allmählich in Konzertprogrammen durchsetzen, kann nur bedauern, wie solche einfallsreichen und professionellen Arbeiten einfach verschwinden konnten. Sohys cis-Moll-Sinfonie „La grande guerre“, geschrieben 1914-1917, erstmals aufgeführt 2019, ist nur bedingt dazu zu zählen. So eindrucksvoll die gedrückte Stimmung des Beginns ist, so gekonnt sie Melodien ausbreitet und im zweiten Satz „vif“ Scherzo-Anklänge einführt: Die Instrumentierung ist stets dick, Kontraste fehlen und dem Hörer fällt es schwer, thematische oder strukturelle Fixpunkte zu erkennen – zumal die Essener Philharmoniker unter der sich wacker durchschlagenden Düsseldorfer Kapellmeisterin Katharina Müllner nicht zur gewohnten plastischen Durchzeichnung der dichten Gewebe finden. Da fällt der Kontrast zur Musik einer souveränen Könnerin drastisch aus: Kaija Saariahos „Ciel d’Hiver“ ist ein Meisterstück feinster fragiler flimmernder Klänge, in dem die Essener Philharmoniker zeigen, wie gut sie ihre solistischen Passagen untereinander abstimmen.

Überzeugender wirkt, was der Dirigent Jakob Lehmann vor einiger Zeit in Köln mit dem Concerto Köln aus Frauenfeder präsentiert hat: Louise Farrenc (1804-1875) ist in den Jahren 1845 bis 1849 mit drei Sinfonien hervorgetreten, die allen Maßstäben ihrer Zeit standhalten können. Auch ihre in Köln erklungene Es-Dur-Ouvertüre op. 24 aus dem Jahr 1834 ist ein mitreißendes Werk, vom düsteren Don-Giovanni-Pathos der Einleitung, über die einprägsame Thematik des Allegro bis zur gekonnten Finalwirkung. Man hört eine abwechslungsreiche Instrumentierung und aparte melodische Erfindung. Auch Emilie Mayers viersätzige Sinfonie Nr. 7 in f-Moll von 1856 kann mühelos mithalten: eine regelgerechte, dennoch nicht unoriginelle Sonatenform im Kopfsatz, ein farbenreicher Gesang im Adagio, der sich im Blech hymnisch erhebt, ein Scherzo mit rhythmischem Pep und einigen Überraschungen und ein energisches Finale. Das ist Musik, die man gerne wieder hört.

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Im Januar 2027 plant das Aalto-Theater Essen die Uraufführung der Oper „Day of Night“ der finnischen Komponistin Outi Tarkiainen. „Day of Night“ ist eine Koproduktion des Aalto Musiktheaters und der Finnish National Opera, wo die Oper dann im Herbst 2027 gezeigt wird. „Day of Night“ basiert auf dem gefeierten Debütroman „Halla Helle“ von Niillas Holmberg. Das Buch setzt sich den in Nordskandinavien beheimateten Sámi, dem einzigen indigenen Volk Europas, auseinander, dem Holmberg selbst angehört. Der finnisch-französische Autor Aleksi Barrière hat aus dieser Vorlage ein packendes Opernlibretto geschaffen. Intendantin Merle Fahrholz schreibt dazu: „Die Oper thematisiert den Wandel einer Region hinsichtlich Natur und Industrie, der sich auch im Ruhrgebiet beobachten lässt.“




Kraftvolles Schauspiel – Anna Drexler als wilde wie wohltätige Krähe in „Trauer ist das Ding mit Federn“

Anna Drexler ist die Krähe (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Wer Anna Drexler noch auf der Bühne des Schauspielhauses erleben will, sollte sich sputen. Denn in der kommenden Spielzeit wechselt diese großartige Künstlerin ihren Arbeitgeber, geht von Bochum ans Münchner Residenztheater. Im Zusammenspiel mit Maja Beckmann haben wir Anna Drexler (Jahrgang 1990) auf diesen Seiten früher schon bewundert und gepriesen. „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ hieß das Stück, das im Mai 2023 Premiere hatte. Da spielt sie eine junge Frau, was nicht verwundern muß. In „Trauer ist das Ding mit Federn“ aber, dem Stück, von dem hier die Rede sein soll, ist sie eine Krähe. Und was für eine!

Tod der Mutter

Nach wenigen Minuten Bühnenpräsenz verschwindet die Frage, ob der Besuch dieses Krähentheaters noch lohnen würde, ganz still und endgültig in der Versenkung. Obwohl, nun ja: Die Geschichte ist eigentlich traurig. Vater und Kinder betrauern nämlich den Tod der Mutter. Alles erinnert an sie, das nachbarschaftliche Umfeld zeigt die übliche Zuwendung, doch ein Zurück zur Normalität will nicht gelingen, zumal dem Vater (Risto Kübar) nicht, der wie gelähmt ist vom Verlust. Mit seinem Verlustmonolog startet das Stück, und man macht sich auf, zurückhaltend ausgedrückt: Längen gefaßt.

Vater und Kinder (von hinten nach vorne): Risto Kübar, Jing Xiang, Alexander Wertmann (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Eigentlich unverschämt

Doch dann ist plötzlich die Krähe da und mischt die Familie auf. Stellt respekt- und pietätlose Fragen, fragt die Kinder nach Eigenheiten der Mutter und läßt sie, unerhört eigentlich, von ihnen nachspielen; wendet sich mit Erklärungen dem Publikum zu, veranstaltet eine heitere Fragerunde, kümmert sich um den Vater im Bett, bewahrt ihn späterhin vor der „falschen Frau“ oder der Vorstellung von ihr, ist mal cool, mal aufgekratzt (eine Krähe eben), und bezeichnen läßt sich die Rolle der Krähe eigentlich nur vom Ergebnis her: Nach ihren Auftritten geht es allen besser; nicht gut, aber besser. Und das alles ist sicherlich auch ein bißchen pädagogisch, aber deshalb nicht verkehrt.

Mythologisches Tier

Natürlich kann man fragen, warum nun gerade eine Krähe mit ihrer mythologischen Aufladung und ihren durchaus auch animalischen Impulsen den Störenfried in der familiären Tristesse geben muß. Als Antwort mag der Hinweis dienen, daß die literarische Vorlage für das Stück der gleichnamige Roman des englischen Autors Max Porter war, der seinen Titel wiederum einem Gedicht von Emily Dickinson verdankte. Und der eben eine Krähe für diese Rolle vorsah. Der Vater übrigens, quasi augenzwinkernde inszenatorische Fußnote, ist Literaturwissenschaftler und versucht – erfolglos – das Krähen-Thema zu bearbeiten.

Anna Drexler als entspannte Krähe (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Komödiantin von hohen Gnaden

Die Wirkmächtigkeit dieser Inszenierung aber, um jetzt endlich darauf zurückzukommen, liegt im annähernd dauerpräsenten Bühnenspiel der Künstlerin Anna Drexler. Ja, sie ist – und das soll hier ein Kompliment sein – eine Rampensau und eine Komödiantin von hohen Gnaden; doch gelingt es ihr fast gleichzeitig, das Rätselhafte, die Ambivalenz, die Unsicherheit, auch die Begrenztheit ihrer (Krähen-) Möglichkeiten herauszuspielen. Alles ist besser als unabsehbare Trauerstarre, sagt die Inszenierung, sagt ihre Hauptfigur.

Fabelhafte Tänzer

Neben einer solchen Krähe haben die anderen Darsteller keinen leichten Stand. Also müssen sie tanzen! Jing Xiang und Alexander Wertmann, die Kinder, tun dies mehrfach, entwickeln aus scheinbar alltäglichen Bewegungen unglaubliche Tanzfiguren, spielerisch und hoch artistisch zugleich, homogen eingefügt in den Fluß des Geschehens, beeindruckend.

Außerdem auf der Bühne: Nina Steils als Mutter, in gebührlicher Zurückhaltung spielend, wenn sie nicht gerade das Falsche-Frau-Monster ist und sich mit der Krähe einen ritterlichen Zweikampf bis zum bitteren Ende liefern muß, sowie Jasmin Kruezi als Kameramann, der übrigens auch für das Videodesign genannt wird.

Reichen Applaus gab es, was auch sonst, und das angenehm nachwirkende Gefühl, saftiges, kraftvolles Schauspiel erlebt zu haben. Bitte mehr davon.




Diese ungeheure, schöpferische Wut – Biographie über Rolf Dieter Brinkmann

Eigentlich kommt sie reichlich spät auf den Markt, diese Biographie des – je nach Observanz – genialen oder genialischen Dichters Rolf Dieter Brinkmann. Der Mann starb bereits am 23. April 1975, als er in London von einem Auto erfasst wurde. Seither hat das Mythenwesen um seine Person unter mehr oder weniger Kundigen kaum abgenommen, ja, es hat mitunter kultische Züge getragen.

Die Lebensbeschreibung, die Michael Töteberg und Alexandra Vasa jetzt vorlegen, ist recht ausführlich geraten, sie geht in manchen Passagen gar sehr ins Detail und zitiert seitenweise aus Notizen, Briefen und sonstigem Nachlass, dessen Inhalt bislang noch weitgehend unbekannt war. Es gilt eben, manch Versäumtes nachzuholen und verborgene Quellen zu öffnen. Brinkmanns Lebensgefährtin Maleen und der langjährige Wegbegleiter Ralf-Rainer Rygulla haben unschätzbar wertvolle Einblicke ermöglicht.

Es beginnt mit Brinkmanns Kindheit, aus der ein fortwährendes Kriegstrauma erwuchs. Brinkmann wurde am 16. April 1940 im späterhin hassgeliebten, ausgesprochen provinziellen Vechta (Niedersachsen) geboren. In seinen frühen Lebensjahren hat er kriegerische Zeiten miterlebt, ohne etwas davon begreifen zu können. Da dürfte einiges flackernd nachgewirkt haben.

Viele fürchteten sich vor ihm

Mit Worten, die heute korrekterweise nicht mehr verwendet werden, beschrieb er hernach seine Schulzeit: „Ich bin von Krüppeln erzogen worden mit Krüppelvorstellungen!“ Auf „Korrektheiten“ hat er eh nie etwas gegeben, oft hat er sich wie ein unerbittlicher Berserker oder auch (Zitat) „Kotzbrocken“ aufgeführt. Er sorgte für manchen Skandal, ließ manche Veranstaltung entgleisen. Er war einer, vor dessen Zorn viele sich fürchteten – ob nun im alltäglichen Umgang oder in literarischen Debatten. Schon Leute, die ihn ungefragt „duzten“, mussten sich auf Tiraden gefasst machen.

Bereits mit 16 Jahren hatte er Schreibversuche an diverse Verlage geschickt – zunächst vergebens. Es war die Zeit der notdürftig hektographierten Blätter. Immerhin gab es bald knappe (ziemlich negative) Gutachten von Größen wie Enzensberger und Rühmkorf oder auch Dieter Wellershoff, der anfangs sehr skeptisch war, sich aber irgendwann als Lektor bei Kiepenheuer & Witsch für den jungen Autor einsetzte – bis der allzeit reizbare Brinkmann auch ihn vor den Kopf stieß.

Finanziell äußerst prekäres Dasein

Nach einigen Umwegen (u. a. Buchhandels-Lehre in Essen) war Brinkmann nach Köln gezogen, wo er – ungeachtet gewisser Erfolge – über Jahre hinweg ein finanziell äußerst prekäres Dasein fristete; an seiner Seite: die Gefährtin Maleen und der geistig behinderte Sohn Robert. Lastender Alltag, fürwahr, dessen Niederungen wohl vor allem Maleen zu bewältigen hatte.

Von den wenigen Buchpublikationen (Roman „Keiner weiß mehr“) konnten sie jedenfalls kaum leben, sie darbten immerzu auf Pump. Nur die Arbeit für Rundfunkanstalten (zumal Hörspiele, wobei er sich etwa für Schmerzensschreie authentische Anlässe wie unverhoffte Ohrfeigen für die Sprecher wünschte) hielt die Kleinfamilie halbwegs über Wasser. Es gibt in allen Künsten so viele dieser betrüblichen Geschichten.

Mit ihm dämmerte Künftiges herauf

Zusammen mit (und doch zutiefst getrennt von) schreibenden Kollegen wie z. B. Nicolas Born, H. P. Piwitt, Hans Christoph Buch, Peter O. Chotjewitz und schließlich Jürgen Theobaldy verkörperte Brinkmann so etwas wie die anfängliche Aufbruchstimmung, aber auch die baldige Verzweiflung und Resignation der 1960er und frühen 70er Jahre. Wer immer damals ins vertiefte Lesen gefunden hat, wird eine solch exemplarische und zugleich außerordentliche Biographie gewiss mit besonderem Interesse goutieren. An einem wie Brinkmann kam man damals schwerlich vorbei. So grundverschiedene Zeitgenossen wie Peter Handke und Marcel Reich-Ranicki sahen mit ihm schlichtweg Zukunft heraufdämmern.

Angewidert vom verfallenden Rom

Ausgiebig nachgezeichnet werden Phasen wie Brinkmanns Stipendiaten-Aufenthalt in der Villa Massimo zu Rom (literarische Frucht: „Rom, Blicke“), wo er sich von allen anderen Stipendiaten, deren Kunstanstrengungen und geldversessene Gelegenheitenmacherei er verachtete, entschieden unfreundlich absetzte. Die „ewige Stadt“ bestand nach seinem Empfinden ohnehin nur aus Schmutz und Verfall. Man liest es mit Befremden, auch Töteberg und Vasa kommentieren es sehr distanziert. Es war das Gegenteil von Goethes verzücktem Italien-Erleben. Und doch ist zu ahnen, dass auch Brinkmanns monströse Wut ungeahnte Energien freigesetzt haben muss, deren Furor sich nicht zuletzt gegen die konsumistische Zurichtung der „westlichen“ Lebenswelt richtete. Was hätte Brinkmann wohl zu vollends entfesselten Zuständen im Zeichen von Internet und KI gesagt?

Näher beschrieben wird auch Brinkmanns Gastdozentur in Austin (Texas/USA), wo er den Germanistik-Studenten von jederlei öder Sekundärliteratur abriet und statt dessen ureigene, möglichst kreative Ansätze im Umgang mit Literatur empfahl. In diesem Sinne steht zu vermuten, dass Brinkmann eine Biographie über sein gelegentlich wüstes Erdenwallen (Suff und gezielter, nicht grenzenloser Drogenseinsatz inklusive) wohl in Bausch und Bogen verworfen hätte. Allerdings entflammte er in Austin auch für Ideen zu einem ganz anderen Grundschul-Unterricht, was so gar nicht zum unversöhnlichen Wutschreiber zu passen scheint.

Leitfiguren Jahnn, Benn und Arno Schmidt

Gegen Ende hin geht es noch um die Geburtswehen seines literarischen Vermächtnisses, des ungemein komplexen Gedichtbandes „Westwärts 1 & 2″, der heute zu den wahrhaft unklassischen „Klassikern“ aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt. Tatsächlich sollte man sich diesen Band nach Kräften intensiv erschließen. Eine biographische Annäherung mag hilfreich hinzukommen, reicht aber bei weitem nicht an sein Werk heran. Welche Dimension es haben könnte, deutet ein Zitat von Heiner Müller auf dem Buchumschlag an: Brinkmann sei „Vielleicht das einzige Genie der westdeutschen Nachkriegsliteratur“.

Zwischendurch ist man geradezu froh und erleichtert, wenn man erfährt, dass Brinkmann auch ein paar wenige Schaffende gelten ließ: Hans Henny Jahnn allen voran. Gottfried Benn. Arno Schmidt. Die Filmemacher der Nouvelle Vague (Truffaut, Godard etc.). Und natürlich US-amerikanische Beatpoeten und Pop-Dichter wie Burroughs, die ihn auf seine spezielle Spur brachten. Im deutschsprachigen Raum war es beispiellos, wie Brinkmann Gedichte mit Alltagsfetzen, Popsongs, Kinoschnipseln und spontan fotografierten Bildern collagierte. Die Verlage kapitulierten beinahe vor seinen formalen und inhaltlichen Ansprüchen. Hätten sie in allen Punkten nachgegeben, wären die Bücher schier unbezahlbar geworden. So aber ist es immer noch auf- und anregend, dass es sie gibt.

Michael Töteberg / Alexandra Vaasa: „Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biographie“. Rowohlt, 398 Seiten mit einigen Bildtafeln, Fundstellen- und Literatur-Verzeichnis. 35 Euro.

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P. S. Hinweis für etwaige weitere Auflagen: Der denn doch sehr bekannte Künstler, der auf Seite 285 „Emil Schuhmacher“ genannt wird, schreibt sich ohne „h“, also Schumacher.




Subtile Facetten, plakative Momente: Dmitri Schostakowitschs Elfte Sinfonie in Düsseldorf

Alina Ibragimova und Michael Sanderling nach dem Konzert der Düsseldorfer Symphoniker in der Tonhalle Düsseldorf. (Foto: Susanne Diener)

Bei Michael Sanderling, trifft zu, was oft nur als Lobpreis-Rhetorik zu klassifizieren ist: Er ist ein geborener Schostakowitsch-Dirigent. Zu erleben war die konzentrierte Rhetorik, der tiefinnerliche Ernst, den er den Sinfonien mitgibt, jetzt in der Düsseldorfer Tonhalle in einem Konzert mit den Symphonikern.

Michael Sanderling kam 1967 in Ost-Berlin zur Welt, er ist Sohn des Dirigenten Kurt und der Kontrabassistin Barbara Sanderling. Sein Vater hat nicht nur eine Reihe Schostakowitsch-Sinfonien mit dem Berliner Sinfonie-Orchester und anderen aufgenommen, er war auch eng mit dem Komponisten aus der Sowjetunion befreundet. Sanderling erinnert sich in einem Interview an die „sehr eindrückliche Persönlichkeit“ mit der besonderen Stimme und der angespannten, fast angsteinflößenden Mimik. Zum Biographischen – das für sich gestellt ja noch nicht viel aussagt – tritt ein Eintauchen in die Musik von klein an hinzu. Als deren Höhepunkt hat Sanderling mit der Dresdner Philharmonie alle 15 Sinfonien Schostakowitschs aufgenommen: Zeugnisse einer intensiven Beziehung, die aus beharrlichem Studium und aus tief verwurzelter Liebe lebt.

In diesem Jahr begeht die musikalische Welt am 9. August den 50. Todestag des Komponisten. Anlass für eine große Werkschau mit allen Sinfonien und Solokonzerten vom 15. Mai bis 1. Juni im Gewandhaus Leipzig. Da mitzuziehen, fällt schwer, aber auch die Orchester und Konzerthäuser in der Rhein-Ruhr-Region setzen ihre Schwerpunkte. So hielt es die Philharmonie in Essen im Februar mit dem Zweiten Klavierkonzert mit Anna Vinnistkaya und den Streichquartetten Nummer eins und neun mit dem Jerusalem Quartet.

Präsent, aufmerksam, klangpoliert

Die Symphoniker in Düsseldorf würdigten Schostakowitsch mit der Elften Sinfonie mit Sanderling am Pult – ein Konzert, das zum Ereignis geriet. Nicht nur, weil die Düsseldorfer sich präsent, aufmerksam und klangpoliert wie selten dieser expressiven Musik widmen. Michael Sanderling gelingt es, dem Orchester die subtilen Facetten, aber auch die plakativen Momente dieser beschreibenden, manchmal wie Filmmusik wirkenden Komposition zu entlocken. Denn mit der klassischen Form hat Schostakowitsch wenig im Sinn. Nur die vier Sätze erinnern an das früher unabdingbare Gerüst; der Inhalt schildert, statt motivisch-thematische Entwicklungen zu forcieren. Die Themen beruhen auf Arbeiter- und Revolutionsliedern; der letzte Satz zitiert mit typisch ironischem Hintersinn die „Warschawjanka“ aus der Zeit, als die Polen gegen Russland um ihre Selbständigkeit kämpften.

Mit dem Titel „1905“ hat der Komponist der Sinfonie einen historischen Bezugspunkt gegeben: den Volksaufstand des 9. Januar 1905 in Sankt Petersburg, den der Zar mit brutaler Gewalt beenden ließ. Schostakowitsch hatte jedoch eher den niedergeschlagenen ungarischen Aufstand von 1956 im Sinn, als er das Werk ein Jahr später schrieb – eine Konnotation, die damals auf keinen Fall offen zutage treten durfte.

Schostakowitsch wäre jedoch nicht einer der führenden Komponisten des 20. Jahrhunderts, hätte er lediglich sinfonische Filmmusik entworfen. Zwischen allen vier Sätzen gibt es motivische Verzahnungen, erklingen Reminiszenzen an bereits Gehörtes oder Details, die in einem späteren Satz musikalisch bedeutsam werden. Sanderling gestaltet die Balance der Klänge so, dass die strukturierenden Elemente hervortreten, stört aber nicht den „erzählenden“ Fluss der Entwicklung.

Solistische Herrlichkeiten

Große Geste, aber nicht viel zu erzählen: Alina Ibragimova mit den Düsseldorfer Symphonikern in der Tonhalle Düsseldorf. Michael Sanderling und das Orchester überzeugten dagegen mit Schostakowitschs 11. Sinfonie. (Foto: Susanne Diener)

Dabei kann er sich auf die Symphoniker verlassen. Das gespannte Pianissimo der Streicher zu Beginn mit seinen engen Intervallen schafft Atmosphäre, statt Melos oder gar eine Thematik vorzugeben, wird aber im Lauf der Sinfonie zu einem wiederkehrenden Motiv im Geschehen. Trompetensignale, kleine Trommel, Pauken, dann die Holzbläser mit einer ersten Melodie – das sind allmählich aufgebaute, sich intensivierende Bausteine. Mahler grüßt von ferne, und Sanderling erweist sich als Meister des atmosphärischen Spannungsaufbaus. Immer wieder nimmt er auch die Steigerungen der Dynamik zurück, damit er die Reserven an dramatischen Knotenpunkten voll ausspielen kann. Die explodieren im zweiten Satz, der die Hetzjagd und das Massaker an den Arbeitern schildert, mit Trommelgerassel wie MG-Salven, jagenden Streichern, gellenden Bläsern – und dann gespenstischer Ruhe.

Im dritten Satz mit der Überschrift „Ewiges Andenken“ hören wir die tiefen Streicher wie aus einem Guss, einen düster-erhabenen Choral, große, weite Melodielinien und – stets plastisch geschichtet – das Ostinato-Fundament der Musik. Das riesige Aufbäumen des letzten Satzes mündet in Glocken – ob Sieges- oder Totenglocken, das bleibt offen. Das Düsseldorfer Orchester glänzt als Ganzes, aber auch in solistischen Herrlichkeiten wie der Bassklarinette, dem Fagott oder der sensibel den Ton stufenden Blechbläserabteilung.

Strangulierter Lyrismus

Etwas erzählen sollte auch das Violinkonzert Ludwig van Beethovens, das Sanderling vor die Elfte stellte – aus seiner Sicht eine sinnige Wahl, weil er zwischen Schostakowitsch und Beethoven das einigende Band einer gesellschaftlich bewusst agierenden Musik erkennt. Die Solistin Alina Ibragimova beginnt zu den noch etwas metallharsch klingenden Violinen des Orchesters mit einem vorsichtigen, fast zärtlichen Ton, filigran, aber gefestigt. Sie hält den Kontakt mit Konzertmeister Dragos Manza, interagiert mit dem Orchester, bettet ihr Instrument in den Klang ein.

Aber es gelingt ihr nicht, im Laufe des ersten Satzes den Ton zu befreien: Ihr Forte weitet sich nicht strömend, sondern bliebt anämisch, bricht nicht aus stranguliertem Lyrismus aus. Am schönsten fließt noch das Larghetto des zweiten Satzes; im dritten bleiben Schwung und wilde Kadenz-Entschlossenheit unbefreit. Der Charakter der Bekenntnismusik, der das Konzert mit Schostakowitsch verbinden könnte, will sich nicht zeigen.

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Mehr von Schostakowitsch in der Region

Schostakowitsch steht in der Region noch mehrfach auf den Programmen in Oper und Konzert: Die Deutsche Oper am Rhein zeigt am 30. März und an weiteren Terminen im April und Mai die konzentrierte, auf Beiwerk verzichtende Inszenierung Elisabeth Stöpplers von „Lady Macbeth von Mzensk“ mit dem eindrucksvollen Dirigat von Vitali Alekseenok. In Köln spielt das Gürzenich-Orchester am 6., 7. und 8. April unter Eliahu Inbal die 15. Sinfonie. Die Achte steht am 6., 7. und 11. Mai auf dem Programm des Sinfonieorchesters Münster unter Golo Berg. Am 10. Mai spielt Lahav Shani mit Musikern des Israel Philharmonic und der Münchner Philharmoniker das g-Moll-Quintett op. 57 im Konzerthaus Dortmund.

Am 5. Juni ist das Jerusalem Quartet in der Tonhalle Düsseldorf zu Gast mit Schostakowitschs Streichquartett Nr. 12. Am 8. und 9. Juni erklingt in Köln die Fünfte mit dem Gürzenich-Orchester unter dem designierten neuen Kapellmeister Andrés Orozco-Estrada. Joseph Trafton dirigiert am 17. Juni das Philharmonische Orchester Hagen mit der Zehnten. Beim Klavier-Festival Ruhr gibt es dann einen Schostakowitsch-Schwerpunkt mit Evgeny Kissin. Am 2. Juli spielt er in der Tonhalle Düsseldorf die h-Moll-Sonate op. 61 und eine Auswahl aus den Präludien und Fugen; am 7. Juli ist er im Anneliese Brost Musikforum Ruhr Bochum zu Gast. U.a. mit Gidon Kremer (Violine) spielt Kissin dort die letzten Werke, die Schostakowitsch vor seinem Tod 1975 komponiert hat.

Im Kurort Gohrisch in der Sächsischen Schweiz finden von 26. bis 29. Juni die 16. Internationalen Schostakowitsch Tage statt. Info: https://www.schostakowitsch-tage.de/

Weitere Informationen zu Dimitri Schostakowitsch auf der Seite der Deutschen Schostakowitsch-Gesellschaft: https://www.schostakowitsch.de/




Phantasien des Gehirnchirurgen – Leon de Winters Roman „Stadt der Hunde“

Seit einigen Jahren ist es still geworden um Leon de Winter, der einst mit „Hoffmanns Hunger“, „Sokolows Universum“, „Serenade“ und „Zionoco“ die Bestseller-Liste stürmte. Nach einer fast zehnjährigen Pause kommt ein neuer Roman des inzwischen 70jährigen Autors in die Buchläden: „Stadt der Hunde“.

Früher hat de Winter, dessen Familie fast vollständig im Holocaust umkam, einen an Woody Allen erinnernden leichten, witzigen Ton gepflegt, wenn er von den Alpträumen der Überlebenden sprach und sich über antisemitische Dummheiten lustig machte. Seit dem 7. Oktober 2023 ist er schockiert vom offenen Antisemitismus. „Ich glaube“, meint er in einem Interview, „dass das jüdische Leben in Europa bis 2050 der Vergangenheit angehören wird.“

Verschollen auf der Suche nach jüdischen Wurzeln

Jaap Hollander, die Hauptfigur des neuen Romans, ist ein Genie der Gehirnchirurgie. Als Sohn armer jüdischer Eltern aus Amsterdam hat er ich empor gearbeitet zum Star am Mediziner-Himmel. Mit den jüdischen Traditionen kann er nichts anfangen. Als seine Tochter Lea mit 17 nach Israel reist, um sich ihrer jüdischen Wurzeln zu vergewissern, findet er das befremdlich. Die Reise seiner Tochter wird für Jaap zu einem schweren Schicksalsschlag. Denn Lea kehrt von einem Ausflug in die Wüste Negev nicht zurück und bleibt spurlos verschwunden. Das ist zehn Jahr her. Seitdem reist Jaap immer wieder nach Israel, um nach seiner Tochter zu suchen. Dass er dabei sich selbst und sein verdrängtes Judentum neu entdeckt, liegt auf der Hand.

Wenn der Frieden von einer Operation abhängt

Den israelischen Ministerpräsidenten hält Jaap für einen Demagogen und Populisten. Umso überraschter ist er, als ihn der Ministerpräsident bittet, eine riskante Operation durchzuführen, deren Erfolgsaussichten verschwindend gering sind, die aber das Leben einer Patientin retten und der Welt den Frieden bringen könnte. Es geht um die Tochter des saudischen Prinzen, der nicht davor zurückschreckt, seine politischen Feinde umzubringen. Noora, die Tochter des Prinzen, ist vom saudischen Königshaus auserkoren, als erste Frau den Thron zu besteigen, die Gesellschaft zu reformieren und für die Gleichheit von Mann und Frau zu sorgen. Vom Sohn armer Juden aus Amsterdam hängt es also ab, ob das Mädchen überleben und die politische Utopie umgesetzt werden kann. Das klingt kurios, ist aber von Leon de Winter so plausibel ausphantasiert, dass man fast glauben möchte, der Friede in Nahost und der demokratische Wandel in der arabischen Welt könnten mit einem scharfen Seziermesser aus dem Unfrieden der Welt und den verwirrten Köpfen der Menschen regelrecht herausgeschnitten werden.

Alles läuft auf den Alptraum vom 7. Oktober 2023 zu

Als Jaap an der Stelle in der Wüste, an der man Leas Rucksack fand, Gedenksteine niederlegt, nähert sich ihm ein Hund, der ihm auf Schritt und Tritt folgt, mit ihm redet und sagt, er könne ihn zu Lea ins Reich der Toten bringen: Spökenkiekerei, Wahnvorstellung von Jaap, der nach einem Unfall nicht mehr aus seiner Operations-Narkose erwachen mag und seinen Traum mit der Realität verwechselt.

Der wahre Alptraum kommt aber erst noch. Denn der betörend vielschichtig erzählte und verstörend eigenwillige Roman läuft auf ein Datum zu, das in unser Gedächtnis eingebrannt ist: 7. Oktober 2023.

Leon de Winter: „Stadt der Hunde“. Roman. Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer. Diogenes Verlag, Zürich. 268 Seiten, 26 Euro.