Der Wolf ist da – und nun?

Auf dem roten Teppich: So taucht ein präparierter Wolf (rechts) im Naturmuseum auf – mit seinen „Nachfahren“, wie dem Deutschen Schäferhund (Mitte) und dem Bernhardiner. (Foto: Bernd Berke)

Anno 2000 tauchten erste Exemplare in der Lausitz (Grenze zu Polen) auf, 2018 wurde das erste Rudel in Nordrhein-Westfalen gesichtet – und im März 2022 hat der erste und bislang wohl einzige Wolf Dortmunder Stadtgebiet erreicht. Damit ist klar: „Der Wolf ist da, und wir müssen mit ihm leben.“ Das sagt Jan-Michael Ilger, Kurator am Dortmunder Naturmuseum, wo heute die Ausstellung „Wolfswelt – Die Rückkehr des Wolfes“ begonnen hat.

Die kleine Schau mit etwa 100 Exponaten besteht vor allem aus Infotafeln mit interaktiven Einsprengseln sowie aus Dioramen mit zahlreichen präpariertem Tieren, beileibe nicht nur Wölfen. Auch akustische Beispiele (Wolfsgeheul) oder Fühlproben (Wolfsfell) gehören dazu, Ausscheidungen hingegen aus guten Gründen nicht: „Die stinken wirklich bestialisch“, weiß Ilger. Statt dessen gibt’s zwei lauschige Boxen, in denen man sich Fabeln und dergleichen über Wölfe anhören kann – und schließlich einen Schaukasten mit mehr oder weniger herzigen  „Devotionalien“, in denen Wölfe vorkommen; vom Stofftier über Werbemittel (Wölfe auf T-Shirts oder Schnapsflaschen) bis zur Film-DVD „Der mit dem Wolf tanzt“. Auf Zetteln, die nach und nach in die Ausstellung integriert werden, können Besucherinnen und Besucher ihre Meinung zum Wolf kundtun.

Nun aber Fakten. Die Ausstellung bringt ja einige Erkenntnisse mit sich, die Jan-Michael Ilger beim Rundgang erläutert. Punkt für Punkt:

  • Anfangs (siehe oben) kamen die Wölfe vorwiegend aus dem Osten, später auch aus dem Alpenraum. Inzwischen gibt es regionale Schwerpunkte in NRW, wo besonders viele Wölfe leben: Teile der Eifel, des oberbergischen Landes, der Senne-Region und Schermbeck.
  • Das gängige Gerede von „einsamen Wolf“ als Alpha-Tier ist eine Mär. Wölfe leben in aller Regel in Familien-Verbänden, also in Rudeln. Dem Menschen gegenüber sind sie meistens ausgesprochen scheu.
  • Der im 19. Jahrhundert jagdlich nahezu ausgerottete Wolf hat – nicht erst seit dem „Rotkäppchen“-Märchen – ein „schlechtes Image“ als blutrünstige Bestie. Es entspricht ebenso wenig der Wirklichkeit wie jedwede Verklärung als herrlich wildes Naturwesen.
  • Ein einziger Abschuss kann die gesamte ausbalancierte Sozialstruktur eines Wolfsrudels zerstören. Zurück bleiben dann vielfach „Problemwölfe“. Hierzulande ist die Jagd auf Wölfe untersagt, in Schweden hingegen nicht.
  • Die Spuren einzelner Wölfe konnten nachverfolgt werden.Einer hat beispielsweise 1300 Kilometer zurückgelegt, um zu einem Rudel zu gelangen. Sprich: Er wollte eben, seiner Art gemäß, nicht allein leben. Ein wandernder Wolf kann auch schon mal 100 Kilometer am Tag zurücklegen.
  • Der Wolf ist und bleibt nun mal ein Raubtier. Bevorzugte Beute sind vor allem Rehe. Eine Wolfsmahlzeit wiegt rund 10 Kilogramm, ein ausgewachsenes Tier frisst durchschnittlich ein bis zwei Rehe in der Woche. Vor Wildschwein und Hirsch haben Wölfe deutlich größeren Respekt, sie trauen sich allenfalls im Rudel heran, nicht aber einzeln. Zur Not nimmt ein Wolf auch mit Kaninchen oder Mäusen vorlieb. Sozusagen „für den kleinen Hunger zwischendurch“.
  • Die leichteste Beute für Wölfe sind allemal Schafe, die nicht einmal flüchten, sondern gleichsam vor Angst erstarren. Selbst teure Einzäunungen mit Stromführung helfen nicht immer gegen den Eindringling Wolf. Der überspringt mitunter auch hohe Zäune oder buddelt sich unten drunter durch, um Schafe zu reißen.
  • Bei entsprechende Nachweisen (DNA-Probe) können betroffene Schafzüchter Entschädigung bei staatlichen Stellen geltend machen. Bei etwa 1,5 Millionen in Deutschland lebenden Schafen kommt es im Jahr zu rund 3000 „Übergriffen“ durch Wölfe. Fast immer verlaufen sie tödlich.
  • Treffen Wölfe auf ihre nächsten hiesigen Verwandten unter den wild lebenden Tieren, nämlich die deutlich kleineren Füchse, so halten beide Arten voneinander Abstand. Nennen wir es mit einem menschlichen Begriff „friedliche Koexistenz“.

Gewisse Unterschiede: Zwei Wolfsschädel (Mitte) mit Pendants vom Deutschen Schäferhund (links) und vom Deutsch Drahthaar (rechts). (Foto: Bernd Berke)

  • All unsere Hunde stammen letztlich vom Wolf ab, auch wenn man es vielen (teils fürchterlich überzüchteten) Rassen gar nicht mehr ansieht. Vor allem Schädelskelette machen dies in der Ausstellung deutlich. Da gibt es im Extremfall bedauernswerte Hundesorten, die manchmal kaum noch atmen können, weswegen sie eigens tierärztlich eingesetzte Atemröhrchen brauchen, um zu überleben…
  • Kommt es zur Begegnung zwischen Wolf und Hund, können sich Kämpfe daraus ergeben, manchmal regt sich aber auch beiderseits „sexuelles Interesse“. Daraus hervorgehende „Hybrid-Welpen“ haben, nirgendwo so recht zugehörig, von Anfang an kein leichtes Leben. Sie sind übrigens nicht mehr so scheu und zurückhaltend wie reine Wölfe. Eine Grundregel: Besteht die Möglichkeit, dass Wölfe in der Gegend unterwegs sind, sollten Hunde stets angeleint bleiben.
  • Und woran sterben Wölfe? Nur zum geringen Teil an Krankheit und Altersschwäche, jedoch zu rund drei Vierteln, weil sie auf unseren Straßen überfahren werden.

„Wolfswelt – Die Rückkehr des Wolfes“. 25. März 2023 bis 4. Februar 2024. Naturmuseum Dortmund, Münsterstraße 271. Geöffnet Di bis So 10-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 4 Euro, ermäßigt 2 €, unter 18 Jahren frei. Tel.: 0231 / 50-24 856.

www.dortmund.de/naturmuseum

P. S.: Die Ausstellung wurde (wie schon die Vorläufer-Schau „Tot wie ein Dodo“) am Naturhistorischen Museum in Mainz konzipiert und in Dortmund ergänzt.




Der große unbekannte Literat – Lesung zu Wolfgang Welt im Bochumer Schauspielhaus

Eine tragische Person. Eigentlich hat er’s schon draufgehabt, das Schreiben: Lapidar und pointensicher, souverän strukturierte und rhythmisierte Prosa, der zuzuhören Freude macht. Einiges davon war jetzt zu hören, live, bei so etwas wie einer nachträglichen Geburtstagsfeier (bzw. –lesung), die das Bochumer Schauspielhaus anläßlich des 70. Geburtstags Wolfgang Welts ausrichtete.

Jele Brückner und Konstantin Bühler aus dem Ensemble lasen zusammen mit Frank Goosen Texte des früh Verstorbenen vor. Und wenn das erst am 3. Februar geschah, ist das zumindest auch dem Umstand geschuldet, daß ein 31.12. – der tatsächliche Geburtstag Welts – kein guter Termin für Lesungen aller Art gewesen wäre. Wolfgang Welt übrigens starb schon 2016, mit 64 Jahren.

Rock und Pop

Wolfgang Welt schrieb literarische, oft autobiographische Texte, er schrieb aber auch Rezensionen für Szene-Blätter wie „Marabo“ oder „Guckloch“, die in den 70er Jahren, gerade im studentisch geprägten Bochumer Raum, einen kräftigen Höhenflug erlebten. Welt hatte ein stupendes Fachwissen zu Rock- und Pop-Musik, war, was er gerne und wiederholt betonte, ein großer Buddy-Holly-Fan. Ein Literat war er zudem, hatte als Autor im Bochumer Intendanten Leander Haußmann, dem Literaturkritiker Willi Winkler, dem Suhrkamp-Lektor Hans-Ulrich Müller-Schwefe sowie Peter Handke oder auch Hermann Lenz potente Fürsprecher.

Eigentlich waren die Achtziger eine gute Zeit für Pop-Literaten, zu denen man mit gebührendem Vorbehalt Wolfgang Welt vielleicht doch zählen könnte; warum also blieb der große (oder wenigstens mittlere) Durchbruch aus, war der Bochumer Dichter zeitlebens gezwungen, seinen Lebensunterhalt als Schallplattenverkäufer, später als Nachtwächter, zu verdienen?

Psychiatrische Erkrankung

Zu erwähnen sind die psychische Erkrankung, die Welt zwang, seine journalistische Arbeit einzustellen und ab 1982 als Wachmann zu arbeiten – ab 1991 übrigens im Schauspielhaus Bochum, wo sein fester Platz hinter der Glasscheibe im Künstlereingang war. Außerdem war er in geschäftlichen Dingen wohl nicht sehr geschmeidig, hielt mit Antipathien nicht hinter dem Berge, schätzte (in seinen Pressetexten) auch die üble Beschimpfung, etwa Heinz-Rudolf Kunzes, dessen Klassifizierung als „singender Erhard Eppler“ noch zu den feineren Formulierungen eines gnadenlosen Verrisses zählte. Vielleicht war es die rote Wut, vielleicht die Wut des Unbeachteten – es gab Korrespondenzen mit den Granden des bundesdeutschen Feuilletons, Karasek zum Beispiel, die sich schön lesen, aber zu nichts führten. Gerade einmal die Tageszeitung „taz“ hat Wolfgang Welt, ein bißchen jedenfalls, entdeckt und druckt nun manchmal Texte von ihm.

Aus armen Verhältnissen

Die eigentümlich ereignisarmen Biographien Annie Ernaux’ gehen einem durch den Sinn, die die Theater derzeit so gerne auf die Bühnen stellen (wie z.B. in Dortmund „Der Platz“). Eine zentrale Botschaft lautet: Kinder aus ärmlichen Verhältnissen, wie erstaunlich, haben es schwer, nach oben zu kommen; und an unverarbeiteten Minderwertigkeitsempfindungen leiden sie häufig auch dann noch, wenn sie im Leben erfolgreich waren.

Wie es damals eben so war

Ob die Herkunft aus einfachen Verhältnissen auch für Wolfgang Welts relative Erfolglosigkeit (zu Lebzeiten) eine Rolle spielt? Kann sein, muß aber nicht. Welts Verhältnis zur Mutter war liebevoll, in den Kindergarten kam er nicht, weil Mutter ihn gerne bei sich behalten wollte, was, wie wir vermuten, dem frühkindlichen Spracherwerb durchaus zuträglich gewesen sein könnte. Der Vater war zwar oft besoffen, aber wenigstens nicht übergriffig, den Kindern gegenüber nicht und auch wohl nicht gegenüber seiner Frau. Es war nur manchmal schwierig, ihn noch ins Bett zu kriegen, wenn er aus der Kneipe kam. Nun denn.

Zu erdig

Aus den autobiographischen Texten grinst dich das Ruhrgebiet der Fünfziger an, wo die Briketts noch tief flogen, aber Depression und Hoffnungslosigkeit keineswegs Leitmotive waren. Goosen erzählt recht ähnliche klingende Geschichten, ähnlich gerade auch dann, wenn es um Fußball geht. (Es geht oft um Fußball.) Vielleicht, aber das ist natürlich schon hoch spekulativ, waren Wolfgang Welts autobiographische Erzählungen einfach zu erdig für das oft recht eskapistische Repertoire der sogenannten Pop-Literatur. Denn ist der Stil auch leicht und locker, so sind die Geschichten doch existentiell, ist die psychische Erkrankung letztlich nicht verwunderlich.

Eine späte Entdeckung

Nach dieser schönen Geburtstagslesung tut es dem Verfasser dieser Zeilen jedenfalls leid, so spät auf den Schriftsteller Wolfgang Welt gestoßen zu sein. Erst als er starb, was in dem Medien ein gewisses Echo fand, wurde ich aufmerksam auf ihn. Früher hatte ich, in den guten alten analogen Zeitungszeiten, lediglich ab und zu die Pressefotos bei ihm abgeholt, die das Schauspielhaus von Premieren zur Verfügung stellte. Denn das gehörte zu seinem Job, Presseunterlagen aushändigen. Als Nachtwächter im Schauspielhaus.

Nachlaß liegt in Düsseldorf

Es gibt eine Reihe von Buchveröffentlichungen Wolfgang Welts, im Internet wird man fündig. Der ausführliche Wikipedia-Eintrag ist ganz aktuell. Sein Nachlaß übrigens, Berge von Schallplatten und eine üppige Bibliothek, ging an das Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut.




„Wenn List das Weib als Waffe schwingt“: Ermanno Wolf-Ferraris „Vier Grobiane“ haben keine Chance

Feinsinnig, stellenweise aber auch turbulent: Ermanno Wolf-Ferraris Komödie „Die vier Grobiane“ an der Folkwang Hochschule in Essen-Werden. (Foto: Gustav Glas)

Sie haben keine Chance. Sie mögen noch so vehement ihre Allmachts- und Gewaltfantasien ausmalen, sie mögen ihre Frauenverachtung noch so lautstark bekunden. Gegen weibliche Solidarität kann die Kumpanei der vier alten Machos nichts ausrichten.

Ihre larmoyante Besingung früherer besserer Zustände ist vergeblich. In Ermanno Wolf-Ferraris Buffa-Spätblüte „Die vier Grobiane“ setzen sich die Frauen mit ihrem humanen Anliegen durch. Immerhin geht es um Liebe und Selbstbestimmung: Die jungen Leute, die nach der Vorstellung der Patriarchen aneinander verschachert werden sollen, ohne sich je vor der Hochzeit gesehen zu haben, bekommen dank vereinter Frauenpower wenigstens eine Chance.

Das war mutig für das ausgehende 18. Jahrhundert am Vorabend der französischen Revolution, als Carlo Goldoni seine Komödien schrieb, um schlechte Sitten lächerlich zu machen. Das war auch noch mutig, als Wolf-Ferrari auf den Stoff zurückgriff, um 1906 der wilhelminischen Gesellschaft mit leichter Hand einen Spiegel vorzuhalten. Denn so harmlos die Konversation daherkommt, so viele Rückzieher auf dem Weg einer Emanzipation auch zugestanden werden: Der Stoff hat’s in sich. Die vier unmanierlichen reichen Herren, die da konspirieren, haben mit gierigen venezianischen Handelsherren ebenso viel zu tun wie mit dem saturierten Untertan der Vorkriegszeit. Und wer will, schafft problemlos den durch Heiterkeit erleichterten Transfer in den Sexismus unserer Tage.

An der Folkwang Universität der Künste in Essen-Werden, wo Wolf-Ferraris einst erfolgreiche, seit ein paar Jahrzehnten aber weitgehend vergessene Petitesse wieder einmal aufgeführt wird, belässt Regisseur Georg Rootering das Stück diesseits einer zupackenden Deutung. Ein Spielpodium, ein paar Venedig-Dias für den Hintergrund, fertig ist die Bühne. Alina Fischers Kostüme deuten die Nachkriegszeit an, als die Jugend sich anschickte, mit Rock’n‘Roll und Doo Wop aus ihren biederen Elternhäusern zu fliehen.

Rootering meidet kalauernd überzeichnete Komik und führt die Figuren mit leichter Hand, kann aber den Studenten auf der Bühne auch nur so viel komödiantische Grazie entlocken, wie sie selbst zu geben bereit sind. Und da gibt es, ebenso wie bei den Stimmen, merkliche Unterschiede. Komödie ist zudem ein anspruchsvolles Genre, das selbst erfahrenen Profis alles abfordert. Am schwersten tun sich die jungen Männer, die anachronistisch verstaubte Väter darstellen sollen; der tochterverhökernde Lunardo von John Lim gelingt da noch am überzeugendsten.

Bogil Kim als Filipeto. (Foto: Gustav Glas)

Bogil Kim wird als Typ vorteilhaft eingesetzt, um den verschüchterten Kaufmannsjungen Filipeto zu charakterisieren, der nur dank der Durchsetzungskraft seiner Unterstützerinnen das Mädchen zu Gesicht bekommt, das er heiraten muss. In seiner Arie „Lucieta xe un bel nome“ (gesungen wird auf Deutsch, wie bei der Münchner Uraufführung 1906), einem kleinen Juwel der Buffo-Oper, zeigt Kim einen klangfeinen, noch nicht ganz sicher positionierten, aber weitgehend entspannten Tenor.

Auch bei den Damen gelingt es nur in Ansätzen, die unterschiedlichen Typen zu charakterisieren. Jeanne Jansen fehlt weder die Süße für das naive Töchterlein noch die Leichtigkeit für ihre aparten Klagen über die Langeweile; lediglich in der Höhe wird der Ton eng und löst sich vom Körper. Kejti Karaj umkleidet ihre subversive Zähigkeit mit einem wohllautenden Mezzo, sollte sich aber in der Tonproduktion nicht so sehr auf das Vibrato verlassen. Tante Marina (Natalija Radosavljevic) verbirgt hinter reizenden Ariosi, dass sie durchaus willens wäre, die Krallen auszufahren, würde sie sich nur trauen.

Mit dem Mumm zu Widerstand hat Jiajia Zhang als Felice kein Problem: Galant, aber unverfroren und knallhart gibt sie den Männern Paroli und lässt deren autoritätsheischendes Gehabe zielstrebig verpuffen. Die Erkenntnis kommt spät: „Es kann kein Mann sich wehren, wenn List das Weib als Waffe schwingt“. In der Banja ringen sich die Herren der Schöpfung zu der bitteren, vom Fagott witzig-grimmig kommentierten Erkenntnis durch, dass es „ohne Weiber“ eben nicht geht – eine Erkenntnis, die ein Jahrzehnt später Emmerich Kálmán in seiner „Csárdásfürstin“ zum Schlager ausgebaut hat.

Wolf-Ferrari reiht im Orchester federleichte Passagen und blitzende Juwelen im Detail aneinander, wechselt graziös vom Konversationston ins Arioso, lässt melodische Schmetterlinge für ein paar dutzend Takte auf den Blüten eines delikaten Terzetts, Quartetts oder Quintetts landen und gleich darauf in entzückenden instrumentalen Details weiterflattern. Diese Kunst der leichtfüßigen Grazie, der eleganten Artikulation findet ihren szenischen Widerhall in den Choreografien von Victoria Wohlleber: Drei Harlekine (Sandro Haehnel, Biran Sariyer, Natalia Stellmach) huschen immer wieder über die Bühne, verharren einmal wie ein Möbelstück auf allen Vieren, umtänzeln ein anderes Mal die Darsteller oder eine augenzwinkernd am Rand des Podiums postierte Statuette des Michelangelo-David aus Florenz.

Xaver Poncette, der seit 1994 an der Folkwang Hochschule unterrichtet und sich Ende Juli in den Ruhestand verabschiedet, hat dem Orchester mit Erfolg vermittelt, wie die Musik Wolf-Ferraris zu gestalten ist: mit Feinsinn und Geschmack; ein Soufflé, kein üppiger Panettone.

Noch eine Aufführung am Samstag, 23. April, 19.30 Uhr, in der Neuen Aula der Folkwang Hochschule in Essen-Werden. Info: https://www.folkwang-uni.de/home/hochschule/veranstaltungen/veranstaltungen-des-laufenden-monats/veranstaltung-detail/11836-die-vier-grobiane/




Wie sich Wahn in Wirklichkeit drängt: Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ an der Oper Köln

Stefan Vinke als Paul in Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ in Köln. (Foto: Paul Leclaire)

Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ zu inszenieren, dürfte zu den schwierigsten Aufgaben für Regisseure gehören. Der Symbolismus der Vorlage Georges Rodenbachs („Bruges-la-morte“), das hoffmanneske Changieren zwischen dem Dämmer des Realen und dem Nebel des Traums, das Verschieben der Wahrnehmungsräume, in denen behauptete Lebenswirklichkeit mit Fantasien, Erinnerungen, Wunsch- und Wahnbildern im Kopf verschwimmen: Überzeugende Bühnenlösungen sind rar.

Aber die Rezeption von Korngolds vor 100 Jahren, am 4. Dezember 1920 in Köln und Hamburg gleichzeitig uraufgeführter Oper ist in den letzten Jahren in Schwung gekommen. Armin Petras in Bremen, Anselm Weber in Frankfurt und kurz vor der Pandemie Immo Karaman in Wuppertal etwa haben überzeugende szenische Lösungen vorgelegt.

Tatjana Gürbaca ist ihnen in Köln mit hohem Anspruch gefolgt. Die Premiere am 100. Jahrestag der Uraufführung konnte nicht vor Publikum stattfinden und wurde im Livestream übertragen; eine Serie von Aufführungen im Staatenhaus, der Ersatz- und mittlerweile beinahe Dauer-Spielstätte der Kölner Oper, folgte nun zu Beginn der Saison.

Sein und Schein im Seelenraum

Die breite Spielfläche des Staatenhauses nutzt Bühnenbildner Stefan Heyne für einen kreisrunden Aufbau: ein hoher Zylinder, der sich als Kaiser-Panorama identifizieren lässt – so nannte man einst den hölzernen Guckkasten, in dessen Inneren Bilder zu betrachten waren. Drum herum sitzen Menschen wie an einer Bar, unbeteiligt wie auf Bildern von Edward Hopper („Nighthawks“). Schon dieses Objekt exponiert die Spannung zwischen vermeintlich Realem und raffiniertem Schein: Das massive Möbelholz erweist sich als bloße Stoffmalerei. Wird der Vorhang weggezogen, liegt im Inneren ein surrealer Raum frei, den herabhängende Schnüre unterteilen und verunklaren, erfüllt von rätselhaften Gestalten und Gegenständen, die aus einem Bild von Paul Delvaux stammen könnten.

Spannung zwischen vermeintlich Realem und raffiniertem Schein: Stefan Heyne baut ein „Kaiser-Panorama“ als zentralen Spielort seiner Bühne. (Foto: Paul Leclaire)

In diesem Innenbereich hat sich der Künstler Paul, mit einem Pinsel als Attribut gekennzeichnet, die „Kirche des Gewesenen“ eingerichtet, mit der er seiner verstorbenen Frau Marie huldigt. Im Lauf des Abends erschließt sich dieser Gedankenraum. Er ist erfüllt von manifestierten Symbolen aus der Vorstellung Pauls, die sich verselbständigen und seine Wahrnehmung bestimmen. Drei Frauen in blauen Kleidern stehen offenbar für verschiedene Aspekte der Erinnerung an die Tote. Eine trägt das Haar, das wie eine Reliquie eine entscheidende Rolle spielen soll. Wenn Marietta, in der Paul bei einer zufälligen Begegnung seine „geliebte Tote“ wieder zu erkennen glaubt, in diesem Raum bei den Worten „Bin ich nicht schön?“ ein blaues Kleid anlegt, wird deutlich, dass die junge Frau mit dem Erinnerungsideal im Kopf des vereinsamten Mannes identisch wird.

Gürbaca arbeitet mit szenischen Signalen – einer blauen Laute, dem Haar der toten Marie, einem Kindertorso als Reinheitssymbol –, um die Spirale der Entillusionierung zu verdeutlichen, in der sich die Tänzerin Marietta immer weiter vom Entwurf des vielleicht nur imaginierten Vorbilds entfernt, bis Paul sie in einem Ausbruch höchster emotionaler Erregung erdrosselt. Diese Szenen sind diffizil erarbeitet, aber Gürbaca neigt – wie etwa auch in ihrem kürzlich wieder aufgenommenen Essener „Freischütz“ – dazu, die Vorgänge mit Details aufzuladen, die eher verunklaren als verdeutlichen.

Die falsche Auferstehung

Die bedeutungsvolle Theaterszene im zweiten Bild etwa, in der die teuflische Rückkehr dreier Nonnen aus dem Grab aus Giacomo Meyerbeers „Robert le Diable“ parodiert wird, knüpft in ihrer distanzierten Gestaltung keinen rechten Zusammenhang zum Rest der Inszenierung, obwohl in ihr etwas Entscheidendes verhandelt wird: Die Untoten thematisieren einen falschen Begriff von Auferstehung – genau jenen, der Pauls Imagination der „wiederkehrenden“ Marie zugrunde liegt und gegen den die Marietta der Außenwelt im Namen des Lebens den Kampf aufnimmt. Ein Kampf, der zum Ausstieg aus dem „Traum der Fantasie“ und zur Erkenntnis führt, es gebe kein Wiederauferstehen. Wer in Gürbacas Inszenierung die Leiche ist, die am Ende deutlich erkennbar in der Gedankenkirche Pauls liegt, bleibt sinnigerweise offen; ebenso unbestimmt bleibt, ob es Paul gelingt, Brügge (die „tote Stadt“) zu verlassen. Sein Freund Frank – von Gürbaca deutlich als „Alter Ego“ Pauls gestaltet – verlässt den Bannkreis des Unheils, Paul dagegen schneidet sich die Schlagader durch.

Korngold war ein begnadeter Virtuose der Instrumentierung, ein Sensualist der Klänge, aber auch ein Könner in der Konstruktion üppiger, schillernder Harmonien. Gabriel Feltz, GMD in Dortmund, kostet die sinnlichen Eruptionen der Musik passioniert aus. Aber das Gürzenich-Orchester sitzt zu breit auseinandergezogen, um die sublimen Mischungen des Klangs, die opalisierenden Effekte verschmelzender Instrumente, die Piano- und Mezzoforte-Raffinessen und Reibungen zu erreichen. So hört man unter Feltz‘ temperamentvoller Leitung mehr von der Technik Korngolds als von seinem koloristischen Zauber. Die Musik bleibt gleißend-kühl und oft sehr laut. Das Orchester wird von Feltz auch nicht so zurückgenommen, dass die Stellen, an denen sich Klangpracht und Kraft der Attacke entfalten könnte, vorbereitet und spannend ausgefüllt werden könnten.

Keine Gnade für die Sänger

Für die Sänger kennt Korngold keine Gnade. Die Partie des Paul dürfte eine der schwersten Tenorpartien im jugendlich-dramatischen Fach sein – und Stefan Vinke bringt ein unglaubliches Durchstehvermögen und bewundernswert ungebrochene Kraft mit. Er hat sich nach anfänglicher Beklemmung energisch freigesungen, verfügt auch in der gesteigerten Emphase des Finales noch über Reserven. Freilich bleiben bei einer so überhitzten vokalen Stichflamme die Momente des Zurücknehmens, der Melancholie, der lyrischen Bewegung äußerlich.

Auch Kristiane Kaiser powert sich durch die Partie der Marietta/Marie, singt durchgestützte Linien in hoher Tessitura, erschrickt nicht vor der drängenden Attacke. Ihr Sopran hat keinen sinnlichen Samt, kein geschmeidiges Legato. Kaiser rettet sich immer wieder in kraftvoll gepushte Töne. Mit Druck bleiben aber Farben und Klangdifferenzierung auf der Strecke. Eine eher imponierende als berührende Tour de force, die allerdings auch dem Dirigenten geschuldet ist: Auf die Sänger nimmt Feltz keine Rücksicht. Miljenko Turk lässt als Frank und als Pierrot einen noblen, technisch solide abgesicherten Bariton hören.

Szene aus der „Toten Stadt“ mit Dalia Schaechter als Brigitte (rechts). (Foto: Paul Leclaire)

Für Dalia Schaechter bietet die Partie der Haushälterin Brigitte keine stimmliche Herausforderung. Als Gegenspielerin von Marietta entfaltet sie aber ihre wunderbare Vertrautheit mit allen Nuancen der Bühnenkunst. Im Ausdruck untergründigen Begehrens, in den von Paul übersehenen Signale der Sehnsucht, beachtet zu werden, im Versuch, den Mann aus den Wirren seiner eigenen Imagination zu befreien und für sich zu gewinnen, zeigt sich die Meisterschaft der großen Darstellerin.

100 Jahre nach der Uraufführung bewegt sich diese Produktion der Kölner Oper auf der Höhe der Zeit und öffnet jenseits kulinarischer Opulenz den Weg zum Nachdenken über die Frage, wie Realität entsteht und welche Wirkung unsere innere Disposition auf das Erfassen unserer Welt hat. Wahrlich alles andere als ein belangloses Thema.

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Der Traum von Bayreuth: Festspiel-Inspirationen für Aalto-Chorsänger Wolfgang Kleffmann

Keine Ruhepause für Wolfgang Kleffmann nach der Rückkehr von den Bayreuther Festspielen: Einen Tag nach der letzten Vorstellung von Wagners „Meistersingern“ war er bereits morgens auf dem Weg zur Probe im Aalto-Theater.

Wolfgang Kleffmann singt seit 2003 im Essener Aalto-Chor und seit 2005 im Bayreuther Festspielchor. (Foto: Werner Häußner)

Nach Wagner steht nun Verdi an: Der Chor des Essener Opernhauses bereitet sich auf die Wiederaufnahme von „Rigoletto“ am 12. September vor, in einer „semikonzertanten“, von Sascha Krohn eingerichteten Form. Tianyi Lu, aus Shanghai stammend und in Neuseeland groß geworden, steht als Gastdirigentin am Pult. Sie ist die Gewinnerin des internationalen Sir Georg Solti Dirigentenwettbewerbs 2020. Die Titelrolle singt der isländische Bariton Ólafur Sigurdarson, als Rigolettos Tochter Gilda ist Tamara Banješević in ihrem Rollendebüt zu erleben. Im Chor der Höflinge, die willig jede Bosheit ihres Herrn, des Herzogs von Mantua (Carlos Cardoso), mitmachen, singt Wolfgang Kleffmann im Tenor.

Szene aus Verdis „Rigoletto“ am Aalto-Theater Essen, mit Tamara Banješević und Carlos Cardoso. (Foto: Saad Hamza)

Für die Festspiele hat der Sänger gerne auf Urlaub verzichtet: Bayreuth hat ihn gepackt, seit 2005 singt er dort im Chor. „Wagner erschüttert, wenn man dafür empfänglich ist“, bekennt er. Auch wenn es pathetisch klingt: Wagner hat das Leben von Wolfgang Kleffmann verändert. Ein Besuch der „Walküre“ entfachte die Wagner-Begeisterung. Nach zehn Jahren Praxis als Zahnarzt in Eschweiler begann er mit 33 Jahren noch ein Gesangsstudium, das er in Maastricht abschloss. Sein Ziel von vornherein: Singen im Chor. Der Wunsch erfüllte sich 2003, als er seine erste Stelle im Chor des Aalto bekam. Da blieb es nicht bei der Liebe nur zu Wagner. Die Opern Giacomo Puccinis oder ein Werk wie Giuseppe Verdis „Don Carlos“ sprechen den Sänger ebenso an.

Singen in Gemeinschaft

Das Singen in Gemeinschaft hat ihn schon als Jugendlicher interessiert. Kleffmann erinnert sich an ein prägendes Erlebnis, das wieder mit Wagner zu tun hat: „Ich hörte eine alte Platte meines Vaters, so eine Sammlung berühmter Chöre. Beim Pilgerchor aus dem ‚Tannhäuser‘ musste ich weinen.“ Was lag also näher als der Versuch, als professioneller Sänger beim Bayreuther Festspielchor zu landen? „Beim Vorsingen habe ich gedacht, ich hätte alles in den Sand gesetzt“, erinnert er sich. „Ich bin mit Tränen in den Augen nach Hause gefahren“. Aber zu seiner Überraschung kam die Zusage: 2005 durfte er anfangen. Der Traum hat sich erfüllt.

Seither ist er mit nur einer Unterbrechung jedes Jahr dabei. Schmerzlich war der Ausfall im letzten Jahr, durch Corona bedingt. Kleffmann ärgert sich: „Weder Chor noch Orchester haben eine Ausgleichszahlung erhalten, weil unsere Verträge, die seit März fertig ausgehandelt waren, noch nicht unterzeichnet waren.“ Er findet das für die Ensembles als „Rückgrat der Festspiele“ schlichtweg beleidigend. „Viele Kollegen sind durch den Ausfall ihrer Einkünfte unglaublich unter Druck geraten“.

Als der Chor geteilt werden musste

Bei den Festspielen 2021 stand der Chor vor einer nie dagewesenen Situation: Die knapp 140 Sängerinnen und Sänger wurden geteilt: Die Hälfte sang im Chorsaal, die andere Hälfte spielte stumm auf der Bühne. „Wir sitzen in einer Art Telefonzelle aus durchsichtigem Material und singen. Der Ton wird direkt ins Festspielhaus übertragen. Das funktioniert hervorragend, und ich bin gar nicht unglücklich. Denn es tut gut, sich einmal ausschließlich auf die musikalische Arbeit zu konzentrieren.“

Im Rückblick auf 16 Jahre Bayreuth erinnert sich Kleffmann an manche unvergessliche Zeit, so die Arbeit mit Christoph Schlingensief, ein „unheimlich sympathischer Typ“. An den „Parsifal“ Stefan Herheims, einen Höhepunkt seines Sängerlebens. Oder an den „Tannhäuser“ von Tobias Kratzer: „Ein Regisseur, bei dem alles durchdacht ist.“ Musikalisch ist für ihn die Zusammenarbeit mit Christian Thielemann ein Erlebnis, aber er schätzt auch Semyon Bychkov: „Er führt mit den Händen, hochmusikalisch.“

Inspirierend ist für Kleffmann auch, an der Seite berühmter Sängerkollegen wie Georg Zeppenfeld zu stehen: „Ein so bescheidener Mensch und ein Sänger, bei dem alles stimmt.“ Oder Tenöre wie Piotr Beczała und Klaus Florian Vogt als „Lohengrin“ zu erleben. So nimmt Wolfgang Kleffmann, der bald wieder seine Fußball-Jugendmannschaft in Bredeney trainiert, aus Bayreuth willkommene Impulse für die tägliche Arbeit am Aalto-Theater mit. Und hofft, im nächsten Jahr wieder dabei zu sein, wenn sich der Vorhang für die neue „Ring“-Inszenierung von Valentin Schwarz hebt.




Wolfgang Clement – er da oben, wir da unten

Mit dem heute verstorbenen Ex-Ministerpräsidenten von NRW und Bundes-„Superminister“ Wolfgang Clement habe ich anno 1981 (noch als blutiger Redaktions-Anfänger) bei der Westfälischen Rundschau (WR) gelegentlich am Konferenztisch gesessen. Ich sage nicht: sitzen dürfen. Er nahm ja schon damals ganz oben vor Kopf Platz, ich am anderen Ende – bei den „Einsteigern“…

Schon bald entschwand er unseren staunenden Blicken, immer höher und höher hinauf. Wie hatte er, sozusagen mit hochfahrender Bescheidenheit, zum Abschied von der WR gesagt: „Ich will noch etwas aus mir machen.“ Hat er ja dann auch vermocht.

Allen tatsächlichen und etwaigen Verdiensten Wolfgang Clements ums Staatswesen zum Trotze: Nein, ich bin nicht stolz auf das kurzzeitige Zusammentreffen; einesteils, weil es ohnehin albern wäre. Überdies schon gar nicht darauf, dass der studierte Jurist später Hartz-IV-Empfänger oft und gern als potenzielle Schmarotzer verdächtigte und so mancherlei weiteres unsoziales Gerede vom Stapel ließ. Er trieb es schließlich so weit, dass die SPD ihn rauswerfen wollte. Dann ging er selbst und warb für die FDP.

Er möge gleichwohl in Frieden ruhen.




„Im Grunde blieb kein Stein auf dem anderen“: Neu aufbereitete Interviews mit Christa Wolf zur Wendezeit

Jubelnde Menschen in Ost und West: Diese Bilder prägten 2019 die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Ein ungleich facettenreicheres Porträt der Wendezeit bieten indes die Interviews, die der Filmemacher und Publizist Thomas Grimm mit der Schriftstellerin Christa Wolf im Beisein ihres Mannes Gerhard Wolf vor elf Jahren geführt hat.

Jetzt hat Grimm die Gespräche gemeinsam mit dem Ehemann der 2011 verstorbenen Autorin aufbereitet und um Reden sowie weitere Dokumente erweitert – womit man sich mitten im Geschehen jener Jahre befindet.

„Für unser Land“ heißt ein denkwürdiger Aufruf, den Wolf und eine Reihe von Weggefährten aus Kultur, Kirche und Wissenschaft in den Novembertagen 1989 verfasst haben, wollten sie doch die DDR von der Basis her reformieren. Eine deutsche Einheit, die gern in einem Atemzug mit der Grenzöffnung genannt wird, war für sie nicht das vorrangige Ziel, wie es auch in Christa Wolfs Rede auf dem Alexanderplatz deutlich wird. Vielmehr hatten zahlreiche Intellektuelle vor Augen, „eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik“ zu schaffen – ohne Honecker & Genossen.

„In völlig andere Strukturen hinübergehoben““ 

Bekanntlich kam es anders, Kanzler Kohl habe schlau und geschickt agiert, resümiert die Schriftstellerin. Sehr feinfühlig, oftmals mit dem Neuen hadernd, gibt sie wieder, welche Entwicklung fortan ihren Lauf nahm. Man sei im Kulturbereich in völlig „andere Strukturen hinübergehoben worden“, heißt es an einer Stelle, an einer anderen beschreibt Christa Wolf die Veränderung an den Universitäten: „Über Nacht übernahmen die westdeutschen Gesandten die Gremien, und selbst hoch angesehene DDR-Wissenschaftler mussten sich von zweitklassigen Professoren aus dem Westen evaluieren lassen. Im Grunde blieb kein Stein auf dem anderen.“

Sozialistisch klingt es, wenn sie erklärt, dass mit der Einheit „das Privateigentum an den Produktionsverhältnissen“ wiedereingerichtet worden sei. So sehr sie das vereinte Deutschland mit vielen Bedenken betrachtet, so kritisch sieht sie aber auch das DDR-System, das die Menschen vereinnahmt, entmündigt und in ihrer Würde verletzt habe. Schließlich wirbt sie dafür, den einstigen DDR-Bürgern Verständnis entgegenzubringen, die es eben nicht gelernt hätten, ihre Meinung zu sagen und sich in demokratischen Spielregeln einzuüben.

Als ein Umbruch noch unwahrscheinlich zu sein schien

Dass sich in dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ überhaupt ein Umbruch anbahnen könne, das schien der Schriftstellerin auch noch in den letzten Monaten vor dem Mauerfall unwahrscheinlich zu sein. Die Hoffnung, die DDR-Führung würde sozusagen von oben einen Wandel einleiten, haben nach Aussagen von Wolf wohl viele Bürger spätestens nach einem Interview mit Funktionär Kurt Hager im Jahr 1987 begraben. Auf die Frage, ob nicht Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion Vorbild für die DDR sein könne, stellte er sinngemäß die Gegenfrage, ob man, wenn der Nachbar die Wohnung neu tapeziere, das denn auch machen müsse.

Den Anfang vom Ende des Systems verortet Christa Wolf allerdings weniger in den Reformprozessen, die Gorbatschow einleitete, vielmehr habe der Zerfall bereits mit der Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermanns 1976 begonnen. En passant erwähnt Wolf, dass die Entscheidung Honecker ganz allein getroffen habe, selbst seine Ehefrau sei aus Angst um die Folgen dagegen gewesen. Nun sei zwar Biermann nicht besonders bekannt gewesen in der DDR, dass aber überhaupt jemand ausgebürgert wird und dann noch jemand, dessen jüdischer Vater im KZ umgebracht wurde, hat nach Wolfs Darstellung den Protest katalysiert.

Offene Worte über die Kontakte zur Stasi

Der Zusammenbruch 1989 geht, wie Christa Wolf anschaulich beschreibt, auf mehrere Ereignisse zurück, wozu Aktionen der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung ebenso gehören wie die öffentlichen Berichte zu den Manipulationen bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 und schließlich die Übergriffe der Staatsmacht bei den Demos im folgenden Oktober. Wie schwierig die Aufarbeitung solcher Vergehen sich gestalten kann, darauf geht Christa Wolf ein, als sie über ihre Mitarbeit in der Untersuchungskommission berichtet, die beispielsweise einen Erich Mielke interviewen musste. Sehr offen spricht sie über ihre Kontakte zur Stasi, berichtet davon, wie überrascht sie bei Sichtung der eigenen Akten gewesen sei, als IM geführt worden zu sein. Ihre kritische Haltung zu Partei und Staat, so mutmaßt Wolf, habe wohl dazu beigetragen, dass man an ihr als Informantin dann doch wohl kein Interesse hatte. Selbst hätte sie es sowieso nicht gewollt.

Wenn man heute ein solches Buch liest, das vertiefende Einblicke in Strukturen und Zusammenhänge der DDR bietet, kommt unweigerlich die Frage auf, ob sich irgendwo Erklärungsmuster für das Erstarken von Populismus und Rechtsextremismus finden. Einen Hinweis gibt Christa Wolf direkt selbst. Der Aderlass an jungen Menschen gleich mit Öffnung der Mauer hat nach ihrer Ansicht die ostdeutsche Gesellschaft anfälliger für solches Gedankengut gemacht. Zudem hebt Wolf darauf ab, wie sehr doch eine ablehnende Haltung gegenüber dem Staat während in der DDR ausgeprägt war, woraus sich die Frage ergibt, welche Folgen das für eine spätere Gesellschaft haben kann. Und schließlich spricht sie davon, dass – wenn auch eher auf alternative Lebensformen bezogen – sich Menschen in Zirkeln und Vereinigungen Nischen suchen, um der Globalisierung zu entkommen.

Christa Wolf: „Umbrüche und Wendezeiten“, hg. von Thomas Grimm unter Mitarbeit von Gerhard Wolf, Suhrkamp, 141 Seiten, 12 Euro.




Wanderer und Wölfinnen – Gesammelte Erzählungen von Alban Nikolai Herbst in zwei Bänden

Ein junger Mann steht vor einer Disko, er ist anders als die anderen Jugendlichen. „Steht etwas abseits“, beginnt die zwischen 1977 und 1979 entstandene Geschichte „Müder Gegner“. Liegt eine Erklärung für seine Isolation in dem Satz „Ich bin die Hürde mir selbst, die anwächst, je näher ich komme“? Der von Alban Nikolai Herbst mit seiner Lektorin Elvira M. Gross unter dem Titel „Wanderer“ zusammengestellte Band umfasst Erzählungen von den 1970er- bis zu den späten 1990er-Jahren.

Zwei große Amour-fou-Geschichten bilden den Rahmen: Von der Jugendliebe „Svenja“ bis zur mysteriösen, gespenstischen Jézabel in der Novelle „Die Orgelpfeifen von Flandern“. Dazwischen die nicht minder bizarre „Sabinenliebe“ mit ihrem Wechsel zwischen Realitäten. Verschiedene Realitäten und ihr gegenseitiges Durchwirken, noch bevor alle Welt von Virtual Reality sprach, die „Anderswelt“, das ist das Lebensthema des unermüdlichen ANH – so die gängige Abkürzung des Pseudonyms Alban Nikolai Herbst.

Die Erzählungen sind grob chronologisch geordnet. Die frühen Kostproben reichen thematisch bis in die Schulzeit zurück, und es ist zu befürchten, dass die Schikanen und scheinbar ironischen, aber menschenverachtenden und sich desaströs auswirkenden Sticheleien eines Lehrers in „Armer Ulrich“ nur allzu sehr dem Schulalltag abgeschrieben sind.

Expressionistische Wurzeln

Vielen der frühen Erzählungen ist anzumerken: Da will ein Autor anders schreiben als die Mehrheit seiner Zeitgenossen. Er probiert, er wagt etwas. „Leben pulste in den Straßen, die überplante Gemüsestände bordierten“. ANH hat den expressionistischen Dichter August Stramm gelesen. Eigenwilliger Satzbau, die gleichzeitige Er- und Ich-Perspektive und das Umschlagen von einer zur anderen Person innerhalb eines Satzes, Wortschöpfungen, Gedankenfetzen im Stakkato-Stil, sprunghafte Themenwechsel, Umgangssprache, Berlinerisch, dann wieder Rilke, das alles beansprucht des Lesers Konzentration.

Der reife Herbst, der im kommenden Februar seinen 65. Geburtstag feiert, würde sich manche Jugendsünde heute nicht mehr durchgehen lassen, jedoch wollte der Autor – wie er in einem Interview mit dem SWR2 erklärte – seine älteren Texte bei der erneuten Durchsicht „auf ein gutes stilistisches Niveau bringen, aber zugleich doch versuchen, die Jugend zu erhalten, die in einigen dieser Texte noch drin ist.“ (Sendung „lesenswert“, vom 28.7.2019, 17.05 Uhr). Das ist ihm gelungen. Die neue Veröffentlichung lässt einige der früh schon in seinem labyrinthischen Werk angelegten Motive erkennen; das Werden eines Schriftstellers wird anschaulich.

Altmeister der phantastischen Literatur

Vor allem einige Altmeister der phantastischen Literatur wie H. P. Lovecraft, Jorge Luis Borges, Kafka und unter den frühen Surrealisten allen voran Louis Aragon, stehen nicht nur dezent im Hintergrund mancher Erzählungen; ihre Namen markieren Orientierungspunkte und intertextuelle Bezüge. Es macht die phantastische Welt eher noch phantastischer, wenn, wie in der imaginären Jorge-Luis-Borges-Welt des „Gräfenberg-Clubs“ (ca. 1986 geschrieben und 1994 in „die horen“ veröffentlicht), unverschlüsselt der Name des gleichaltrigen Schriftsteller-Kollegens Martin R. Dean auftaucht. In „Geständnis für die literarische Welt“ (1999 erschienen in „Die Welt“) spielt ANH mit dem vermeintlichen Autor einiger seiner Romane, Hans Erich Deters, der auch auf Herbsts ausufernder Website „Die Dschungel. Anderswelt“ als Teil der „Fiktionäre Herbst & Deters“ eine prominente Rolle einnimmt. Die Grenzen zwischen Autor und Dichtung zerfließen ebenso wie zwischen Dichtung und Welt.

Besondere Frauen

Doch auch die von den männlichen Protagonisten begehrten Frauen unterscheiden sich vom Alltäglichen. Wie schon die Jugendliebe Svenja, das Mädchen aus der Tanzschule, das dem Jungen an Reife, aber auch in ihrem Erfahrungshunger so sehr überlegen ist. Seine Ungeschicklichkeit und sein Zaudern im entscheidenden Moment führen zu einem Abbruch ihrer Treffen. „Mit Perry Rhodan kam er darüber hinweg“. Ein späterer Antiheld erleidet die einseitige Liebe zu der abweisenden Sabine – eine besondere Form von Besessenheit („Sabinenliebe“). Und als letzte weibliche Hauptrolle im Band I der Erzählungen, in der Novelle „Die Orgelpfeifen von Flandern“ (zuerst 1993 im Verlag von Axel Dielmann erschienen), begegnet uns die moderne Mythengestalt Jézabel in einer Handlung mit traumlogisch wechselnden Schauplätzen von Antwerpen zum Parc des Buttes-Chaumont in Paris.

Metaphysischer Masochismus

Auch wo nicht von Begehren im Sinne des üblichen Appetenzverhaltens die Rede sein kann, versteht es der männliche Ich-Erzähler durch die Begegnung mit besonderen Frauen an die Grenze seiner Existenz zu gelangen. Wie mit der Künstlerin Martha Werschowska, die frische Wunden und abgetrennte Körperteile malt und die Seele einfangen möchte, in dem Moment, wenn sie aus dem Fleisch entweicht. „Das Leben“, hat sie gesagt, „stellt sich der Zeit entgegen, darin liegt seine Substanz. Die will ich finden und erhalten.“

Während der schöne Mann in einer Art metaphysischem Masochismus als ihr Aktmodell auf der Opferbank liegt und die „allmähliche Vorbereitung“ seiner „präzisen Einsegnung“ registriert, philosophiert die Domina-Malerin über das Devote, das Gottergebene und die Devotionalien, die ihre Gemälde seien – de Sade’sche Philosophie vom Boudoir ins Atelier verlagert und auf Männer statt auf junge Damen angewandt. Sie hat „Die Tränen des Eros“ von Georges Bataille gelesen. Auch sie ist isoliert und wie ANHs verschiedene Alter Egos eine Außenseiterin. „Sie hat kein Gefühl, dachte ich. Sie kennt kein Mitleid. Und: So wie es die Dame berührte, schien sich das Leben zu plastifizieren.“ („Kette“)

Die Unbehaustheit des Autors in der Verlagslandschaft

Das Anderssein, das Polyglotte oder – je nach Sichtweise – die Unbehaustheit des Autors spiegelt sich auch in vier verschiedenen Verlagen wider, die lieferbare Titel von ANH bereithalten. Neben dem Wiener Septime Verlag, in dem im Frühjahr und Herbst 2019 die beiden stattlichen Bände Erzählungen I + II mit den Titeln „Wanderer“ und „Wölfinnen“ erschienen sind, wäre der Berliner Elfenbein Verlag zu nennen, der inzwischen die komplette „Anderswelt-Trilogie“ in sein Programm übernommen hat, weiterhin einen Band mit vier „Radio-Fantasien“ (2004) und die „Bamberger Elegien“ (2011).

Im mareverlag konnte 2017 endlich der Roman „Meere“ erscheinen, dessen Verbreitung 2003 nach einer einstweiligen Verfügung aufgrund der möglichen Verletzung der Persönlichkeitsrechte einer im Roman dargestellten Schlüsselfigur verboten wurde. 2015 war im selben Verlag der grandiose Roman „Traumschiff“ erschienen (siehe die Besprechung in den Revierpassagen). Und der Arco Verlag brachte 2018 ANHs Nachdichtung von James Joyce Chamber Music / Kammermusik in einer sehr schönen Ausgabe heraus.

Präsent und doch merkwürdig unsichtbar

Der Autor ist also auf dem Buchmarkt präsent wie nur wenige seiner Generation, und ist zugleich merkwürdig unsichtbar, steht trotz seiner herausragenden Werke, die allesamt in großartigen Verlagen erschienen sind, im Abseits, taucht eher selten in den Feuilletons der großen Zeitungen oder in den Auslagen der Buchhandlungen auf.

Alban Nikolai Herbst ist ein kompromissloser Autor, einer, der sich selbst zur Hürde wird. Er quält seine Leser*innen mitunter, wie er sich selbst quält. Ein Skandalautor, als den manche Medien ihn sehen möchten, ist er nicht. Skandalös wäre eher die Nichtbeachtung seines erstaunlichen Werks durch die Literaturwirtschaft.

Wir können uns darauf freuen, den Band 2 der Erzählungen mit dem Titel „Wölfinnen“ zu lesen, der soeben erschienen ist.

Alban Nikolai Herbst: „Wanderer“. Erzählungen Band I. Ediert und mit einem Nachwort von Elvira M. Gross. Septime Verlag, Wien, Frühjahr 2019. 600 Seiten, 29,00 Euro.

Alban Nikolai Herbst:Wölfinnen“. Erzählungen Band II. Septime Verlag, Wien, Herbst 2019. 600 Seiten, 29,00 Euro.

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Weitere lieferbare Titel von Alban Nikolai Herbst

Im Elfenbein-Verlag, Berlin:

Die „Anderswelt-Trilogie“, bestehend aus den Einzelbänden

  • Anderswelt. Fantastischer Roman (zuerst 1998); 2., überarb. Aufl. 2018. 895 Seiten, 39,00 Euro.
  • Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman; 2001, 2. Aufl. 2016. 272 Seiten, 19,00 Euro
  • Anderswelt. Epischer Roman. 2013. 872 Seiten, 39,00 Euro

Außerdem bei Elfenbein:

  • Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen vier Radio-Fantasien über Aragon, D’Annunzio, Powys, Pynchon und eine Poetik auf CD. 2004. 156 Seiten, 17,00 Euro
  • Das bleibende Thier. Bamberger Elegien. 2011. 152 Seiten, 20,00 Euro

Im mareverlag, Hamburg:

  • Meere. 2003/2017. 264 Seiten, 22,00 Euro
  • Traumschiff. 2015. 320 Seiten, 22,00 Euro

Im Arco Verlag, Wuppertal/Wien:

  • James Joyce: Chamber Music / Kammermusik. Zwei Nachdichtungen von Alban Nikolai Herbst und Helmut Schulze. 2017. 160 Seiten, 20,00 Euro



In zwölf Minuten von Mahler zu Mahler: In Duisburg und Essen erklangen die Sechste und die Zweite Symphonie

Die Duisburger Philharmoniker. Foto: Zoltan Verhoeven-Leskovar

Die Duisburger Philharmoniker. Foto: Zoltan Verhoeven-Leskovar

Zwei Mahler-Symphonien innerhalb weniger Tage in Duisburg und Essen: Wer den alten Ruhrpott nicht als Flickenteppich diverser städtischer Zentren, sondern die Rhein-Ruhr-Region als großen Kulturraum wahrnimmt, hat nicht nur in Sachen Mahler eine weltstädtische Auswahl. Man muss nur zum Beispiel die zwölf Minuten zwischen den Hauptbahnhöfen von Essen und Duisburg in Kauf nehmen.

Und dann bekommt man demnächst Mahlers Neunte in Dortmund, in der nächsten Spielzeit die Dritte in Gelsenkirchen und Essen, die Vierte in Wuppertal, die Siebte in Dortmund, die Neunte in Duisburg und die Sechste als Abschluss des Mahler-Zyklus mit Adam Fischer in Düsseldorf.

In Essen also die Sechste, ein Werk mit Regionalbezug, wurde es doch am 27. Mai 1906 hier im Herzen des Ruhrgebiets uraufgeführt. Viele Erklärungsmuster legen sich über die Symphonie: Die einen sehen sie als die „klassischste“ der Neun, andere lesen sie mit expliziten biographischen Bezügen oder entdecken in ihr eine prophetische Vorwegnahme eines Komponisten- oder sogar Epochenschicksals. Das hat einiges für sich: Mahler spürte sicherlich die untergründige Unruhe der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, war Zeuge heftig umstrittener Aufbrüche, strebte auch selbst mit jedem Satz jeder seiner Symphonien zu bisher unerreichten Ufern. Alexander von Zemlinsky soll die Sechste Mahlers „Eigentliche“ genannt haben; er selbst hielt sie laut Alma Mahler für sein „allerpersönlichstes Werk und ein prophetisches obendrein“.

Biographie und Musik bei Mahler

Dass biographische Einflüsse – wie auch schon bei Tschaikowsky – eingeflossen sind, wird man schwerlich leugnen können. Die Frage ist, was dieselben für eine Mahler-Deutung heute bedeuten. Tragische Künstlerschicksale haben 108 Jahre nach Mahlers Tod nicht mehr die hypersensible Brisanz von einst; der Weltuntergang wird uns in Breitband und allen tontechnischen Raffinessen im Kino vorgespielt. Bleibt die Musik, das „Material“, das wir, je nach Standort, distanziert interessiert oder mit innerer Emphase anhören, auf uns wirken lassen.

Eine gewisse Materialfixierung mag der Grund sein, warum Mahler-Deutungen derzeit als gut empfunden werden, wenn sie technisch makellos daherkommen – wie jüngst die Achte unter Kirill Petrenko im Bregenzer Festspielhaus (und im Januar 2020 wohl auch die Sechste in Berlin). In Essen lässt sich Tomáš Netopil nur zum Teil auf eine solche – überspitzt gesagt – technizistische Lösung ein. Er lässt Wut und Depression, Melancholie und Aufschrei zu, ohne in jedem Moment auf plastische Balance, auf das „strukturelle“ Hören zu achten.

Der Essener GMD Tomas Netopil. Foto: Hamza Saad

Der Essener GMD Tomas Netopil. Foto: Hamza Saad

Da dürfen die vorzüglich disponierten Essener Philharmoniker auch einmal „loslassen“, die Magie des Moments auskosten, Klänge ausspielen und kombinieren. Mahler hat ihnen dazu genug Gelegenheit in seine Partitur geschrieben: Die böse kleine Trommel, die den Bläsern ihren Marschrhythmus aufdrückt, kaum dass die Wucht der Pauken einmal verstummt ist; die Klarinette, die sich mit den Kuhglocken aus der Ferne für wenige Takte für eine trügerische Idylle vereint; die Streicher mit ihrem verzerrten Schlager oder ihren gespenstischen Tremoli – schon der erste Satz fordert Klang- und Struktursinn heraus, und Netopil entscheidet sich, eher die Wirkung als die Ursache zu erforschen.

Das mag in diesem „Allegro energico“ hie und da zu bedauern sein, in den anderen Sätzen nicht. Denn zum Beispiel im letzten Satz erfasst der Essener Generalmusikdirektor, wie der vorher schon fast allgegenwärtige Marsch alles niederwalzt, was an thematischen Erinnerungen oder gar harmonischen Abfolgen erkennbar ist. Hier komponiert Mahler die brutale Überwältigung, den alles überflutenden Tumult, der sich in „irrer Geschäftigkeit“ (Peter Gülke) selbst verschlingt. Netopil hält diese Exuberanz allerdings so im Zaum, dass der Eindruck nicht verloren geht, der musikalische Formwille wehre sich gegen das allüberall lauernde Chaos, gegen den mit Ruten gepeitschten und mit den berühmten Hammerschlägen – in Essen partiturgerecht hölzern-trocken – übersteigerten Rhythmus. Tamtam und Harfe – welche Kombination „magischer“ Instrumente! – markieren einen wesentlichen Zusammenbruch, dem nur noch stockendes Aufflackern, finaler Donnerschlag und verzuckendes Pianissimo folgen. Verdienter Jubel.

Knöcherner Marsch und überlegtes Formbewusstsein

Ein Marsch, wenn auch weit weniger formbestimmend, findet sich auch im ursprünglich „Todtenfeier“ genannten ersten Satz der Zweiten Symphonie Mahlers, mit der sich die Duisburger Philharmoniker unter ihrem neuen GMD Axel Kober der fünf Wochen vorher erklungenen „Konkurrenz“ aus Düsseldorf stellen. In der Mercatorhalle klingt diese „Marcia“ noch fahler, knöcherner als in der Tonhalle; auch in den spannungsvollen leisen Momenten der Violinen, in dem elektrisierend unwirschen Eröffnungsakkord der tiefen Streicher, den kantabel geführten Holzbläsern und den Choralanklängen zeigen die Duisburger Philharmoniker fein abgestuften Klangsinn und ein Gespür für Spannungen und Stimmungswechsel.

Axel Kober, jetzt auch GMD der Duisburger Philharmoniker. Foto: Max Brunnert

Axel Kober, jetzt auch GMD der Duisburger Philharmoniker. Foto: Max Brunnert

Im zweiten Satz zelebriert Kober das Gemütlich-Naive des Dreiertakts, betont damit den Kontrast zu ersten, rückt ihn aber auch in die Nähe einer maliziösen Ironie. Man weiß nie, ob die properen Horn-Staccati und das leichtfüßige Stricheln der Geigen nicht eine Spur zu idyllisch gemeint sind. So fängt Kober in einem Satz, der gerne als unkompliziert dargestellt wird, die mehrdeutige Mahler-Welt ein, die sich dann im dritten Satz eindunkelt, wenn die drehenden Dreier fast dämonisch aufgeladen werden.

Kober macht – auch in den wilden Steigerungen, die noch folgen – den Formwillen klar, hebt die motivtragenden Schichten stets hervor. Bei allen fabelhaften Momenten von Horn und Klarinette, Celli, Kontrabässen und Fagott bis hin zu Harfe und Tuba: Im Lärm des ersten, in etwas zu unverbindlichen Klang des dritten und im eher zum Spröden neigenden Blechbläserklang des vierten Satzes kommen die Duisburger an ihre Grenzen; auch die Intonation scheint in der Riege der Bläser nachzulassen, wenn nicht Verwerfungen der Akustik das Ohr täuschten.

Für die vokalen Anteile der Symphonie stehen der Philharmonische Chor Duisburg und der LandesJugendChor NRW ein: ansatzrein, ausgeglichen, mit schimmernd gehaltenen Klängen, saftigen Steigerungen und einem wundervoll plastisch-mystischem „Was erstanden ist, das muss vergehen“. Hoheitsvoll lässt Ingeborg Danz im „Urlicht“ die Stimme strömen und flutet die Töne mit purer Schönheit; Anke Krabbe kündet Mahlers Glaubensbotschaft mit leuchtend präsentem Sopran. Entschweben zum Licht: Bei solcher Schönheit wird diese Vision in Tönen erfahrbar.

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Das nächste Konzert der Duisburger Philharmoniker bringt am 5. und 6. Juni in der Mercatorhalle ein Konzert für Streichquartett und Orchester des in Zürich geborenen und in New York lebenden Daniel Schnyder, György Ligetis Concert Românesc und Sergej Prokofjews Siebte Sinfonie. Karten: (0203) 283 62 100, Info: www.duisburger-philharmoniker.de

Bei den Essener Philharmonikern heißt es am 20. und 21. Juni „Vive La France“ mit Werken von Camille Saint-Saëns, Arthur Honegger und Maurice Ravel. Solist im Ersten Cellokonzert a-Moll op. 33 von Saint-Saëns ist Gautier Capuçon. Karten: (0201) 81 22 200, Info: https://www.theater-essen.de/philharmonie/spielplan/vive-la-france-77124/2570/




Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner gestorben

Der Schriftsteller Wolfgang Körner ist mit 81 Jahren in Dortmund gestorben, und zwar bereits am 25. April.

Was bleibt, ist das Werk: Typoskriptseite von Wolfgang Körner, verwahrt im Fritz-Hüser-Institut. (© FHI)

Bleibendes aus dem Nachlass: Typoskriptseite mit handschriftlichen Korrekturen von Wolfgang Körner, verwahrt im Dortmunder Fritz-Hüser-Institut. (© FHI)

Durch bloßen Zufall habe ich diese traurige Nachricht gestern im Facebook-Auftritt des Dortmunder Literaturhauses entdeckt, das wiederum auf einen kurzen Nachruf im Magazin „Buchmarkt“ verwies. Heute kam eine Pressemeldung der Stadt heraus, die zusätzlich darauf abhob, dass das am Ort ansässige Fritz-Hüser-Institut Körners literarischen Nachlass bewahre. Nur gut, dass Körner seinen einst (scherzhaft?) geäußerten Vorsatz („Ich schmeiße alles weg!“) nicht umgesetzt hat.

Umstände und Zeitpunkte der Veröffentlichungen deuten darauf hin, dass der 1937 in Breslau geborene Wahl-Dortmunder Wolfgang Körner längst dem öffentlichen Bewusstsein entglitten war. Das war einmal ganz anders gewesen: Körner hatte der einflussreichen Dortmunder „Gruppe 61″ angehört – u. a. gemeinsam mit Max von der Grün, Günter Wallraff und Erika Runge. Diese Formation hatte sich vor allem die realistische Schilderung des gewöhnlichen Alltags und der Arbeitswelt auf die Fahnen geschrieben. Dazu fügte sich auch ein Roman wie Wolfgang Körners „Versetzung“ (1966), eine auch von Popliteratur inspirierte Ansicht aus der Welt der Angestellten, wie sie damals – viele Jahre etwa vor Wilhelm Genazinos „Abschaffel“-Trilogie – noch keineswegs gängig war.

Aus seinem vielfältigen Werk am bekanntesten wurde der Roman „Nowack“ (1969), eine sozialkritische Auseinandersetzung mit Zuständen im Ruhrgebiet. Via Fernsehen entfaltete Körner, der sich zunehmend auf Satire und Parodie verlegte, auch bundesweite Wirkung – mit seinem Drehbuch zur kultverdächtigen Serie „Büro, Büro“ (1981), quasi einem frühen Vorläufer von „Stromberg“. Bis heute ist die Reihe auf manchen Internet- Plattformen abrufbar. Weithin bekannt wurde auch „Der einzig wahre Opernführer“ (1985), gleichfalls nicht bierernst gemeint und bei Rowohlt immer noch lieferbar.

Leute, die ihn näher gekannt haben, wie etwa der Publizist Klaus Waller, beschreiben Wolfgang Körner als Menschen mit „Ecken und Kanten“, der aber vor allem Humor besessen habe. Körner, so Waller im erwähnten (und oben verlinkten) „Buchmarkt“-Artikel weiter, habe manche Kollegen und andere, die in Not geraten waren, unterstützt. Am irdischen Gütern hing er nicht, denn, so Körners in jedem Sinne gut geerdete Begründung, er müsse „nicht die reichste Leiche auf dem Friedhof sein“.




Der Mann, der keinen Roman mehr schrieb – Gespräche und Interviews mit Wolfgang Koeppen als Band 16 der Werkausgabe

In der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur dürfte das Phänomen einzigartig sein. Da gab es einen recht prominenten Schriftsteller, der von 1954 bis zu seinem Tod 1996 partout nicht mehr jenen Roman vollendete, den so viele anspruchsvolle Leser dringlichst von ihm erwarteten.

Dennoch fand dieser Autor in Siegfried Unseld (Suhrkamp) einen Verleger, der ihn durch die Jahrzehnte währende Schreibkrise allzeit (auch und gerade finanziell) generös fördernd und mit wahrhaftiger Engelsgeduld begleitete.

Bei all dem weckte der Schriftsteller, gleichsam als lebende Legende, reges publizistisches Interesse. Immer und immer wieder wollten andere Autoren, Kritiker oder anderweitig kultursinnige Journalisten Gespräche mit ihm führen. Wer mit Wolfgang Koeppen gesprochen hatte, sah sich gleichsam in der Zunft geadelt.

Die Liste der illustren Interviewer(innen)-Namen ist lang, es stehen darauf u. a. – hier in alphabetischer Folge: Heinz Ludwig Arnold, Horst Bienek, Volker Hage, Günter Kunert, Angelika Mechtel, André Müller, Karl Prümm, Marcel Reich-Ranicki und Asta Scheib; um nur einige zu nennen.

Wolfgang Koeppen (1906-1996) hatte (nach vergleichsweise eher unscheinbaren Anfängen in den 1930er Jahren) mit „Tauben im Gras“ (1951) und „Das Treibhaus“ (1953) in der noch jungen Bonner Republik zwei höchst bemerkenswerte Romane vorgelegt, die nicht nur zu großen Hoffnungen berechtigten, sondern diese zum gewissen Teil bereits einlösten. Und ein solcher Mann verstummte dann unversehens für alle übrige Zeit – zumindest als Romancier!

Reich-Ranicki wollte endlich mehr Privates erfahren

Eben dieser Umstand hat zahlreiche Gesprächspartner Koeppens wohl besonders gereizt. Sie haben versucht, seinem „Geheimnis“ auf die Spur zu kommen; sie wollten ergründen, warum ein weiterer großer Roman noch und noch auf sich warten ließ und wie das Nicht-Erscheinen allmählich zum anwachsenden Mythos werden konnte.

Geradezu angriffslustig hat vor allem Marcel Reich-Ranicki ihn bedrängt, endlich einmal mehr Privates von sich zu geben. Koeppen wusste sich dem Ansinnen weitgehend und recht elegant zu entziehen. Er blieb dabei ausnehmend freundlich, schließlich war gerade Reich-Ranicki ein entschiedener Befürworter seiner Schreibkunst. Mit einem derart einflussreichen Fürsprech verdarb man es sich tunlichst nicht.

Es ziehen sich also durch Band 16 der von Hans-Ulrich Treichel herausgegebenen Koeppen-Werkausgabe, welcher just Gespräche und Interviews versammelt, bestimmte Themen mit großer Regelmäßigkeit: allen voran eben die fortwährende Schreibkrise und die daraus resultierenden finanziellen Sorgen. Letztere, so Koeppen, hätten sich von selbst erledigt, wäre er ein Erbe gewesen wie etwa Flaubert oder Proust. Angesichts solcher Namen ahnt man: Koeppen hätte eigentlich zu den allerhöchsten Gipfeln streben wollen… Damit es kein Vertun gibt: Wolfgang Koeppen hat nie öffentlich über seine missliche pekuniäre Situation „gejammert“. In früheren Zeiten hätte die Formulierung gelautet: Er hat es mannhaft getragen.

Der Unterschied zwischen Arbeitslager und Arbeitsdienst

Auf Länge gesehen, ergeben sich im Interview-Band durch die Konzentration auf bestimmte Themen einige Redundanzen, freilich nicht nur als bloße Wiederholungen, sondern auch in Form von Widersprüchen. Wolfgang Koeppen, der mit der Zeit seine speziellen Strategien entwickelt hatte, um nicht mehr Wahrheit(en) als nötig preiszugeben, sagt gleichwohl nicht immer dasselbe. Nuancen oder gar diametral entgegengesetzte Angaben lassen Raum für Deutungen und Spekulationen. Ein unerschöpfliches Spielfeld der Literaturwissenschaft.

Immer wieder andere, teils paradoxe Interview-Einlassungen Koeppens haben für Verwirrung gesorgt – beispielsweise darüber, ob, wann, wo und unter welchen Umständen ein früher Roman verschollen sei. Er hat gesprächsweise mal diese, mal jene Variante bevorzugt. Gravierender noch: Stirnrunzeln und Rätselraten rief seine (wider besseres Wissen?) immerzu wiederholte Behauptung hervor, in einer üblen Rezension des Jahres 1934 sei ihm „Arbeitslager“ an den Hals gewünscht worden. Tatsächlich gab es da eine ruchlose Kritik, in der es zum Roman „Eine unglückliche Liebe“ hieß, Koeppen gehöre in den „Arbeitsdienst“, was freilich – speziell für sprach- und geschichtsbewusste Menschen – denn doch einen deutlichen Unterschied zum „Arbeitslager“ ausmacht.

Ein fataler Setzfehler und seine Folgen

Wollte Koeppen sich mit seiner Übertreibung etwa so darstellen, als habe er dem Widerstand gegen die NS-Diktatur angehört? Hat er deswegen so getan, als sei er in eine Traditionslinie mit Thomas Mann gestellt worden, obwohl dessen Name in jener schmählichen Kritik überhaupt nicht genannt wurde? Andere Aussagen sprechen wiederum gegen eine solche Absicht. Da hat Koeppen nicht viel Wesens um seine gar nicht recht einzuordnende Haltung und sein (freiwilliges) holländisches Exil gemacht, das ihm auch finanziell etwas Luft verschaffte. Er war wohl weder im Widerstand, noch war er Kollaborateur.

Weit über Wortklauberei hinaus ging auch die Auseinandersetzung über einen Artikel von Karl Prümm, der 1983 in der (verdienstvollen) Essener Literaturzeitschrift „schreibheft“ erschien. Darin stand gedruckt, Koeppen habe in der NS-Zeit „nationalsozialistische“ Neigungen gehabt. Der ungeheure Vorwurf, der im Gefolge auch den „Großkritiker“ Fritz J. Raddatz zu einer wüsten Attacke auf Koeppen in der „Zeit“ anstachelte, erwies sich als schlimmer Setzfehler, tatsächlich hatte es „nationalistisch“ heißen sollen. Auch nicht eben fein, aber auf der Schändlichkeits-Skala schon ungleich harmloser. „schreibheft“-Herausgeber Norbert Wehr leistete tätige Abbitte, indem er in einer der nächsten Ausgaben Platz für ein begütigendes Interview mit Wolfgang Koeppen freiräumte. Hier war von derlei harschen Vorwürfen gar nicht mehr die Rede, obwohl (oder weil) einer der Interviewer Karl Prümm selbst war.

„Der Schriftsteller (…) ist kein Gewerbetreibender“

Wenn Koeppen ansonsten mit einem Gespräch im Nachhinein, aber vor Drucklegung unzufrieden war, hat er gelegentlich rigide gekürzt, redigiert und streckenweise umgeschrieben, so dass man sich bei Lektüre vereinzelt kaum noch in den Gefilden halbwegs spontaner Äußerungen, sondern doch wieder auf literarischem Gebiet befindet; nicht nur thematisch, sondern auch, was ausgearbeitete Formulierungen anbelangt. Da finden sich hellsichtige, manchmal geradezu visionäre Passagen, in denen Koeppen nicht nur Verhältnisse seiner Zeit auf den Begriff bringt, sondern auch weit ins Kommende zu schauen scheint. Über die stets gefährdete Außenseiter-Rolle des Schriftstellers an und für sich haben wohl nur ganz wenige so nachgedacht wie dieser Mann in seiner permanent durchlittenen Schreibkrise.

In diesem Sinne noch ein bezeichnendes Zitat aus dem Gespräch mit Angelika Mechtel, die ihn – nicht allzu einfühlsam – gefragt hat, ob er sich vorstellen könne, z. B. auf Sachbücher „umzuschulen“, um seine finanzielle Misere zu lindern. Darauf Koeppen, spürbar aufgebracht:

„Umschulung? Welch scheußliches Wort! Es trifft nicht zu. Der Schriftsteller, den ich meine (…), ist kein Gewerbetreibender, auch wenn das Finanzamt ihn so mißversteht. Das Schreiben, um das es hier geht, ist keine Frage der Erwägung, der Marktanalyse, der Berechnung, der Erfolgsaussicht. Dieser Schriftsteller kann nur sein, was er ist, er selbst, er kann nur schreiben, wie er schreibt, das ist ein Zustand, keine Wahl…“

Wolfgang Koeppen – Gespräche und Interviews. Werke, Band 16 (Hrsg. Hans-Ulrich Treichel). Suhrkamp Verlag, 770 Seiten, 48 Euro.

 




Zwölfstündiger Theatermarathon: Deutschlandpremiere nach Roberto Bolaños „2666“ am Schauspiel Köln

12 Stunden Theater: Das ist selbst für Begeisterte, Süchtige oder Menschen mit ganz viel Zeit eine Herausforderung. Das Schauspiel Köln hat es gewagt und mit „2666“ von Roberto Bolaño Ostern eine Produktion zur Deutschlandpremiere eingeladen, die bereits auf dem Theaterfestival von Avignon für Furore sorgte.

Szenenbild aus dem Oster-Event in Köln, basierend auf dem Roman „2666“ von Roberto Bolaño
(Foto: Simon Gosselin)

Um 11 Uhr am Ostersamstag ging es los, um 23 Uhr kamen wir etwas erschöpft, aber glücklich und an allen Sinnen geschärft aus diesem „Wahnsinnswerk“ wieder heraus. Zudem versunken in die unvergleichliche französische Sprache, deren Sätze noch tagelang in meinem Kopf nachhallten. Durch Übertitel konnte man aber der Handlung, teilweise auch auf Spanisch, Englisch und ein wenig auf Deutsch, gut folgen.

Vier Pausen mit Eintopf und Osterbraten

Außerdem hatte sich das Schauspiel Köln mit dem begleitenden Menü, das in vier Pausen serviert wurde, viel Mühe gegeben: An langen österlich dekorierten Tischen im Foyer des Depots gab es Eintopf, Kuchen, Sandwiches und Osterbraten sowie gute Gespräche mit anderen Zuschauern über das soeben im Theatersaal Erlebte. Doch was geschah eigentlich dort?

Basierend auf dem Kultroman 2666 des chilenischen Autors Roberto Bolaño, entfaltet der französische Regisseur Julien Gosselin mit seiner Kompanie „Si vous ne pouviez lécher mon coeur“ eine ganze Welt, in der es um europäische und südamerikanische Literatur und Literaturforschung, um Verbrechen, Korruption und Gewalt in der mexikanischen Stadt Santa Teresa und um die deutsche Vergangenheit geht.

Auf den Spuren eines deutschen Schriftstellers

Konkret erzählt Bolanos Jahrhundertroman, der 2004 ein Jahr nach seinem Tod erschien, die Geschichte des (fiktiven) deutschen Schriftstellers Benno von Archimboldi, 1920 geboren, dem vier Literaturwissenschaftler auf der Spur sind – denn niemand kennt ihn persönlich. Die Engländerin, ein Franzose, ein Spanier und ein Italiener treffen sich auf Konferenzen in ganz Europa, um das Geheimnis von Archimboldis Identität zu lüften und für eine literarische Sensation zu sorgen. Schließlich führt sie ihre Spur in die von Korruption und Gewalt gegen Frauen geschüttelte Stadt Santa Teresa im Norden Mexikos. Hier treffen sie auf den spanischen Gelehrten Amalfitano und dessen Tochter Rosa, die wiederum Bekanntschaft mit dem amerikanischen Journalisten Fate macht, der über 200 grausame Frauenmorde in Santa Teresa recherchiert.

Szene aus dem letzten Teil von 2666
(Foto: Simon Gosselin)

Die Inszenierung folgt einem schnellen Rhythmus und erzählt die komplizierte Geschichte erstaunlich stringent und anschaulich. Die Live-Kamera wird nahezu kongenial eingesetzt und verbindet die Handlungsebenen und Räume. Besonders beeindruckend gerät der dritte Teil, der hauptsächlich in einer mexikanischen Disko angesiedelt ist: Die Bässe brummen derart, dass man es körperlich spürt und das Gefühl hat, im Hexenkessel mit dabei zu sein.

In der Fremdheit so nah

Die Figuren kommen einem in ihrer Fremdheit erstaunlich nah – wie im Reality TV. Zugleich fesselt einen die unglaubliche intellektuelle Aura und manchmal fast ausschweifende Sprachgewalt dieses außergewöhnlichen Romans. Die großartigen Schauspieler schaffen es, dass die Kopfgeburten zum Leben erweckt werden und sich auf der Bühne sozusagen manifestieren.

An die Nieren geht der vierte, „Der Teil von den Verbrechen“, in dessen Zentrum die Frauenmorde stehen. Gosselin verzichtet zwar weitestgehend darauf, gewalttätige Bilder zu zeigen, aber blendet alle Fälle im Polizeiberichtstil nacheinander auf einer Leinwand ein, so dass die schier endlose Folge von schrecklichen Details des Tathergangs über zwei Stunden nahezu unerträglich wird – entsprechend der Monstrosität der Verbrechen selbst.

Im letzten Teil schließlich wird das Leben Hans Reiters erzählt, der sich später Archimboldi nannte: Beginnend mit seiner Jugend, über seine Erfahrungen und (Un)Taten als Soldat im Zweiten Weltkrieg bis hin zu seiner Entwicklung zum Autor in der Nachkriegszeit.

Zweifacher Blick auf Naziverbrechen

Interessant ist der zweifache Blick des südamerikanischen Schriftstellers und des französischen Regisseurs auf die Naziverbrechen im Dritten Reich, der sich schon im Bühnenbild (Hubert Colas) ausdrückt: Die Handlung spielt meist in einem mit Rauch bzw. Gas gefüllten Plastikkasten. Zum Ende hin laufen die Handlungsstränge wieder im mexikanischen Santa Teresa zusammen, denn der Neffe Archimboldis sitzt wegen der Frauenmorde im Gefängnis ein – wirklich begangen hat er sie nicht, zumindest nicht alleine. Verantwortlich dafür ist eine korrupte mexikanisch-amerikanische Clique aus Verbrecher-Clans, Politikern und Geschäftsleuten, die die Frauen in sadistischen Orgien tötete und die Polizei zum Vertuschen zwang.

So ist die Geschichte des Romans leider auch eine der Gewalt in der Geschichte, die je nach System immer neue grausame Formen findet und finden wird – interpretiert man den Titel 2666 als zukünftige Jahreszahl, wie es wohl im Sinne Bolaños lag.

Wahrlich kein leichter Stoff, aber ein großes Kunstwerk.

Weitere Informationen:
www.2666.koeln und www.schauspiel.koeln




Eifersucht und Seelenschmerz: Diana Damrau und Jonas Kaufmann mit Hugo Wolfs „Italienischem Liederbuch“ in Essen

Diana Damrau und Jonas Kaufman in der Philharmonie Essen. Foto: Sven Lorenz

Diana Damrau und Jonas Kaufman in der Philharmonie Essen. Foto: Sven Lorenz

Die Bühne lässt sie nicht los. Auch nicht, wenn es um einen umfangreichen Zyklus von Liedern geht, dem „Italienischen Liederbuch“ Hugo Wolfs. Eben noch beschreibt der jugendliche Liebhaber, was er in der Gewitternacht draußen vor der Tür erdulden musste, da fragt die Angebetete genervt: „Wer rief dich denn? Wer hat dich herbestellt?“ und schickt ihn gleich weg „zu dem Liebchen, das dir mehr gefällt“. Diana Damrau und Jonas Kaufmann machen daraus eine kleine Szene, mit Augenrollen und Schmollemund, Flehensgeste und Abweisung.

Die beiden Star-Sänger, die auf ihrer Tournee mit Hugo Wolf in der Philharmonie Essen Station machten, wollen das szenische, darstellerische Element nicht missen. Damit die Zwiegespräche einer eifersüchtigen Liebe funktionieren, kombinieren sie die 46 vertonten poetischen Miniaturen des kultivierten, im München des fin de siècle zur Berühmtheit gewordenen Schriftstellers Paul Heyse in einer neuen Abfolge. Abwechselnd von Frau und Mann gesungen, entstehen so kleine Beziehungs-Szenen, schwärmerische und schnippische Dialoge, aber auch Momente des Hochgefühls, des Sehnens, der Bitterkeit und der Kränkung.

Das Konzert war wohl eher wegen der glamourösen Namen als wegen der Zuneigung zu Hugo Wolfs feinsinniger Kunst bis auf den letzten Platz ausgebucht. Eingekesselt von Zuhörern sogar auf der Bühne, lassen sich die beiden Profis dennoch nicht beirren: Diana Damrau fasst den Sinn der Worte in vielfältig variierten Klang, als sie erklärt, dass auch „kleine Dinge uns entzücken können“. Das Timbre der gefeierten „Traviata“, der passionierten „Lucia di Lammermoor“ ist satt und leuchtend, der Ton entfaltet sich frei und ungezwungen, die Worte werden musikalisch nuanciert ausgedeutet: Damrau kann mit koketten Färbungen spielen, wenn sie ihrem Partner auf dem Podium an den Kopf wirft, sie sei verliebt, „doch eben nicht in dich“. Aber sie trifft eben auch sehnsüchtige Untertöne, die pubertäre Hilflosigkeit des jungen Mädchens und manchen leisen Moment der Trauer.

Ein Touch von Theater

Die vielen Schattierungen zwischen halblaut und zärtlich leise gelingen auch Jonas Kaufmann: Nach belegtem Beginn und ein paar Schleiern auf der Stimme gibt er sich hymnisch entzückt über die von Gott geschaffene Schönheit, bejubelt „hohen Reiz und Zauber“, zeigt sich betrübt über den Zorn der Angebeteten, bockig, versöhnungswillig, verschmitzt, leichtfüßig und gespielt pathetisch.

Kaufmann setzt sein dunkles Timbre ein, wenn er die Stimmung von „Heut Nacht erhob ich mich um Mitternacht“ musikalisch zeichnet; er drückt die Zärtlichkeit der mühsam gezähmten Leidenschaft im „Wenn du mich mit den Augen streifst“ mit verhaltenem Mezzoforte aus; er reduziert den Klang in äußerster Delikatesse, wenn er bekennt: „Ich sterbe lieblich, sterb‘ ich deinetwegen“. Das alles hat einen Touch von Theater – der aber der Poesie der Lieder keinen Abbruch tut.

Ein Wunder für sich ist Helmut Deutsch am Flügel: Er hält mit leichtem Tonfall das Opernhafte in Grenzen, gestaltet die Wortgefechte mit diskretem Humor aus, zaubert dunkle, unheimliche, grotesk hysterische, leuchtend lyrische Farben dahin, dass es eine pure Wonne ist. Das ist Tiefe, im Leichten entdeckt.




Buchtipps zum Fest: Peter Rühmkorf, Christa Wolf, Wembley-Tor, Krimi und Architektur

Ist da draußen noch jemand auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken in Buchform? Hier ein paar empfehlende Hinweise in verschiedenen Geschmacksnoten:

Zunächst die so genannte Hochliteratur, wie es sich konservativ-feuilletonistisch gehört:

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Rühmkorfs funkelnde Lyrik

Das ist wahrlich kein Geheimnis mehr: Der 1929 in Dortmund geborene, später freilich aus hanseatischer Überzeugung in Hamburg ansässige Peter Rühmkorf gehört zu den wichtigsten Lyrikern der bundesdeutschen Nachkriegszeit. Insofern ist eine Gesamtausgabe seiner Gedichte ein besonderes, vielfach funkelndes Juwel der Sprachkunst. Rühmkorfs Tod im Jahr 2008 bedeutet einen immensen Verlust für die Literatur, der immer noch schmerzt.

Er war (ähnlich wie der mit ihm befreundete Robert Gernhardt) einer, der die Überlieferung von Reim und Metrik wach und lebendig gehalten hat – und er hat die althergebrachten Formen mit neuen Inhalten reich gefüllt. Im souveränen Spiel mit gebundenen und freien Versen kommt ihm im hiesigen Sprachraum wohl keiner aus seiner Generation gleich.

Die von Bernd Rauschenbach sorgfältig edierte Ausgabe „Sämtliche Gedichte“ enthält alle Lyrikbände von 1956 bis 2008 und (in Auswahl) ganz frühe Schöpfungen, die ab 1947 im Selbstverlag erschienen sind.

Dies ist ein Buch, das einen Ehrenplatz im Regal verdient und das man als Vademecum stets griffbereit halten sollte. Hier wird ein wesentlicher Teil des Lebenswerks ausgebreitet; hier kann man Sprachfeinheiten geradezu genießerisch schlürfen und wird überdies noch mit luziden Erkenntnissen belohnt. Rühmkorf hat ja nicht nur die ewigen Themen Liebe und Tod bedichtet, sondern war auch ein eminent politischer Kopf mit links geschärften Sinnen. Legendär wurde diese lyrische Essenz: „Bleib erschütterbar – und widersteh.“

Für den unverwechselbaren Klang (in Rühmkorfscher Diktion „einmalig / wie wir alle!“), in dem auch Alltagssprache aufgehoben ist, nur mal ein Beispiel, das Rühmkorf selbst als Bagatelle bezeichnet hat:

Abschiede, leicht gemacht

Denen, die vor Gier nach Ewigkeit entbrennen,
geb ich mich geniert
als sterblich zu erkennen.

Lieber als verhaunen Bällen nachzusinnen,
zieh ich vor,
nochmal von vorne zu beginnen.

Allerdings, statt bieder vor mich hinzuwerkeln,
scheint mir lustiger,
freischaffend loszuferkeln.

Dies als Kunstgesetz gesamt gesehen:
Ein Gedicht, das auf sich hält,
das läßt sich gehen.

Und je tiefer ich empfinde, um so seichter
schmiere ich mich aus,
dann fällt der Abschied leichter.

Da haben wir es also mal wieder: das Leichte, das so schwer zu machen ist. In der Nachfolge von Heine, Benn und Ringelnatz (unter anderen) hat Rühmkorf beileibe nicht nur höheren Jux getrieben, sondern auch die Vergänglichkeit besungen wie nur je einer seit barocken Zeiten. Doch auch die Fährnisse zwischen Geilheit und Vögeln wusste er in sprühend wohlgesetzte Worte zu fassen. Der Mann, der sich zuweilen als (erotischer) Filou gefiel, war intellektuell ein Ausbund an Unbestechlichkeit. An seinem lyrischen Zuspruch konnte und kann man sich nicht nur ergötzen, sondern aufrichten.

Noch ein Zitat, ein vermeintlich unscheinbares, das aber zu denken gibt. Aus dem Gedicht „Zum Jahreswechsel“:

Diese Welt kann doch nicht so gemeint sein
Wie sie aussieht, oder?

Peter Rühmkorf: „Sämtliche Gedichte“ (Hrsg.: Bernd Rauschenbach). Rowohlt Verlag. 621 Seiten. 39,95 €

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Briefe von Christa Wolf

Nun zu einer literarischen Protagonistin, ja Repräsentantin aus dem östlichen Teil Deutschlands, die im selben Jahr geboren wurde wie Rühmkorf: Christa Wolf (1929-2011), Autorin von Büchern wie „Kindheitsmuster“, „Der geteilte Himmel“, „Nachdenken über Christa T.“, „Kassandra“, „Kein Ort. Nirgends“ und „Störfall“, hat auch umfangreiche Konvolute von Briefen hinterlassen, um die es hier geht.

Insgesamt enthält die vorliegende Auswahl der „Briefe 1952-2011“ genau 483 Schriftstücke, die sich an rund 300 Adressaten richten. Abgedruckt sind nur die Briefe von Christa Wolf, nicht aber die Schreiben ihrer Briefpartner. So wirkt das Ganze gelegentlich etwas monologisch, man muss sich einiges hinzu denken. Immerhin sind rund 90 Prozent der abgedruckten Briefe bislang noch nicht veröffentlicht worden. Auch das gibt dieser Sammlung, bei aller wohlweislichen Beschränkung im Einzelnen, einiges Gewicht.

Der Obertitel lautet „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten“ und könnte als Zitat auch etwas sarkastisch gemeint sein. Denn gar so bequem kann es nicht immer gewesen sein für Christa Wolf. Vielfach ereilte sie der Vorwurf, dem SED-Staat doch etwas zu sehr auf den Leim gegangen zu sein.

Über sehr lange Zeit hinweg ist sie zumindest von naiver Gutgläubigkeit gewesen. Spätestens im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung aus der DDR (1976) hat auch sie Farbe bekannt. Freilich hielt sie damals immer noch Erich Honecker für eine ansprechbare Instanz: „Sehr geehrter Genosse“ lautete ihre Anrede, und sie bat ihn brieflich darum, inhaftierte Autoren zu begnadigen. Hat sie damit das Menschenmögliche versucht, oder hat sie gar zu sehr laviert? Darüber könnte man noch heute lange streiten. Doch allmählich verblassen die Meinungskämpfe jener Tage.

In der ausgewählten Korrespondenz (insgesamt hat Christa Wolf wohl um die 15.000 Briefe verfasst) tauscht sie sich nicht nur mit Schriftstellern (u. a. Grass, Frisch, Sarah Kirsch, mit der sie sich später heillos überworfen hat) aus, sondern auch mit „ganz normalen“ Lesern. Dafür hat sie viel Geduld aufgebracht. Nur ganz selten wurde sie zornig, so etwa, als sie den Schülerinnen eines Deutsch-Leistungskurses barsch deren absolute Unkenntnis ihres Werkes vorwarf und sich über „absurde“ und „verletzende“ Fragen beschwerte. Wie gesagt, das war eine Ausnahme.

Man muss wissen, dass Christa Wolf wegen der Stasi-Briefzensur häufig nicht offen schreiben konnte, sondern ihre Botschaften und Anliegen allenfalls sprachlich verschlüsselt übermitteln konnte, was der verbalen Kunstfertigkeit mitunter zuträglich war. Besonders ehrlich klingen manche der Briefe, die sie seinerzeit nicht abgeschickt hat, die aber erhalten geblieben sind. Dass Wolfs Werke und Briefe zudem von grundsätzlicher Sprachskepsis durchzogen sind, lässt dieses Zitat aus „Nachdenken über Christa T.“ ahnen: „Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen“.

Christa Wolf: „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten – Briefe 1952-2011“. Suhrkamp Verlag. 1040 Seiten, 38 €

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Ein einziges Tor

Dass über eine Mannschaft oder ein Turnier ganze Bücher entstehen, mag angehen. Aber über ein einziges Tor?

Ganz klar, es gibt aus deutscher Sicht nur einen Treffer, der buchfüllend ist: das wohl für alle Ewigkeiten umstrittene 3:2 beim Endspiel der Fußball-WM 1966. Bekanntlich wurde das Tor für England gegeben, obwohl der Latten-Abpraller mutmaßlich vor der Linie aufschlug. So jedenfalls die deutsche Lesart.

Dass man diesen fußballhistorischen Moment in tausend Facetten ausbreiten und anreichern kann, beweist Manuel Neukirchner, Chef des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund, mit dem Band „Wembley 1966“, der vor allem von der vielfältigen und großzügigen Bebilderung lebt.

Das 50 Jahre zurück liegende Ereignis spiegelt natürlich auch längst den damaligen Zeitgeist wider, so dass das Match über das rein Fußballerische hinaus interessant ist. Also war es auch dem Deutschen Fußballmuseum eine Sonderausstellung wert. Hier haben wir das Begleitbuch dazu.

Wie simpel die Sache damals im Grunde gewesen ist, formuliert treffsicher der damals beteiligte (und vom 4:2-Endergebnis für England tief enttäuschte) Mittelstürmer Uwe Seeler im Interview für den vorliegenden Band: „Für die Engländer war er drin, für uns Deutsche nicht. So einfach ist das.“

Man darf ergänzen: einfach kompliziert. So, dass man ganze Bücher darüber machen kann… Und somit hätten wir auch ein passendes Geschenk für altgediente Fußballfans.

Manuel Neukirchner: „Wembley 1966. Der Mythos in Momentaufnahmen“. Deutsches Fußballmuseum, Dortmund/Klartext Verlag, Essen. 160 Seiten, großformatiger Bildband (Broschur) mit zahlreichen Abbildungen (Farbe und schwarzweiß). 14,95 Euro.

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Ruhrgebietskrimi

Wer für Ruhrgebietskrimis zu haben ist, freut sich vielleicht über dieses etwas kleinere Geschenk: „Am Boden“ von Lucie Flebbe dreht sich zunächst u.a. um den riskanten Kletter-Trendsport „Roofing“.

Ein Student wird verdächtigt, einem Freund bei einer Klettertour einen Stoß versetzt zu haben – mit tödlichen Folgen. Lucie Flebbes schon mehrfach erprobte Privatdetektivin Lila Ziegler und ihr Partner Ben Danner wollen den Fall aufklären – ein Unterfangen mit ungeahnten Weiterungen. Alsbald geht es auch um häusliche Gewalt (Lila zeigt ihren eigenen Vater an), und schließlich kommt es zu einem spektakulären Showdown im Bochumer Opel-Werk. Merke abermals: Aufgegebene Industrie-Standorte des Reviers (vgl. auch Phoenix West und ähnliche Locations in Dortmunder „Tatort“-Folgen) eignen sich oft bestens als Krimischauplätze.

Lucie Flebbe: „Am Boden“. Kriminalroman. Grafit Verlag, Dortmund. Paperback, 251 Seiten, 11 Euro (als E-Book 9,99 €)

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Architektur der Region

So. Und nun hätten wir noch etwas für die an Kunst und Architektur Interessierten.

Christoph Rauhut und Niels Lehmann stemmen ein wahrhaft ambitioniertes Projekt. Seit einigen Jahren widmen sie sich eingehend der Architektur des Expressionismus, ein Band über herausragende Beispiele in Berlin und Brandenburg hatte den Anfang einer groß angelegten Reihe gemacht. Jetzt liegt ein weiterer Band vor, der sich den einschlägigen Baubeständen an Rhein und Ruhr zuwendet.

Zur ersten Orientierung schaue man am besten gleich ganz hinten nach, nämlich im reichhaltigen Gebäuderegister, das nicht nur Geschäfts-, Büro und Industriebauten auflistet, sondern auch öffentliche Gebäude, Sakralbauten und Wohnhäuser.

Auch wenn so vieles im Krieg zerstört worden ist, so gibt es doch auch in NRW noch eine imponierende Fülle von oftmals monumentaler expressionistischer Architektur (manches freilich nur noch in fragmentarischer Form), wobei gerade im Ruhrgebiet jede Stadt ihr eigenes Profil ausgebildet hat.

Die Textbeiträge in diesem Band (jeweils auf Deutsch und Englisch) sind sehr überschaubar, es handelt sich zwar um ein Ergebnis, nicht aber um die Wiedergabe einer fundierten wissenschaftlichen Aufarbeitung. Den weit überwiegenden Teil des Buches machen Fotografien und Lagepläne aus. Das darf sicherlich auch als Ermunterung verstanden werden, sich das eine oder andere der insgesamt 155 Gebäude einmal selbst anzusehen.

Um nicht ins Uferlose zu geraten, hier nur ganz wenige Beispiele aus dem Ruhrgebiet: Bogestra-Verwaltung (Bochum), Hans-Sachs-Haus (Gelsenkirchen), Union-Brauerei/Dortmunder „U“, Hauptpost (Essen), Polizeipräsidium (Oberhausen), Volkshochschule (Gladbeck), Gebäudeensemble Hauptfriedhof (Dortmund).

Im Vorwort heißt es, die vorgestellten Bauten (vorwiegend aus den 1920er Jahren) ließen samt und sonders künstlerischen Gestaltungswillen erkennen und stünden einer auch damals schon drohenden Banalisierung des Metiers entgegen. Und wie sieht’s damit heute aus? Eine Frage, bei der man unwillkürlich seufzt.

Christoph Rauhut/Niels Lehmann: „Fragments of Metropolis – Rhein & Ruhr. Das expressionistische Erbe“. Hirmer Verlag. 256 Seiten (Format 15,5 x 24,5 cm). 156 Farbabbildungen, 30 Pläne und Karten. 29,90 Euro.




Gebrauche Deine Zeit: Zum 80. Geburtstag von Wolf Biermann

Es ist ein seltsames Phänomen um Wolf Biermann, der ein glühender Liebhaber des Kommunismus war und doch mit ungehorsamen Liedern die DDR in Aufruhr versetzte.

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival "Lauter Lyrik" (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de - Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival „Lauter Lyrik“ (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de – Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wenn man von ihm spricht, diesem schnauzbärtigen Helden deutsch-deutscher Kultur, da erhebt sich schnell ein Missmut: „Den mag ich nicht. Der ist so selbstgerecht, so eitel!“ Ja, Leute, der Biermann ist nicht berühmt für seine Bescheidenheit. Er weiß um seine Bedeutung. Aber, mit Verlaub, das darf er auch. Denn er hat mit Poesie und Pathos am Rad der deutschen Geschichte gedreht.

Von seinem Leben, das am 15. November 1936 in einer Hamburger Arbeiterfamilie begann, erzählt er uns zum 80. Geburtstag selbst. 544 Seiten lang ist Biermanns Autobiografie mit dem Titel eines Liedes: „Warte nicht auf bessre Zeiten“. 200 Tagebücher und Stapel von Stasi-Akten wurden da verarbeitet – von einem, der nur in Liebesdingen locker lässt. Viel Zorn steckt darin. Aber auch viel Zärtlichkeit, nicht nur für seine Frauen und insgesamt zehn Kinder. Am Ende wird keine fiese Abrechnung aus dem Buch, sondern ein Stück süffiger Literatur mit geschichtlich-politischem Mehrwert. Der Meister der lyrisch-prägnanten Kurzform – „Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit …“ – bleibt seiner Sprache auch auf der Langstrecke treu.

„Weggerissen wurde der Vater mir, als ich vier Monate alt war …“ Dagobert Biermann, Werftarbeiter jüdischer Herkunft, Kommunist und aktives Mitglied einer Widerstandsgruppe, wird 1937, kurz nach der Geburt seines Sohnes, zum zweiten Mal von den Nazis verhaftet. Er stirbt, nach qualvollen Jahren, im Februar 1943 in Auschwitz. Sein letzter Brief – „Warte nur, Wölflein, wenn ich wieder komme, dann bauen wir uns ein großes Schiff …“ prägt Biermanns Kinderseele bis ins hohe Alter. Im Juli 1943 überlebt der Kleine an der Hand seiner Mutter Emma die Zerstörung Hamburgs durch Fliegerbomben – den „Feuersturm“. Er sieht verbrannte und erstickte Menschen, registriert entsetzliche Details. Doch er weint nicht: „Der Schrecken war zu übermächtig.“

Vielleicht hat das große Trauma den erwachsenen Biermann unempfindlich gemacht gegen die kleinlichen Schikanen des SED-Regimes. Er ist in den Ostapparat hinein geraten, weil seine Mutter Emma Biermann, mutig-naive Witwe des Widerstandshelden Dagobert und überzeugt vom Segen des Kommunismus, ihr Bübchen zu den Jungen Pionieren und schließlich in die junge DDR schickt, den Hoffnungsstaat der westdeutschen Genossen.

Ab 1953 geht Wolf Biermann auf ein Mecklenburger Internat und fühlt sich am rechten linken Platz. Als Student und Regieassistent des Berliner Ensembles ist er Ende der 1950er-Jahre intellektuell ganz vorn dabei. 1961 begrüßt er sogar den Mauerbau als Reaktion auf die massenhafte Westflucht der Eliten. Und er bekennt heute: „Ich habe an diesem 13. August die verfluchte Mauer mitgebaut“.

Hinter der schützenden Grenze entwickelt sich der junge Biermann, gefördert vom Brecht-Komponisten Hanns Eisler, zum Liedermacher mit Gitarre. Er tritt auf als „Troubadour de Berlin“, beachtet auch von der Linken im Westen. Für den Osten ist sein Ton nicht unverfänglich genug. Er verärgert die „Alten Genossen“ mit Versen über seine Unzufriedenheit. Schon bald gibt es Auftrittsverbote wegen „Klassenverrat“ und Obszönität“.

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael - Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael – Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Mitte der 1960er-Jahre gehört Biermann zu den Geistern des Widerstands, ununterbrochen bespitzelt. „Die Stasi ist mein Eckermann“, so kommentiert Biermann bissig die eifrigen Mitschriften der Lauscher. Die westliche Studentenbewegung liebt ihn und seinen eingängigen Song von der „Ermutigung“ (1966): „Du, lass dich nicht verbrauchen, gebrauche deine Zeit …“. Sie liebt auch sein wehmütiges Barlach-Lied: „Vom Himmel auf die Erden falln sich die Engel tot …“. Die Langspielplatte „Chausseestraße 131“, zu Hause aufgenommen mit einem von Mutter Biermann geschmuggelten Mikrofon, wird 1969 hüben verkauft und mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet. Sie bringt dem Regime und dem Barden erstaunliche Devisen.

Biermann hat sich recht kuschelig eingerichtet im Gesinnungsgefängnis DDR, wo er Beachtung findet an der Seite des Chemikers und Dissidenten Robert Havemann, dessen Tochter Brigitt zu seinen zahlreichen Amouren gehört. Er inszeniert sich poetisch als preußischen Ikarus, „mit grauen Flügeln aus Eisenguss“. Wegen seines westlichen Ruhms wagen die Behörden nicht, Biermann einzusperren, sie lassen ihn 1976 sogar auf Westtournee gehen (siehe Video am Schluss des Beitrags), und er wäre wohl artig zurückkommen, wenn man ihn nicht nach seinem triumphalen Konzert in Köln ausgebürgert hätte. Aus Protest verlassen etliche Kunstgenossen, darunter auch die Filmstars Manfred Krug und Eva-Maria Hagen, die DDR. Das System erzittert nachhaltig. 13 Jahre später wird die Mauer fallen.

Der Vertriebene selbst verliert in der Freiheit seinen Status. Die Fans reagieren gelangweilt auf klassenkämpferische Parolen und belehrende Konzerte. Sie sind genervt von den Streitigkeiten, die er vom Zaun bricht. Biermann zieht sich zurück nach Frankreich, in den „Bernstein der Balladen“ und in den Kreis seiner wachsenden Familie.

Der schönen Pamela, Mutter der letzten drei Kinder, ist er immerhin seit 1983 verbunden. Er ist weich geworden. Geehrt mit Preisen im Namen deutscher Dichter von Hölderlin bis Heine, kommt der alte Wolf Biermann zu ziemlich liberalen Einsichten. Er lobt die bürgerliche Demokratie als „das am wenigsten Unmenschliche, was wir Menschen als Gesellschaftsmodell bisher erfunden und ausprobiert haben“. Ist doch wahr. Drum: „Lass dich nicht erschrecken in dieser Schreckenszeit!“

Wolf Biermann: „Warte nicht auf bessre Zeiten!“ Die Autobiografie. Propyläen Verlag. 544 Seiten. 28 Euro.

Wolf Biermann: „Im Bernstein der Balladen – Lieder und Gedichte“. Propyläen. 240 Seiten. 24 Euro.

„Warte nicht auf bessre Zeiten“ – Wolf Biermann 1976 beim legendären Auftritt in der Kölner Sporthalle:




Bochum, Buddy Holly und überhaupt: Zum Tod des Schriftstellers Wolfgang Welt

Durch eine Mitteilung des Schauspielhauses Bochum erfahren wir vom Tod des Schriftstellers Wolfgang Welt, der jetzt mit nur 63 Jahren gestorben ist. Wir zitieren im Wortlaut:

„Das Schauspielhaus Bochum trauert um Wolfgang Welt.
Wolfgang Welt war seit 1991 Nachtpförtner am Schauspielhaus Bochum und allen hier arbeitenden Kolleginnen und Kollegen vertraut. Er war im besten Sinne des Wortes ein ,Original‘ des Hauses, jedem Künstler bekannt, umgeben von einer geheimnisvollen Aura, nicht ganz zu durchschauen, mal abweisend beobachtend, dann wieder gesprächig, offen und interessiert.
Vor seiner Tätigkeit als Nachtpförtner war Wolfgang Welt bereits als Journalist und Autor erfolgreich tätig. In den späten 1980er war er einer der wichtigsten Musikjournalisten des Reviers, schrieb für „Sounds“, „Marabo“ und „Musikexpress“. Danach begann er Romane zu schreiben und galt mit Büchern wie „Peggy Sue“, „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“ oder „Doris hilft“ als Geheimtipp der deutschen Literatur-Szene. (…)
Wolfgang verstarb gestern Morgen nach kurzer schwerer Krankheit.
Wir werden ihn sehr vermissen.“

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Hier noch einmal ein Text über Wolfgang Welt, der am 23. November 2012 erstmals in den Revierpassagen erschienen ist:

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So einen gibt es nur in Bochum, also wird die Geschichte immer wieder gern aufgegriffen, wenn es um Wolfgang Welt geht: Der Mann ist Nachtportier im Schauspielhaus – u n d Autor des hochmögenden Suhrkamp-Verlages, seit der berühmte Peter Handke sich vor Jahren für ihn stark gemacht hat. So. Damit hätten wir das hinter uns gebracht.

Fürsprecher Handke hat jetzt auch ein kurzes Vorwort zu Welts gesammelten (vorwiegend journalistischen) Texten der Jahre 1979 bis 2011 beigetragen.

Der Band führt vor allem in Wolfgang Welts Frühzeit zurück, als er speziell Rockmusik, dann aber auch Literatur fürs Ruhrgebiets-Szenemagazin „Marabo“ besprochen hat. Später ging’s auch in Blättern wie „Musikexpress“ zur Sache.

Man erlebt gleichsam schreiberische Fingerübungen, zunächst vielfach noch unscheinbar oder gar unbedarft, gleichwohl schon vehement meinungsfreudig, ja manchmal sogar eminent präpotent.

Ich bin beileibe weder Grönemeyer- noch Müller-Westernhagen-Fan und gewiss auch kein Anhänger von Heinz Rudolf Kunze, doch darf man diese Leute so beleidigend wie folgt abkanzeln?

„Was sich (…) Grönemeyer (…) hier geleistet hat, ist wie schon bei seinem Debüt vor zwei Jahren unter aller Sau.“

Über das Lied „Von drüben“ von Marius Müller-Westernhagen („musikalisch armseliges Würstchen“): „Dieses Stück Scheiße ist an Erbärmlichkeit nicht zu übertreffen. (…) Hoffentlich verliert Müller-Westernhagen bald seine Stimme.“

„Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten.“

Ist da etwa ein Drecksack am Werk?

Das liest sich ganz so, als wolle da jemand die Kritisierten ein für allemal „erledigen“ und weghaben. Es hat schon gewisse Drecksack-Qualitäten, oder? Eigentlich kein Wunder, dass er auch schon mal als „Aufsatz-Ayatollah“ bezeichnet worden ist. Immerhin hat sich Welt, ausweislich eines viel späteren Textes, mit Grönemeyer nicht auf ewig zerstritten.

Auch wenn er lobte und pries, erging sich Wolfgang Welt (vielsagendes Power-Autorenkürzel „WoW“) vor allem in wuchtig vorgetragenen Gefühlsurteilen, die er gar nicht großartig begründen mochte, darin fast schon einem Reich-Ranicki vergleichbar. Buddy Holly war und ist demnach der Abgott aller populären Musik. Auch eher entlegene Größen wie Phillip Goodhand-Tait oder der Schlagersänger Willy Hagara gelten ihm viel. Vom „Abschaum“ haben wir ja schon gehört. Übrigens: Auch „Rockpalast“-Macher Peter Rüchel gehört zu den Schimpfierten, wohingegen dessen zeitweiliger Mitstreiter Alan Bangs… Aber lest selbst!

Ein häufig bemühtes, wahrlich dürftiges Hauptkriterium seiner frühen Musikbesprechungen ist, dass Künstler mit über 30 zu alt seien, um richtig zu rocken. Ach, du meine Güte! Auch ahnt man zunächst nicht, dass einem jemand mit abgegriffensten Formulierungen wie „Kafka lässt grüßen“, „Ein Buch, aus dem man viel lernen kann“ oder „Beide Scheiben waren weltweite Hits“ je etwas Wissenswertes mitzuteilen haben würde. Vereinzelte sprachliche Unfälle wie diesen hätte das Buchlektorat nachträglich korrigieren sollen: „Von seinem älteren Bruder hatte er bereits zuvor einige einfache Griffe beibekommen gekriegt…“

Hässlichkeit, Melancholie und Würde des Reviers

Jetzt aber endlich das Positive! Und das ist viel mehr.

Irgendwann, zunächst beinahe unmerklich, sodann mit steigender Frequenz, macht es in den assoziativ aufgeladenen Beiträgen („Ich will jetzt schreiben, was mir einfällt“) sozusagen „Klick“. Es beginnt mit Authentizität signalisierenden Bemerkungen: „Ich gebe zu, ich kann kaum verbalisieren, was ich beim Anhören dieser Platte empfunden habe, dazu hat sie mich viel zu sehr berührt.“ Auf einmal aber findet sich ein ungeahnt neuer Ton, der einen mäandernd mitzieht, der sich ganz eigen anhört. Und dieser Sound wird kräftiger! Es klingen chaotisch bewegte Ruhrgebiets-Nächte mit. Die Sätze nehmen wilde, sehnsüchtige Lebensfahrt auf, künden aber auch immer wieder von Hässlichkeit, Melancholie und Würde des vergehenden Reviers von einst.

Dabei zeigt sich unversehens: Buddy Holly und die Wilhelmshöhe (ehemaliges Zechenviertel in Bochum, Welts engere Heimat zwischen Maloche, Fußball und Suff) sind nicht sternenweit voneinander entfernt, sind keineswegs unvereinbare Gegensätze. Ich bin bestimmt nicht der erste, der das schreibt, doch Wahrheiten darf man gelegentlich wiederholen: Bei Wolfgang Welt findet sich das Ruhrgebiet unversehens als Gelände der weltweiten Bewegung im Gefolge des Rock’n’Roll wieder. Den sinnhaltigen Kalauer von der „Welt-Literatur“ haben auch schon andere losgelassen.

Wo anfangs noch Dilettantismus spürbar war, freilich oft schon von wacher Neugier angetrieben, da zahlt sich nun außerdem die zunehmende Repertoire-Kenntnis aus. Welt wird erfahrener, urteilsfähiger, wohl auch Zug um Zug geschmackssicherer.

Es ist frappierend zu sehen, in welchem Maße und wie schnell sich dabei sein Stil zum Guten und manchmal Genialischen hin verändert. Als jemand vom selben Jahrgang, der etwa zur gleichen Zeit mit dem beruflichen Schreiben begonnen hat, muss ich ihm erst recht Bewunderung zollen. Die Treibsätze seiner besseren Texte hätte man gern auch mal gezündet. Von den Romanen („Peggy Sue“, „Der Tick“) erst gar nicht zu reden.

„It’s better to burn out…“

Einlässlich und mit Gespür für Gewichtungen hat sich Wolfgang Welt mit Kultur-Gestalte(r)n aus der Region befasst. Mit Respekt werden Max von der Grüns Roman „Flächenbrand“ oder Jürgen Lodemanns Theaterstück „Ahnsberch“ besprochen, mit freundschaftlicher Sympathie wird der Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner erwähnt. Werner Streletz (Marl/Bochum), damals noch am Anfang seines literarischen Schaffens stehend, erhält sogleich das Prädikat „beachtlich“.

Dass Wolfgang Welts Lebensweg zwischenzeitlich auch in psychiatrische Behandlungen führte, könnte tatsächlich innigst mit seiner wildwüchsigen Art des Schreibens zu tun haben und den Titel der Sammlung beglaubigen: „Ich schrieb mich verrückt“. Alles hat seinen Preis. Doch wie sang jener (nicht mehr ganz junge) Rockstar: „It’s better to burn out than it is to rust…“

Neuerdings scheint Wolfgang Welt etwas ratlos und verloren um die alten Themen zu kreisen, ohne ihnen wesentlich Neues abzugewinnen. Ausdrücklich heißt es an einer Stelle, dass sein Interesse an Musik geschwunden sei. Da ist ein Feuer erloschen. Und das kann einen ziemlich traurig machen.

Wolfgang Welt: „Ich schrieb mich verrückt“. Texte 1979-2011 (Hrsg. Martin Willems). Klartext Verlag, Essen. 358 Seiten. 19,95 €

P. S.: In einem lakonischen Interview am Schluss des Bandes nennt Wolfgang Welt den Schriftsteller Hermann Lenz als Vorbild und äußert sich so zum Revier: „Weil ich illusionslos bin, was das Ruhrgebiet anbetrifft. Ich finde, es ist ein Haufen Scheiße.“

Ein weiteres Interview mit Wolfgang Welt (von www.bochumschau.de) findet sich hier.




Dreimal Ina – „Bilder deiner großen Liebe“ von Wolfgang Herrndorf im Prinzregenttheater

Bilder deiner grossen Liebe 3 (c) Sandra Schuck

Von links: Miriam Berger, Johanna Wieking, Linda Bockholt (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

Als sich die Chance bot, ist sie entwischt: Isa, die es hinter vier Meter hohe Backsteinmauern verschlagen hat. Gründe dafür werden nur angedeutet, „Ich bin verrückt, aber nicht bescheuert“, sagt sie selbstbewusst. Isa ist die Hauptfigur des Stücks „Bilder deiner großen Liebe“, das jetzt seine Premiere im Bochumer Prinzregenttheater erlebte. Gleich drei Schauspielerinnen geben der jungen Frau Stimme und Gestalt, wenn sie auszieht, die Welt jenseits der Anstalt zu ergründen.

Der Autor von „Tschick“

Der Stoff des Stücks stammt von dem 2013 mit 48 Jahren viel zu früh verstorbenen Wolfgang Herrndorf. Robert Koall hat daraus eine Bühnenfassung gemacht, die jetzt zur Aufführung gelangte. Zum Werk Herrndorfs zählen einige unverstellte, klarsichtige, dabei jedoch auch launige Beschreibungen der Lebenswelten jüngerer Erwachsener wie „In Plüschgewittern“. Vor allem jedoch wurde er durch das vielgespielte Außenseiterstück „Tschick“ bekannt, dessen weibliche Hauptfigur Isa wir nun wiederbegegnen.

Bilder deiner grossen Liebe 4 (c) Sandra Schuck

Von links: Linda Bockholt, Miriam Berger, Johanna Wieking (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

Wenn Isa in dieser Inszenierung (Regie: Frank Weiß) mit Miriam Berger, Linda Bockholt und Johanna Wieking gleich dreifach besetzt ist, dann wohl nicht, um eine psychische Störung („multiple Persönlichkeit“) anzudeuten. Eher wirkt es wie der durchaus gelungen zu nennende Versuch, eine vielschichtige, reflektierte, reiche Persönlichkeit in empathischen Dialogen angemessen zu zeichnen.

Bestimmte charakterliche Eigenschaften sind den drei Darstellerinnen folgerichtig auch nicht zugeordnet, eher wirken sie wie Kinder im heiteren Spiel; nun gut, vielleicht ist Johanna Wieking ein kleines bisschen mehr Isa als die anderen, weil sie auch Isa in der „Tschick“-Produktion des Prinzregenttheaters war und weil sie mit ihrem häufigen großen Lächeln noch etwas mehr Erleben spiegelt als die beiden anderen. Aber alle erzählen sich die Erlebnisse in der Ich-Person.

Alle Drei sind sie auch respektable Musikerinnen, gleich der Opener des Abends ist ein munteres Rock-Geschrammel mit Schlagzeug, Bass und Gitarre. Auch Keyboard und Xylophon erklingen im Laufe des Abends, und außerdem singen sie sehr schön.

Bilder deiner grossen Liebe 5 (c) Sandra Schuck

Von links: Linda Bockholt, Johanna Wieking, Miriam Berger (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

Auf der Flucht

Die Handlung des Stücks – also das, was Isa in der Freiheit erlebt – bleibt indes Erzählung. Wir erfahren, dass Isa die Scheibe eines Geschäfts einschlug, um an Essen zu kommen, dass sie sich pfiffig und im wahrsten Sinne des Wortes in die Büsche schlug, um nicht eingefangen zu werden, dass sie auf einen Fußballplatz pinkelte, plötzlich das Flutlicht anging, feixende Spieler vor ihr standen, und last not least, dass sie die Psychopillen, die sie heimlich unter der Zunge hielt und nicht herunterschluckte, aufbewahrt hat, weil sie sie manchmal wirklich braucht. Auch wenn der Kopf dann leer und löchrig wird wie ein Sieb.

Schiffer und Räuber

Voller Übermut ist sie auf ein Binnenschiff gesprungen, dessen Steuermann sich Kapitän nannte, obwohl er gar keine Uniform anhatte, der über ihren Besuch in keinster Weise erfreut war, sie an der nächsten Schleuse auf jeden Fall wieder aussetzen wollte. Dann jedoch ließ er sich ausführlich über „Verdränger“ und „Gleiter“ unter den Binnenschiffen aus und erzählte schließlich von einem Bankraub, dessen Täter mit einem „Verdränger“ flüchteten, welcher sank, was den einen der beiden das Leben kostete. Ist der Schiffer der zweite Räuber? Jedenfalls behauptete er es.

Die Welt ist verrückt

Mit einem Schweinelaster ist Isa mitgefahren, hat den Schweinen Wasser gegeben, währen der Fahrer Pinkelpause machte und ihren süßen Arsch lautstark bewunderte, ein toter Förster kreuzte ihren Weg, und überhaupt ist Isas Trip voll von Zumutungen, Ungeheuerlichkeiten und Abgründen, dabei oft banal und geheimnisvoll zugleich. Gewiss ist sie nicht verrückter als die Welt um sie herum, Wolfgang Herrndorfs furioses Roadmovie lässt da keine Zweifel.

Doch mag die Welt auch irre sein – auf der Bühne des Prinzregent-Theaters sind diese anderthalb Stunden mit der verdreifachten Hauptdarstellerin ein großes Vergnügen. Das Publikum zeigte sich erwartungsgemäß begeistert.

 




Vollendet unvollendet: Wolfgang Herrndorfs „Bilder deiner großen Liebe“

Bilder Deinen großen Liebe „Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert.“ Es kommt in Schüben, gegen die man sich nicht wehren kann – „wie Hunger oder Durst, oder wenn man ficken will“. Mit solcher Art Betrachtungen beginnen die „Bilder deiner großen Liebe“.

Ein junges Mädchen stellt diese Betrachtungen an. Sie steht im Hof einer Anstalt, betrachtet die blühenden Blumen, die Sonne am Himmel – das Klischee ist ihr bewusst. Mit dem Daumennagel berührt sie die Sonne, schiebt sie Millimeter um Millimeter zurück. Langsam verschiebt sich auch das Eisentor, welches die Anstalt vom Rest der Welt trennt. Das Mächden, welches eben noch die Sonne berührt hat, huscht hinaus. Sie hat keine Schuhe an, egal.

Sie zieht die Socken auch noch aus und beginnt barfuß ihre Wanderung. An der Autobahn entlang, durch Dörfer, Wiesen und immer wieder durch den Wald, der ihr, seit sie denken kann, ein Freund, ein Trost war. Mehr Freund als die meisten Menschen, denen sie begegnet ist in ihrem Leben oder die sie auf ihrer Wanderung noch treffen wird: Den Binnenschiffer, der mal ein Bankräuber war oder auch nicht, einen verdrucksten Schriftsteller, einen lüsternen Fernfahrer, auf dem Friedhof einen wohlwollenden Mann in grüner Trainingsjacke, ihr und uns bekannt.* Und auf einer Müllkippe trifft sie zwei Jungen, mit denen sie eine Zeitlang zusammenbleibt. Eine kurze, aber eine wahrhaftige, eine fast schon glückliche Zeitlang. Das wandernde Mädchen – wir kennen sie. Es ist Isa, die hinreißende, grandiose Isa aus Wolfgang Herrndorfs nicht weniger hinreißendem Jugendroman „Tschick“.

Der unvollendete Roman „Bilder deiner großen Liebe“ ist der letzte veröffentlichte Text des viel zu früh verstorbenen Wolfgang Herrndorf. Wolfgang Herrndorf war Schriftsteller, Maler, Illustrator und Blogger, der seinen hoch verdienten, berechtigten Erfolg erst erfuhr, als er schon unheilbar an einem Gehirntumor erkrankt war. In Konsequenz dieser unheilbaren, ihn zerstörenden Krankheit nahm er sich im August 2013 das Leben. Sein Leben mit der Krankheit und seine Vorbereitungen auf den Freitod teilte er in seinem tief berührenden, auch verstörenden Blog Arbeit und Struktur mit der Öffentlichkeit, posthum als Buch herausgegeben.

Der Veröffentlichung des fragmentarischen Isa-Textes stimmte er erst wenige Tage vor seinem Freitod zu. Zum Glück für uns, die Leser, die ihn und seine Texte schon länger begleitet haben. Ja, es ist unfassbar traurig, zum letzten Mal etwas Neues von Wolfgang Herrndorf lesen zu dürfen, aber es ist schön, es ist eine große Freude, dass es ein Text über Isa ist.

Wolfgang Herrndorfs Jugendroman „Tschick“, der Überraschungserfolg des Jahres 2010, ist ein großartiges Buch. Die Figur Tschick war grandios, die Figur Maik Klingenberg war grandios, aber seien wir ehrlich, die Grandioseste von allen war Isa. Die Figur, die auch Jahre nach der Lektüre am präsentesten in der Erinnerung ist. Isa, die Unbezähmbare, die Lebenskluge, so wild entschlossen, dem Leben wenigstens ein bißchen etwas abzutrotzden. Nicht nur die Protagonisten in Tschick liebten sie, nicht nur der Leser, sondern wohl auch Wolfgang Herrndorf.

Möglicherweise war Isa sogar diejenige von Herrndorfs Romanfiguren, die ihm am meisten bedeutete. Isa ist wohl die Romanfigur der letzten Jahre mit dem größten Potential. Es ist (bei aller Tragik des Schicksals von Herrndorf) eine weitere Tragik in sich, dass diese Figur mit ihm unvollendet gehen musste. Mit den letzten Zeilen der „Bilder“ kommt der Gedanke auf, dass Isa seine imaginäre Gefährtin war, die ihn in den Tod begleiten und doch zurückbleiben sollte, um für ihn noch etwas zu Ende zu bringen.

Den Titel „Bilder deiner großen Liebe “ hat Herrndorf selbst noch bestimmt, irgendwie ist er untypisch für ihn. Die Romanfigur Isa hat ein reales Vorbild aus dem Leben Wolfgang Herrndorfs. Ines, eine Frau, die mitten im Wald in einer Hütte wohnte, die barfuß durch den Wald streifte und über Katarakte kletterte, die ihm zum Einschlafen Musils „Fliegenpapier“ vorlas. Sie gab schon der Hauptfigur in den „Plüschgewittern“ ihren Namen, der Autor bezeichnete sie als „naturkindhaft“ und die Tage mit Ines, mit der ihn eine platonische Beziehung verband, nennt er die glücklichsten seines Lebens. (Nachzulesen im oben verlinkten Blog, Kapitel 6, 22.07.2010, 5:33h ) So betrachtet, passt der Titel dann doch wieder ganz gut. Ein weiteres schönes, berührendes Detail am Rande: Das Landschaftsgemälde auf dem Schutzumschlag ist ein Gemälde von Wolfgang Herrndorf selbst. Wie einem Hinweis im Buch zu entnehmen, hing es lange Zeit schief und ungerahmt und mit der Zeile „macht einem manchmal Angst: Die Natur“ an der Wand über seinem Schreibtisch.

„Bilder deiner großen Liebe“ ist keine Fortsetzung von „Tschick“. Es sind gerade mal sechs Seiten, die sich in den „Bildern“ mit der „Tschick“-Handlung überschneiden. Das mag manchen enttäuschen, zumal sich nach der Lektüre der Gedanke aufdrängt, dass die beiden Jungs für Isa bei weitem nicht das waren, was sie umgekehrt für die Jungs war. Für die „Bilder“ ist das aber völlig in Ordnung, „Tschick“ braucht keine Fortsetzung. „Tschick“ ist genauso wie es ist richtig.

Aber – so weiß der Leser schon vor der Lektüre ungefähr, was ihn erwartet. Ein Text aus der Sicht einer unzuverlässigen Erzählerin. Unter allen unzuverlässigen Erzählern, die es je gegeben hat, ist Isa wohl die unzuverlässigste. Sie mäandert durch Zeit und Raum und das liegt nicht nur daran, dass der Text den Herausgebern als Fragment vorlag. Aber gerade deswegen funktionieren die Bilder als Road Novel außerordentlich gut, gerade deswegen wirkt der Roman weit weniger unvollendet und fragmentarisch, als vor Lektüre erwartet. Es ist wirklich weniger der Roman, der unvollendet bleibt, als vielmehr Isa selbst, deren viel zu kurzes Gastspiel in der literarischen Welt man nur außerordentlich bedauern kann.

Die Herausgeber Kathrin Passig und Marcus Gärtner waren enge Freunde des Autors und zeichneten auch schon verantwortlich für die Veröffentlichung des Blogs als Buch. Man kann es nicht anders sagen, als dass sie es auch mit den „Bildern“ gut, sogar sehr gemacht haben. Man merkt (auch im erkärenden Nachwort der Beiden), dass sie sich den Entscheidungen, die sie zu treffen hatten und die eigentlich nur einem Autor zustehen, mit tiefem Respekt genähert haben. Sie haben sehr sorgfältig gearbeitet, leichtgefallen ist es ihnen auch nach eigener Aussage nicht. Sie verbergen vorhandene Lücken nicht, dennoch ist der Text zusammenhängend. Vor allem aber bewahren sie Wolfgang Herrndorfs ganz eigene Sprache und würdigen so die Einzigartigkeit des Autors.

Worte waren seine Bilder, je plastischer, desto lieber. Die gelegentlich etwas schief sitzende Grammatik – sie ist gewollt und die Herausgeber haben sie unverändert gelassen. So hat Wolfgang Herrndorf es sich gewünscht, so haben Passig und Gärtner es gemacht. Bloß keinen „Germanistenscheiß“ an den Text ranlassen, das war Herrndorf wichtig. Er wäre stolz auf das Ergebnis gewesen.

Auch wenn der Roman noch so oft unvollendet genannt werden wird, für mich als Leserin, die alle Werke Herrndorfs chronologisch zum jeweiligen Zeitpunkt ihres Erscheinens – angefangen mit den Erzählungen „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ bis hin zum Blog – gelesen hat, für mich sind die „Bilder Deiner großen Liebe“ ein versöhnliches, wenn auch für immer traurig bleibendes Ende.

Wolfgang Herrndorf: „Bilder Deiner großen Liebe“. Rowohlt Berlin, 140 Seiten, € 16,95.

(*der Mann in grüner Trainingsjacke auf dem Friedhof entspricht einem bekannten Foto des Autors.)




Philharmonie Essen: Klang-Erkundungen mit Wolfgang Rihms Zweitem Klavierkonzert

Wolfgang Rihm und Essen: Das ist eine ausdauernde Geschichte, die ihren Höhepunkt 2008/09 hatte, als die Philharmonie dem Komponisten von Weltgeltung mit 17 Konzerten eine umfassende Hommage bereitete. Unter anderem wurde damals sein 11. Streichquartett uraufgeführt.

Im Juni dieses Jahres dann erneut eine Uraufführung: „Verwandlung 6“, eine „Musik für Orchester“, geschrieben zum zehnjährigen Bestehen der neuen Philharmonie. Jetzt wäre es beinahe zu einer deutschen Erstaufführung gekommen: Rihms Zweites Klavierkonzert erklang im Rahmen einer Tournee des Gustav Mahler Jugendorchesters unter Christoph Eschenbach, die am Sonntag in Köln endete.

In Salzburg uraufgeführt: das Zweite Klavierkonzert Wolfgang Rihms. Auf dem Foto: Solist Tzimon Barto, Dirigent Christoph Eschenbach und Mitglieder des Mahler Jugendorchesters. Foto: Marco Borelli / Lelli

In Salzburg uraufgeführt: das Zweite Klavierkonzert Wolfgang Rihms. Auf dem Foto: Solist Tzimon Barto, Dirigent Christoph Eschenbach und Mitglieder des Mahler Jugendorchesters. Foto: Marco Borelli / Lelli

Es ist noch keine vierzehn Tage her, dass Tzimon Barto als Solist das neue Werk in Salzburg uraufgeführt hatte. Seither hatte er es in Deutschland in Hamburg, Lübeck und Dresden gespielt, gemeinsam mit den jungen Musikern des 1986 von Claudio Abbado gegründeten Orchesters. Unter ihnen sind auch zwei aus Essen: der Trompeter Lukas Müller und der Fagottist David Schumacher. Beide studieren an der Folkwang Hochschule der Künste.

Rihm nennt das neue Werk bewusst sein „Zweites Klavierkonzert“: Er komponiert mit Blick auf die Geschichte der Gattung. „Rondo“ nennt er etwa den zweiten Satz, bezieht sich damit auf ein klassisches Formmodell. Doch er ahmt nicht nach. Sondern er erfindet neu, während er zurück blickt. Das macht seine Musik zugleich fasslich und ungreifbar, vertraut und enthoben.

In den Mini-Dialogen des Klaviers mit den wunderbaren jungen Solisten des Orchesters streifen sich Klänge wie feine Fäden von Dunst; in transparent schimmernden Flächen und delikat ausbalancierten Verdichtungen verschmelzen sie zu still tönenden Seen. Oft sagt man, die Qualität eines Orchesters zeige sich im „piano“: Mit den tausend Schatten von „Leise“ in Rihms Konzert hat sich das Jugendorchester das beste Zeugnis ausgestellt. Solist Tzimon Barto erwies exquisiten Klangsinn und die Demut, sich einbinden zu lassen in geduldige Klangerkundungen.

Barto, der in seiner Jugend gern den amerikanischen Strahlemann gab, ist zu einem höchst sensiblen Künstler gereift. Mit der geforderten Delikatesse füllt er die Bögen, die ihm Rihm im pianissimo für das Klavier schreibt. Klarinetten und Bassklarinette antworten ihm, setzen ein behutsames sforzando wie eine flüchtige Nuance auf den Ton. Rihm lässt den Klang changieren, führt ihn, getragen von schwebenden Streichern, über das Fagott zum Horn.

Erst nach 90 Takten ist ein erster dynamischer Akzent erreicht, markiert von der Posaune und beantwortet von einem glänzenden Bogen und feinnervigen Skalen des Klaviers. Und erst weitere 70 Takte später blitzt der volle Orchesterklang auf, wenn Hörner, Blechbläser, Vibraphon und Röhrenglocken, umschwirrt von der Harfe, einen dynamischen Gipfel erreichen. Nach dichten Passagen des Klaviers, teils solistisch, teils im sensiblen Dialog mit dem Orchester, verklingt das Konzert nach einer halben Stunde still: Das Pianissimo des Klaviers mischt sich mit den leisen Kontrabässen; zwei Atemzüge, dann verweht ein einsam ersterbendes „Fis“ im Raum.

Freute sich über seine Uraufführung zum Jubiläum "10 Jahre Philharmonie Essen": der Komponist Wolfgang Rihm. Mit Dirigent Tomás Netopil genießt er den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Freute sich über seine Uraufführung zum Jubiläum „10 Jahre Philharmonie Essen“: der Komponist Wolfgang Rihm. Mit Dirigent Tomás Netopil genießt er den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Rihms Konzert prunkt nicht mit seiner technisch-kompositorischen Raffinesse. Es fordert den Hörer. Es will in seinen feingesponnenen Verästelungen, in seinem Gespinst von nuancierten Klängen erlauscht werden. Ein denkbar schroffer Kontrast zum lärmenden Gestampfe der geräuschhaften Hörverschmutzung um uns herum – und auch ein Gegenprogramm zu jenen zeitgenössischen Strömungen in der Musik, denen ein halbes Dutzend voll zuschlagender Perkussionisten noch kaum genug sind.

Dass es im Mahler Jugendorchester auch laut zugehen kann, bewies es mit Bruckners Siebter Symphonie. Hat Christoph Eschenbach sich bei Rihm mit sorgsamen Zeichen in den Dienst des delikaten Sensualismus gestellt, ließ er bei Bruckner die Zügel los: Viel zu rasch waren dynamische Höhepunkte erreicht, viel zu eilig explodierten die berühmten, von den Blechbläsern getoppten Tutti. Zudem zelebrierte Eschenbach die Tempi extrem langsam, legte etwa das „sehr schnelle“ Scherzo breit und schwer an. Und das Adagio fiel an den „schönen Stellen“ in dumpfklingende Lethargie.

Leuchtende, unangestrengte Natürlichkeit suchte man vergebens – und die majestätischen Bruckner-Apotheosen waren verschenkt, weil dem Effekt schon vorher lautstark der Druck abgelassen wurde. Am Orchester lag es nicht: Die jungen Musiker begeisterten, etwa in Celli, Violinen und Holzbläsern, mit wundervollen Details. Dass sie sich nicht zum Ganzen fügten, ist ihnen nicht anzurechnen.




„Republik der Wölfe“ – wie das Schauspiel Dortmund Grimm’sche Märchen massakriert

Angstvoller Blick: Der Jäger (Sebastian Kuschmann) bedrängt Schneewittchen (Eva Verena Müller). Foto: Hupfeld

Angstvoller Blick: Der Jäger (Sebastian Kuschmann) bedrängt Schneewittchen (Eva Verena Müller). Foto: Hupfeld

Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Männer, die sich oder anderen Eingeweide herausreißen, Gliedmaßen verstümmeln. Dazu heulen die Wölfe. Ein Höllentrip ist das. Unterlegt mit teils psychedelischer oder traumverlorener, teils illustrativer, geräuschträchtiger und die Ohren malträtierender Musik. Willkommen im fiesen Brutalo-Kosmos der Grimm’schen Märchen, das Massaker ist angerichtet. Serviert im Schauspielhaus Dortmund.

Seitdem dort Kay Voges das Intendantenruder in die Hand genommen hat, darf sich das Publikum immer wieder auf allerlei Experimentelles, Skurriles, Grelles und Verstörendes einlassen. Da fügt sich die Regisseurin Claudia Bauer, die nun also Hand anlegt an ein deutsches Heiligtum, an die märchenhafte Romantik im Dunstkreis eines Mythos namens Wald, aufs Schönste ein. In dieser Mixtur aus Splatter-Movie, Spießbürger-Ambiente, sanfter Traumerzählung oder geschriener Suada bleibt kein Auge trocken.

Schneewittchen, Dornröschen, Rotkäppchen, Rapunzel – wer kennt sie nicht, die „Heldinnen“ von Jacob und Wilhelm Grimm, die gewiss allerlei Gemeinheiten, Eifersuchtsszenen, Bedrohungen oder Anschläge aufs Leben erleiden und erdulden müssen, die am Ende aber doch ihren Prinzen finden, glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben … „und wenn sie nicht gestorben sind…“. Wer aber weiß die Gedichte zu benennen, die die amerikanische Autorin Anne Sexton unter dem Titel „Transformation“ geschrieben hat, als Adaption eben jener Märchen? Die Wert legt auf die kriminelle Energie der Figuren, auf drastische Schilderung von Verhältnissen und auf das von Pessimismus durchtränkte Fazit, dass Happy Ends gänzlich unangebracht sind?

Jacob und Wilhelm Grimm (Sebastian Kuschmann, Ekkehard Freye) ringen. Foto: Hupfeld

Jacob und Wilhelm Grimm (Sebastian Kuschmann, Ekkehard Freye) ringen. Foto: Hupfeld

Nun, in Dortmund ist’s zu erleben. Vor allem mit Hilfe der Macht der Bilder. Mit überdrehten, überzeichneten Figuren, sich teils gruselig, dann wieder sanft bewegend. So sind Traum und Trauma im romantisch-modernen Textgemenge nah beieinander. Wer aber die Hintergründe nicht kennt – Anne Sextons Psychosen, ihre Versuche, Lyrik als Therapie einzusetzen, letzthin der Selbstmord (nach zwei Suizidversuchen) –, dürfte wohl etwas ratlos das Theater verlassen.

„Hüte Dich“ wird oftmals geraunt. „Mehr Raum“ schreit’s am Beginn von „Hänsel und Gretel“. Ein Blick auf die altbacken eingerichteten, miefigen, hübsch hässlichen Zimmerchen,  die Ausstatter Andreas Auerbach als zweigeschossigen Loft auf die Drehbühne gewuchtet hat, reicht, um verständnisvoll zu nicken. An diesen Orten des Grauens vergeht sich der Froschkönig an der Prinzessin, verblutet das Rumpelstilzchen, müssen sich die Stiefschwestern Aschenputtels die Füße abtrennen lassen.

Rotkäppchen (Julia Schubert) und Wolf (Uwe Schmieder) im Clinch. Foto: Hupfeld

Rotkäppchen (Julia Schubert) und Wolf (Uwe Schmieder) im Clinch. Foto: Hupfeld

„Republik der Wölfe“ ist diese Abfolge von Schändlichkeiten übertitelt. Jaja, der Wolf ist in die Deutschen Wälder zurückgekehrt. Und dass der Mensch in gewisser Hinsicht des Menschen Wolf sei, propagierte schon Thomas Hobbes. Daran scheint Regisseurin Claudia Bauer anzuknüpfen. Wenn auch manche drastische Szene im zirkulierenden Horrorhaus einen Hauch von Geisterbahnatmosphäre ausstrahlt, zeigt doch die dunkle Seite der Romantik wirkmächtig ihr grausiges Gesicht. Wenn aber ausgerechnet der böse Wolf, nachdem er die Großmutter gemeuchelt hat und in ihre Kleider geschlüpft ist, von Rotkäppchen aufs Schärfste verführt wird, dann scheint die Regie einem Augenzwinkern nicht widerstehen zu wollen.

Doch im Grunde sind die Dinge, die hier verhandelt werden, von ernster Art, das Böse lauert immer und überall, es gibt kein Entrinnen. Sinnbildlich dafür steht das Ringen der Grimm-Brüder um den rechten Verlauf jeder Geschichte. Wie siamesische Zwillinge kleben die beiden aneinander. Wilhelm sagt: „Jacob, Du kannst nicht alle Märchen gut ausgehen lassen“ (ganz im Sinne von Anne Sexton). Der Angesprochene aber will sich lösen, der Wald soll ihn das wirkliche Leben lehren.

Am Ende des gut 100-minütigen Spektakels aber ist der Fokus ganz auf die somnambul wirkende Schauspielerin Eva Verena Müller gerichtet. Die anfangs mit großen, ängstlichen Augen uns anblickt, als Schneewittchen in anmutigen Todesschlaf sinkt, als Dornröschen aufwacht, nicht weiß, ob sie in der Wirklichkeit angekommen ist. „Ich würde so gerne etwas erleben“, sagt sie, begleitet von sanften, melancholischen Klängen.

Das macht die Band, die sich passend zum Stück „The Ministry of Wolves“ nennt, ganz vorzüglich. Paul Wallfisch, Alexander Hacke, Danielle de Picciotto und Mick Harvey sind in großer Virtuosität daran beteiligt, aus der Szenenfolge ein Gesamtkunstwerk zu schaffen. Eines, das indes schmerzlich bewusst macht, dass die alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, schon lange vorbei sind.




Von Mäusen und Menschen: Wolfgang Tillmans fotografisches Werk im Düsseldorfer K 21

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer Bewunderung: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Aber wie passt die vielzitierte Sentenz des Philosophen Immanuel Kant zu einem Fotokünstler der Gegenwart?

Eigentlich gar nicht, möchte man meinen, doch empfangen den Besucher gleich im ersten Raum der Ausstellung von Wolfgang Tillmans im Düsseldorfer K21 riesengroße C-Prints von sternenübersäten Nachthimmeln. An der Wand gegenüber zieht eine kleine schwarze Venus über den orangenen Ball der Sonne. „Wann habe ich zuletzt einen derart geilen Sternenhimmel gesehen“, fragt man sich unwillkürlich und denkt an den letzten Sommerurlaub am Meer. Ernüchterung ereilt einen gleich im nächsten Zimmer: „Bitte nackt duschen“, warnt ein Schild und weitere Fotos zeigen unordentliche Kleiderstapel und schlecht sortierte Socken auf dem Sofa sowie herumstehendes Geschirr. Woher weiß der Fotograf denn so genau, wie es bei uns zu Hause aussieht?

Wolfgang Tillmans, Venus Transit, Kunstsammlung NRW

Wolfgang Tillmans, Venus Transit, Kunstsammlung NRW

Vielleicht weil er unserer Generation angehört? 1968 in Remscheid geboren, feierte er noch ein paar wilde Partys in Düsseldorf oder so und machte sich dann Anfang der neunziger Jahre nach England auf. Heute lebt und arbeitet er in London und Berlin und die in der Schau versammelten Fotos wirken wie die Chronik seines Lebens – faszinierend und beiläufig zugleich. Sie zeigen die ihn umgebenden Menschen und Dinge völlig unprätentiös. Ein Mann in Unterwäsche betrachtet seine Fußsohlen, ein anderer steht im Schwimmbad herum. Zimmerpflanzen in Nahaufnahme treten nur für einen Augenblick, nämlich für dieses Foto, aus ihrem unbeachteten Dasein hervor und eine kleine Maus flüchtet in den Gulli, die Hinterbeine in die Luft geworfen.

Ebenso selbstverständlich blickt er auf die Phänomene der Subkultur und auf die nach harten Nächten Gestrandeten: Knutschende Männer, entblößte Muschis und Schwänze, die friedlich neben hübsch angerichteten Flugzeugtabletts liegen. Fast hätte man sie für das künstlich schmeckende Würstchen gehalten, das in solchen Situationen öfter gereicht wird.

Kaum ein Bild ist gerahmt, sie sind einfach so auf die Wand gepinnt und auch die fotografierten Promis kommen ganz unscheinbar daher: Fast hätte ich Kate Moss übersehen, bzw. sie für ein leidlich hübsches Mädchen mit etwas schiefen Zähnen gehalten, vor sich auf dem Tisch seltsamerweise eine Früchte-Mischung aus Erdbeeren und Kartoffeln. Manchmal kommt einem Tillmans vor, wie der Vorreiter der Facebookkultur: Ich poste mein Leben und ihr sagt mir, wer ich bin. Tatsächlich schafft es aber seine künstlerische Vermittlung, zu zeigen, wer wir alle sind.

Wolfgang Tillmans, Kunstsammlung NRW

Wolfgang Tillmans, Kunstsammlung NRW

Außerdem hat sein Werk durchaus eine gesellschaftspolitische Komponente: Eingehend hat sich Tillmanns mit dem Thema AIDS beschäftigt. Großformatig kopierte Zeitungsartikel lassen die Berichte aus Kriegsgebieten monströs erscheinen. Und das wandfüllende Foto von der blumengeschmückten Unterführung, in der ein Migrant Opfer von Neonazis geworden war, braucht keinen weiteren Kommentar. Ebenso wenig die überdimensionale Schaufel voll mit Müll aus dem Slum. So landet der Besucher nach den verschiedensten Eindrücken durch die Augen von Wolfgang Tillmans gesehen wieder beim Sternenhimmel, denn hier ist der Rundgang zu Ende. Von Moral war also auch die Rede, hätte man gar nicht gedacht. Und zum Schluss gibt es sogar noch einen Katalog geschenkt. Total nett, dieser Künstler. Kriegt ein „like“.

Bis 7. Juli im K 21 in Düsseldorf

www.kunstsammlung-nrw.de

 




Bochum, Buddy Holly und überhaupt: Als Wolfgang Welt die Treibsätze seiner Texte zündete

So einen gibt es nur in Bochum, also wird die Geschichte immer wieder gern aufgegriffen, wenn es um Wolfgang Welt geht: Der Mann ist Nachtportier im Schauspielhaus – u n d Autor des hochmögenden Suhrkamp-Verlages, seit der berühmte Peter Handke sich vor Jahren für ihn stark gemacht hat. So. Damit hätten wir das hinter uns gebracht.

Fürsprecher Handke hat jetzt auch ein kurzes Vorwort zu Welts gesammelten (vorwiegend journalistischen) Texten der Jahre 1979 bis 2011 beigetragen.

Der Band führt vor allem in Wolfgang Welts Frühzeit zurück, als er speziell Rockmusik, dann aber auch Literatur fürs Ruhrgebiets-Szenemagazin „Marabo“ besprochen hat. Später ging’s auch in Blättern wie „Musikexpress“ zur Sache.

Man erlebt gleichsam schreiberische Fingerübungen, zunächst vielfach noch unscheinbar oder gar unbedarft, gleichwohl schon vehement meinungsfreudig, ja manchmal sogar eminent präpotent.

Ich bin beileibe weder Grönemeyer- noch Müller-Westernhagen-Fan und gewiss auch kein Anhänger von Heinz Rudolf Kunze, doch darf man diese Leute so beleidigend wie folgt abkanzeln?

„Was sich (…) Grönemeyer (…) hier geleistet hat, ist wie schon bei seinem Debüt vor zwei Jahren unter aller Sau.“

Über das Lied „Von drüben“ von Marius Müller-Westernhagen („musikalisch armseliges Würstchen“): „Dieses Stück Scheiße ist an Erbärmlichkeit nicht zu übertreffen. (…) Hoffentlich verliert Müller-Westernhagen bald seine Stimme.“

„Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten.“

Ist da etwa ein Drecksack am Werk?

Das liest sich ganz so, als wolle da jemand die Kritisierten ein für allemal „erledigen“ und weghaben. Es hat schon gewisse Drecksack-Qualitäten, oder? Eigentlich kein Wunder, dass er auch schon mal als „Aufsatz-Ayatollah“ bezeichnet worden ist. Immerhin hat sich Welt, ausweislich eines viel späteren Textes, mit Grönemeyer nicht auf ewig zerstritten.

Auch wenn er lobte und pries, erging sich Wolfgang Welt (vielsagendes Power-Autorenkürzel „WoW“) vor allem in wuchtig vorgetragenen Gefühlsurteilen, die er gar nicht großartig begründen mochte, darin fast schon einem Reich-Ranicki vergleichbar. Buddy Holly war und ist demnach der Abgott aller populären Musik. Auch eher entlegene Größen wie Phillip Goodhand-Tait oder der Schlagersänger Willy Hagara gelten ihm viel. Vom „Abschaum“ haben wir ja schon gehört. Übrigens: Auch „Rockpalast“-Macher Peter Rüchel gehört zu den Schimpfierten, wohingegen dessen zeitweiliger Mitstreiter Alan Bangs… Aber lest selbst!

Ein häufig bemühtes, wahrlich dürftiges Hauptkriterium seiner frühen Musikbesprechungen ist, dass Künstler mit über 30 zu alt seien, um richtig zu rocken. Ach, du meine Güte! Auch ahnt man zunächst nicht, dass einem jemand mit abgegriffensten Formulierungen wie „Kafka lässt grüßen“, „Ein Buch, aus dem man viel lernen kann“ oder „Beide Scheiben waren weltweite Hits“ je etwas Wissenswertes mitzuteilen haben würde. Vereinzelte sprachliche Unfälle wie diesen hätte das Buchlektorat nachträglich korrigieren sollen: „Von seinem älteren Bruder hatte er bereits zuvor einige einfache Griffe beibekommen gekriegt…“

Hässlichkeit, Melancholie und Würde des Reviers

Jetzt aber endlich das Positive! Und das ist viel mehr.

Irgendwann, zunächst beinahe unmerklich, sodann mit steigender Frequenz, macht es in den assoziativ aufgeladenen Beiträgen („Ich will jetzt schreiben, was mir einfällt“) sozusagen „Klick“. Es beginnt mit Authentizität signalisierenden Bemerkungen: „Ich gebe zu, ich kann kaum verbalisieren, was ich beim Anhören dieser Platte empfunden habe, dazu hat sie mich viel zu sehr berührt.“ Auf einmal aber findet sich ein ungeahnt neuer Ton, der einen mäandernd mitzieht, der sich ganz eigen anhört. Und dieser Sound wird kräftiger! Es klingen chaotisch bewegte Ruhrgebiets-Nächte mit. Die Sätze nehmen wilde, sehnsüchtige Lebensfahrt auf, künden aber auch immer wieder von Hässlichkeit, Melancholie und Würde des vergehenden Reviers von einst.

Dabei zeigt sich unversehens: Buddy Holly und die Wilhelmshöhe (ehemaliges Zechenviertel in Bochum, Welts engere Heimat zwischen Maloche, Fußball und Suff) sind nicht sternenweit voneinander entfernt, sind keineswegs unvereinbare Gegensätze. Ich bin bestimmt nicht der erste, der das schreibt, doch Wahrheiten darf man gelegentlich wiederholen: Bei Wolfgang Welt findet sich das Ruhrgebiet unversehens als Gelände der weltweiten Bewegung im Gefolge des Rock’n’Roll wieder. Den sinnhaltigen Kalauer von der „Welt-Literatur“ haben auch schon andere losgelassen.

Wo anfangs noch Dilettantismus spürbar war, freilich oft schon von wacher Neugier angetrieben, da zahlt sich nun außerdem die zunehmende Repertoire-Kenntnis aus. Welt wird erfahrener, urteilsfähiger, wohl auch Zug um Zug geschmackssicherer.

Es ist frappierend zu sehen, in welchem Maße und wie schnell sich dabei sein Stil zum Guten und manchmal Genialischen hin verändert. Als jemand vom selben Jahrgang, der etwa zur gleichen Zeit mit dem beruflichen Schreiben begonnen hat, muss ich ihm erst recht Bewunderung zollen. Die Treibsätze seiner besseren Texte hätte man gern auch mal gezündet. Von den Romanen („Peggy Sue“, „Der Tick“) erst gar nicht zu reden.

„It’s better to burn out…“

Einlässlich und mit Gespür für Gewichtungen hat sich Wolfgang Welt mit Kultur-Gestalte(r)n aus der Region befasst. Mit Respekt werden Max von der Grüns Roman „Flächenbrand“ oder Jürgen Lodemanns Theaterstück „Ahnsberch“ besprochen, mit freundschaftlicher Sympathie wird der Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner erwähnt. Werner Streletz (Marl/Bochum), damals noch am Anfang seines literarischen Schaffens stehend, erhält sogleich das Prädikat „beachtlich“.

Dass Wolfgang Welts Lebensweg zwischenzeitlich auch in psychiatrische Behandlungen führte, könnte tatsächlich innigst mit seiner wildwüchsigen Art des Schreibens zu tun haben und den Titel der Sammlung beglaubigen: „Ich schrieb mich verrückt“. Alles hat seinen Preis. Doch wie sang jener (nicht mehr ganz junge) Rockstar: „It’s better to burn out than it is to rust…“

Neuerdings scheint Wolfgang Welt etwas ratlos und verloren um die alten Themen zu kreisen, ohne ihnen wesentlich Neues abzugewinnen. Ausdrücklich heißt es an einer Stelle, dass sein Interesse an Musik geschwunden sei. Da ist ein Feuer erloschen. Und das kann einen ziemlich traurig machen.

Wolfgang Welt: „Ich schrieb mich verrückt“. Texte 1979-2011 (Hrsg. Martin Willems). Klartext Verlag, Essen. 358 Seiten. 19,95 €

P. S.: In einem lakonischen Interview am Schluss des Bandes nennt Wolfgang Welt den Schriftsteller Hermann Lenz als Vorbild und äußert sich so zum Revier: „Weil ich illusionslos bin, was das Ruhrgebiet anbetrifft. Ich finde, es ist ein Haufen Scheiße.“

Ein weiteres Interview mit Wolfgang Welt (von www.bochumschau.de) findet sich hier.




Musikalischer Jugendstil: Sophia Jaffé mit Erich J. Wolffs Violinkonzert

Der Begriff des „Jugendstils“ ist in der Geschichte der bildenden Kunst nicht unproblematisch; in der Musik leistet er wenig mehr als die Zuordnung eines Werks zu einer Zeitepoche, die von gärenden Aufbrüchen und von schönheitstrunkener Weltflucht, von inspirierter Moderne wie von zähem Festhalten an alten Idealen und Traditionen geprägt war. Es war eine Epoche, die für sich – auf der Suche nach einer neuen Ursprünglichkeit – die „Natur“ lieben lernte. In Erich J. Wolffs Violinkonzert aus dem Jahre 1909 entdeckt der staunende Zuhörer außer einer stupend versierten Komponistenhand auch jene Ranken, aufkeimenden Triebe und aus zarten Knospen wachsenden Blütenwunder, die den floralen Jugendstil in der Kunst kennzeichnen.

Wolff, 1874 in ärmlichen jüdischen Verhältnissen in Wien geboren und 1913 in New York an den Folgen einer Mittelohrentzündung gestorben, gehört zu den großen Unbekannten der Epoche eines Gustav Mahler, Alexander von Zemlinsky oder jungen Arnold Schönberg. Mit ihnen war er freundschaftlich verbunden; Wolffs Lieder wurden damals von vielen Sängern interpretiert.

Heute wäre Wolff komplett vergessen, gäbe es nicht „Schatzgräber“ wie Peter P. Pachl, der das Konzert ausfindig gemacht und neu ediert hat. Pachl sorgte auch für die Ersteinspielung einer Reihe von Wolffs Liedern mit der Sopranistin Rebecca Broberg. Das Violinkonzert wurde nun erstmals in modernen Zeiten – wenn nicht sogar überhaupt zum ersten Mal – in der Reihe der Sinfoniekonzerte der Neuen Philharmonie Westfalen in Recklinghausen, Gelsenkirchen und Kamen aufgeführt.

Als treffliche Wahl erwies es sich, das Konzert der Geigerin Sophia Jaffé anzuvertrauen, die seit fünf, sechs Jahren nach einer Reihe von Wettbewerbserfolgen ihre Karriere ohne viel Getöse aufbaut. Schon der dunkel-sämige Ton des Beginns weckt die Ohren auf: Er kündigt einen Geigenton an, der genau in die lyrische Schwarmwelt des fin de siècle passt. Jaffé kann das blühende Schwellen, das sanfte Ersterben des Tons, seine zärtliche Fülle und sein jubelndes Entfalten hervorrufen.

Sie findet nach einem ersten Forte zum ruhevollen Dialog mit der Harfe, schraubt sich in melodischem Rankenwerk in ein bemerkenswert erfülltes Piano in der Höhe, lässt die Gischt kurzer, sanfter Staccati in filigranem Schaum zerstieben. Die Sinnlichkeit ihres Legatos erinnert an Tschaikowsky; dazu zittern die Orchesterviolinen wie von einem Sommerwind bewegt. Jaffé holt die erlesen-poetische Schönheit dieser musikalischen Linien und Ornamente ein – und lässt ganz nebenher nicht spüren, welche enormen technischen Probleme Griffe und Bogenführung, Lagenspiel und Tongebung der Solistin aufgeben. In der originalen Kadenz des ersten Satzes muss sie bis zur Dreistimmigkeit gehen und meistert auch diese Aufgabe ohne Anflug hörbarer Anstrengung.

„Jugendstil“ also: Rankende Modulationen, allmähliche Mutationen von Motiven, Verschlingungen, Aufblühen und Versinken, manchmal auch wuchernde Steigerung in scheinbar endlosen Imitationen; Naturlaute in der Begleitung der (freilich manchmal plumpen) Bläser, feine Lichtwechsel, ferne Horn- und freundlich-sanft ersterbende Klarinettenklänge – all das erinnert an die geheimnisvollen Frauen eines Alfons Mucha, die dem Betrachter aus Blättern und Blumen entgegenwachsen. Dieses Konzert, bei dem man allenfalls das Fehlen dezidierter Kontraste der Sätze untereinander kritisieren könnte, verdient es, ins Repertoire aufgenommen zu werden.

Wie bereichernd die Musik Wolffs für uns sein kann, zeigte die kluge Zusammenstellung des Konzertprogramms: GMD Heiko Mathias Förster hatte es der Siebten Sinfonie Gustav Mahlers vorangestellt. Was bei Wolff noch in ungebrochener Schönheit blüht, verwandelt sich bei Mahler in dunkel-wehmutsvolle Erinnerung; wo Wolff ganz bei sich ist im innigen Gefühl, brechen Mahlers Klänge auseinander, zerreißt das duftige Gewebe, wird die Idylle zum Zitat. Was bei Wolff noch inneren Zusammenhalt genießt, fliegt bei Mahler in Fetzen vorbei.

Für die Neue Philharmonie, die bei Wolff an einigen Stolpersteinen nicht vorbeigekommen war, geriet die Siebte zur Probe auf orchestrales Niveau, der sie nicht ausweichen musste. Es gab glänzende Stellen, etwa bei den Celli, und ungeachtet einiger Ausrutscher einen untadeligen Klang. Förster dirigierte mit klaren Zeichen, stets wach für die „Schaltstellen“ der Musik. Aber die preußische Präzision hat auch ihren Haken: Sie lässt die Übergänge steif werden, nimmt der Phrasierung ihre flexible Form, macht das Metrum mechanisch.

Schon im ersten Akt stehen Klanggruppen unverbindlich nebeneinander, stellt sich die Mahler’sche Zerrissenheit nicht ein. Das Changieren zwischen Idylle und Düsternis im zweiten Akt fangen Förster und seine Leute ein; auch die bizarren Episoden des dritten Satzes gelingen. Doch dem letzten Satz mit seiner verlogen-triumphalen Geste fehlt der doppelte Boden. Da lässt Förster auftrumpfen, aber in Glanz und Gloria fehlt das falsche Gleißen. Und damit eine entscheidende Dimension dieses bestürzenden Mahler-Ungetüms.




Wie die USA vor 50 Jahren waren – Jetzt in der Werkausgabe: „Amerikafahrt“ des Schriftstellers Wolfgang Koeppen

Da ist einer soeben in New York angekommen und schreibt: „Schon sah ich einen Wolkenkratzer brennen, den Broadway lohen, schon las ich die Schlagzeilen auf allen Zeitungen der Welt. Gewaltige Katastrophen schienen hier in der Luft zu liegen.”

Wann ist das gewesen? Kurz vor oder nach dem 11. September 2001? Weit gefehlt. Es war im Frühjahr 1958. Da hat jemand latente Gefahren gewittert, die in jener Mega-Stadt vielleicht von jeher in der Luft gelegen haben. Der Mann hieß Wolfgang Koeppen und zählte zu den wichtigsten deutschen Schriftstellern nach dem Krieg.

Es ist ungemein spannend, jetzt – im Rahmen der höchst verdienstvollen Werkausgabe – wieder zu lesen, was Koeppen damals auf seinen Wegen kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten bewegt hat.

Koeppen lässt eindeutige Vorlieben erkennen: San Francisco und Boston erscheinen ihm wie nahezu himmlische Orte, Salt Lake City und New Orleans hingegen als öde, überhitzte Höllenbezirke auf Erden. Die Fegefeuer der aus Faszination und Furcht gemischten Gefühle brennen in Washington, Texas und Los Angeles. Doch New York ist in jeder Hinsicht ein herausragender Sonderfall.

Mit dem soliden Halbwissen darüber, was mittlerweile aus den USA geworden ist, staunt man als Leser, wie Koeppen offenkundig schon manche Essenzen des Kommenden herausgefiltert hat – schlichtweg durch geduldig teilnehmendes, im besten Sinne subjektiv getöntes Beobachten. Historisch geschärftes Bewusstsein und die Wachhheit eines klugen, hochsensiblen Zeitgenossen vereinen sich hier zur vertrauenswürdigen Zeugenschaft.

Gewiss, man spürt den geschichtlichen Abstand. Gerade das macht einen weiteren Reiz dieses Buches aus. Koeppen spricht durchweg noch – wie damals allgemein üblich – von „Negern”, wenn er Menschen meint, die wir heute politisch korrekt Afro-Amerikaner nennen. Aber: Er begibt sich (anders als damals die allermeisten Weißen) in die Wohnviertel und Kneipen der Farbigen, benennt Symptome und Formen der täglichen Unterdrückung.

Überhaupt nimmt Koeppen Vorgänge wahr, die tiefer reichen und länger währen als kurzatmige Aufregungen der Tagespolitik. Er ist durchaus zur Bewunderung bereit: Beispielsweise preist er die aus vitaler Vielfalt erwachsende, fortwährende Kraft zur Selbsterneuerung, die die Staaten ja jüngst wieder bewiesen haben. Weiterer Befund: In den USA könne sich jederzeit Geld in Geist verwandeln – allerdings auch umgekehrt …

Die Dominanz von Auto und Fernsehen entgeht Koeppen natürlich nicht. Schon 1958 gibt es dort eine TV-Show, die ihm geradezu brutal vorkommt: „Sie waren Leute aus dem Publikum und wurden auf eine Art Thron gesetzt. Dann traten Komiker vor sie hin, freche, mit allen Hunden gehetzte Kerle, die darauf aus waren, die Personen zum Lachen zu bringen.” Und wehe, wenn nicht! – Mal gespannt, welcher Privatsender diese Idee bald aufgreift.

Zielgenau charakterisiert Koeppen die gravierenden Unterschiede zu Europa, seien sie nun klimatischer oder mentalitätsgeschichtlicher Art. Er hat gar eine spezifisch amerikanische Form menschlicher Einsamkeit entdeckt, die er so bildhaft beschreibt, dass sie geradezu als landschaftlich umrissenes Phänomen greifbar wird. Überhaupt sieht man unentwegt imaginäre Fotografien oder Kinobilder vor sich, wenn man diese famosen Reise-Impressionen liest. Koeppens Stil animiert die Einbildungskraft. Kein Zweifel: große Literatur!

Wolfgang Koeppen: „Amerikafahrt und andere Reisen in die Neue Welt”, Suhrkamp-Verlag, Werkausgabe in 16 Bänden (Band 9), 333 Seiten, 34,80 Euro.

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ZUR PERSON

  • Wolfgang Koeppen wird am 23. Juni 1906 in Greifswald geboren.
  • Unstetes Leben in der Weimarer Republik. Jobs als Platzanweiser, Eisverkäufer, Schiffskoch. Umzug nach Berlin, erste Publikationen.
  • 1934 Romandebüt mit „Eine unglückliche Liebe”.
  • Koeppen verfasst ab 1938 Drehbücher für die Ufa.
  • Ab 1946 Beziehung und später Ehe mit Marion, die zunehmend unter Alkoholismus leidet. Ihr Briefwechsel erschien Anfang 2008: „. . . trotz allem, so wie du bist”, Suhrkamp, 457 S., 32,80 €.
  • Wichtigste Romane: „Tauben im Gras” (1951) und „Das Treibhaus” (1954) über das damalige politische Bonn.
  • Die Reisen nach Russland, Amerika und Frankreich unternahm Koeppen in den 50er Jahren im Auftrag von Alfred Andersch, damals Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk.
  • Legendär sind Koeppens lang andauernde Schreibkrisen. Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld hatte sehr viel Geduld mit ihm und half stets mit Vorschüssen. Davon zeugt ebenfalls ein Briefwechsel.
  • Koeppen starb am 15. März 1996 in München.



Die deutsche Sprache ist „schön, saftig und besonders geschmeidig“ – Wolf Schneiders Buch „Speak German“

Nicht ungeschickt: Wer das massive Eindringen englischer Ausdrücke ins Deutsche bremsen will, sollte zunächst einmal die englische Sprache loben. Sie klingt ja oft so klipp und klar.

Besonders die englischen Einsilber wie Team, Job und Sex haben es Wolf Schneider (82) angetan. Manche Wort-Importe seien eben belebend. Doch wenn es nach dem „Sprachpapst“ des deutschen Journalismus geht, soll’s damit auch weitgehend genug sein. In Frankreich setze man doch auch Grenzen!

Im großen Rest seines neuen Buches preist er vor allem das Deutsche, auf das man „stolz“ sein könne. Vielfach sei es treffender, geschmeidiger und saftiger als andere Sprachen, überdies oft kürzer (Mord statt murder, Geld statt money, Mut statt courage usw.). Auch werde in keine andere Sprache dermaßen viel übersetzt. Deutsch sei also das größte Sammelbecken der Weltliteratur. Na, bitte!

Zwischendurch spießt der Autor wahrlich absurde Anglizismen aus Werbewelt und Wissenschaft auf. Die Schuldigen sind rasch ausgemacht. Treibende Kräfte der Wortinvasion seien Fernsehen, Computer und Popmusik gewesen. Die Politik habe es lange versäumt, entschieden gegenzusteuern und das Deutsche beispielsweise als eine offizielle Amtssprache in der UNO durchzusetzen.

Wiederum eine geschickte Finte: Schneider sagt mitfühlend, man tue dem Englischen mit solchen willfährigen Übernahmen gar keinen Gefallen. Die Weltsprache verwässere dabei.

Worauf will er hinaus? Wo es nur irgend geht, soll man passende deutsche Ausdrücke vorziehen. Dies lasse sich sogar wirksam „von oben“ beeinflussen oder verfügen, findet Schneider. Als leuchtende Vorbilder nennt er Luthers Bibel-Übersetzung und Bismarcks Vorschriften von 1874, nach denen 760 postalische Begriffe eingedeutscht wurden. Ob das heute noch so einfach wäre?

Wolf Schneider: „Speak German – Warum Deutsch manchmal besser ist“. Rowohlt, 192 Seiten, 14,90 €.




„Das Leben ist ein Festival der Zufälle“ – Gespräch mit Wolf Wondratschek auf der Buchmesse

Von Bernd Berke

Wolf Wondratschek (60) zählte zeitweise zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern. Einst galt er, mit Bänden wie „Chucks Zimmer“ und „Carmen oder Ich bin das Arschloch der achtziger Jahre“, als führender „Pop- und Rock-Poet“ des Landes. Außerdem erregte er Aufsehen mit Texten über die ruppigen Milieus der Boxer und Bordelle. Die WR sprach mit ihm auf der Frankfurter Buchmesse:

Sein neuer Roman „Mara“ (Hanser, 202 Seiten, 17,90 Euro) gibt sich thematisch gediegener: „Titelheld“ ist ein berühmtes Stradivari-Cello (Beiname „Mara“ nach dem ersten Besitzer). Es erzählt in Ich-Form seine fast dreihundertjährige Geschichte quer durch die Epochen. Und es schildert das Leben der Virtuosen, die sehr unterschiedliche Temperamente verkörpern.

Das Instrument gibt es also tatsächlich, es ist viele Millionen wert. Heute spielt es der Österreicher Heinrich Schiff, mit dem der Roman denn auch endet. Dass es noch existiert, grenzt an ein Wunder. Denn 1963 ging es bei einer Havarie vor Argentinien über Bord und wurde zu nassem Kleinholz. Wahre Könner haben es wieder restauriert.

„Ich höre immer noch Grateful Dead“

Früher schrieb er über Jagger und Zappa, jetzt entstehen Romane über Mozart und Cellomusik. Hat sich Wondratschek mit den Jahren bürgerlich bemhigt? Der Autor wehrt sich gegen diese Annahme:

„Ich habe die klassisehe Musik keineswegs neu für mich entdeckt, sie ist nur in den Vordergrund getreten. Ich habe als Kind selbst Cello gelernt, lange bevor ich die erste Dylan-Platte hatte. Doch die Medien haben mich nun mal als Rock-Poeten inthronisiert.“

Es gebe keinen Bruch, allerdings verschlage es ihn von Zeit zu Zeit in andere Bereiche. Wondratschek: „Das Leben ist ein Festival der Zufälle. Aber der Autor von ,Mara‘ kennt sich immer noch sehr gut in ,Chucks Zimmer‘ aus. Ich höre immer noch Stones, Grateful Dead und Miles Davis. Aber eben auch Haydn. Vieles besteht nebeneinander.“

„In der Kunst ist man stets gefährdet“

Überdies gebe es Parallelen zwischen Komponisten, Cello-Virtuosen und Rockstars. Auch früher hätten Musiker in ihrer Kunst Dämonen heraufbeschworen und vielfach Drogen genommen. „Wenn man in der Kunst, egal in welcher, das Äußerste wagt, so ist man stets gefährdet; ganz gleich, ob am Schreibtisch, im Atelier oder auf der Bühne.“ Das heutige Konzertpublikum wisse von diesen Extremen meist nichts. Daher könne es weder diese Musik richtig verstehen noch einen Maler wie Immendorff. Wondratschek: „Man kann kein friedliches Familienleben führen und dann so denken wollen wie Nietzsche. Das Absolute ist kein Spaß!“

Ihm selbst sei seine Bordell-Thematik als Etikett angeheftet worden. Manche hätten naiv gerätselt, ob er schon mal ein Etablissement aufgesucht habe. Wondratschek: „Lächerlich! Ich bin nicht nur einmal trunken hineingewankt, sondern habe zehn Jahre auf St. Pauli gelebt, war mit Zuhältern und Mädchen befreundet. Ähnlich war es im Box-MiIieu. Ich war nie bloßer Tourist. Ich lasse mich auf Lebensumstände ein. Anders geht es auch gar nicht.“

Auch der Cello-Roman verlangte tiefes Eintauchen ins Thema. Wondratschek: „In den 300 Jahren ist unglaublich viel passiert. Es gab anfangs keine Sinfoniekonzerte im heutigen Sinn, Musik wurde nur im kleinen Kreis gespielt, sie war dem Adel vorbehalten. Also kommt die ganze Gesellschaftshistorie mit hinein. Und natürlich eine Liebesgeschichte…“




Wolf Wondratschek: Ein Cello erzählt

Wolf Wondratschek (60) zählte zeitweise zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern. Einst galt er, mit Bänden wie „Chucks Zimmer“ und „Carmen oder Ich bin das Arschloch der achtziger Jahre“, als führender „Pop- und Rock-Poet“ des Landes. Außerdem erregte er Aufsehen mit Texten über die ruppigen Milieus der Boxer und Bordelle. Ein Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse.

Sein neuer Roman „Mara“ (Hanser, 202 Seiten, 17.90 Euro) gibt sich thematisch gediegen: „Titelheld“ ist ein berühmtes Stradivari-Cello (Beiname „Mara“ nach dem ersten Besitzer). Es erzählt in Ich-Form seine fast dreihundertjährige Geschichte quer durch die Epochen. Und es schildert das Leben der Virtuosen, die sehr unterschiedliche Temperamente verkörpern.

Das Instrument gibt es also tatsächlich, es ist viele Millionen wert. Heute spielt es der Österreicher Heinrich Schiff, mit dem der Roman denn auch endet. Dass es noch existiert, grenzt an ein Wunder. Denn 1963 ging es bei einer Havarie vor Argentinien über Bord und wurde zu nassem Kleinholz. Wahre Könner haben es wieder restauriert.

Früher schrieb er über Jagger und Zappa, jetzt entstehen Romane über Mozart und Cellomusik. Hat sich Wondratschek mit den Jahren bürgerlich beruhigt? Der Autor wehrt sich gegen diese Annahme: „Ich habe die klassische Musik keineswegs neu für mich entdeckt, sie ist nur in den Vordergrund getreten. Ich habe als Kind selbst Cello gelernt – lange bevor ich die erste Dylan-Platte hatte. Doch die Medien haben mich nun mal als Rock-Poeten inthronisiert.“ Es gebe keinen Bruch, allerdings verschlage es ihn von Zeit zu Zeit in andere Bereiche. Wondratschek: „Das Leben ist ein Festival der Zufälle. Aber der Autor von ,Mara’ kennt sich immer noch sehr gut in ,Chucks Zimmer` aus. Ich höre immer noch Stones, Grateful Dead und Miles Davis. Aber eben auch Haydn. Vieles besteht nebeneinander.“

Überdies gebe es Parallelen zwischen Komponisten, Cello-Virtuosen und Rockstars. Auch früher hätten Musiker in ihrer Kunst Dämonen heraufbeschworen und vielfach Drogen genommen. „Wenn man in der Kunst, egal in welcher, das Äußerste wagt, so ist man stets gefährdet; ganz gleich, ob am Schreibtisch, im Atelier oder auf der Bühne.“ Das heutige Konzertpublikum wisse von diesen Extremen meist nichts. Daher könne es weder diese Musik richtig verstehen noch einen Maler wie Jörg Immendorff. Wondratschek: „Man kann kein angenehmes, friedliches Familienleben führen und dann so denken wollen wie Nietzsche. Das Absolute ist kein Spaß!“

Ihm selbst sei seine Bordell-Thematik als Etikett angeheftet worden. Manche hätten naiv gerätselt, ob er schon mal ein Etablissement aufgesucht habe. Wondratschek: „Lächerlich! Ich bin nicht nur einmal trunken hineingewankt, sondern habe zehn Jahre auf St. Pauli gelebt, war mit Zuhältern und Mädchen befreundet. Ähnlich war es im Box-Milieu. Ich war noch nie ein bloßer Tourist. Ich lasse mich auf Lebensumstände ein. Anders geht es auch gar nicht. Ich kann mir kein Thema vornehmen und dann ein bisschen was zusammen recherchieren.“

Auch der Cello-Roman verlangte tiefes Eintauchen ins Thema. Wondratschek: „In den dreihundert Jahren ist unglaublich viel passiert. Es gab anfangs keine Sinfoniekonzerte im heutigen Sinn, Musik wurde nur im kleinen Kreis gespielt, sie war dem Adel vorbehalten. Also kommt die ganze Gesellschaftshistorie mit hinein. Und natürlich eine Liebesgeschichte…“

(Der Beitrag stand in ähnlicher Form am 10. Oktober 2003 in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund)




In der deutschen Klemme – Wolf Biermann wird 65 / Vor 25 Jahren aus der DDR ausgebürgert

Von Bernd Berke

Es muss um 1975 herum gewesen sein. Ausflug ins fremdartige Ost-Berlin. Überall wurde man als „Westler“ erkannt und angesprochen. Viele interessierten sich für Westgeld. „Biermann koofen!“, erläuterte einer gleich ungefragt den angeblichen Zweck. Eine gemeinsame Ebene, dachte er wohl. Denn dieser Name war ein Signal.

Wolf Biermann, der wortreiche Dichter und Barde, taucht jetzt gleich doppelt im historischen Kalender auf. Heute wird er 65 Jahre alt, und morgen ist es 25 Jahre her, dass die SED ihn aus der DDR ausbürgerte.

Denkwürdige Ereignisse, in denen sich die deutsch-deutsche Misere verdichtete: Seit Ende 1965 galt das Auftritts- und Publikationsverbot gegen Biermann, verhängt vom 11. Plenum des ZK der SED. Man warf ihm individualistisches „Genussstreben“ vor, das den Klassenstandpunkt aufgebe und zur Anarchie führen werde. Grotesk genug.

„Vom Regen in die Jauche“

Viele Jahre lang schuf Biermann zunehmend bittere Texte in der Isolation seiner Wohnung in der Berliner Chausseestraße. Die Bücher und Platten konnten nur im Westen erscheinen. Etliche Verse zählen zum Kernbestand deutscher Nachkriegslyrik, einiges wurde zum geflügelten Wort: „Was verboten ist, das macht uns gerade scharf“.

Zum 13. November 1976 ließ man Biermann erstmals in die Bundesrepublik ausreisen. An diesem Tage gab er jenes legendäre Konzert in Köln. Eben diesen Auftritt nahm die DDR am 16. November zum Verwand, um Biermann auszusperren.

Der Mann, dessen Vater von den Nazis im KZ ermordet worden war und der 1953 (mit regen sozialistischen Hoffnungen) von Hamburg nach Ost-Berlin übersiedelte, musste nun in der BRD bleiben (Biermann: „Vom Regen in die Jauche“). Er fürchtete zunächst, er könne nun gar nicht mehr dichten. Aber dann ließ sich Biermann doch auf den anderen gesellschaftlichen „Stoffwechsel“ ein – und mengte sich auch in westliche Verhältnisse.

Legendäre Konzerte: 1976 in Köln, 1989 in Leipzig

Zwischen beiden Deutschlands klemmte er – ungemütlich, niemals richtig heimisch. Beifall von der bürgerlichen Seite hat er bei aller Kritik am Stalinismus stets gehasst. Vom Westen wollte er sich nicht vereinnahmen lassen. Doch auch linke Lebenslügen (etwa die Missachtung der polnischen Solidarnósc) trieben ihn zur Weißglut.

Biermanns Ausbürgerung erwies sich als ein Anfang vom Ende der DDR. Denn viele Künstler und Intellektuelle erhoben am 17. November 1976 offenen Protest gegen die Parteientscheidung – von Christa Wolf bis Manfred Krug. Es folgte ein kultureller Exodus. Die DDR begann geistig „auszubluten“.

Als Biermann im Dezember 1989 wieder in Leipzig auftreten konnte, waren diese Stunden ebenso bewegend wie das Kölner Konzert 1976. Doch „verdächtig liedlos“ kam ihm die DDR-Revolte vor, sprich: unsinnlich, halbherzig. In den Jahren danach hat Biermann oft Stasi-Zuträger und Wende-Gewinnler gegeißelt.

Erotischer Drang zur Weltgeschichte

„So oder so / Die Erde wird rot / Entweder lebendrot oder todrot / Wir mischen uns da’n bisschen ein / Soooo soll es sein / so soll es sein / so wird es sein!“. Mögen derlei Botschaften inzwischen auch unbedarft klingen, solche Lieder mit „Marx- und Engelszungen“ blieben haften. Da kam es nicht nur auf den puren Wortlaut an, sondern auf den authentischen Vortrag.

Der zehnfache Vater Wolf Biermann hat aus seinen Ehen und Affären zudem oft saftige Liebeslieder gewonnen. Lyrische Vorbilder wie Villon, Heine und Brecht sind hier nicht zu verleugnen.

Biermann hat nie das Private vom Politischen getrennt, ja oft hat er die Weltgeschichte umstandslos auf sich bezogen, was mitunter zu peinlicher Penetranz führte. Es war nicht zuletzt (seine) erotische Qualität, die in den erhofften Gärten der Utopie vollends erblühen sollte. Und es war eine Art erotischer Energie, die sich an Missständen allzeit entflammen konnte.

Biermanns querköpfige Positionen lassen sich neuerdings nicht immer nachvollziehen. Jüngst pflichtete er, der nun regelmäßig für die erzkonservative Zeitung „Die Welt“ schreibt, den rigiden ordnungspolitischen Vorstellungen des Hamburger Innensenators Schill bei. Erstaunliche Neigungen…




Ein fast schon harmlos wüster Weltenzirkus – Wolfgang Trautwein inszeniert Georg Büchners „Woyzeck“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Beim Militär wird der mittellose Mann nach Belieben geschurigelt, die Medizin demütigt ihn mit schäbigen Experimenten, und die dralle Marie hintergeht ihn mit einem strammen Tambourmajor. Geld weg, Frau weg, Ehre weg – der traurigste Blues. Schulbuchhaft gesagt: Georg Büchners „Woyzeck“ ist eine der großen Leidensgestalten unserer Dramenliteratur.

Aufwühlender Stoff also, den sich Wolfgang Trautwein am Dortmunder Schauspiel vornimmt. Blatt- und astlose Baumstümpfe hängen hier vom dunklen Himmel herab, im Hintergrund leuchtet grob skizziertes Liniengeflecht nach Art eines ausweglosen Straßen-Labyrinths (Bühnenbild: Thomas Gruber). Eine abgetötete Welt. Stumme Figuren zeigen anfangs ein Transparent mit unverständlichen Wortfetzen. Eine Welt, gegen die man auch nicht protestieren kann, weil die Sprache zerstört ist.

Dann aber betritt jener Woyzeck (Jürgen Uter) die Szenerie, und man ist erst einmal etwas beruhigt. Der Mann ist doch kein Häufchen Elend, kein Idiot. Der müßte sich doch wappnen können: Gegen den lachhaften Hauptmann (Heinz Ostermann), der ihn aufs geistige Glatteis führen will; gegen den Doktor (Andreas Weißert), der von oben an Schnüren einschwebt und seine höllischen Erbsenfreß-Versuche zu „erklären“ sucht, für die er Woyzeck karg bezahlt; gegen jenen Gockel von Tambourmajor (Thomas Gumpert), der Marie (Wiebke Mauss) mit Liegestützen und Macho-Geschwafel ächzend imponiert.

Ja, man fragt sich: Leidet dieser Woyzeck überhaupt so außerordentlich? Oder erlebt er nicht das normale Elend eines Abhängigen, der halt für seine Groschen manches über sich ergehen läßt? Vielleicht vermag er ja alles zu ertragen, nur bitte nicht den Verlust der Liebeshoffnung.

Überliefertes Volksgut zugleich als Keim und als Deckmäntelchen des Fürchterlichen: Ein groteskes Rumpelstilzchen (Günter Hüttmann) tapert umher, „Ein Jäger aus Kurpfalz“ und „Frau Wirtin“ werden im Wirtshaus gegrölt. Und zu Beginn haben wir das Ammenmärchen vom „Sterntaler“ gehört: Wer alles, alles hergibt, wird am Ende desto reicher belohnt. So nett geht’s nicht zu im wüsten Weltenzirkus, der freilich in Dortmund mit allerlei hübscher Akrobatik und dem Geflatter dressierter Tauben einen beinahe harmlosen Anschein bekommt.

Zwangs-Läufigkeit mal ganz wörtlich ausgelegt

Doch seitwärts hockt ein Soldat, dem beide Beine weggeschossen worden sind. Überhaupt zeigt sich der Anflug des Schreckens in dieser Inszenierung oft am Rande. Man kommt auch ohne das übliche Leidensgebrüll aus. Ein paar nachwirkende Szenen: Etwa jene elend sachliche, in der Woyzeck sich eine Mordwaffe kauft und sich nicht die Pistole, sondern nur das Messer leisten kann („Ein ökonomischer Tod“).

Die Personen verrennen sich immer mal wieder auf vorbestimmten Wegen, als sei die Bühne vielfach verstellt – stimmiger Ausdruck für wortwörtliche Zwangs-Läufigkeit. Eine steil ansteigende Fläche, die an eine Half-Pipe für versierte Skateboarder erinnert, dient mal als kaum übersteigbare gesellschaftliche Barriere, mal als Todes-Rutsche für die vom eifersüchtigen Woyzeck erstochene Marie. Originell auch die Idee, die Gasthaus-Gestalten in vereinzelte Bodenöffnungen zu stellen und dort wie Springteufel ihre Plätze wechseln zu lassen.

Diese unfeine Gesellschaft hat schließlich das Wort, wenn Woyzeck ins Wasser gegangen ist. Den Vorgang nehmen sie alle ungerührt zur Kenntnis. Es schrumpft die Tragödie und bleibt nahezu spurlos.

So mag es sein im TV-Zeitalter. Die Aufführung, durchweg solide, aber kaum einmal ergreifend gespielt, hält zwar eine gewisse Spannung wie kurz vorm Sprung in den Abgrund, dringt jedoch nicht wahrhaft in die Untiefen des Stücks vor. Es ist, als wolle man uns das Allerschlimmste ersparen. Wie fürsorglich!

Termine: 17., 19. Dez. 1997, 15., 16. Jan. 1998. Karten: 0231/163041.




Kunst soll wirken wie ein Nackenschlag – Werkschau über Bruce Nauman in Wolfsburg

Von Bernd Berke

Wolfsburg. Mal ehrlich: Was hat Wolfsburg schon zu bieten? Das gigantische VW-Werk, gewiß. Aber in dessen Schatten ducken sich ein barackenartiger Bahnhof und eine beklagenswert öde Innenstadt. Ausgerechnet hier soll ein Juwel der deutschen Kulturlandschaft zu finden sein? Aber ja!

Das imposante Kunstmuseum Wolfsburg, im Grundriß etwas größer als ein Fußballfeld, verfügt über finanzielle Mittel, von denen man andernorts höchstens träumt. Jetzt bietet man mit einer Schau über den US-Künstler Bruce Nauman erneut ein Ereignis der Sonderklasse.

Während etliche Häuser in den Metropolen mit jährlichen Ankaufsetats von nicht einmal 100 000 Mark (ein Witz angesichts der Kunstmarkt-Preise) wirtschaften, schöpft man in Wolfsburg aus dem Vollen. Das erst vor drei Jahren eröffnete Museum hat bereits umfangreiche Eigenbestände angehäuft. Ständig kauft man namhafte Werke hinzu: Hier ein Bild von Andy Warhol oder Anselm Kiefer, da einen Kunst-Iglu von Mario Merz oder eine Video-Installation von Nam June Paik.

Mit öffentlichen Mitteln ist das nicht zu schaffen, sondern nur mit einer reich ausgestatteten Privatstiftung, die vor allem aus Vermögensanteilen am Volkswagen-Versicherungsdienst (VVD) gespeist wird. Hier dürfte der alte VW-Werbeslogan zutreffen}: „Da weiß man, was man hat.“

Weiter nach Paris und London

Die Nauman-Schau, die in Wolfsburg Premiere hat, teilt man sich mit ersten Adressen. Sie wandert ins Pariser Centre Pompidou und in die Londoner Hayward Gallery. Kunsthallenchef Gijs van Tuyl und sein Team haben eine Ausstellung von seltener Suggestionskraft inszeniert. Der Rundgang ist schneckenförmig angelegt, auf daß man erst hinausfinde, nachdem man ins Zentrum vorgedrungen ist.

Das ist ganz im Sinne Naumans. Er gibt dem Betrachter gern die Wege vor. So schickt er ihn etwa in einen nur 50 Zentimeter schmalen, viele Meter langen Raumschlauch, an dessen Ende man seinem eigenen elektronischen Abbild begegnet. Ein andermal kann man sich – dank eines ausgeklügelten Kamera-Aufbaus – beim Gang um ein Karree selbst hinter den Ecken verschwinden und gleichzeitig die Leute hinter einem auftauchen sehen. Seltsame Zeit-Verschiebung.

Schon in den 70er Jahren hat Nauman (Jahrgang 1941) mit der damals noch ganz neuen Video-Technik experimentiert, seither hat er alle Feinheiten ausgelotet. Ein Kunstwerk solle sein wie „ein Schlag in den Nacken“, es solle umweglos aufs körperliche Befinden einwirken. So lautet ein immer wieder eingelöstes Bekenntnis Naumans, des Stamm-Teilnehmers der documenta, der sich seit zehn Jahren vom Kunstbetrieb zurückgezogen hat, keine Interviews mehr gibt und lieber in New Mexico Pferde züchtet.

Inspiriert von Cage und Beckett

Drei abgedunkelte Räume mit TV-Bildschirmen, auf denen menschliche Köpfe rotieren. Sie stammeln unaufhörlich Lautfolgen wie „Okay-okay-okay“ oder auch nur „Mh-mh-mh“. Man fühlt sich in dieses kreiselnde Wahn-System eingesperrt und faßt sich unwillkürlich an den Hals: Dreht der sich auch schon? Kurz darauf gerät man vor das Videowerk „A poke in the eye“ (etwa: Ein Stoß ins Auge). Ganz langsam tastet die Kamera ein Gesicht porengenau ab und irrt immer wieder zu den Augen hin. Zumal wenn man den Titel vorher kennt, erfaßt einen ein Gefühl der Bedrohung als Kitzel in der Magengrube. Solche Regungen hat der Künstler wohl nicht nur an sich selbst erprobt, sondern auch kühl vorausberechnet.

Der einstige MathematikStudent ließ sich von Wiederholungs- und Montage-Strukturen etwa in Werken des Komponisten John Cage, des Schriftstellers Samuel Beckett oder des Filmregisseurs Jean-Luc Godard anregen.

Viele Installationen sind höchst komplex, sie beziehen z. B. Neonlicht, Texte oder Klänge ein. Man muß es erleben. Und man wird in eine Art Trance zwischen Irritation und Meditation geraten.

Kunstmuseum Wolfsburg, Porschestraße 53 (Tel: 05361 / 266 966). Ausstellung Bruce Nauman bis 28. September. Di 11-20 Uhr, Mi-So 11-18 Uhr. Eintritt 7 DM. Katalog 45 DM.




Anekdoten aus dem Leben eines eitlen Bordellfürsten – Wolf Wondratscheks eindimensionaler Roman „Einer von der Straße“

Von Bernd Berke

Sehen wir einmal davon ab, ob Wolf Wondratschek wirklich (wie es kolportiert wurde) gegen Bargeld die Lebensgeschichte eines eitlen Bordellfürsten aufgezeichnet hat, der auch noch in die Literaturgeschichte eingehen wollte.

Schauen wir lieber auf das schriftstellerische Resultat, auf die Romanstory über jenen Gustav Berger, genannt „Johnny“, der zwischen den Ruinen der Nachkriegszeit „wild“ aufwächst, alsbald Kinderbanden leitet, sich später (zur „Halbstarken“- und Rock’n’Roll-Zeit) im Knast gegen übelste Typen sozialdarwinistisch „durchbeißt“ und schließlich eine tolldrastische Zuhälter-Karriere in München und Hamburg macht.

Das alles hätte vielleicht den Stoff für einen Roman über die ‚, Kehrseiten der „Wirtschaftswunder“-Jahre abgeben können. Doch was haben wir da? Eine erzkonventionelle Erzählweise mit einem sogenannten „allwissenden Erzähler“, der aber dann doch manchmal reichlich beschränkt zu sein scheint. Eine markige Anekdote nach der anderen, die stets wie mit beifälligem Grunzen mitgeteilt werden. Fast alles entspricht haargenau den Erwartungen, rastet schnell ein, wirkt schrecklich eindimensional und wie naturwüchis – hauptsächlich, weil der Autor nur flott heruntergeschrieben und weniger nachgedacht hat.

Kaum verhohlen die Bewunderung, mit der hier der schmutzige Aufstieg des Helden begleitet wird. Geradezu bebend vor Respekt stammelt die Erzählstimme: „Mit seinen zweiundzwanzig Jahren war Johnny damit Deutschlands jüngster Bordellbesitzer.“ Jede Schlägerei, die „Johnny“ gewinnt, wird als männliche Tat geradezu jubelnd gefeiert, mit einer Gewalt-Choreographie wie in manchen Videoclips.

Ein kurzatmiger Roman, seiner immensen Überlänge zum Trotz. Der Autor sitzt eben einer naiven Vorliebe für bloße Schauwerte auf. Und irgendwann kann man dann das großsprecherische Gelaber über die Taten von „Finger-Hannes“ oder „Totenkopf-Fred“ dann wirklich nicht mehr lesen,, zumal auch die Sprache dürftig bis schlampig ist.

Von dem einstigen „Rock-Poeten“ und Lyriker Wondratschek („Chucks Zimmer“), der sich hier erstmals als Autor eines längeren Romans versucht hat, durfte man mehr erwarten.

Wolf Wondratschek: „Einer von der Straße“. C. Bertelsmann Verlag. 484 S., 44 DM




Bilder vom Riß, der durch die Welt geht – Sechs Museen zeigen Werke von Wolf Vostell

Von Bernd Berke

Köln/Bonn. Wolf Vostell hat einen Traum: „Eine ganze Messehalle müßte man einmal mieten und dort mein gesamtes Werk zeigen. Das wäre mein Lebens-Film.“

Doch auch so kann der „alte Kämpe“ der Happening-, Objekt- und Fluxus-Kunst zufrieden sein. Nicht weniger als sechs Museen in fünf Städten haben ihre Kräfte vereint, um jetzt ein wahres Vostell-Festival auszurichten. Nicht Retrospektiven sollen es nach dem Willen des Künstlers und der Museumsleute sein, sondern Zwischenbilanzen, „Einblicke in einen laufenden Prozeß“. Derlei Vorläufigkeit entspricht in der Tat dem Wesen eines Mannes, der zwar im Oktober 60 Jahre alt wird, aber immer noch Kraft zur Provokation hat. Zuletzt sorgte 1987 sein Berliner „Beton-Cadillac“ für bundesweites Aufjaulen.

Die Ausstellungen in Köln, Bonn, Leverkusen (Geburtsort des Künstlers), Mülheim/Ruhr und Mannheim bringen – so Vostell – endlich einmal „Ordnung in mein Werk“. Er fühle sich direkt zu neuen Taten angespornt. Besagte Ordnung darf hier nicht mit Schubladen-Sortierung verwechselt werden. Vostell ist eben kein ein unbändiger Chaot, sondern er verfolgt Themen und Motive sehr hartnäckig und konsequent durch Jahrzehnte. Doch er ist natürlich auch kein Kunst-Buchhalter, dessen Werk sich fein säuberlich und genregerecht auf sechs Museen verteilen ließe. Zwar setzen die beteiligten Museen jeweils Schwerpunkte (Köln etwa zeigt die großen Environments, Bonn Arbeiten auf Papier und bisher fast unbekannte Erotik-Zeichnungen, Mülheim TV- und Videoinstallationen), aber es mischen sich oft genug Materialien und Stilmittel, so daß die Grenzen immer fließend bleiben.

Zerstörung als zentraler Aspekt

Desto mehr fallen nun einige durchgängige Themen und Prinzipien auf. Praktisch immer geht es darum, Kunst ins Leben und Leben in die Kunst zu bringen. Vostells gesamtes Werk ist eine Suche nach bildnerischen Strategien, um diese Ziele zu erreichen. Bevorzugt setzt er sich mit den populärsten zeitgenössischen Gegenständen auseinander: Autos und Bildschirme, häufig innig miteinander verquickt, durchziehen das Werk seit Ende der 50er Jahre. Ein zentraler Aspekt ist dabei vor allem die Destruktion: Zerstörung der Wirklichkeit durch elektronische Bilder, Zerstörung der Lebenswelt durch Automobile. Vielfach gilt diesen Objekten wiederum die Aggression des Künstlers: Elektrisch betriebene Hämmer dreschen auf Fahrzeuge ein, TV-Geräte werden einbetoniert oder beerdigt.

Dazu paßt auch das von Vostell so genannte Verfahren der „Dé-Collage“, die eben im Gegensatz zur Collage nicht verschiedenste Dinge zusammenfügt, sondern durch Zerstörung (z. B. Abriß von Plakat-Schichten) diese Verschiedenheit erst schreiend sichtbar macht. Die Dé-Collage ist sozusagen bildlicher Ausdruck der Risse, die durch die Welt gehen. Ganz grell sieht man dies in Vostells politischen Arbeiten aus der Zeit der Studentenbewegung und des Vietnamkrieges, deren Kontraste (Luxus-Lippenstift gegen schreiende Vietnam-Kinder; tierische Kreatur gegen seelenlose Technik) heute vordergründig wirken mögen, damals aber vielleicht einigen die Augen geöffnet haben.

Ein besonderes Problem dieser Ausstellungen liegt darin, daß viele Zeichnungen nur Vorstudien zu Aktionen, viele Objekte nur Relikte derselben sind, also gleichsam versteinerte Taten. Doch eine Spurensuche entlang des Rheins lohnt allemal.

Köln/Stadtmuseum und Haubrich-Kunsthalle (bis 22. März); Bonn/Rheinisches Landesmuseum (bis 29. März); Leverkusen/Schloß Morsbroich (bis 29. März);  Mannheim/Kunsthalle (bis 26. April) ; Mülheim/Städtisches Museum (bis 22. März). Gemeinsamer Katalog 48 DM.




Allen Leuten gefallen – Ein Buch zur Unzeit: Christa Wolfs „Was bleibt“

Von Bernd Berke

Es geschieht selten, daß ein zehn Jahre zuvor verfaßter Text beim Erscheinen solches Aufsehen erregt. Die Debatte über Christa Wolfs „Was bleibt“ entzündet sich vor allem am Zeitpunkt der Veröffentlichung. Erst nach der DDR-„Wende“ konnte bzw. wollte sie ihre Aufzeichungen von 1979 vorlegen, in denen sie schildert, wie ihr Haus damals einige Wochen lang von der Stasi observiert wurde.

Auch Leute, die sonst abgewogen geurteilt hatten, fallen jetzt über die vermeintliche DDR-„Staatsdichterin“ her, die sie all die Jahre über letztlich doch gewesen sei und die jetzt nur noch späten „Gratismut“ beweise, um sich ein Alibi zu verschaffen. Walter Jens und Günter Grass nehmen Christa Wolf gegen derlei Vorwürfe in Schutz.

Der Anlaß der Debatten umfaßt nur 108 Seiten. Da ist die literarische Rede vom psychischen Druck auf „Objekte“ staatlicher Beobachtung. Viele Passagen dürften in ihrer Substanz auch auf schlimmere Fälle anwendbar sein. Es ist eine Qualität, daß das Buch am vergleichsweise harmlosen Beispiel das dennoch Zermürbende nachfühlen läßt. Die nach geheimem Plan wechselnden Spitzel-Autos mit geisterhaften „Männern ohne Eigenschaften“ als Insassen, die vor ihrer Wohnung postiert sind – sie schaffen hier keine direkte, konkrete Bedrohung, sondern eine kaum greifbare, kaum mit Worten zu fassende Unwirklichkeit, die in alle privaten Dinge einsickert.

Das Leben wird allmählich vergiftet, vergällt. Mißtrauen wuchert, auch gegen Freunde. Schließlich ist es egal, ob die Autos da sind oder nicht – dieses Gefühl ist immer da: es irrlichtert irgendwo zwischen Unruhe, Fühllosigkeit und allgemeiner Verwunderung. Und schließlich wächst die Bereitschaft zur Resignation: Was bleibt? Gibt es überhaupt Zukunft?

Die Autorin äußert öfters ein merkwürdiges, fürsorgliches Interesse für die Lebensumstände der Stasi-Spitzel, als seien es ihre Schutzbefohlenen. Meist sanftmütig, leise und tastend auch die Sprache. Es läßt sich an Textstellen belegen: Die volle Wahrheit zu offenbaren, spart Christa Wolf sich anno ’79 für später auf – oder überläßt es lieber gleich der nächsten Generation. „Mein beschämendes Bedürfnis, mich mit allen Arten von Leuten gut zu stellen“, schilt die Autorin sich einmal selbst. Dies Bedürfnis ist menschlich mehr als verzeihlich, politisch aber naiv. Vielleicht ist es das Hauptproblem der Christa Wolf.

Christa Wolf: „Was bleibt“. Luchterhand, Frankfurt/Main. 108 S., 24 DM.




Beschwerlicher Aufstieg im Gebirge der Sprache – Wolf Redl inszeniert Ernst Barlachs Drama „Der Tote Tag“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. „Ich war geringer als ein Gott – und als der Gott vor dem Weibe stand – da war meine Menschlichkeit schuld, daß sie des Gottes wurde.“ – Das ist keine Sprache, die zur Theaterwirksamkeit drängt. Der gewundene Satz ist nicht untypisch für Ernst Barlachs Stück „Der Tote Tag“.

Bochums Theater riskiert eine Aufführung des Sprachgebirges, die erste an einer größeren Bühne seit vielen Jahren. Vielleicht sind solche Wagnisse ja dem Reiz vergleichbar, einen selten bezwungenen Achttausender zu besteigen. Doch die Luft da oben ist dünn.

Das Figureninventar wurzeit in Mythen und vorzeitlichen Archetypen: Mutter und Sohn; Vater als blinder „Seher“, Alb (Verkörperung der Alpträume), Pferd, Gnom („,Steißbart“), Hausgeist mit Wischer-Füßen („Besenbein“). Kern-Geschichte: Die erdhafte Mutter hält den Sohn im finsteren Haus zurück; der Vater – ferne Licht- und Göttergestalt – schickt ein Roß, mit dem der Sohn in die helle Freiheit des Geistes reiten soll, doch die Mutter ersticht das Tier und setzt es dem Sohn als Braten vor. Bevor der nun anbrechende „tote Tag“ zum endlosen Schuld-Martyrium wird, gesteht die Mutter die Tat und erdolcht sich. Der Sohn folgt ihr nach.

Barlach entwarf die Urform des Stücks, als er um das Sorgerecht für einen unehelichen Sohn stritt. Schicht um Schicht hat er über dem Vorgang eine Privat-Mythologie angehäuft; mit Anleihen aus Antike, nordischem Mythos, wohl auch aus christlicher Religion – und doch ganz „eigen“. Naiv-gottsucherische „Kinderfragen“ wechseln mit philosophischen wie sprachlichen Kraftakten. Passagenweise hat das düstere Macht, doch dann wieder schleppt es sich dahin, wirkt verquast und verzwirbelt.

Schattengestalten führen Gespenster-Gespräche

Schwer lastende, riesige Balken durchstreben die Bochumer Kammerspiel-Bühne, Dunkel und Dämmer umhüllen die Figuren, nur eine Tür führt ins Freie. Es ist wie im Innern der Erde oder wie in Platos Höhlengleichnis: Als sähen die Menschen nur die Schatten der Dinge, als seien sie selber Schattengestalten, die Genspenster-Gespräche führen.

Regisseur und Bühnenbildner Wolf Redl hat, sich offenbar an Barlachs Lithographien zu dem Stück orientierend, die Szene karg gelassen; von Akt zu Akt verschieben sich Balken und Treppen, verzieht sich die Perspektive – ein ins Irreale weisender Raum, passend für ein Denk- und Kopfdrama wie dieses. Redl läßt karg, tastend und behutsam, dabei wunderbar detailsicher und formbewußt in der Personenführung spielen. Dem Text werden keine Deutungen aufgepfropft, vor allem keine Verweise auf inzestuös-sexuelle Nebenbedeutungen.

Dennoch wird das Stück dem Theater nicht triumphal zurückgewonnen, man arbeitet sich an ihm ab. Von diesem Text können sich die Schauspieler nicht „tragen“ lassen, sie müssen gleichsam gegen ihn anspielen. Sie tun es mit allem Bemühen, suchen auch – mit wechselndem Erfolg – den Text zu gliedern, ihn überhaupt sprechfähig zu machen.

Hildegard Kuhlenberg (Mutter) verleiht ihrer Figur überdies eine interessante Brüchigkeit, sie verkörpert keine reine Furie oder Megäre, sondern spielt menschliche Not und Angst vor Einsamkeit immer mit. Ivo Dolder (Sohn), ansonsten passabel, neigt gelegentlich zum Nuscheln. Großartig Oliver Nägele (Alb), der auch mit dem Text am besten zurechtkommt.

Beflissener Beifall, in den sich zur Premiere weder Buhs noch Bravos mengten.




„Romeo und Julia“: Die Liebe zwischen Schlafwandlern – Wolf Redls Inszenierung zum Saisonstart in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Ein gigantisches Viereck lastet schwer über der Szene. Es ist dunkelrostrot besprenkelt. Längst eingetrocknetes Blut? Zeichenspur einer Gewalt, die sich seit altersher eingerichtet und unüberwindbar verewigt hat? Dann wäre die Tragödie von „Romeo und Julia“ nur eine unter vielen und man müßte nicht gar so viel Aufhebens darum machen. In diese Richtung scheint denn auch Wolf Redls vierstündige Bochumer Inszenierung des Shakespeare-Klassikers zu zielen.

An „Romeo und Julia“ haben sich in den letzten Jahren kaum noch große Bühnen gewagt. Das wird wohl seine guten Gründe haben. Tatsächlich gibt es hier ja zahlreiche Klischee-Klippen. Über die Abfolge von Selbstmordmonologen und -vollzügen muß man sich erst einmal mit Anstand hinwegretten.

Für Bochumer Verhältnisse und Erwartungshaltungen ist es eine sehr konventionelle Inszenierung geworden, die sich eher in Zurücknahme und Reduktion gefällt als darin, Überraschendes aus dem Stoff hervorzutreiben. Selbst die zahlreichen Degenfecht-Szenen werden in keiner Weise stilisiert, sondern nach „alter Schule“ vorgeführt.

Schon die Musikbegleitung deutet auf „Sparflamme“ hin: eine Art Minimal-Musik vom orgelstimmigen Sythesizer, ein stetes An- und Abschwellen, hier und da mit Geräuschen elektronischer Apokalypse angereichert. Sanfte Bedrohung und ein Hauch von schlechter Ewigkeit.

Auch die Gefühlslage ist kaum einmal leidenschaftlich oder gar hitzig. Es scheint, als sei man unschlüssig, ob man (noch oder wieder) die „ganz großen“ Emotionen riskieren soll und darf. Romeo (Thomas Wittmann) ist kein glühender Liebhaber, sondern ein schlafwandlerischer Jüngling, der gleich in seiner ersten Szene wie zwischen Watte gepackt und wie auf einer Wolke „hereinschwebt“. Ein somnambuler Märtyrer, der nichts bewirken wird. Wenn er plötzlich mit zwei Degen auf Tybalt losstürmt, wirkt dieser Furor wenig glaubhaft. Ähnliches gilt für Capulets unvermittelten Wutausbruch gegen seine Tochter Julia. Auch diese Julia (Micheline Herzog) ist eher ein seelisches Leichtgewicht; sie wird eben erst 14 Jahre alt. Mitleidig und nachsichtig, nicht aufgewühlt sieht man Ihrer Tragödie zu.

Schlüsselfigur dieser Inszenierung ist der Fürst Escalus (hier von einer Frau, Hildegard Kuhlenberg, gespielt). Kein machtvoller Souverän, der die verfeindeten Familien Montague und Capulet zur Versöhnung drängen könnte. Eher schon eine schwarze Klagegestalt, die die offenbar immer schon unvermeidlichen, furchtbaren Ereignisse lediglich schaudernd konstatiert und Strafen nur noch der „Ordnung“ halber zumißt.

Die Versöhnung der Grafen Montague und Capulet angesichts der Selbstmorde Romeos und JUlias wirkt denn auch eher wie eine Pflichtübung. Kurz, beinahe achselzuckend wird der Tod der jungen Liebenden bedauert. Dann gehen die beiden Grafen ab, als wollten sie nunmehr ihre Untaten gemeinsam ins Werk setzen.

Dankbare Nebenrollen: Stefan Hunstein (Mercutio) und Hedi Kriegeskotte (Julias Amme) bekamen den meisten Premierenbeifall. In der Tat schienen die Nebenrollen schlüssiger besetzt als die tragenden Parts.

Fazit: Halbwegs gutes Stadttheater (ohne Herablassung gesagt), aber gewiß keine Aufführung, die den – doch wohl noch vorhandenen? – Bochumer Anspruch einlöst, zu den „ersten“ Häusern der Republik zu gehören.




An der Grenze zur Klamotte – Friedrich Wolfs „Koritke“

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Kunst ist Waffe!“ Mit Stücken, die dieser Parole zu Bühnenwirksamkeit verhelfen sollten, war Friedrich Wolf (1888-1953; das Programmheft verrät so gut wie nichts über ihn) einer der meistdiskutierten Arbeiter-Schriftsteller der Weimarer Republik.

Wolf, im Brotberuf Arzt, ab 1928 Mitglied der KPD, schrieb nach expressionistischen „Oh-Mensch“-Anfängen Agitprop-Stücke immer reineren Wassers. In Wuppertal, wo man jetzt Wolfs „(Die Zeche zahlt) Koritke“ (Regie: Dieter Reible) ausgrub, kam freilich ein grundbiederes Stück auf die Bühne. Arbeitertheater hart an der Grenze zur Klamotte.

Allerdings hat bereits der Text deutliche Schwächen, so zum Beispiel die aus heutiger Sicht überaus dick aufgetragehe Symbolik des Oben und Unten, die überdies um Begriffe wie „Blut“ und „Licht“ kreist. Sprachlich steht dazu ein abgehackter Telegrammstil in seltsamem Kontrast.

Inhaltlich dreht sich alles um Mia, die mit Vater Koritke und Stiefmutter in einem Kellerloch haust. Doch dann wird sie allenthalben „entdeckt“: Fabrikdirektor Lomm (wie sich später herausstellt: Mias eigentlicher Vater) will aus ihr eine propere Chefsekretärin machen; der Student Miltiz jubiliert über ihre tänzerische Begabung, mit der sie gewiß „hinauf ans Licht“ kommen werde; Koritke und die Industrielle Lis Benz schließen sich ihm an. Ein jeder will sie nach seinem Bilde formen.

Doch halt! Erst kommt, frei nach Brecht, das Fressen, dann die Kunst. Die Tanzausbildung kostet Geld, und das ist bei Direktor Lomm zu holen: Vom Platin-Diebstahl bis zum Mordversuch – fortan ist der Mann seiner Habe und seines Lebens nicht mehr sicher. Am Schluß bleibt jedoch Koritke auf der Strecke.

Wo immer Wolf Zähne (sprich: Klassenverhältnisse) zeigt, da hat man sie ihm in Wuppertal „gezogen“. Einzig Norbert Kentrup als muskulöser Proletarier, der sich als Rausschmeißer und Ringer verdingt, ließ etwas von den Triebkräften ahnen, die auch Friedrich Wolf bewegt haben mögen. Kentrup setzte Wolfs Forderung, das Theater solle auch „Muskelentladung, Akrobatik, Gymnastik“ sein, überzeugend um und gab auch verhaltenere Szenen intensiv. Während Andrea Witt als „Die Koritkin“ und Gerd Mayen als Direktor Lomm solide spielten, war Noemi Steuer mit ihrer zentralen Rolle nach meiner Ansicht überfordert.

Ob Rena Liebenow (hier als Industrielle Lis Benz) sich danach drängt, Boulevardstil zu spielen, ob die Regie es ihr abverlangte oder ob sie gar nicht anders kann – sie selbst mag es am besten wissen. Zu diesem Stück paßt es jedenfalls nicht – ihr stets verbindliches Lächeln, das vielleicht „Ist ja alles halb so schlimm“ besagen soll. Dazu Alexander Pelz als Student Miltiz. Nun ja. Ob er Jubel oder Trauer mimt, man weiß jedenfalls sofort genau, was gemeint ist. Weniger Nachdruck wäre mehr. Franz Träger als Filmregisseur trat so auf, wie Klein Mäxchen sich früher einen solchen vorgestellt hat.

Die Bühneneinrichtungen (Peter Werner) verrieten immensen Aufwand, sie huldigen wenigstens keinem platten Abbildungs-Naturalismus. Zwar getreulich nachgebautes Interieur zeigend, werden sie doch so hingestellt, daß keine falsche Illusion aufkommt. Rundum bleibt die Bühnentechnik sichtbar.

Der Beifall, mächtig angeheizt von strategisch verteilt sitzenden „Freunden des Hauses“, war beinahe frenetisch. Als das Regie-Team sich auf der Bühne zeigte, ertönten auch vereinzelte Buh-Rufe.




Seelische Zerstörung: Floris Vissers penetrantes Bildertheater für Mozarts „Idomeneo“ in Köln

In der Gummizelle: Kathrin Zukowski (Ilia), Kinderstatist, Anna Lucia Richter (Idamante), Peter Bermes (Idomeneo). (Foto: Sandra Then)

Der alte Mann entkommt seiner Zelle nicht. Auf weiße gepolsterte Wände zeichnet er mit nervösem Strich immer wieder das gleiche Männchen, mit einem Dreizack in der Hand. Beim Familienbesuch rastet er aus, muss mit einer Spritze ruhiggestellt werden.

Floris Visser führt während der Ouvertüre von Wolfgang Amadeus Mozarts „Idomeneo“ die Titelfigur als einen Gezeichneten ein. Kein herkömmliches Regietheater-Irrenhaus-Setting: Denn die Zelle weitet sich, eröffnet einen Hintergrund in hyperrealistischem Licht, mit dem James Farncombe die felsige Strandlandschaft der Bühne Jan Philipp Schlößmanns in überzeichnet scharfe Konturen taucht. Der Naturalismus eines „Schauplatzes“ wird so ausgehebelt; der alte Mann, unschwer als Idomeneo zu identifizieren, beginnt durch seine innere Landschaft zu irren.

Mit seiner Inszenierung an der Oper Köln im Staatenhaus versucht Visser, diese Seelenwelt eines Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung einzuholen – einer psychischen Verwundung, die in Flashbacks Erlebnisse der eigenen Ohnmacht und Hilflosigkeit so intensiv zurückholen kann, dass die betroffene Person die Erfahrung wieder und wieder mit der gleichen emotionalen Intensität durchleidet und sogar unfähig sein kann, sie als Erinnerung zu identifizieren. So flutet Visser die Bühne mit heterogenen Bildern und Szenen, in denen Idomeneo doppelt präsent ist – als Uniform tragender Soldat Bestandteil des Geschehens; als Greis im Nachthemd ein stummer, staunender oder leidender Beobachter. Er steht im wahrsten Sinn des Wortes „neben sich“, wenn er sogar einmal den gemarterten Feldherrn Idomeneo in den Arm nimmt.

Unablässiger Aktivismus

Drei Stunden dichte, in kaum einem Moment ihre Tiefe und Komplexität verlassende Musik hat Visser szenisch zu bewältigen. Er setzt den langen Rezitativen einen unablässigen Aktivismus entgegen. Auch die Arien erlauben keine Ruhepunkte. Im Sinne des Konzepts ist das folgerichtig, denn ein Flashback kennt kein Innehalten und Reflektieren. Aber der Zuschauer, der nach dem Zeichenhaften der Aktionen sucht, wird von der Dynamik der szenischen Unermüdlichkeit zugeschüttet. Irgendwann stumpfen die visuellen Ausrufezeichen ab. Aber – das muss Visser zugestanden werden: Die penetrante Qual, die im Wiederholen traumatisierender Momente liegt, spiegelt sich in dieser Tretmühle der Zeichen wider.

Der Fluch der Gewalt gebiert das Trauma: Daniel Calladine personifiziert es in Floris Vissers „Idomeneo“-Inszenierung in Köln. (Foto: Sandra Then)

Visser verwendet Bilder aus den Kriegen der Gegenwart: Leichensäcke am Strand, Menschen, die Tote identifizieren müssen, das ertrunken angespülte geflüchtete Kind Alan Kurdi, die Anzüge von Abu Ghraib in Orange, Opfer mit verhüllten Köpfen, eine Trauerfeier an sandigem Gestade. Er verbindet diese Kriegs- und Gewaltchiffren mit Hinweisen auf den antiken Mythos: Eine schwarze Gestalt, „das Trauma“ (Daniel Calladine) geistert mit einem Beil durch die Szenerie, das auf den Tod Agamemnons und den Fluch der Atriden hindeutet. Anderes wirkt überzogen, etwa eine Szene, in der Idomeneo offenbar in den trojanischen Krieg abberufen wird, als er gerade mit seinem Kind Idamante am Strand ein Badetuch ausgebreitet hat. Deplatziert auch die griechische Fahne, neben der am Ende einträchtig eine türkische flattert. Solche allzu expliziten Verweise stören den psychologischen Gedankengang durch weit hergeholte politische Konkretion.

Zweifel am Sieg der Liebe

Wenn im Finale „die Stimme“ (Lucas Singer) – und, wohlgemerkt, nicht Neptun oder ein anderer der Götter – die Lösung verkündet, spricht der alte Idomeneo (Peter Bermes) tonlos auf der Bühne mit. Ein Funke Hoffnung? Ob aber wirklich die Liebe über alles siegt, zweifelt Vissers Schlussbild leise an: Sinnierend liest Ilia, die trojanischen Prinzessin, die eigentlich die „natürliche“ Feindin der Griechen sein müsste, ein Holzpferd ihres Kindes auf – ein Verweis auf das trojanische Pferd und die eigene, nach Vergeltung rufende Wunde?

Auch im Orchestergraben gelingt es nicht durchgehend, die Spannung zu halten. Bei aller Wertschätzung dieses genialen Wurfs eines 25-Jährigen neigt man dazu, die eine oder andere Kürzung in den Rezitativen als sinnvoll zu erachten. Rubén Dubrovsky verführt das Gürzenich Orchester schon in der Ouvertüre zu feinsinnig detailreichem Spiel. Er fasst den Klang mit scharfer Kontur, lässt luftige Bläserakzente setzen, hebt generell hervor, mit wie unermüdlicher Kreativität Mozart die Fallen gleichförmiger Wiederholungen, stereotyper Harmonie oder schematischer Instrumentation umgeht. Anderes, so das berühmte Quartett des dritten Akts, bleibt seltsam blass. Aber das Gürzenich Orchester spielt in der ganzen langen Zeit hoch konzentriert und verströmt elegant ausgewogenen Mozartklang.

Insgesamt eine gediegene Besetzung

Intendant Hein Mulders hat für diesen ambitionierten „Idomeneo“ eine insgesamt gediegene Besetzung verpflichten können: Sebastian Kohlhepp ist ein anfangs etwas kehlig intonierender, sich zunehmend frei singender Idomeneo, der in den Koloraturen seiner Arie „Fuor del mar“ alle inneren Qualen freilegt, da er die Bedrohung durch Neptun im fürchterlichen Meer seines Herzens weiter spürt.

Kohlhepp ist in den dramatischen Momenten ebenso sicher wie in dieser expressiven Beweglichkeit, die weniger auf technischen Glanz als auf den existenziell aufgewühlten Ausdruck achtet. Auch als Darsteller steigert er sich mit beinah stummfilmhafter Intensität in die Rolle eines Menschen, dessen furchtbarstes Schicksal ist, sich selbst nicht entkommen zu können. Floris Vissers Vorzeigetheater lässt ihn dabei keinen Moment allein. In der Arie „Vedrommi intorno“ erweitert er den Schauder vor dem bald zu vergießenden Blut: Eine nackter blutiger Junge erinnert Idomeneo wohl auch an die Opfer, die der Krieg um Troja gekostet hat. Die Orchesterbegleitung dieser Arie gehört übrigens zu den Höhepunkten des Abends.

Aus der Stimme gestaltete Musik

Anna Lucia Richter als Idamante. (Foto: Sandra Then)

Eine nahezu ideale Besetzung ist Anna Lucia Richter in der Rolle des Idamante: eine sanft geführter, ausgeglichener, leuchtender Mezzo, der den edlen, empfindsamen Charakter des jungen Prinzen in purem Wohllaut repräsentiert, ohne die entspannte Tonbildung aufgesetzten expressiven Gesten zu opfern. Gestaltung aus der Musik und aus dem Material der Stimme: Hier wird’s zur beglückenden Realität.

Auch Kathrin Zukowski punktet als Ilia mit kultiviertem Singen und einem zarten, gepflegten Timbre. Sie neigt allerdings zu flachen, manchmal dünn-ungestützten Tönen, die sie nicht nötig hat, um die lyrische Grundierung etwa von „Zeffiretti lusinghieri“ – einem vokalen Paradestück der Oper – zu sichern. Mit einer abgesicherten Stütze im Körper könnte Zukowski auch die ausdrucksvolle Deklamation in den Rezitativen technisch perfektionieren.

Ana Maria Labin stellt sich mutig und erfolgreich der Herausforderung, die „Furien der grausamen Unterwelt“ – bei Visser treten sie natürlich leibhaftig auf – in schneidender Dramatik zu beschwören und die bizarren Ausbrüche ihres wütenden Abgangs am Ende zu erfassen. Aber in ihrer Liebesarie im zweiten Akt zeigt sie auch ihre andere Seite, die einer zärtlich fühlenden Frau, die sich trügerischen Hoffnungen hingibt und daher umso herber enttäuscht wird. Anicio Zorzi Giustiniani darf sich als Arbace mit ausgeprägtem, manchmal zu grell nach vorne gedrängtem Ton ebenfalls in zwei Arien zeigen; John Heuzenroeder ist ein würdig gefasster Oberpriester.

Der Chor der Oper Köln (Rustam Samedov) ist eines großen Kompliments würdig für die wie selbstverständlich wirkende Integration in die szenische wie musikalische Seite der Aufführung. Floris Vissers Bildertheater ist durchaus eine Zumutung; wer sie als bloß illustrativ wahrnimmt, wird des Abends irgendwann einmal überdrüssig. Wer sie als Spiegel einer seelischen Zerstörung akzeptiert, wird in ihrer Penetranz die unheilvollen psychischen Abläufe erkennen, die – über den Kriegsheimkehrer Idomeneo hinaus – heute Tausende von Menschen innerlich überfluten.

Weitere Vorstellungen: 25., 28. Februar, 2., 8., 10., 13. März. Info: https://www.oper.koeln/de/programm/idomeneo/6687




„Vergnügen und Verlust“ – Ruhrfestspiele präsentieren Programm 2024

Stefanie Reinsperger in der Titelrolle von Thomas Bernhards „Der Theatermacher“ (Foto: Matthias Horn/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Nun ist es da, das Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele. „Vergnügen und Verlust“ ist es überschrieben, und in diesem Titel, so Intendant Olaf Kröck, spiegele sich das weltpolitische Übel unserer Zeit ebenso wie die Notwendigkeit, es mit den Mitteln des Spiels, des Schauspiels, des Theaters samt all seinen Facetten mithin anzugehen.

Die Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky wird die Eröffnungsrede halten, „in ihren Texten“, wir zitieren den Pressetext, „hat sie sich der Erkundung und Überwindung der Fremde als existentielle, menschliche Erfahrung verschrieben.“

Akrobatisch, atemberaubend

Vielfalt der Menschen und Ethnien, der Stilmittel und des künstlerischen Ausdrucks prägen das Programm vor allem in den Bereichen, die mit wenig oder ganz ohne Sprache auskommen – Tanz, Musik, Zirkus. Vor allem Zirkus ist im diesjährigen Programm prominent positioniert. Mit Zirkus, im Booklet als „Neuer Zirkus“ tituliert, wird das Festival am 3. Mai, einem Freitag, starten. „The Pulse“ heißt das akrobatische, äußerst personalintensive Stück von „Gravity & Other Myths“, in dem 24 sportliche Menschenleiber nach dem Prinzip der Pyramide gleichsam lebendige Bühnengebilde formen, die, kaum daß sie entstanden sind, sich schon wieder auflösen und zu Neuem sich vereinen. Für den Soundtrack sorgt bei diesen artistischen Darbietungen der (langer Titel!) „Frauenkonzertchor der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund e.V.“. Sprachkenntnisse sind für das Verständnis des Ganzen, wie das Programmheft ausdrücklich vermerkt, nicht erforderlich.

Wolfram Koch als König Lear (Foto: Armin Smailovic/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Pommestüte

Wenn es sich nicht um eine Ausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen handelte, hätte man gewiß Probleme, den Dänen Sören Aagaard kategorisch zu verorten, der auch schon mal als überdimensionierte Pommestüte durch Berliner Freibäder tobte. „Performance“, „Aktion“ usw. würde ebenso passen wie „Kunst“. Essen und Kunst sind sein Thema. Jedenfalls verfestigt sich bei der Lektüre des Programms der Eindruck, daß hier, bei den überwiegend kleinen, eher spracharmen und meistens auch lustigen Produktionen ein Maß an Originalität zu finden ist, das anderen Programmelementen eher abgeht. So weit man das vergleichen kann.

Bewährte Produktionen

Beim Schauspiel gibt es fraglos noch Luft nach oben. Die prominentesten Produktionen in der Abteilung Schauspiel laufen bereits seit längerer Zeit an anderen Häusern – „Der Theatermacher“ von Thomas Bernhard mit der Dortmunder „Tatort“-Kommissarin Stefanie Reinsperger in der Titelrolle beim Berliner Ensemble, „König Lear“ mit Wolfram Koch im Hamburger Thalia-Theater, nicht ganz wahllos herausgepickt. Recklinghäuser Premieren wären besser; aber natürlich ist es von Vorteil, hoch gelobte Produktionen wie diese nun zu Hause sehen zu können – falls man Karten kriegt.

Late Night Hamlet: Ein Solo für Charly Hübner. (Foto: Peter Hartwig/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Eine Uraufführung, immerhin

Immerhin ist nicht alles nur eingekaufte Spielplanware. Zusammen mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg haben die Ruhrfestspiele in diesem Jahr eine Eigenproduktion auf die Schiene gestellt, die am 24. Mai in Recklinghausen ihre Uraufführung erleben wird: „Late Night Hamlet“, ein Solo mit Charly Hübner in der Regie von Kieran Joel. Wir erleben Hamlet als einen Geworfenen in der Jetztzeit, gefordert, überfordert, wie es sich für tragische Figuren gehört. Doch wird auch ein „kurzweiliges Vergnügen“ versprochen, gerade so, wie es das diesjährige Festivalmotto postuliert. Na, schau’n mer mal. Mit Charly Hübner in der Titelrolle müßte es eigentlich klappen.

Gesellschaftskritisch

Der Theaterarbeit von Kollektiven sind in etwa wohl Stücke wie „Hier spricht die Polizei“ („werkgruppe 2“ und Schauspiel Hannover) oder „DIBBUK – zwischen (zwei) Welten“ („KULA Compagnie in Kooperation mit den Ruhrfestspielen und „dasvinzenz“ München) zuzuordnen, Arbeiten mit dezidiert gesellschaftskritischem Bezug. Bei KULA arbeiten Künstler aus Israel, Afghanistan, Iran, Rußland, Deutschland, Frankreich und Italien zusammen, was eigentlich nichts Besonderes sein sollte und heutzutage leider schon ein brisantes Politikum ist.

Viele alte Bekannte

Bekannte Namen gibt es wie immer bei den Lesungen: Corinna Harfouch, Devid Striesow, Katharina Thalbach, Lars Eidinger, Peter Lohmeyer und viele mehr. Literaturkritiker Denis Scheck wird mit der Autorin Terézia Mora und dem Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah plaudern, Angela Winkler wird in der Musikabteilung zusammen mit dem „delian:quartett“ Shakespeare musikalisch-literarisch begegnen. Vier Tage lang gibt es zudem ein „Festival im Festival“: „Resonanzen – Schwarzes Interntionales Literaturfestival“. Die Eröffnungsrede hält Booker-Preisträgerin Bernardine Evaristo.

Der DGB will diskutieren

Die Neue Phlharmonie Westfalen bringt Mahlers Siebte zu Gehör, Konzerte, unter anderem von „SLIXS“ und „Flautando Köln“, gibt es auch in der Christuskiche, im Festspielzelt und in der Sparkasse Vest. Last but not least macht der DGB Programm. „Europa mit uns – Partei ergreifen!“ und „Reden mit…“ heißen die Veranstaltungen in der Abteilung Dialog, die noch einmal deutlich machen, daß die Ruhrfestspiele sich eben durchaus als politisches Festival begreifen. Zum Publikums-Talk haben sich unter anderem Charly Hübner, „werkgruppe 2“ und das künstlerische Team von „DIBBUK“ angemeldet.

Die Spielzeitübersicht im Programmbuch fehlt

Wer mehr wissen will, muß das Programmheft lesen oder sich im Netz schlaumachen. A propos Programm: Da hat es Olaf Kröck und seinem Team, wohl auch aus Kostengründen, wie leise angedeutet wurde, gefallen, die traditionsreiche Spielzeitübersicht von den hinteren Seiten des Programmheftes zu verbannen. Nun finden sich die Termine in tabellarischer Form auf einem separaten Leporello, „Der Festspielkalender 2024“ geheißen, den man zwar nicht mißlungen nennen kann, dem aber die Übersichtlichkeit des guten alten Überblicks gänzlich abgeht.

Gut, es gibt Schlimmeres. Freuen wir uns auf die Ruhrfestspiele 2024, im Festspielhaus und andernorts und glücklicherweise ohne Maske.




Musikalisch lohnende Mozart-Rarität: „Ascanio in Alba“ an der Oper Frankfurt

Die künstliche Welt im Zentrum: „Ascanio in Alba“ mit Kateryna Kasper (Venus) und Cecelia Hall (Ascanio). (Foto: Monika Ritterhaus)

Glückliche Menschen, wenn das Sollen und das Wollen in so wunderbarer Übereinstimmung zueinander finden. Für die junge Silvia ist der vorher bestimmte Bräutigam zugleich der Mann ihrer Träume.

Ein Wunder ist das nicht, hat doch keine Geringere als die Göttin der Liebe, Venus höchstpersönlich, das Verhältnis für ihren Sohn Ascanio arrangiert und Amor losgeschickt, um die Träume des Mädchens zu manipulieren, das sich prompt in das Traumbild Ascanios verliebt.

Der Konflikt, der daraus in Wolfgang Amadeus Mozarts „Ascanio in Alba“ entsteht, ist ein milder. Nur kurz währt die Wehmut, als Silvia einen jungen Unbekannten kennenlernt, der dem Mann ihrer Träume gleicht. Aber sie ist ja „Ascanio“ versprochen, den sie nie gesehen hat. Dieser Verpflichtung bleibt sie, ihre Neigung unterdrückend, treu. Bald belohnt Göttin Venus die standhafte Braut und offenbart ihre sorgfältig eingefädelte Tugendprobe: Der Geliebte aus ihren Träumen ist niemand anderes als ihr Bräutigam! Silvia und Ascanio haben die Prüfung bestanden und werden verheiratet; Wonne und Jubel durchziehen das Ende der musikalisch erstaunlich avancierten Partitur des 15jährigen Mozart.

Eine Allegorie für die Gegenwart?

Bei der Frankfurter Erstaufführung der „festa teatrale“ (aus dem Jahr 1771) versucht Regisseurin Nina Barzier tapfer, die Allegorie auf die Hochzeit des Habsburgers Ferdinand Karl mit Maria Beatrice d’Este in die Gegenwart zu holen. Im Bockenheimer Depot baut Christoph Fischer dafür eine kugelförmige Bühne wie einen abgeschlossenen Globus, in dem alle gefangen sind. Eine Galerie bietet der Göttin Venus – im beziehungsreich ausgedachten Libretto von Giuseppe Parini ein Reflex auf die Mutter Ferdinands und Ehestifterin Kaiserin Maria Theresia – den passend erhobenen Auftrittsraum.

In Fenstern ist verschwommen eine Außenwelt zu ahnen, die aber keine Rolle spielen darf. Die Natur muss draußen bleiben. Auf einer halbierten Weltkugel rollt dagegen eine kristalline, magisch beleuchtete Skyline herein: Symbol der neuen Stadt Alba, die der mythische Gründer Ascanio errichten soll, aber auch eine Chiffre für die künstliche, selbst konstruierte Welt der Figuren. Denn Venus tritt bei Brazier auf wie eine coole Konzernchefin, die alles unter Kontrolle hat – eine mächtige Frau wie aus einem Science-fiction-Märchen, in dem es freien Willen oder wild wuchernde Emotionen nicht mehr gibt, die Menschen aber auch nicht mehr merken, wie sie manipuliert sind – oder es willig akzeptieren.

Ein Spiel mit komplementären Farben

Dieses luftige Spiel mit künstlichen Konflikten wird von einer raffinierten Farbwahl der Bühne Fischers und den Kostümen von Henriette Hübschmann sinnlich unterstützt. Jonathan Pickers flutet das Bühnen-Ei mit sattgelbem Licht, in dem das saftige Blau der Kostüme des Venus-Gefolges durch die komplementäre Farbwirkung umso kraftvoller wirkt. Die Pink-Schattierungen, in denen Ascanio und Silvia auftreten, beißen sich damit – aber wenn sich das Licht ins Lindgrüne verschiebt, ergibt sich auch mit dem Pink ein komplementärer Gegensatz. So spiegeln sich in den intensiven Farben die Beziehungen und die wirklichen Verhältnisse der Figuren wider. An so viel kluger Offensichtlichkeit hat man seine Freude.

Viel zu gewinnen für heute ist aus diesem Jugendwerk ansonsten nicht, auch wenn Nina Brazier versucht, die Problematik der arrangierten, politisch motivierten Ehe in die Gegenwart ´zu übertragen. Aber die klassische Konfliktsituation zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Erwartungen findet sich in anderen Opern des 18. Jahrhunderts eindrücklicher und emotional-musikalisch bewegender gestaltet. Was über die Zeit hinaus spannend wäre, der Konflikt zwischen dem Traumbild eines Menschen und seiner realen Existenz, bleibt in Braziers Inszenierung ein Nebenthema. Da sich die Regie aber auf die Personen einlässt, ihnen Profil gibt und die Bezüge szenisch intensiv gestaltet, kommen keine Längen auf. Die knapp zweieinhalb Stunden ziehen sich nicht.

Souveräne Musik eines 15-Jährigen

Das ist auch Verdienst der Musik, die letztlich rechtfertigt, das aus der Zeit gefallene, stark an seinen Zweck gebundene Stück zu spielen. Mozarts formale Souveränität, seine melodische Erfindungskraft, seine Instrumentation – die Bläser sind markant, aber noch nicht so selbständig wie später – tragen den Abend. Alden Gatt, seit dieser Spielzeit Kapellmeister und Assistent des GMD an der Frankfurter Oper, leitet das Frankfurter Opern- und Museumsorchester zu straffen, aber nie überzogenen Tempi an, sucht einen eher strahlend kompakten statt transparenten Klang, lässt den Sängern Raum, sich zu entfalten…

…und die nutzen ihre Chance fabelhaft. Wieder einmal ist zu hören, wie erfolgreich sich Bernd Loebes beharrliche Ensemblepflege auswirkt. Die Rollen sind nach Typen besetzt, aber die jungen Leute auf der Bühne bringen auch technisch ungetrübt ausgebildete Stimmen mit und setzen ihr Potenzial erfrischend musikalisch gestaltend ein. Kateryna Kasper ist die erfahrenste unter den Solistinnen und bereits seit zehn Jahren im Ensemble. Ihre Venus changiert mit Autorität zwischen den mütterlichen und den herrscherlichen Zügen der Figur, die nach dem Vorbild Maria Theresias durchaus die umfassende Kontrollgewalt über ihre „Kinder“ beansprucht.

Cecelia Hall als Ascanio. (Foto: Monika Ritterhaus)

Karolina Bengtsson, seit dieser Spielzeit im festen Ensemble, hat das passende Timbre und die bezaubernde Finesse für die Rolle der jugendlichen Braut Silvia. Ascanio, mit sanftem Sentiment und runden Tönen gesungen von Mezzo Cecelia Hall, ist der wohlerzogene Bräutigam, ganz so fügsam wie das historische Vorbild, der zur Zeit seiner Hochzeit 17jährige Ferdinand. Ein formidabler Tenor aus dem Opernstudio, Andrew Kim, ist eigentlich als Priester Aceste ein williger Helfer der Venus auf Erden – in Braziers Deutung mutiert er zu einer Art Assistent. Kim singt mit unbekümmerter Verve, glänzendem Material und ein wenig zu jugendlich riskanter technischer Brillanz.

Ähnlich Anna Nekhames als Fauno mit dekorativen virtuosen Koloraturen und anspruchsvollen, mit technischen Kunststückchen gespickten Läufen: Die junge Sopranistin, 2022 dem Opernstudio entflattert und gleich zur „Königin der Nacht“ avanciert, lässt es nicht an der „geläufigen Gurgel“ mangeln, darf aber in der Kontrolle des Stimmsitzes noch zulegen, um ihre künftige Entwicklung gefährdungsfrei weiterzuführen. Auch Sekretärin (Aijan Ryskulova), Bodyguard (Stefan Biaesch) und die beiden als liebreizrosa Hostessen ausstaffierten Freundinnen Silvias (Valentina Ziegler, Isabel Casás Rama) fügen sich bruchlos in das visuelle und vokale Konzept der Aufführung ein. „Ascanio in Alba“ wird allein wegen seiner Thematik eine Mozart-Rarität auf der Bühne bleiben, musikalisch lohnt sich die Begegnung jedoch allemal.

Vorstellungen noch am 30. Dezember, 1. und 3. Januar. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/ascanio-in-alba/?id_datum=3576




Was wäre ich geworden, wenn…? – Uraufführung der Oper „Septembersonate“ von Manfred Trojahn in Düsseldorf

Surreale Treppen auf der Bühne von Heike Scheele: „Septembersonate“ von Manfred Trojahn in der Inszenierung von Johannes Erath in Düsseldorf mit Holger Falk (Osbert Brydon) und Juliane Banse (Ellice Staverton). (Foto: Wolf Silveri)

Spätestens, seit die Romantik die Welten hinter der Welt entdeckt hat, werden die Grenzen zwischen der positivistischen Realität in einer aufklärerisch-rationalen Perspektive und der Fiktion brüchig.

Einer Fiktion, die sich als mächtiger Einfluss auf das offenbart, was gemeinhin als „real“ beschrieben wird. Einer Fiktion, die sich im Begriff manifestiert, jenem denkerischen Instrument, mit dem wir unsere Welt „begreifen“. Aber auch, wenn Gott ein Hirngespinst sein sollte, auch, wenn Heilige und Helden nie leibhaftig gelebt haben, so existieren sie doch, haben auf den Lauf der Ereignisse gewaltigen Einfluss. Doktor Faust oder Harry Potter: Die Erinnerung, die Erzählung macht sie zu Personen unserer inneren Welten.

Erfahrungen und Erinnerungen, Träume und Traumata, Visionen und Projektionen: Die Antriebskräfte, die das Leben mit vitaler Dynamik aufladen, balancieren zwischen Realem und Fiktionalem, durchdringen das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, geben ihm Sinn, Motiv und Richtung.

In Manfred Trojahns neuer Oper „Septembersonate“ treffen sich zwei Menschen, die schon in ihrer Existenz die Grenzüberschreitung in sich tragen: Er, Osbert Brydon, hat vor Jahrzehnten die auf realen Gelderwerb zielenden Aktivitäten seiner vermögenden Familie verlassen und ist nach „dort drüben“ gegangen, um ein Schriftsteller zu werden – also jemand, der fiktive Welten gestaltet. Sie, Ellice Staverton, ist Schauspielerin geworden, wechselt die Rollen und verleiht im Spiel fiktiven Personen eine leibhaftige Existenz. Beide liebten einst als Kinder das Puppentheater, in dem die Frauen Königin werden – oder das Krokodil.

Manfred Trojahn. (Foto: Dietlind Kobold)

Eine „Konjunktiv-Oper“ nannte Dramaturgin Anna Melcher Trojahns gut 100 Minuten wenig dramatisches, aber intensiv meditatives Musiktheater. Ein Satz der früheren Jugendfreundin bringt Osbert zum Nachdenken: „Was hätte ich dafür gegeben, Sie als junge Frau so getroffen zu haben, ich hätte mich auf der Stelle in Sie verliebt.“ Die Möglichkeit – die Frage „Was wäre, wenn?“ – lässt den Schriftsteller nicht mehr los. Im Traum, so Ellice, habe sie den anderen Osbert gesehen – den, der er geworden wäre, hätte er sich den Konten und Häusern seiner Familie gewidmet.

Wer ist dieser „Andere“? In einer surrealen Vision – oder ist es eine gespenstische Manifestation? – trifft Osbert auf sein anderes Ich: „Voll Wehmut grüßt der, der ich bin, den, der ich hätte sein können.“ Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ geben den Protagonisten die letzten Worte: „Du machst mich allein ….“ Das Ende bleibt offen.

Trojahn hat sein eigenes Libretto nach der Erzählung „The Jolly Corner“ von Henry James entworfen – jenem amerikanischen Schriftsteller, dessen Biografie sich in seiner 1908 erschienenen Story spiegelt. James ist ein Meister des Ungesagten, des Uneindeutigen, des dunkel Ungreifbaren – Benjamin Britten hat das in „The Turn of the Screw“ in unerreichter Meisterschaft in Musik gefasst. Auch bei Trojahn findet sich diese Atmosphäre mit dem Hauch des Surrealen und einer dämonischen Transzendenz wieder.

Blasen aus leiser Grundierung

Zitiert wird Richard Strauss‘ „Tod und Verklärung“, über Reminiszenzen an „Arabella“ oder an Arnold Schönbergs „Pierrot lunaire“ berichtet der Komponist im Programmbuch. Erinnerungen werden wach, an Korngolds „Die tote Stadt“, an Debussys „Pelléas et Mélisande“, an Richard Rodney Bennetts „The Mines of Sulphur“ oder an Philip Glass‘ „The Fall of the House of Usher“. Aber das fünfzehnköpfige Orchester, schon vor dem ersten Ton von einem ständigen Herzschlag-Pochen grundiert, findet nicht oft zu klangfülligem Ausbruch, bewegt sich meist in unendlichen Variationen von trüben Piano- bis delikatesten Pianissimo-Klängen, intim bis zum verschwimmenden Verschwinden.

Juliane Banse (Ellice Staverton) in der „Septembersonate“ in Düsseldorf. (Foto: Wolf Silveri)

Musikalisch erinnert nichts an eine „Sonate“: der Komponist hat den Begriff nicht strukturell, sondern eher atmosphärisch verstanden. Stattdessen sind flexibel-flächige Tonfolgen zu hören, die lange gleich bleiben, um sich plötzlich wie Blasen aus leiser Grundierung zu einem kurzen Forte aufzuwölben. Ihre Klangglätte wird aufgeraut, wenn Trojahn von den Ketten der Triolen oder Quintolen Staccato oder Marcato fordert. Die Gruppe der fünf Bläser (Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn) agiert im Kontrast oder in Wechselwirkung mit den Streichern, bei denen die Violinen fehlen, dafür die tiefen Instrumente in extreme Höhen getrieben werden. Die Folge ist ein melancholischer, an signifikanten Stellen unwirklich schwebender Flageolett-Klang.

Harfe, Klavier und Schlagzeug akzentuieren sparsam, brechen aber ebenfalls punktuell kraftvoller durch das Gewebe der Töne. Die Celesta taucht erstmals in der zweiten Szene auf, in der Osbert in seine Vergangenheit, in seine Erinnerung tanzt. Ihr entrückter Klang umschwebt das Bedrohliche der Erinnerung, vor dem die Haushälterin Mrs. Muldoon warnt: Sie versucht, das Nachwirken des Gewesenen zu verdrängen und auszulöschen – wie Mrs. Grose in „Turn of the Screw“.

Ein Meister des Uneigentlichen

Ein Meister des Uneigentlichen ist auch Regisseur Johannes Erath, der an der Deutschen Oper am Rhein zuletzt mit Vincenzo Bellinis „La Sonnambula“ ein anderes Werk mit schwankendem Realitätsbegriff inszeniert hat. Er nimmt die Statisterie der Rheinoper in Beschlag, um den geheimnisvoll in schwärzliche Fernen geöffneten Bühnenraum Heike Scheeles mit stummen Menschen(gruppen) zu füllen – einzig durch ihr Dasein sprechende Resonanzkörper zu den vier Akteuren.

Bibi Abel erweitert die Raumwirkung mit Video-Stills surrealer Treppenkonstruktionen – manchmal scharf definiert, als wären sie gegenständlich in drei Dimensionen erbaut, manchmal nur in Konturen in den wunderbar plastisch geführten Lichtakzenten Nicol Hungsbergs zu erahnen, dann wieder deutlich als Projektionen erkennbar, in denen sich dennoch die Protagonisten wie schwarze Schatten bewegen, so als seien die Stufen aus fester Materie.

Erath wechselt zwischen handfester Aktion und traumnahen Bewegungssequenzen. Osberts zweites Ich – der Kampf beider spielt sich in cineastisch wirkender Großaufnahme ab – wankt mit wunderliche Eselsohren durch die Szene. Ellice, die Schauspielerin, manifestiert sich in vielerlei „Rollen“-Kostümen, vom Zwanziger-Jahre-Girl über die Projektion einer ikonischen Szene von Marylin Monroe mit aufgebauschtem Kleid bis hin zur Diva, die auf einem lackweißem Krokodil reitet und von Bibi Abel einen opulenten Theatervorhang – als Projektion! – bekommt. Erath legt sich bewusst nicht fest, stellt eher Fragen als Antworten zu geben. Der Abend endet mit einem Coup, einer weiteren Ebene von Fiktionalität, die den Zuschauer von vielleicht mühsam errungenen Gewissheitsinseln in finale Unsicherheit vertreibt.

Souveräner Dirigent

Unter der souveränen Leitung des designierten Chefdirigenten der Deutschen Oper am Rhein, Vitali Alekseenok, sind die Solisten der Düsseldorfer Symphoniker hochkonzentriert und mit Klangsinn am Werk. Die vier singenden Darsteller gehen in ihren Rollen auf: Holger Falk als zunehmend an Boden verlierender Osbert Brydon, mit sprechstimmenhaft zurückgenommenem Bariton, aber exzellent deklamierend, kämpft manchmal mit dem Orchester. Juliane Banse als Ellice setzt all ihre Stimmkoloristik, all ihre körperhafte Präsenz, all ihre variablen Tonbildungskünste ein, um eine schillernde, kraftvolle Frauenfigur auf die Bühne zu zaubern.

Roman Hoza ist das andere Ich Osberts und achtet in seinen wenigen Sätzen darauf, das Spannungsfeld zwischen Distanz und Identifikation nicht zu verletzen. Susan Maclean (Mrs. Muldoon) wirkt zunächst tief in der Vergangenheit erstarrt, wie ihr pompöses viktorianisches Kostüm signalisiert, deutet aber am Ende eine überraschende Wendung an: Zögernd schlägt sie eine Taste der Schreibmaschine an, deren Geklapper am Beginn der Oper, vielfach multipliziert, als Signet für jene andere Welt steht, in der sich Osbert und Ellice ihre erinnerungsgetränkten Wenn-Fragen gestellt haben.

Manfred Trojahns „Septembersonate“ steht am 9.,14., 29. Dezember 2023 und am 3., 14. und 27. Januar 2024 auf dem Spielplan der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf. Info: https://www.operamrhein.de/spielplan/a-z/septembersonate/

Am Sonntag, 10. Dezember, 11 Uhr, zeigt das Opernhaus den halbstündigen Film „Das weiße Blatt“ mit anschließendem Publikumsgespräch. Der Film von Jo Alex Berg zeigt, wie die Uraufführung entstanden ist. Er begleitet die Künstler von der Arbeit an der Partitur bis zur ersten Hauptprobe auf der Bühne. Der Eintritt ist frei.