In diesen Hallen wirken sie fast zierlich – Museum Küppersmühle zeigt Großformate von Emil Schumacher

„Atlanta I“ von 1987 aus der Sammlung Ströher. „Atlanta“ aus dem Bestand des Hagener Schumacher-Museums sieht fast genauso aus. (Bild: MKM, Sammlung Ströher/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018)

Jetzt hängen sie traulich nebeneinander, als ob es anders gar nicht sein könnte: „Atlanta“ und „Atlanta I“, zwei von dunkel aufglühendem Blau dominierte Hochformate aus dem Jahr 1987, je 170 x 125 Zentimeter groß. „Atlanta“ aber ist eine Leihgabe aus dem Hagener Schumacher-Museum, „Atlanta I“ Eigenbesitz des Museums Küppersmühle aus der Sammlung Ströher. Ein Diptychon mit Verfallsdatum, wenn man so will, doch liegt es noch in weiter Ferne: Am 10. März 2019 endet die Ausstellung „Emil Schumacher – Inspiration und Widerstand“ im Duisburger Museum Küppersmühle, die heute (Donnerstag, 15.11.2018) eröffnet wird.

Das verschlimmbesserte Documenta-Bild

Über Emil Schumacher, er hat ihn noch persönlich in seinem Atelier erlebt, weiß Museumsdirektor Walter Smerling Geschichten zu erzählen. Wie jene der Bilder für die Documenta III, 1964 in Kassel. Drei Großformate hatte Schumacher für die Kunstschau gemalt, jedes um die sieben Quadratmeter groß, ein blaues, ein rotes und ein weißes. Mit dem roten war er aber nicht ganz zufrieden, und als er es nach der Documenta wieder im Atelier hatte, besserte er nach. Jedenfalls versuchte er es. Es wurde jedoch, in des Künstlers eigenen Worten, ein Verschlimmbessern, irreparabel schließlich. Schumacher vernichtete das Bild, hob aber den Keilrahmen auf. 1991 schuf er auf dem alten Keilrahmen ein neues Werk, „Palmarum“, Öl und kleine Pflanzenteile, nunmehr dominiert von leuchtendem Gelb. Es hängt jetzt als Leihgabe aus Hagen in der Duisburger Küppersmühle.

Eine späte Arbeit: „Gorim II“ von 1996. (Bild: Emil Schumacher Museum, Hagen, VG Bild-Kunst, Bonn 2018/Ralf Cohen, Karlsruhe)

Dezentral gesammelt

Das blaue Documenta-Bild, die Geschichte ist noch nicht zuendeerzählt, hängt auch hier, das weiße hingegen blieb im Westfälischen Landesmuseum in Münster, da nicht transportfähig. Der Katalog jedoch bildet es ab.

Alles in allem ist die Geschichte dieses Triptychons, das nicht mehr zusammenkommen konnte, auch typisch für die an sich reiche Kunstmuseenlandschaft des Ruhrgebiets (inklusive Münster in diesem Fall), wo in besseren Zeiten recht dezentral gesammelt wurde.

Mehr als die Hälfte kommt aus Hagen

Nun also Schumacher in Duisburg, 80 Arbeiten, Gemälde überwiegend, davon 44 aus Hagen und 16 aus der Sammlung Ströher, der Rest aus weiteren Museen und aus Privatbesitz. Da könnte man sich natürlich fragen, warum so viel Aufwand betrieben wurde. Das moderne Hagener Museum vermag die Bilder ebenso gut zu präsentieren wie die Küppersmühle, ist groß und regelmäßig geöffnet, so daß eine punktuell veranstaltete Werkschau wirklich nicht zwingend nötig wäre. Doch natürlich fragen wir das nicht, sondern freuen uns, daß die Hagener Werke noch etwas Gesellschaft bekommen. Und daß die Küppersmühle Besucher anlocken wird, die nicht nach Hagen reisen würden.

Penibel strukturiert

Die Schau ist sehr penibel nach Werkgruppen und Arbeitsschwerpunkten aufgebaut, beginnt mit dem jungen Schumacher der frühen 50er Jahre, zeigt dessen Weg in die Abstraktion, den er in wenigen Jahren hinter sich brachte. Seine Bilder wurden größer, Schumacher experimentierte mit Materialien wie Stein und verklebten Stoffresten, tauschte die Leinwand gegen Holz und später gegen Zimmertüren.

Als Malgrund dient eine Zimmertür. „Petros“ von 1976, Steincollage und Acryl auf Holz (Bild: Privatsammlung Münster/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018/Ralf Cohen, Karlsruhe)

Auf Zimmertüren gemalt

Walter Smerling erzählt, wie das kam: In den 60er Jahren hatte Emil Schumacher zunehmend auf Holzplatten gemalt. Als seine Bilder für eine Ausstellung in die USA verschifft werden sollten, waren sie deshalb viel zu schwer. Auf der Suche nach leichten, steifen Maluntergründen entdeckte Schumacher die Zimmertür, schlichtes Baumarktmodell, die ihre Unverformbarkeit einer Wabenstruktur aus Pappe im Türblattinneren verdankt. Einige dieser Türen, hoch und quer, hängen als Maluntergründe in der Ausstellung (die Petros-Bilder, mit Stein und Acryl), konservatorisch offenbar unproblematisch.

Widerstand des Materials

In späteren Jahren, als er einmal mit seiner Arbeit unzufrieden war, hat Schumacher eine solche Malgrundtür übrigens mit dem Hammer traktiert. Die Verletzungen ließen die Wabenstruktur sichtbar werden, was wiederum seinen Reiz hatte. Und selbst diese Aktion ist in gewisser Weise typisch für Schumachers Radikalität beim Umgang mit dem Stofflichen. Das Wort Widerstand im Ausstellungstitel, sei auch in diesem Sinne gemeint, sagt Walter Smerling: Widerstand gegen die Beschränkung des künstlerischen Strebens ebenso wie Widerstand des Materials gegen die Intention des Künstlers.

Auch Hagen lohnt den Besuch

Auch Schumachers größte Bilder wirken in dieser Ausstellung zierlich. Diese Räume sind für Größeres gebaut worden, wie etwa für Anselm Kiefers wandfüllende Historienbilder im Obergeschoß. Lediglich ein (kleinerer) Raum zeigt eingerahmte Papierarbeiten, Mappenwerke wie die „Genesis“ fehlen ganz. Wer so etwas sehen möchte, muß weiterhin nach Hagen reisen.

Die große Freiheit

So, das soll es mal gewesen sein. Leben und Werk Emil Schumachers von Grund auf zu erzählen, scheint mir an dieser Stelle nicht nötig zu sein, so bekannt wie der Mann bei uns ist. Man wird in Duisburg nicht unbedingt Neues entdecken; doch die Einladung, einmal mehr sich hineinzubegeben in die große Freiheit dieser Werke, die nichts weniger als Leere ist, lohnt allemal den Besuch der Ausstellung.

  • „Emil Schumacher – Inspiration und Widerstand“
  • 15.11.2018 bis 10.3.2019
  • Geöffnet Mi 14-18 Uhr, Do-So 11-18 Uhr, Feiertage 11-18 Uhr
  • MKM Museum Küppersmühle für moderne Kunst, Duisburg, Philosophenweg 55
  • Eintritt: Wechselausstellungen 6 €, Gesamtes Haus 9 €
  • www.museum-kueppersmuehle.de

 




Königin und König im Geschlechterkampf: Johan Simons reduziert Kleists „Penthesilea“ auf ein Zweipersonenstück

Penthesilea (Sandra Hüller), Achilles (Jens Harzer) (Foto: Schauspielhaus Bochum/Monika Rittershaus)

Am Anfang ist das Geräusch. Das könnte ein Zerreißen sein, ein Zerknüllen oder Zerfetzen, auf jeden Fall etwas Beunruhigendes. Man ahnt schon den Tabubruch. Dann erst werden die beiden Figuren im dunklen Hintergrund bemerkbar, die in ständiger Bewegung sind und sich nun langsam zum Bühnenraum vorarbeiten. Sie ist Penthesilea, er Achilles, und sie werden die einzigen Personen auf der Bühne bleiben, in Johan Simons’ Ausdeutung des Kleist-Stoffes im Bochumer Schauspielhaus.

Keine Rahmenhandlung

Mit einer „Rahmenhandlung“ hält sich die Inszenierung nicht lange auf. Weitere Amazonenfürstinnen, griechische Könige, die Oberpriesterin und die Statisten sind gestrichen. Äußere Umstände, die zur ersten und den weiteren, stets zutiefst aufgewühlten Begegnungen der beiden Protagonisten führten, spielen die gleichsam nebenbei mit. Im Zentrum steht der Geschlechterkampf, befeuert von rasender Liebe zwischen den Kriegsgegnern ebenso wie von unbändigem Vernichtungsdrang. Siegreicher Triumph und bedingungslose Hingabe wechseln sich bei beiden in rascher Folge ab, und gerne hätte man, wie bei vielen anderen Klassikern auch, den Beteiligten geraten, sich erst einmal abzuregen. Und später vielleicht eine Therapie zu suchen.

Penthesilea (Sandra Hüller), Achilles (Jens Harzer) (Foto: Schauspielhaus Bochum/Monika Rittershaus)

Die Amazonen

Bemerkenswert ist an diesem Penthesilea-Stoff, den Kleist sich wohl weitgehend ausgedacht hat, daß er eine relativ schlüssige Erklärung für das Mal um Mal die Extreme suchende Verhalten der Amazonenkönigin liefert. Der unerhörte, in sich aber auch schlüssige „alternative“ Lebensentwurf der Amazonen entstand demnach, als „rauhe Äthiopierstämme“ die Männer ihres Volkes ermordet hatten. Da beschlossen die Frauen, fürderhin allein zu bleiben und einen Frauenstaat zu bilden. Ab und zu erjagen sie sich seitdem ein paar Männer für die Fortpflanzung – und auf einem solchen Beutezug war Penthesilea mit den Ihren, als sie Achilles kennenlernte. Es kann kein Zufall sein, daß diese Bochumer Premiere auf den Tag fiel, an dem man 100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland feierte.

Beeindruckende Darstellerin

Jens Harzer ist Achilles, Sandra Hüller gibt die Penthesilea, und auf sie fokussiert Johan Simons’ Inszenierung. Tatsächlich sah man lange keine Schauspielkünstlerin mehr, die ihre Rolle mit einer derartigen Intensität, Durchdringung und Körperlichkeit eher lebte als spielte wie Sandra Hüller. Kleine umgangssprachliche Brüche und Apercus in der Textfassung von Vasco Boenisch verstärken die Unmittelbarkeit des Spiels der beiden Akteure überdies.

Leider jedoch verlispelt Hüller manche komplizierte Satzkonstruktion in die Schwerverständlichkeit. Mit einer gewissen Wehmut fühlt man sich an die große Edith Clever erinnert, die vor über 30 Jahren in Hans Jürgen Syberbergs Penthesilea-Projekt die Kleistschen Zeilen mit äußerster artikulatorischer Präzision, bis an den Rand der Manieriertheit manchmal, sprach. Nun gut, das war ein anderes Theater und eine andere Zeit.

Alles schwarz

Die Bühne (Johannes Schütz) ist dunkel und leer, lediglich ein nerviger, grell blendender Lichtbalken ist am vorderen Bühnenrand in den Boden eingebaut. Er taucht die Akteure, wenn sie vorne spielen, in ein unwirkliches Rampenlicht, das dem Spiel viel Natürlichkeit nimmt. Sparsam auch bleibt die Garderobe (Kostüme: Nina von Mechow), beschränkt sich auf einige schwarze Kleidungsstücke, und statt der nackten Frau ist an diesem Abend mal ein nackter Mann zu sehen.

Zum Ende hin recht statisch

Bekanntlich gibt es kein Happy End bei Achilles und Penthesilea, über ihre Schatten können sie nicht springen. Verlangsamung und Statuarik dominieren somit die Schlußminuten der knapp zweistündigen Inszenierung, es ist ja auch ein Trauerspiel. Nach knapp zwei Stunden ist alles vorbei, und das Premierenpublikum zeigt sich erwartungsgemäß begeistert.




Schrill, schnell, schlau: „Im Studio hört Dich niemand schreien“ – und zwei weitere Stücke auf Dortmunds kleiner Bühne

Szene mit Ekkehard Freye und Marlena Keil (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Man könnte sagen, daß er ihnen verfallen ist: den frommen katholischen Jugendbüchern, die Heranwachsende mit Drastik vor den Gefahren der fleischlichen Lust zu bewahren suchen, zum einen, den bunten Heftchen mit den immer ähnlichen blutrünstigen Horror-geschichten zum anderen. Und natürlich ist Jörg Buttgereit (Jahrgang 1963) längst auch dem verfallen, was das Kino aus den Heftchen-Vorlagen machte: Slasherfilme mit schlichter Handlung, schrillen Schreien, Blut und sexualisierter Gewalt, gefragte Unterhaltung eben. Im Italien der 70er Jahre waren die „Schundhefte“ (ein Begriff von früher, sagt man heute noch so?) vorwiegend gelb, und das italienische Wort für Gelb gab der Gattung den Namen: Giallo.

Giallo

Giallo – Trash von gestern, wenn man so sagen will. Eine erste Hommage an das Giallo-Genre war Peter Stricklands Film „Berberian Sound Studio“ von 2012, und er findet in der neuesten Buttgereit-Produktion im Dortmunder Theater-Studio seine eigenwillige Nacherzählung. Erarbeitet hat Buttgereit das Stück zusammen mit Anne-Kathrin Schulz, und der Titel gefällt sich in genretypisch schaurigem Anraunen: „Im Studio hört Dich niemand schreien“. Doch eigentlich hat das gar nichts zu bedeuten.

Der Geräuschmann braucht Beruhigung. Szene mit (von links) Caroline Hanke, Christian Freund, Uwe Rohbeck, Ekkehard Freye, Alexandra Sinelnikova. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Geräuschemacher

Alles fängt ganz sachlich-nüchtern an. Wir lernen den deutschen Tontechniker Maximilian Schall (!) kennen, einen schüchternen Geräuschemacher, den der Filmproduzent Dario Winestone nach Mailand geholt hat, damit er den Sound des neuesten Slasherfilms ordentlich pimpt. Der Sound, erfährt man, ist bisher nämlich eher mäßig; es braucht mehr todesängstliches Gekreisch, mehr gruseliges Krachen und Schmatzen, wenn auf der Leinwand die Knochen brechen. Die Bilder des Films sind hingegen Spitze, blankes Entsetzen zeigt sich bei der Vorführung auf dem Gesicht des zerbrechlichen Tonmannes, dem Uwe Rohbeck Gestalt verleiht. Sein schmieriges Gegenüber Winestone gibt Ekkehard Freye, den man unter seinem teppichartigen Schwarzhaartoupet erst gar nicht erkennt, und zusammen sind die beiden ein komödiantisches Dreamteam, wie Dortmund lange keins mehr hatte.

Selbsterklärend. Maximilian Schall (Uwe Rohbeck, links) , Dario Winestone (Ekkehard Freye) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kreischtöne

Zwar funktioniert erwartungsgemäß und Heiterkeit hervorrufend vieles zu Anfang nicht, doch trotzdem wird bald schon kräftig nachvertont. Eine hinreißende Damenriege aus Sekretärin, zweiter Ehefrau und Tochter aus erster Ehe (Marlena Keil, Caroline Hanke und Alexandra Sinelnikova) übt sich trommelfellzerfetzend in hohen Kreischtönen, Maximilian Schall steuert ein, zwei Male Geräusche eines „sabbernden Sexzwergs“ bei, und irgendwie geht es voran und vielleicht wird es auch mal fertig, doch das ist ja eigentlich bedeutungslos.

Buttgereit packt in diese „Rahmenhandlung“ (das Wort ist eigentlich zu anspruchsvoll) jede Menge Trivialmaterial über Kunst und Kino, und auch anspruchsvolleres Kultmaterial ist vor seiner perfiden Lust am Überdreh nicht sicher. So gerät die berühmte Abschaltszene des menschenmordenden Computers HAL aus dem Kultfilm „2001. Odyssee im Weltraum“, in der der demente Rechner am Ende Hänschen klein singt, zu einer naturgemäß heiteren, aber auch unerwartet nachdenklichen dramatischen Miniatur innerhalb des Stücks. Daß Rollennamen wie – eben – Maximilian Schall, Dario Winestone oder später Rock Hammond Spaß sind, ist ja klar. Rock Hammond, der im wirklichen Leben vielleicht Rock Hudson hieß und hier von Christian Freund mit maßvoll schwuler Attitüde gegeben wird, ist Sohn und fallweise natürlich, wie alle anderen Familienmitglieder, Mitwirkender.

Winestone und Argento

Darüber hinaus aber hat es Buttgereit gefallen, diesen Sohn als aufmüpfigen Verächter der väterlichen Softpornoproduktion zu zeichnen. Auch Schwester Asia Winestone liest dem Vater die Leviten, während man Spaghetti ißt. Und die Freunde bunter (gelber!) Nachrichten werden natürlich wissen, daß die Winestones im italienischen Filmproduzenten Dario Argento und seiner Tochter Asia reale Vorbilder haben. Wer indes im Stück der von Péter Sanyó gespielte Donatello Diablo (!) ist, war mir nicht zu klären möglich. Sanyó ist definitiv ein nicht googlebarer Nachname.

Maximilian Schall (Uwe Rohbeck) landet in der Zwangsjacke. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Der Bechdel-Test

Im Verlauf des Spaghettiessens, kehren wir an den Familientisch zurück, haut Tochter Asia ihrem Vater den Bechdel-Test um die Ohren. Mit diesem Test, den die amerikanische Zeichnerin Alison Bechdel 1985 in einen ihrer Cartoons einbaute, läßt sich ziemlich frappant feststellen, ob Frauen in einem Film mehr Bedeutung als nur die von Sexualobjekten haben. Die Fragen sind beschämend einfach und lauten:

  • Gibt es mindestens zwei Frauenrollen?
  • Sprechen sie miteinander?
  • Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann?

In jüngeren Varianten des Tests wird zusätzlich gefragt, ob die beiden Frauen im Film einen Namen haben. Sollte die Antwort auf alle Fragen ja lauten, hat der Film den Test bestanden. Natürlich würde kein einziger von Winestones Filmen diesen Test bestehen, das würde den Produzenten in tiefe Selbstzweifel stürzen.

Rock Hudson und Doris Day

Mit dem Bechdel-Test kommt fast so etwas wie ein reflektorisches Element in die Inszenierung, das ist man von Buttgereits Stücken gar nicht gewohnt. Bevor Verunsicherung Platz greift, deshalb schnell noch eine Dosis Doris Day – Rock Hudson ist ja schon im Spiel – und ein bißchen Anspielung auf derer beider geistreiche Liebeskomödien der 60er Jahre. Und selbstverständlich, an dieser Stelle darf der Hinweis nicht fehlen, gibt es der mehr oder weniger augenzwinkernden Anspielungen viele mehr, die nicht alle Erwähnung finden können.

Gute Unterhaltung

Anspruchslos nicht ohne Anspruch, schrill, schnell, platt, intelligent und manches andere mehr: „Im Studio hört Dich niemand schreien“ ist von Anfang bis Ende wunderbar unterhaltsames Unterhaltungstheater, und dem Publikum bleibe überlassen, ob es darin eher Komödie oder Comedy erkennen will. Wenn Jörg Buttgereit seinen trashigen Obsessionen weiterhin solche Stücke abringt, hat er jedenfalls ernsthafte Aussichten auf die große Bühne im Haus.

Szene mit (von links) Mario Lopatta, BéŽréŽnice Brause und Frieder Langenberger (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Was gab es sonst noch im Studio des Dortmunder Schauspiels zu sehen?

Zum Beispiel die Uraufführung von „Everything Belongs to the Future“ am 12. Oktober. Das Stück entstand aus einer Novelle der britischen Autorin Laurie Penny (Jahrgang 1986), die die Dortmunder Dramaturgin Anne-Kathrin Schulz aus dem Englischen übersetzte. Die dramatische Fassung schließlich stammt von Laura N. Junghanns (auch Regie). Bérénice Brause, Mario Lopatta, Kevin Wilke und Frieder Langenberger heißen die vier Akteure auf der Bühne. Sie sind Schauspielstudenten und kommen aus Graz, weil es in Dortmund etwas Neues gibt, was aber nicht so ohne Weiteres verständlich ist. „Mit Everything Belongs to the Future“ stellt sich das neu am Schauspiel Dortmund beheimatete Schauspielstudio am Theater Dortmund vor“, verlautet die Anstalt. Alles klar?

Ein Medikament verspricht ewiges Leben

Das Stück spielt 2098 in Oxford und dreht sich um das sensationelle Medikament „The Fix“, das regelmäßig eingeworfen ewiges Leben verspricht. Die ewig jugendlichen Reichen feiern endlos Party, das alternde Proletariat darbt. Und die Revolutionäre, irgendwie natürlich personell auch mit der Oberschicht verflochten, planen einen Anschlag. Tja.

Viel passiert nicht mehr

Das ist alles in allem recht ordentlich inszeniert, vielleicht sollte man den jungen Leuten raten, weniger zu überspielen. Doch vom Hocker reißt die Geschichte einen nicht, weil die Handlung kaum mehr als die beschriebene Grundkonstellation zu bieten hat, originelle Wendungen unterbleiben und thematischer Leere oft mit einem Übermaß an Emotion begegnet wird.

Einmal Goebbels, zweimal Hitler; Szene mit (von links) Alexandra Sinelnikova, Uwe Rohbeck und Ekkehard Freye (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Hitler spielen

Nach wie vor ist „Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm“ von Theresia Walser im Angebot (Premiere im Mai). Zwei Herren in Nazi-Uniformen sitzen hier am runden Tisch, Dritte im Bund ist eine junge Dame in einer Art BDM-Outfit, hoch geschlossen, Gretchenzöpfe. Auch sie, gespielt von Alexandra Sinelnikova, gibt hier einen Mann. Er heißt Ulli Lerch und hat schon mal den Goebbels gespielt.

Die anderen beiden aber waren veritable Hitler-Darsteller, was doch etwas ganz anderes ist! Der ältere Franz Prächtel (Uwe Rohbeck) gab ihn quasi naturalistisch, der jüngere Peter Soest eher distanziert. Oder wie oder was? Gleichsam überleitungslos startet, kaum daß das Publikum sitzt, eine diskursive Achterbahnfahrt, bei der es um schauspielerische Eitelkeiten ebenso geht wie um Regietheater und „Naturalismusgeschwuchtel“ und natürlich um die Frage, ob man Hitler überhaupt spielen darf. Und wenn ja, dann wie? Und darf man dafür Geld nehmen? Auf jeden Fall ist Hitler spielen viel verdienstvoller als Goebbels, irgendwie. Und was Dieter Fels daraus gemacht hätte.

So eine Art Verfremdungseffekt. Szene mit Ekkehard Freye (vorn), Uwe Rohbeck und Alexandra Sinelnikova (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nicht ohne Tragik

Hätte Thomas Bernhard diesen Trialog geschrieben, wäre es sicher bald schon trostlos auf der Bühne, verfinge sich ein jeder hoffnungslos in den für diesen Autor typischen Redundanzschleifen.

Theresia Walser geht mit ihren Figuren und auch mit dem Publikum gnädiger um, ohne indes die tragische Dimension dieser Gesprächsrunde wegzublenden, gerade auch dann, wenn es scheinbar nur um das Theater und die Schauspielkunst geht. Dann hat Uwe Rohbeck als Prächtel unser Mitgefühl, wenn er sich darüber erregt, daß man den Hamlet (in einer modernen Inszenierung) jetzt in sieben Rollen aufteilt. „Hämlet“ spricht er ihn, mit ä, so sei es eigentlich richtig, das wisse man, wen man dieser Figur so nahe sei wie er. Und dann rezitiert er, der alte, gestrige Prächtel, und er erinnert sich an seine ersten innigen Kontakte zur Literatur, als er kostbare Sätze hörte, „die mir vorkamen wie eine Beute“.

Kluges Schauspielertheater

Das Stück lädt ein, Analogien zwischen dem Theaterbetrieb und der Nazi-Diktatur zu erkennen, den peinlichen Drang zur Selbstrechtfertigung („Danach habe ich einen KZ-Insassen gespielt“), das Schwanken nachzuempfinden zwischen Faszination und Ekel. Ein kluges Stück Schauspielertheater, das Thorsten Bihegue (auf einer Bühne von Susanne Priebs) klug inszeniert hat. Und bevor es sich in Wiederholungen verliert, ist schon Schluß, nach einer Stunde 25 Minuten. Ein übersichtlicher, aber keineswegs oberflächlicher Theatergenuß also, dem geneigten Publikum vorbehaltlos anempfohlen.

  • Nächste Termine:
  • „Im Studio hört Dich niemand schreien“: 11., 16. November, 23. Dezember 2018. Weitere Termine folgen 2019.
  • „Everything Belongs to the Future“: 17., 25. November. Weitere Termine stehen noch nicht fest.
  • “Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm”: 28. Dezember. Weitere Termine folgen 2019.
  • www.theaterdo.de



Plastikpuppen, Suchmaschinen – Dortmunder Hartware Medienkunstverein zeigt Arbeiten von „Computer Grrrls“

Bild aus Caroline Martels Film „The Phantom of the Operator“ von 2004 (Bild: public domain/artifact productions. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Zwei aufblasbare überlebensgroße Plastikpuppen sind der Blickfang im Raum – plumpe Gebilde, denen Ventilatoren in regelmäßigen Abständen Kontur und Fülle verleihen, bevor sie, mangels Luftdruck, wieder in sich zusammensacken. Der grob-schlächtigen Bemalung nach sind sie nackt, eine erotische Anmutung jedoch geht von ihnen eher nicht aus.

Luftnummer

Was die Figuren eint, ist ihre Geschichte: Beide sind sie Auftragsarbeiten, entstanden in spezialisierten Werkstätten in China und den Niederlanden, denen als Vorbild identische zweidimensionale Pläne dienten, die die Künstlerin Simone C. Niquille anfertigte. Der Unterschied zwischen den Puppen ist mithin der „kulturellen Differenz“ der Produzenten geschuldet. Da sich die Figuren jedoch recht ähnlich sind, kann es (bei dieser Art von Beweisführung) mit der kulturellen Differenz nicht weit her sein.

Ach ja: Angebliches Vorbild der Puppenplanung ist eine Doppelgängerin von Hillary Clinton (auf einem Videomonitor zu sehen), deren Gesicht folgerichtig den runden Kopfballon einer der Figuren ziert. Bei der anderen wurde auf ein vorlagengetreues Gesicht eher weniger Wert gelegt. „The Fragility of Life“ heißt das ganze bedeutungsschwer. Haben wir jetzt alles?

Computer und Zubehör aus der Vergangenheit sind das Thema von Jenny Odell. „Neo-Surreal“, 2017 (Bild: Jenny Odell. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Computer und Zubehör aus der Vergangenheit sind das Thema von Jenny Odell. „Neo-Surreal“, 2017 (Bild: Jenny Odell. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Video-Schwerpunkt

Mit dem Kunstbegriff ist es bei solchen Arbeiten nicht immer einfach. Finale Wertungen sollen hier unterbleiben, ein jeder Besucher – und eine jede Besucherin, aber klar doch! – urteile selbst.

„Computer Grrrls“ ist der Titel der Ausstellung, zu sehen ist sie im Hartware Medienkunstverein (HMKV) im Dortmunder „U“. Mit einer marginalen Ausnahme wird hier nur Kunst von Künstlerinnen (ohne Sternchen) gezeigt, Arbeiten eher jüngerer Frauen, die mehr oder weniger eng um Computer, Informationsverarbeitung, Internet, KI und so fort kreisen.

Etwa 13 der 23 Exponate (bei manchen ist eine eindeutige Zuordnung nicht sinnvoll) arbeiten mit Video, mal auf kleinem Schirm, mal im abgedunkelten Séparée, was in der Ausstellung eines „Medienkunstvereins“ ja auch naheliegend ist. Eher schon könnte man hier die Zeichnungen und Aquarelle Suzanne Treisters als Ausreißer betrachten. In ihnen ist sogar Humor zu registrieren, wenn sie etwa auf einer wandgroßen Weltkarte die „Post Singularity Epoch of Artificial Super Intelligence Inhabitation of Earth“ darstellen. Bemerkenswert sind auch die Mandalas ähnlichen ornamentalen Bilder, die die Entwicklung von IT beschreiben.

Ganz so zornig sind sie nicht

„Computer Grrrls“ denn also. Der Titel läßt an „Riot Girls“ denken, an zornigen weiblichen Punk der 90er Jahre, der nun beim Medienthema irgendeine Entsprechung zu finden sich anschickt. Doch ist in der Ausstellung eher keine aggressive Kunst zu finden, und es wäre unredlich, die oftmals klugen und nachdenklichen Positionen sämtlich unter das Zornesbanner zu drängen. Auch muß nachdenklich stimmen, daß das Signalbild der Ausstellung, eine vielgliedrige, wohl weibliche Gestalt, die die Zunge provozierend herausstreckt, keineswegs ein Exponat ist, sondern offenbar eine Auftragsgraphik des Vereins mit dem bescheidenen Copyrightvermerk „Gestaltung: Stefanie Ackermann, Manuel Bürger“. Hatten sie wirklich kein Kunstwerk, das zum Titel paßte?

Nadja Buttendorf erzählt im Video die Geschichte ihrer Eltern beim DDR-Elektronikkombinat Robotron. (Bild: Nadja Buttendorf. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Telefonistinnen

Wie auch immer. Auffällig bei vielen Arbeiten ist eine Interesse an Forschung, zumal an historischer. So befaßt sich Caroline Martels mit feiner Ironie betitelter 65-Minuten-Film „Le Fantôme de l’Opératrice“ (Das Phantom der Telefonistin) unter Verwendung alter Originalaufnahmen profund mit Frauen und elektrischer/elektronischer Technik. Darsha Hewitt hat zwei „analoge“ Rhythmusgeräte vom Typ Wurlitzer Sidemann 5000 in Glasvitrinen gestellt, hat sie gründlich erforscht und erläutert sie in 10 Fünfminutenvideos. Nadja Buttendorf wiederum erzählt im Stil einer YouTube-Serie in heiter anmutenden Dreiminutenfolgen die Geschichte ihrer Eltern, die sich im seinerzeit bedeutenden DDR-Elektronikkombinat Robotron kennenlernten, heirateten, arbeiteten und sich nach dem Niedergang der Firma trennten.

Üble Späße mit dem Chatbot

Andere Künstlerinnen registrieren – auch hier könnte man oft sagen: augenzwinkernd – die Wechselbeziehungen von Mensch und Netz. So hat Erica Scourti in „Body Scan“ ihre Körpermaße als Text in eine Suchmaschine gegeben und präsentiert in einem Video nun – emotionslos, wie es scheint -, was ihr angeboten wird. „I’m here to learn so :))))))“ von Zach Blas & Jemima Wyman erzählt die angeblich wahre Geschichte des Chatbots Tay, der im Netz die feine Konversation erlernen sollte. Böse Trolls jedoch brachten ihm so viel verbalen Schweinkram bei, daß Microsoft Tay nach 16 Stunden wieder aus dem Verkehr ziehen mußte: Eine eindrucksvolle 4-Kanal-Videoinstallation mit einem eingedötschten, munter erläuternden Chatbot-Kopf, 27:33 Minuten lang.

Schönes aus dem 3D-Drucker

Erwähnt sei schließlich noch eine besonders „schöne“ Arbeit der Iranerin Moreshin Allahyari. In der Konzentration eines abgetrennten Betrachtungsraums erzählen Videos von monströsen weiblichen Dschinn-Figuren, von Ya’jooj und Ma’jooj, von Aisha Qandisha, und in zwei Vitrinen stehen diese Figuren, leuchten golden, Geschöpfe aus dem 3D-Drucker. Dieses Projekt sei, belehrt uns das Programmheft, Teil einer Serie zu „digitalem Kolonialismus und Re-figuration als feministische und aktivistische Praxis“. Nun gut; auf jeden Fall hinterlassen die einzigen figurativen Arbeiten mit gleichsam klassisch-skulpturaler Anmutung in dieser Ausstellung einen bleibenden Eindruck.

Skulpturales aus dem 3D-Drucker: Morehshin Allahyari, „Ya’jooj Ma’jooj“, 2018 (Bild:  Morehshin Allahyari. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Plötzlich waren die Frauen weg

Zurück noch einmal zum titelgebenden Zorn, der in den Arbeiten kaum Widerhall findet. Wenn er sich aber aus der Kunst nicht speist, wie dann? Es hat, eine Zeitschiene an der Wand verdeutlicht es, mit der Präsenz oder, ehrlicher ausgedrückt, Nicht-Präsenz von Frauen im großen IT-Themenfeld zu tun.

Gewiß, in der Frühzeit des komplexen Rechnens gab es sie noch, als „Rechnerinnen“ bei Finanzämtern oder Versicherungen. Auch als Bedienerinnen riesiger Maschinen, die mechanisch oder mit Röhrenbestückung Resultate suchten, waren sie unverzichtbar, und in Bletchley Park zum Beispiel, wo der geniale Mathematiker Alan Turing im 2. Weltkrieg den Code der Nazi-Verschlüsselungsmaschine „Enigma“ knackte, war die Zahl der weiblichen Mitarbeiter erheblich.

Doch spätestens mit dem Aufkommen der Personal Computers (PC) in den 80er Jahren, erläutert Inke Arns vom Hartware Medienkunstverein, war Schluß mit weiblicher Beteiligung. Computer waren nun Männersache, und sie sind es bis heute geblieben. Wenn Frauen in der IT-Industrie doch einmal in Spitzenpositionen gelangen, CEO werden, dann wahrscheinlich auf der juristischen oder wirtschaftswissenschaftlichen Schiene, eher nicht auf der technischen. Die berühmten Firmengründer und bald danach schon Multimilliardäre – Bill Gates, Steve Jobs, Mark Zuckerberg und so fort – waren sämtlich Männer, eine Videoarbeit in der Ausstellung thematisiert die männliche Dominanz ironisch, indem sie einfach Biographien aneinanderreiht: „A Total Jizzfest“ von Jennifer Chan.

Viele künstlerische Positionen

Wenngleich feministische Klage und präsentierte Kunst in dieser Ausstellung ein wenig auseinanderfallen, schmälert dies nicht ihre Attraktivität, weil so viele junge Positionen zu sehen sind wie selten. Der Vollständigkeit halber sei noch vermerkt, daß das Pariser Kulturzentrum La Gaîté Lyrique Kooperationspartner der Schau ist. Dort, in Paris, wird die Ausstellung im kommenden Frühsommer zu sehen sein, bevor sie dann im August zum MU Einhoven nach Holland weiterzieht.

  • „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund
  • Bis 24. Februar 2019.
  • Geöffnet tgl. außer Mo 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr.
  • Eintritt frei
  • www.hmkv.de



Perfekt, freudlos – das Folkwang-Museum zeigt italienische Malerei der 20er Jahre unter dem Titel „Unheimlich real“

Antonio Donghi: „Donna al caffè – Frau im Café“ von 1931 (Foto: Museum Folkwang / Archivio Fotografico – Fondazione Musei Civici di Venezia / Franzini C.)

Sie lachen nicht. Sie zeigen kaum eine Gefühlsregung. Und wenn doch einmal Leben in den Gesichtern ist, so sind es grimassierende Gaukler wie im Bild „Maschere – Masken“ von Cesare Sofianopulo. Die Ausstellung, die nun bis 13. Januar im Essener Folkwang-Museum zu sehen ist, heißt „Unheimlich real“, und natürlich ist der Titel eine Spiel mit dem umgangssprachlichen Doppelsinn des Wortes.

In der Tat kann einem unheimlich werden zwischen diesen unbeteiligten, teilnahmslosen, jedoch mit großer Meisterschaft und Detailverliebtheit in realistischer Manier auf die Leinwand geworfenen Gestalten. Fehlende Zugewandtheit eint sie, sie ist fast das stärkste Band zwischen ihnen. Atmosphärisch betrachtet reihen sich sogar die Bilder ein, auf denen gar keine Menschen zu sehen sind. Freudlose Zeiten?

Giorgio de Chirico: „Piazza d’Italia (Souvenir d’Italie) – Italienischer Platz (Souvenir aus Italien)“ von 1924-25 (Bild: Museum Folkwang / MART – Archivio Fotografico e Mediateca)

Kunst im Faschismus

In gewisser Weise: ja. 1922 hatte der Faschist Mussolini in Italien die Macht übernommen, die Moderne mit ihrem Hang zur Abstraktion, die es in Italien nie leicht gehabt hatte, schwächelte, Künstler suchten das Konkrete, Gegenständliche, eben das Reale. Es mag durchaus auch sein, daß man bei den Machthabern nicht anecken wollte, wenngleich der „Kunstsinn“ eines Adolf Hitler bei Mussolini, so weit bekannt, keine Entsprechung fand.

Was aber wollte diese Kunst recht eigentlich erzählen? Ich will gerne an dieser Stelle schon, abweichend von den dramaturgischen Usancen des Artikelbaus, bekennen, daß ich eine letztendliche Antwort nicht weiß. Sicherlich wäre es zu kurz gegriffen, in der durchgängigen Freudlosigkeit der Bilder so etwas wie Kritik an den politischen Verhältnissen erkennen zu wollen.

Richtig ist andererseits, daß diese Kunst eine starke formale Rückwärtsgewandtheit prägt, ebenso aber auch, daß surreale Überhöhungen des „Realismo magico“ diesen konservativen Duktus häufig ad absurdum führen. Zu den wenigen auch bei uns bekannten Künstlern dieser Ausstellung gehört Giorgio de Chirico, dessen „Piazza d’Italia (Souvenir d’Italie)“ von 1924/25 mit seinen oft bemühten kompositorischen Elementen wie Säulenfassaden und zentralgestellten Skulpturen vergleichsweise vertraut wirkt.

Cesare Sofianopulo: „Maschere – Masken) von 1930 (Bild: Museum Folkwang / Nicola Eccher)

Fast allegorisch

Häufig setzen kraftvolle Details gleichsam allegorische Akzente, wie im Titelbild der Ausstellung „“Ritratto della moglie sullo sfondo di Venezia – Die Frau des Künstlers vor venezianischer Kulisse“ (1921) von Ubaldo Oppi: Gondeln, Segelschiff und Stadtkulisse sowie ein merkwürdig streng drapierter Vorhang, der auf dem Balkon fast etwas fehl am Platze wirkt. Doch das könnte alles eben auch noch ganz „real“ sein, unzweifelhafte Allegorien wie Cagnaccio di San Pietros „L’alzana – zwei Treidler“ von 1926 bilden eher die Ausnahme. Zwei kräftige Männer ziehen hier ein Schiff, dessen Bug das Bild einer Pietà ziert – kraftvoll mit geballten Fäusten vorwärts strebend der eine, schlaf und einem Gefesselten gleich der andere. Doch arbeitete Cagnaccio di San Pietro auch in anderen Genres, man begegnet ihm mehrfach in dieser Ausstellung, er ist keineswegs so etwas wie ein „konsequenter Allegoriker“.

Ubaldo Oppi: „Ritratto della moglie sullo sfondo di Venezia – Die Frau des Künstlers vor venezianischer Kulisse“ von 1921 (Bild: Museum Folkwang / Carlo Baroni, Rovereto)

Futurismo und Neue Sachlichkeit

Zeitgleich mit der hier ausgestellten italienischen Malerei feierte im Deutschland der 20er Jahre die „Neue Sachlichkeit“ Erfolge, die sich jedoch, schaut man auf die Bilder ihres heutzutage wieder stark nachgefragten Protagonisten Karl Hofer, von der schnöden Wirklichkeit fern hielt und ihr Heil in schmucken, nur sehr ungefähr verorteten Personenarrangements suchte. Eine zeitlich-thematische Abgrenzung zu Marinettis „Futurismus“ findet sich leider nur in den erläuternden Texten am Eingang der Ausstellung.

Es wäre schön gewesen, diese naiv fortschrittsgläubige, dem Faschismus manchmal bedenklich nahe Kunstrichtung, mit der es 1920 ja keineswegs ein Ende hatte, im ästhetischen Vergleich zur ausgestellten „unheimlich realen“ Material zu sehen. Unvergeßlich bleibt in diesem Zusammenhang die große Futurismus-Ausstellung, die der 2007 viel zu früh verstorbene Leiter des Dortmunder Ostwall-Museums Ingo Bartsch 2002 unter dem Titel „Auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert“ ausrichtete. Bartsch bemaß die Zeit des italienischen Futurismus von 1915 bis 1945.

Carlo Carrà: „Vasi sul davanzale / Blumentöpfe auf dem Fensterbrett“ von 1923 (Bild: Museum Folkwang / Courtesy Galleria dello Scudo, Verona)

Die Wärter

Viele Portraits, von Frauen zumal, Landschaften, Stilleben – diese in neun Themengruppen sehr ordentlich sortierte Ausstellung ist unbedingt sehenswert und ein Spitzlichtlein im diesjährigen Museumsbetrieb des Reviers, zu dem wir ausnahmsweise auch mal Düsseldorf und Köln zählen wollen.

Wenn nur die Wärter nicht wären, also: diese Museumswärter. Persönliche Umstände brachten es mit sich, daß ich die Ausstellung nicht in der relativ unbeschwerten Atmosphäre eines Presserundgangs erkunden durfte, sondern ganz normal als zahlende Kundschaft. Und als solche mußte ich miterleben, wie ein älterer Herr, der sich ein Bonbon oder ähnliches in den Mund steckte, derb (anders kann man nicht sagen) darauf hingewiesen wurde, daß „das Essen“ in der Ausstellung verboten sei. Kein Essen in Essen also (Brüllwitz). Dunkel meine ich mich zu erinnern, daß das Publikum in früheren Zeiten von der Essener Bewachungsfirma Kötter bewacht wurde, die das sehr viel relaxter machte.

  • Unheimlich real – Italienische Malerei der 1920er Jahre“.
  • Bis 13. Januar 2019. Eintritt 8 €, Katalog im Museum 32 €, im Buchhandel 39,90 €
  • www.museum-folkwang.de



Was bleibt, ist schmerzliches Verlangen: „Die Leiden der Jungen (Werther)“ im Theater Oberhausen

Leider nicht die Schlußszene: Lotte und Werther (Emilia Reichenbach und Christian Bayer) in Liebe vereint. (Foto: Katrin Ribbe/Theater Oberhausen)

Der junge Mann klagt. Schmerzlich ist die Liebe zu der Einen, die vom ihm Besitz ergriffen hat, sie reißt klaffende Lücken zwischen Herz und Hirn und Unterleib. Er tänzelt durch den Bühnenraum, erklimmt sehnend rotierende Podeste, entblößt sich, hat diesen schwärmerischen Blick, flirtet mit dem Publikum, spricht die Eine, die er im Parkett wähnt, sehr vertraulich an – doch keine seiner verzweifelten Übungen zeitigt irgendeinen Erfolg. Da ist sein letzter, oft wiederholter Satz fast zwingend: „Leute, ich will sterben“. Oder hat er Lotte gesagt? Angeblich nämlich ist dieser junge Mann, den Christian Bayer im Theater Oberhausen gibt, Goethes Werther nachempfunden. Doch da kann man seine Zweifel haben.

Fokussierte Kernkonflikte

„Nach Johann Wolfgang von Goethe“, so das Programmblatt, sei dieses Stück entstanden. „Die Leiden der Jungen (Werther)“ heißt es, zur Bühnenreife gebracht hat es Leonie Böhm, Jahrgang 1982, die auch Regie führt. Von ihr ist zu lesen, dass sie zu klassischen Stoffen greift, „um deren Kernkonflikte zu fokussieren“. Das ist kein geringer Anspruch.

Werther, kleiner hastiger Exkurs, der Titelheld in Goethes Briefroman, liebte Lotte, die indes mit Albert verlobt und somit unerreichbar war. Doch kamen sich die beiden schon recht nahe, erlebten schmerzlich intensiv den Gleichklang ihrer Empfindungen. Schwärmerische junge Leute waren sie beide, und ihr Idol, der Dichter Klopstock, dessen Namen sie auf dem Höhepunkt seelischer Nähe gleich einer Beschwörungsformel feierlich und fest sprachen.

Bühnenmusiker Johannes Rieder als nagellackierte Damenhand (links) schleppt Werther (Christian Bayer).  (Foto: Katrin Ribbe/Theater Oberhausen)

Sehr guter Popsong

Idole gibt es nach wie vor, Fixpunkte gemeinsamen Sehnens; doch müssen es, meint die Regisseurin, wohl nicht unbedingt Dichter sein. Die emotionssteigernde Wirkung kann auch „ein sehr guter Popsong“ entfalten, oder derer zwei bis drei.

Damit kommt die dritte Person in dieser Oberhausener Geschichte ins Spiel, der Musiker Johannes Rieder. Eigentlich ist er sogar der Erste auf der Bühne, steht dort schon mit seiner handlichen Elektroorgel und spielt gefällige Weisen, während noch das Publikum den Sitzen zustrebt. Er ist, wenn man so will, Tröster, Versteher und manchmal auch so etwas wie der „Sidekick“, wie in einer Talkshow. Vor allem aber spielt und singt er in den richtigen Momenten die aufwühlenden Songs, beziehungsweise deutet er sie mit seinem sparsamen Equipment nur an, was für die Emotionalisierung durchaus ausreichend ist.

Stark getanzt

Er ist es auch, der sozusagen Lotte ins Spiel bringt, mit der er einen atemberaubend schnellen, athletischen und gleichzeitig doch ausdrucksstarken Disco-Tanz auf die Bühne bringt (mit Musik aus dem Off). Er führt sie, so könnte man mit Blick auf Goethes Vorlage vielleicht sagen, in die Gesellschaft ein, und so steht sie im dritten Teil dieser streng chronologisch strukturierten Anderthalbstundenproduktion bald schon recht alleine da und schmachtet ihren Werther an. Die Bilder gleichen sich, alles würde sie geben, erhält aber kein Feedback. Lotte, gespielt von Emilia Reichenbach, schickt Luftküsse ins Publikum, wo der Geliebte vermeintlich sitzt, klagt und jammert, wie gehabt, streckt ihren schönen Hintern lockend vor, entblößt sich zunächst teilweise, dann ganz, fordert voll konkurrenzhafter Wut eine imaginierte Frau im Zuschauerraum auf, wegzugehen („Warum sitzt die da?“), und so fort, und so fort. Es zieht sich etwas.

Von links: Musiker Johannes Rieder, Christian Bayer (unscharf) und Emilia Reichenbach. (Foto: Katrin Ribbe/Theater Oberhausen)

Ein Bier

Die zärtlichen Umarmungen von Werther und Lotte in einigen späten Bildern, die es dann endlich doch noch gibt, wirken wenig glücklich und könnten möglicherweise auch als Sehnsuchts-phantasie verstanden werden. Schließlich ist nur noch der Musikus präsent, der, warum auch immer, mit nerviger Piepsstimme etwas über Liebe, Nähe, Berührungen erzählt. Dann geht er mit einem Zuschauer aus der zweiten Reihe ein Bier trinken, und das Stück ist aus.

Tragische Dimensionen fehlen

Was bleibt? „Sie konnten beisammen nicht kommen“ wie die beiden Königskinder im Volkslied, traurig, traurig. Doch wäre neben der schieren Emotion etwas mehr Klärung des Sachverhaltes willkommen gewesen. So blieb die Bezugnahme auf Werther recht beliebig, mit leichten Veränderungen hätte beispielsweise auch „Romeo und Julia“ zur Vorlage getaugt. In Goethes „Werther“ indes, nur leise sei es angedeutet, gibt es doch einige weitere tragische Dimensionen, die diese Oberhausener Produktion schlicht auslässt. Dabei ist das Stück mit seinem Leiden an der Welt (nicht nur in der Liebe) bekanntlich auch heute noch in hohem Maße jugendkompatibel, taucht immer wieder auf Spielplänen auf.

Bemerkenswerter Schauspieler

Im Spiel Christian Bayers deutet sich die Komplexität der Verzweiflung einige Male an, aber das ist eher das darstellerische Verdienst dieses bemerkenswerten jungen Mannes. Er hat wohl den größten Anteil daran, dass dieser Oberhausener Abend, wiewohl thematisch dünn, als unterhaltsames Schauspielertheater in Erinnerung bleibt, das dankenswerterweise ganz ohne Video-Einsatz oder Ähnliches auskommt (Ausstattung: Zahava Rodrigo, Kostüme: Magdalena Schön, Helen Stein). Das Premierenpublikum spendete naturgemäß begeisterten Beifall.

 




Unbewusstes aus der Dunkelkammer – Bilder des deutschen Surrealisten Edgar Ende in Haus Opherdicke

„De Profundis" (1951) ist das Titelbild der Ausstellung (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

„De Profundis“ (1951) ist das Titelbild der Ausstellung (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

„Der gefesselte Sturm“ ist eins der letzten Bilder Edgar Endes. 1965 entstanden, zeigt es ein rotes, mit Seilen gespanntes Tuch, in dem sich ein Gesicht abdrückt. Und das Gesicht vergießt Tränen. Ist dies vielleicht die Ahnung des nahenden Todes, ist es die Trauer darüber, dass das kranke Herz (Ende starb an einem Herzinfarkt) nicht mehr stürmen kann? Eine Antwort hätte man von dem Künstler, dessen Werke jetzt in Haus Opherdicke zu sehen sind, vermutlich nicht erhalten. Alles sei in den Bildern, pflegte er den nach Deutung fragenden Betrachtern für gewöhnlich zu bescheiden.

Edgar Ende, übrigens der Vater des wesentlich populäreren Kinderbuchautors Michael Ende („Momo“, „Jim Knopf“), gehört zu den wenigen surrealistischen Malern Deutschlands. Schon frühe Arbeiten wie „Die aus der Erde Kommenden“ von 1931 weiten die Szene ins bedrohlich Unwirkliche. Gewiss ist in Vorkriegsarbeiten wie dieser noch expressionistisches Pathos zu entdecken, doch es dominiert nicht.

Schon der junge Ende arbeitete mit tiefstehendem Licht und magisch überdehnter Räumlichkeit, weshalb man frühe Arbeiten bei flüchtigem Hinsehen auch seinem berühmten italienischen Kollegen Giorgio di Chirico zuordnen könnte. Über persönliche Kontakte zur französischen surrealistischen Szene ist jedoch nichts bekannt, ebenso nichts über Kontakte zu dem fast einzigen bedeutenden, aus Deutschland stammenden Surrealisten Max Ernst, der jedoch schon in den 20er Jahren nach Frankreich übersiedelte.

Frühwerk: „Die aus der Erde Kommenden (Auferstehung)“ von 1931 (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

1945 ging es weiter

Nach frühen beruflichen Erfolgen und ersten Verkäufen geriet Ende ins Visier der Nazis. 1936 wurde er als „entartet“ abgestempelt, Malen und Materialeinkauf wurden ihm verboten, Bilder von ihm, die bereits im Münchner Lenbachhaus hingen, wurden abgehängt.

Ende hielt sich an das Malverbot, war fünf Jahre lang Soldat – und machte 1945 genau da weiter, wo er in der Nazizeit aufgehört hatte. Sein Oeuvre ist von einer geradezu frappierenden Bruchlosigkeit, allerdings sind die Farben nun etwas kräftiger.

Monströse Wesen

Monströse Wesen wie die „Löwenengel“ bevölkern Endes Bilder, Tauben, deren Flügel menschliche Hände sind, überflattern eine Taucherglocke, ein Mann in roter Jacke schießt mit dem Gewehr auf Apothekerwaagen, die vor düsterer Sturmhimmelskulisse dahinfliegen: Wie entwickelte dieser Surrealist seine Phantasien in einer Zeit, in der zumal im Westen Deutschlands abstrakte Kunst als das Nonplusultra galt und Figuratives schnell als gestrig abgetan wurde? Nun, er ging, ganz bescheiden, in die Dunkelkammer.

Noch ein Frühwerk: „Fragmente“ von 1936 (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Zettelkasten

Hier, in einer dunklen Kammer, in Abwesenheit jeglichen visuellen Reizes, wartete der Künstler auf Ideen. Sie strömten offenbar in reicher Zahl, und unter dem sparsamen Licht einer Taschenlampe skizzierte Ende Ideen, Eingebungen, „Gedankenblitze“ auf bereitliegenden Zetteln.

Ein besonderer Schatz in der Ausstellung, die Kurator Arne Reimann in Haus Opherdicke mit viel Feingefühl für diese singuläre Künstlerpersönlichkeit zusammengestellt hat, ist deshalb Edgar Endes Zettelkasten mit etlichen hundert Dunkelkammerskizzen. Wieder im Hellen zog mal er selbst, mal seine sehr viel jüngere Frau Lotte Schlegel ein Zettelchen, und dann entstand nach der skizzierten Idee vielleicht ein Bild. Ende glaubte, mit seiner Methode im dunklen, gleichsam lichtentleerten Raum Bildideen aus dem „kollektiven Unbewussten“ zu erreichen, die er seinem schöpferischen Tun unterlegte.

Flüchtig notiert 

Etliche Zettel sind in Opherdicke – unter Glas und bei gedämpftem Licht – nun ausgestellt, und es ist nicht eben so, dass sich Mal um Mal sofort das Meisterwerk zeigte. Einen Großteil der Dunkelkammer-Inspiration wird Edgar Ende also wohl im Kopf gespeichert haben, da ist das Papier dann nur ein Trigger. Doch entscheidend ist ja, was hinten rauskommt.

„Johnnys ganze Liebe“ von 1964 (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Bald vergessen

Edgar Ende war zu Lebzeiten recht erfolgreich, unter anderem 1948 und 1954 Teilnehmer der Kunstbiennale Venedig und in seinen letzten Jahren Präsident des Münchner Hauses der Kunst. Doch das Vergessen setzte bald nach seinem Tod schon ein, und auch der Versuch seines Sohnes, mit einer großen Ausstellung in den frühen 80er Jahren den Vater dem Vergessen zu entreißen, war nur von mäßigem Erfolg gekrönt.

Erst in jüngerer Zeit ist wieder ein wachsendes Interesse an Künstlern jener „verlorenen Generation“ wahrnehmbar, die ihre „besten Jahre“ durch die Nazi-Herrschaft verloren und zu denen auch Ende zählt. Vor allem Kunst des gut 20 Jahre älteren Karl Hofer erzielte in den letzten Jahren große Verkaufserfolge. Er war zwar kein Surrealist, aber er verwendete die gleichen Farben wie Ende, weiß der Kunstsammler Frank Brabant, der schon etliche Opherdicker Ausstellungen bestückte und von dem hier jetzt drei Exponate stammen. Immerhin sind diese aus den 30er Jahren, und da gibt es nur ganz wenig, weil Edgar Endes Münchner Atelier mit all der vielen Kunst darin 1944 einem britischen Bombenangriff zum Opfer fiel.

Das ist nicht Emma. „Die Angst der Berge“ (1958) (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Katalog enthält das Werkverzeichnis

Der Katalog zur Ausstellung schließlich, eine Besonderheit, umfasst auch das alphabetische Werkverzeichnis der Gemälde, Gouachen, Grafiken und Zeichnungen. Ende-Experte Axel Hinrich Murken hat es in drei Jahrzehnten erarbeitet.

  • „Edgar Ende – Melancholie und Verheißung“
  • Haus Opherdicke, Dorfstr. 29, Holzwickede
  • Bis 24.2.2019
  • Geöffnet Di – So 10:30 – 17:30 Uhr
  • Eintritt 4 €
  • Katalog 25 € im Museum, 28 € im Buchhandel
  • www.kreis-unna.de



Strukturen, Wörter, Schläuche – die informelle Bilderwelt des Malers Gerhard Hoehme im Hagener Emil Schumacher Museum

Gerhard Hoehme, Hymne an Heraklit/Hommage à Heraklit, 1959, Öl und Polyester auf Leinwand, 140 x 160 cm, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher. ©VG Bild-Kunst, Bonn 2018

In den frühen Jahren der Bundesrepublik war er fast so etwas wie ein Star des gänzlich ungegenständlichen „Informel“. Er nahm an der documenta II teil und hatte 24 Jahre lang den Lehrstuhl für frei Malerei an der Düsseldorfer Kunstakademie inne. Doch mit der Pop Art verlor das Informel auch in Westdeutschland rasant an Bedeutung, und die letzte große Werkschau liegt zehn Jahre zurück. Mit einer uneingeschränkt sehenswert zu nennenden Ausstellung widmet sich jetzt das Hagener Emil Schumacher Museum dem Werk Gerhard Hoehmes.

Ein einziges Bild kokettiert noch mit dem Gegenständlichen. „Rote Zeichen“ von 1951 lässt hinten links einen Klavierspieler erkennen. Ohne ihn wäre das Instrument nicht zu identifizieren, wäre nur schwarze Fläche mit den titelgebenden Elementen. Gerhard Hoehme malte das Bild 1951, in dem Jahr, als er die DDR mit ihrer beengenden Kunstauffassung verlies und nach Düsseldorf zog. Seitdem zeigen seine Bilder auf unterschiedlichste Weise Strukturen, wirken Mal um Mal wie ein weiterer Entgrenzungsversuch. Wenn die Formulierung nicht in sich unsinnig wäre, befindet Museumsleiter Rouven Lotz, könne man bei Gerhard Hoehmes Werk von dem unablässigen Versuch sprechen, die Grenzen des Informel zu überwinden.

Gerhard Hoehme, Fensterbild S. Remo Str. 6 / Fenster und Baum III , 1968, Acryl auf Leinwand und Holz, 200 × 160 cm, Privatsammlung Meerbusch. © VG Bild-Kunst Bonn, 2018

In die dritte Dimension

Da das Informel aber keine Grenzen hat, hat Hoehme sich beizeiten daran gemacht, die traditionelle Präsentationsform des Tafelbildes zu überwinden. In seinen „Borkenbildern“ wird die rauhe Oberflächenstruktur durch Aufkleben von getrockneten Farbschnitzeln oder Leinwandstücken verstärkt, schiebt sich das an sich flache Bild gleichsam in die dritte Dimension. Spektakulär ist das Titelbild des Katalogs „Hommage an Heraklit“ von 1959, das, vollständig mit gelben Polyesterschuppen besetzt, tatsächlich eine Aura der Wertigkeit aufweist, wie sie eine Ehrbezeugung auch haben sollte.

Ost und West

Doch Hoehmes Oeuvre weist beiweitem nicht die Linearität auf, die etlichen seiner informellen Weggefährten eigen ist. Auf der einen Seite bearbeitet er sein Material mit rohen Methoden, ist nahe dran an der „art brut“ eines Jean Dubuffet; auf der anderen kann der Informel-Künstler nicht von Buchstaben, Schriften und ganzen Texten in seinen Bildern lassen. Das sieben Quadratmeter große Diptychon „Berliner Brief“ von 1966 ist eine launige Montage von Wörtern aus West (links) und Ost. Im bunten Westen lesen wir „Berliner Kindl“, „Mampe“ oder „BP“, aber wiederholt auch „Bestattungen“; im farblich zurückhaltenden, aber doch hellgründigen Osten beispielsweise „Kampftruppen der Arbeiterklasse“ oder „Internationalismus“, aber auch, verschwimmend, „Haus Vaterland“. Was mag es bedeuten, wenn der Künstler Berlins angesagteste Vergnügungsadresse der Vorkriegszeit in der DDR montiert? Methodisch jedenfalls scheint er da einem Klaus Staeck sehr viel näher zu sein als einem Emil Schumacher.

Gerhard Hoehme, Berliner Brief, 1966, Acryl, Collage, Graphit- und Farbstift auf Leinwand, 200 × 360 cm (zweiteilig), MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher. © VG Bild-Kunst Bonn, 2018

Vogelperspektive

Die Wörter dieses „Berliner Briefs“ stehen quasi in Augenhöhe vor dem Betrachter, und damit unterscheidet er sich von fast allen anderen Arbeiten Hoehmes, die, wären sie nach der Natur entstanden, aus der Vogelperspektive auf die Erde blicken. Hoehme war im Krieg Kampfpilot gewesen, und die Globalsicht wurde für ihn stilprägend. „Die Anfänge der informellen Malerei (…) lagen fast alle im letzten Kriege – also in einer Zeit der Kollektivschicksale, der Unterdrückung und Tötung des Individuums…“ beschrieb er es 1974. Da konnte die Kunst nicht so tun, als sei nichts geschehen; da aber auch erweist sich das Informel als unerwartet politisch.

Die Essenz

Mit Nägeln, Fäden, Schnüren, Schnittbögen und Trouvaillen hat Hoehme gearbeitet, hat Kästen wie den „Gewitterkasten“ mit düsterer Andeutung gefüllt, hat seine Motive in Fensterrahmen gestellt („Fensterbilder“) – stand also gewissen „Moden“ im künstlerischen Tagesbetrieb keineswegs ablehnend gegenüber.

Doch wirklich typisch für ihn wurden die Kunststoffschnüre, die in unterschiedlichsten Gestaltungen aus etlichen Bildern herausragen. Suchen sie den Kontakt zum Betrachter, bedrohen sie ihn? Oder sind sie in der Lage, gleichsam die Essenz abzusaugen? „Epiphanie des Informel“ ist der Name der Ausstellung, entlehnt dem Titel eines Bildes: Unten an den Kunststoffschnüren, die aus ihm herausragen, kleben große Kunstharzbrocken, abgeleitete, ausgehärtete Materie, wenn man so will. Wenn Epiphanie als Gotteserscheinung übersetzt werden kann, dann mag da ein Zusammenhang bestehen. Aber wer weiß? Auch wenn der Kaiser kam, sprach das begeisterte Volk in Griechenland von einer solchen.

  • „Gerhard Hoehme – Epiphanie des Informel“. Bis 17. Februar 2019
  • Emil Schumacher Museum Hagen, Museumsplatz 1, 58095 Hagen
  • www.esmh.de
  • Geöffnet Di – So 12 – 18 Uhr
  • Katalog 72 Seiten, 60 Abb., 14 € im Museum, 18 € im Buchhandel.



Leise Lieder von Abschied und Vergehen – Marthalers „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ bei der Ruhrtriennale

Ein leerer Raum mit schrägen Oberlichtern, im Hintergrund ein Personenaufzug und eine hohe Flügeltür: Das könnte ein Museum sein oder eine leergezogene Fabrikhalle, auf jeden Fall ein uneingeschränkt funktionaler Ort. Hier wirkt der Mann im grauen Hausmeisterkittel, schiebt Rollwagen herein mit undefinierbarer folienverhüllter Fracht.

Was wird das werden? Mit der Antwort kann es dauern, wie stets in den Stücken Christoph Marthalers, denen viel Gemächlichkeit eigen ist. Dieses heißt „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ und war jetzt im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) als funkelndes kleines Programmglanzlicht der Ruhrtriennale zu sehen.

Letzte Arbeit für die Berliner Volksbühne

„Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ war Marthalers letzte Arbeit an der Berliner Volksbühne. Mit dem Ausscheiden des Intendanten Frank Castorf endete auch die lange währende Kooperation, die 1993 mit „Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!“ ihren seinerzeit stark beachteten Anfang hatte. „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ ist deshalb ein Stück der Rückschau geworden, die einen natürlich schwermütig stimmen kann, auf der Bühne wie im Zuschauerraum.

Doch sie leben noch

Doch die gut verpackten Figuren leben noch, wenn man sie nur lässt! Und nichts anderes tut der Mann im grauen Kittel, als sie in des Wortes wörtlichem Sinn aus Folie und Holzkiste auszupacken und auf die Bühne zu stellen.

Dann bewegen sie sich, dann singen sie, dann spielen sie gar auf Klavier und Cembalo. Und unerwartet sportlich sind einige von ihnen, Damen zumal, und keineswegs ohne erotischen Reiz. Wenn das ganze kulminiert, formieren sich die Weggepackten gar zu einer Art erotisch-lüsterner Laokoon-Gruppe auf dem Rollwägelchen, und jeder möchte dabei sein. Dem Kittelmann wird das zu viel, er packt ein, rollt hinaus, die Erinnerungen kommen zurück ins Magazin. Doch die Personen kehren wieder.

Alles schon einmal gebraucht

Für Bühne und Kostüme griff Marthalers großartige Ausstatterin Anna Viebrock auf den Fundus zurück, verwendete also nur Dinge, die in seinen früheren Produktionen schon einmal eingesetzt waren. Und vielleicht sind auch alle Lieder dort schon einmal gesungen worden, die im weiteren Verlauf des Abends zu hören sind, wer will das so genau wissen? Händel, Satie, Mahler und Schubert nennt der blaue Programmzettel, der in Orange noch ungleich mehr, mit Bach beginnend und mit Wagner endend.

Eher gehaucht als gesungen

Musik – und da vor allem Gesang – findet in Marthalers Theater aber nicht als schmetternde Nummernrevue statt, sondern ist fein und leise in den Gang des scheinbar Bedeutungslosen hineingesetzt, das „Handlung“ zu nennen einem manchmal widerstrebt.

Leise, sehr leise erklingen viele Lieder, und viele werden auch nie lauter. Der feine Ton macht sie nur noch eindrücklicher, und manchmal erzählt er geradezu Geschichte – etwa, wenn „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ kaum wahrnehmbar, eher gehaucht als gesungen, erklingt. Ja, die donnernde Revolution ist ausgeblieben, an der Volksbühne und anderswo, und vielleicht ist es sogar gut so.

Wenn dieser vorwiegend a cappella vorgetragene Gesang in der zweiten Stückhälfte nicht so schön wäre, so filigran und sanft, dann könnte man schon trübsinnig werden ob der Inhalte, mitleiden etwa mit dem jungen Mann, dessen Freundin „In einem kühlen Grunde“ (Text von Eichendorff) die Beziehung beendet hat und der nun am liebsten tot wäre. Oder, im Kirchenlied, verzweifeln an der Aussichtslosigkeit der eigenen gottlosen Existenz.

Düsternis und Heiterkeit

Die Musikauswahl, man kann es nicht anders sagen, kreist sehr um Trennung, Verlust, Abschied, Niedergang, was nach einem Vierteljahrhundert kreativer Arbeit an der Berliner Volksbühne nicht verwundern kann. Auch das Schlussbild ist kein Trost. Alle, die auf der Bühne sind, müssen ihre Schuhe abgeben, Symbole für Leben, Beweglichkeit, Erdung, ein düsterer finaler Akt.

Heiterkeit wiederum erregten manche Personenzeichnungen – alte Männer im clownesken Altmänner-Outfit mit Hosenträgern und Pantoffeln, füllige Damen in neckischer Pose; Marthaler weiß souverän mit der Spannung zwischen ernst und lustig zu spielen, um das Bühnengeschehen dramatisch zu überhöhen. Bei ihm ist gemächlich nicht das Gegenteil von kurzweilig, eher im Gegenteil.

In der großen Halle

Wenige Tage zuvor konnten Triennale-Besucher in der Bochumer Jahrhunderthalle, ebenfalls von Marthaler inszeniert, das symphonische Fragment „Universe, Incomplete“ von Charles Ives erleben, eine theatralische Materialschlacht (siehe dazu auch Martin Schrahns ausführliche Rezension in den Revierpassagen). Der Schweizer Theatermacher kann beides, große Halle wie kleine Theaterbühne. Aber dem typischen Schaffen dieses feinnervigen Musikerzählers begegnet man sicherlich eher in Produktionen wie, eben, „Bekannte Gefühle…“.

Was wird aus der Intendantin?

Wo werden wir zukünftig dieses in seiner Art einmalige Gesangstheater erleben können? Der Stuhl von Stefanie Carp, die seit vielen Jahren Marthalers kongeniale Dramaturgin und außerdem derzeit Triennale-Intendantin ist, wackelt. Sollte sie gehen, geht Marthaler – vermutlich – auch. „Froh schlägt das Herz im Reisekittel, vorausgesetzt, man hat die Mittel“, zitiert ein Mitspieler in einer der heitereren Passagen des Stücks Wilhelm Busch. Angesichts der politischen Entwicklung ist das ein geradezu seherischer Aphorismus.

Keine weiteren Vorstellungen in Gelsenkirchen

www.ruhrtriennale.de




Trotzige Betonburgen, verspielte Swimmingpools – Architekten schauen respektvoll auf die Baukunst der jungen Republik

Das ehemalige Schuman-Kolleg an der Dortmunder Sckellstraße zeigt nach Jahren des Leerstands Zeichen von Verwahrlosung. Doch immerhin ist es jetzt ein Baudenkmal (Foto: Bund Deutscher Architekten BDA)

Büsche und Bäume stehen in üppiger Pracht. Der Baukörper hingegen, den das Grün geradezu verbirgt und den in unterschiedlichen Stadien der Ausgeblichenheit die Farbe Blau prägt, schwächelt. Man sieht ihm an, dass er seit einigen Jahren ohne Funktion ist, auch wenn die Fensterscheiben noch heil sind.

Kunst im Kolleg

Schiefe Schilder mit Hinweisen auf Lehrer- und Schülerparkplätze rühren an in ihrer Sinnlosigkeit. Das Robert-Schuman-Kolleg gibt es hier nicht mehr, es ist vor Jahren schon umgezogen in einen Neubau neben dem Dortmunder Kulturzentrum „U“. Doch die Agonie des Baukomplexes aus den 60er Jahren, den „Dornröschenschlaf“ zu nennen einem widerstebt, soll bald ihr Ende haben. Denkmalschutz wird dem Kolleg zuteil, zum architektonischen Sahnehäubchen einer neuen Wohnbebauung soll es geadelt werden. Bevor es aber so weit ist, gibt es hier Kunst zu sehen, die selbstverständlich mit Bauen und Bauten zu tun hat. Und die in größeren Zusammenhängen begriffen sein will. Das ehemalige Robert-Schuman-Kolleg gehört nämlich zu den „Big Beautiful Buildings“ (BBB), denen sich der Bund deutscher Architekten (BDA) jetzt mit ganz besonderer Aufmerksamkeit zuwendet – den „großen schönen Gebäuden“.

Von links: die Künstler EVOL und Alekos Hofstetter aus Berlin sowie der Dortmunder Architekt und Schwimmbadbuchautor Richard Schmalöer. Die „Plattenbauten“ sind eigentlich Blechspinde, die täuschend echt bemalt wurden. (Foto: rp)

Schönheit?

Schön? An großen Gebäuden herrscht im Revier kein Mangel. Aber nicht jeder wird, beispielsweise, die Marler Innenstadt („Marler Stern“) schön finden. Oder das Rathaus dort. Oder die Ruhr-Universität in Bochum. Oder vielleicht sogar, wenngleich es weitaus weniger betonhaltig anmutet, das alte Schuman-Kolleg. Kommt die Rede auf Gebäude wie diese, so ist schnell von Bausünden die Rede, von einer Betonwüste, von entmenschlichter Architektur, vom Verlust der Maßstäblichkeit und so fort. Doch Schönheit liegt ja im Auge des Betrachters. Und so gibt es heutzutage ebenfalls etliche Menschen, Fachleute zumal, die die großen, funktionalen Gebäude aus der Zeit des wirtschaftlichen Aufbruchs nach dem Krieg, grob also aus den 1950er bis 1970er Jahren, mögen, die sie erhalten wollen.

Big Beautiful Buildings

Sie preisen, je nachdem, den „Brutalismus“ von Bauten, die trotzig das Material herzeigen aus dem sie gemacht wurden, loben die Helligkeit von Schulräumen, deren Konstruktion unter reicher Verwendung von Einfachglas und Aluminiumprofilen Aspekte der Wärmedämmung noch gänzlich vernachlässigte, verneigen sich gar vor dem brachialen Gestaltungswillen mancher Altvorderer, die sich um Harmonie und Milieubezug wenig scherten. Auf einer umfangreichen Internetseite hat der Bund der Architekten eine Vielzahl solcher „Big Beautiful Buildings“ im Ruhrgebiet aufgelistet. Sie können besichtigt werden, und die meisten kennt man schon. Außerdem findet in den nächsten Wochen eine Reihe von Veranstaltungen statt, Vorträge, Filmvorführungen, Kunstausstellungen.

Ein Porzellanfisch von Peter Lechner ziert die Wand hinter einem privaten Swimmingpool. Auch er kann besichtigt werden – im Keller eines Einfamilienhauses in der Sckellstraße, gegenüber vom Schuman-Kolleg. (Foto: rp)

Kunst und Künstler

Zurück in das Dortmunder Schuman-Kolleg und zur kongenialen Architekturkunst. Aleko Hofstetter, um mit ihm zu beginnen, hat Bilder gemalt, die Details von Dortmunder „großen schönen Bauten“ verarbeiten, beispielsweise Innen- und Außenansichten des „Centrums für Medizin & Gesndheit (DOC)“, das früher einmal Commerzbank und West-LB war, oder des alten Volkswohlbund-Hauses aus den 80er Jahren, das mittlerweile schon wieder gesprengt und abgerissen wurde. In seinen Bildern kombiniert er diese wiedererkennbaren Details mit Texturen und Raumandeutungen, erschafft phantastische Landschaften, irritiert sein Publikum mit formalen Umdeutungen und Verunsicherungen. Das Gros der Arbeiten entstand in diesem Jahr, in einer Mischtechnik, die auch den Filzstift nicht verachtet.

Arbeiterschließfächer

Von EVOL kommen die Plattenbauten. Ebenso wie Hofstetter stammt er aus Berlin, heißt eigentlich Tobe Ringfeld und besorgte sich die rostigen alten Blechspinde aus Italien. Mit einer aufwendigen Schablonen-Drucktechnik hat er ihnen die Optik täuschend echter Plattenbauten verliehen. Weder Sattelitenschüsseln noch Graffiti fehlen. Ganz unübersehbar fungieren Spind wie Platte als „Arbeiterschließfächer“, sehr sinnhaft und eindrucksvoll. Eigentlich, erzählt EVOL, sei er Sprayer, und eine Zeit lang habe er bevorzugt Schaltkästen im öffentlichen Raum mit seinen Bildern versehen. Schaltkästen aber sind meistens aus Stein und für den Transport ins Museum ungeeignet, daher lieber Blechspinde. Der Berliner Stasi-Stadtteil Lichtenberg diente als eine Art städtebaulicher Vorlage. „Doppelplusmodern“ wurde diese kleine,aber gut passende Ausstellung getauft, die der BDA, Gruppe Dortmund Hamm Unna, ausrichtet.

Hallenbäder im Wirtschaftswunder

Und dann sind da noch die Swimmingpools. Immer wieder hat Richard Schmalöer mit ihnen zu tun, wenn er als Architekt alte Häuser renoviert. In der Zeit des Wirtschaftswunders, relativ kurze Zeit nach dem Krieg, bestellten sich viele Bauherren Bäder für ihre Keller, oft aufwendig dekoriert von Künstlerhand, es war ein regelrechter Boom. Schmalöer ließ fotografieren und begab sich ans Schreiben – „Schwimmen im Geld – private Hallenbäder des deutschen Wirtschaftswunders“ lautet der Titel des Buches, das so entstand.

Alles wie neu

Ein Bad kann sogar besichtigt werden. Es befindet sich im Keller unter dem Flachbungalow gegenüber vom Robert-Schuman-Kolleg, wo Schmalöer aufwuchs und wo heute eine Senioren-WG residiert. Die lustigen Fische, die vor einem Wellenrelief geradezu zu schweben scheinen, stammen von dem Künstler Peter Lechner. Vor einigen Jahren hat er die Wand restauriert, denn etliche Porzellanfische, erzählt Schmalöer, waren zu Bruch gegangen, wenn er und sein Bruder sich im Pool heftige Wasserballduelle lieferten. Jetzt ist wieder alles wie neu.

Und dann kam die Ölkrise

Bilder weiterer Bäder hängen an den Wänden, so dass auch von einem Ausstellungsprojekt gesprochen werden kann. Abgesehen davon haben die Bäder mit den „Big Beautiful Buildings“ eigentlich nichts zu tun – außer vielleicht, dass sie in etwa zur gleichen Zeit entstanden.

Man sieht: Privat hatten es die Besserverdiener der ersten Nachkriegsjahrzehnte doch lieber überschaubar, kuschelig, intim. Genehm war zudem die Bar gleich nebenan – manches Mal in einer Ausdehnung, die nach mehrköpfigem Personal verlangte. Die „Ölkrise“ in den 70er Jahren war für die großen Häuser wie für die kleinen Bäder eine Zäsur. Teure Energie machte sie alle unwirtschaftlich.

  • Ausstellungen:
  • „Doppelplusmodern“ im Robert-Schuman-Kolleg, Dortmund, Sckellstraße 5-7
  • Hallenbad, Dortmund, Sckellstraße 12
  • Bis 21. September. Geöffnet freitags, samstags, sonntags 14 – 18 Uhr
  • „Big Beautiful Buildings“ (BBB) im Internet: www.bigbeautifulbuildings.de



„Kunst & Kohle“ in den Ruhrkunstmuseen: Das bequeme Konzept der kleinen Portionen

Die Ausstellungen zum Ende der Steinkohle-Ära („Kunst & Kohle“ sowie „Das Zeitalter der Kohle“) sind in den Revierpassagen Ende April und Anfang Mai ausführlich besprochen worden. Nun meldet Rolf Pfeiffer Kritik am Gesamtkonzept von „Kunst & Kohle“ an:

Da nun gottlob die letzte deutsche Steinkohlezeche ihre Förderung einstellen wird, mußte ein Kunstprojekt her, begleitend sozusagen. Es heißt „Kunst & Kohle“ und wird von zahlreichen Museen der Region veranstaltet, die gemeinsam unter der Bezeichnung „Ruhrkunstmuseen“ firmieren.

Hermann Kätelhön: "Hochofen", undatiert Radierung, 33,3 x 26,2 cm (Bild: Museum Folkwang, Essen)

Hermann Kätelhön: „Hochofen“, undatiert Radierung, 33,3 x 26,2 cm (Bild: Museum Folkwang, Essen)

„Kunst & Kohle“ wird sogar beworben, die Plakate dominieren harte Schwarz- und Weißtöne, was auch sonst. Ein großer Wurf ist dieses Ausstellungsprojekt aber dennoch nicht, eher ärgerlicher Ausdruck institutioneller Bequemlichkeit, der das Publikumsinteresse, das man ja sowieso nicht so genau kennt, egal ist.

Bechers und die Farbe Schwarz

Das Konzept von „Kunst & Kohle“ sieht vor, daß in jedem der 20 beteiligten Häuser zwischen Hamm und Oberhausen eine Sonderschau sich des Themas annimmt. Die Galerie unter Tage der Ruhruni Bochum etwa widmet sich der Farbe (bzw. „Nicht-Farbe“) Schwarz, das Bottroper Quadrat zeigt (einmal mehr) fotografierte Fördertürme, Hochöfen etc. der Bechers, Folkwang in Essen präsentiert den Industriemaler Hermann Kätelhön, und so fort. Das klingt nicht schlecht, heißt aber im Konkreten, daß man mit wenigen Ausnahmen (wie Küppersmühle, DKM und Lehmbruck in Duisburg) ausgesprochen kleine Sonderschauen zu sehen bekommt. Da macht dann ein Museum nicht satt, man muß schon mehrere abklappern, um ein hinreichendes Quantum Kunst zu erhalten. Und das Dilemma wird sichtbar.

Lohnt sich das?

Lohnt es sich, beispielsweise für eine einzelne Installation von Andreas Golinski zum Kunstmuseum Bochum zu reisen? Auch wenn der Künstler genau so heißt wie der amtierende Museumsdirektor, sind die beiden nicht miteinander verwandt, und das ist lustig, aber leider kein Argument. Gewürdigt werden müssen die Faktoren, die immer da sind: Lohnt der Museumsbesuch den Aufwand an Zeit und Fahrtkosten, die nervige Parkplatzsuche, die absehbare nächste Schweißattacke auf dem Fußweg in der prallen Sonne? Bei fast allen kleineren Häusern würde ich spontan sagen: nein, es lohnt sich nicht, nicht für die geringe Menge an ausgestellten Arbeiten (was keine qualitative Wertung ist).

Derzeit in der Küppersmühle zu sehen: Anselm Kiefers „Klingsors Garten“ von 2018 (Detail/Installationsansicht). Die Arbeit stammt aus einer Privatsammlung. (Bild: Anselm Kiefer, Henning Krause, Museum Küppersmühle MKM)

Teures Kombiticket

Ein Zweites kommt hinzu. Die Ruhrkunstmuseen nach Ruhrkunstmuseen-Konzept abzuklappern, ist schon von den Eintrittsgeldern her eine teure Angelegenheit, denn es gelten in jedem Haus die normalen Preise. Das angebotene Kombiticket ist mit 25 Euro unverschämt teuer. Zwar gilt es für die gesamte Laufzeit, aber die Zahl derer, die sich mehrere Male aufmachen, um Kunst in Kleckerportionen zu konsumieren, dürfte übersichtlich sein. Nur mal zum Vergleich: Die Bundeskunsthalle in Bonn nimmt 15 Euro, Museum Kunstpalast in Düsseldorf 14 Euro, Museum Ludwig in Köln gar nur 12 Euro. Und in diesem Häusern gibt es ordentlich was zu sehen.

Nur das Beste an einem Ort

Der Vergleich hinkt? Ja natürlich. Aber er läßt doch ahnen, wie eine publikumsfreundliche Kunstausstellung zum Kohleausstieg aussehen könnte. Man würde sie auf wenige, vielleicht auch nur einen Standort konzentrieren, wo zusammengetragen, präsentiert und inszeniert würde, was die beteiligten Häuser beitragen könnten. Es wäre dies das Beste, Eindrucksvollste, nennen Sie es, wie Sie wollen. Die Realisierung einer solchen Schau, eines über die Grenzen der Region und des Landes weit hinausstrahlenden „Highlights“ könnte man vertrauensvoll bei den Ruhrkunstmuseen belassen, schließlich existiert dort eine gewaltige Menge kuratorischer Manpower. Und falls die es doch nicht auf den Pinn kriegten, könnte man auch einen Star der internationalen Kuratoren-Szene engagieren.

Die Vorteile für das Publikum liegen auf der Hand: ein einziger Ort (randvoll mit Kunst), nur eine Anreise, nur eine einfache Planung. Übrigens wäre der Zentralort auch unter ökologischen Aspekten einer Herumjuckelei im Kohleland vorzuziehen, auch jener mit dem nervigen ÖPNV.

Warum konkurrieren?

Doch das alles hätte viel Arbeit bedeutet, und viele gute Ideen und Entwürfe wären zwangsläufig im Papierkorb gelandet. Auch besteht bei einem solchen Großprojekt ja immer die Gefahr, daß andere den Lorbeer einheimsen, der eigentlich einem selbst zusteht. Warum also konkurrieren? So wie es jetzt ist, bleibt jeder sein eigener kleiner Museumsfürst. Das Volk kommt oder es kommt nicht (bei kleineren Häusern eher: nicht). Doch wenigstens dürfen die Besucher das Rad benutzen, Streckenpläne wurden ausgearbeitet.

Hier geht’s los: Die Standseilbahn im historischen Schrägaufzug der Kokerei Zollverein (Bild: Ruhrmuseum)

Zollverein lohnt sich

Um es nicht zu verschweigen: Eine große Ausstellung gibt es schon, nur dreht die sich eher um die wirtschaftlichen, technischen, sozialen, historischen usw. Aspekte des Kohlebergbaus. Sie heißt „Das Zeitalter der Kohle“ und ist in der Kokerei Zollverein in Essen untergebracht, in jenen imposant-schaurigen Baulichkeiten, wo schon die allererste Ausstellung „Sonne, Mond und Sterne“ das Kohle-Thema streifte, wo Andrea Breth tief verstörendes Theater inszenierte und Industriekultur und „Hochkultur“ (unter anderem in Gestalt der Ruhrtriennale) sich immer wieder auf das Eindrucksvollste begegnen. Mit einer Standseilbahn im Schrägaufzug kommt man hin, und sieht man einmal von der peinlichen Beschallung durch das Steigerlied im Eingangsbereich ab, ist diese Ausstellung durchaus überzeugend geraten. Der Eintritt kostet 10 Euro, und das Kombiticket der Kunstmuseen ist hier selbstverständlich nicht gültig.




Großes Theater und peinliches Scheitern – das zweite Wochenende bei den Ruhrfestspielen fiel durchwachsen aus

Warum er das getan hat, ist restlos nicht klar geworden. Ewald Palmetshofer, österreichischer Dramatiker der jüngeren Generation, hat sich Gerhart Hauptmanns Stück „Vor Sonnenaufgang“ vorgenommen und mit Aktualitäten angereichert. Kann man machen, ist auch nicht mißlungen, bringt aber auch keinen nennenswerten Erkenntnis-Zugewinn.

Szene aus „Barbarische Nächte“ (Foto: Nathalie_Sternalski / Ruhrfestspiele)

Thematisch geklammert wird der Gang der Handlung durch eine Schwangerschaft, die im Stück entlarvend wirkt und (natürlich, ist man fast geneigt zu sagen) mit einer Fehlgeburt endet, linke und rechte Positionen geraten gegeneinander, der Arzt bringt eine existentielle Dimension ins Spiel, zulässige und weniger zulässige Liebesbeziehungen entstehen, und auch die Klagen über die vertanen Chancen fehlen nicht. Dies kurz in Stichworten.

Begeisterndes Theater wie seit Jahren nicht

Die „deutsche Erstaufführung“ nach jenen in Basel (Uraufführung) und Österreich fand nun bei den Ruhrfestspielen statt, eine Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin, Regie: Jette Steckel. Und diese Produktion, warum lange drumherumreden, ist grandios!

Zweieinhalb Stunden fesselndes Schauspielertheater mit minimalen inszenatorischen Zutaten, sieht man einmal von der (auf der Bühne stehenden, nicht in ihr, wie sonst üblich, versenkten) Drehbühne ab, die sich während der gesamten zweieinhalb Stunden ohne Unterlaß langsam dreht (Bühne: Florian Lösche). Vorwiegend auf ihr (manchmal am Rand neben ihr) agieren die Darsteller, moderat, von der Regie gut geführt. Die permanenten Positionsveränderungen durch die sich drehende Bühne sind sinnhaft, ein paar Stühle reichen als Requisiten aus. Manchmal ein bißchen Musik, so viel Licht wie nötig, ansonsten aber, im besten Sinne: Schauspiel. Ein so begeisterndes Theater hat man seit Jahren nicht mehr gesehen.

Übrigens war die Baseler Inszenierung jetzt beim Mülheimer „Stücke“-Wettbewerb zu sehen. Völlig zu Recht fragt der geschätzte Kollege P. in der WAZ, mit welcher Berechtigung dies eigentlich geschah, ist doch die Substanz von „Vor Sonnenaufgang“ ganz unbestreitbar 100 Jahre alter Gerhart Hauptmann.

Wurzeln im Breakdance

Abgesehen vom Sonnenaufgang war das zweite Wochenende bei den Ruhrfestspielen allerdings eher durchwachsen. Die Compagnie Hervé Koubi, die im Marler Theater ihr Stück „Barbarische Nächte oder der erste Morgen der Welt“ (Les nuits barbares) zur Aufführung brachte, überzeugte athletisch weitaus mehr als mit der recht einfallslosen Choreographie. Tolle Sprünge, Heber, Kopfstände; die Ursprünge im Breakdance erkennt man noch, doch haben die jungen Männer auf der Bühne diese Anfänge schon weit hinter sich gelassen.

Bunt bemalte Witzfiguren

Absoluter Tiefpunkt dieses Wochenendes aber war „Die Präsidentin“, eine Produktion des Theaters Magdeburg mit Corinna Harfouch in der Titelrolle. Das Stück spielt mit der Vorstellung, die Kandidatin des Front National wäre französische Präsidentin geworden. Ein französisches Comic-Buch habe als Vorlage gedient. Was also folgt? Scharfe Analysen, emotionslos-kühles Weiterdenken nach Art des Herrn Houellebecq?

Was man tatsächlich zu sehen bekommt, ist das trashige Herumgemache bunt bemalter Witzfiguren, die sich um Posten streiten, Ausländer hassen, den Staatsbankrott herbeiführen und was nicht sonst noch alles. Einfallslos ist diese Darbietung bis über die Schmerzgrenze hinaus, ironiefrei und dumpf. Kindertheater, hätte man früher vielleicht gesagt, aber Kinder würden sich so etwas nicht bieten lassen, jedenfalls nicht zweieinhalb Stunden lang. Nur der Vollständigkeit halber sei es erwähnt: natürlich wird ausgiebig mit der Videokamera gefilmt, werden die Szenen mit den unerquicklich bunt angemalten Mimen überlebensgroß auf eine Leinwand über der Bühne oder auch auf die Bühne selbst projiziert – Theater mit ganz, ganz langem Castorf-Bart.

Corinna Harfouch als Präsidentin mit Krone und Entourage (Foto: Marcel Keller / Ruhrfestspiele)

Wie konnte die Harfouch nur!

Bald schon, hallo Königsdrama, ist auch die Präsidentin dran und wird abgelöst, doch das Stück ist dann noch lange nicht am Ende. Identitäre und Reichsbürger kommen nun (thematisch) zum Zuge, Antifeminismus und, wenn ich jetzt nicht irre, auch noch das eine oder andere Umweltthema und irgend etwas mit Finanzmärkten. Außerdem Putin und seine 5. Kolonne und die hohen Reproduktionsraten der Nordafrikaner, die die Angst vor „Umvolkung“ schüren.

In ihrer Besessenheit, nun aber auch wirklich jedes Bedrohungsthema noch unterzubringen, gehen dieser Produktion (Regie: Cornelia Crombholz) zum Ende hin auch die Positionen verloren, klingen manche Sätze wie der AfD-Werbung entlehnt, was aber sicherlich eher Ausdruck inszenatorischer Inkompetenz ist.

„Die Präsidentin“ – ein Ärgernis. Unverständlich bleibt, warum Corinna Harfouch, die längst bewiesen hat, daß sie eine grandiose Schauspielerin ist, sich für so etwas hergibt. Unvergeßlich ist sie mir noch immer als Martha in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ am Deutschen Theater. Und jetzt das.

Im Uhrzeigersinn von oben links: Nils, Till, Maja und Lina Beckmann – „die Spielkinder“ (Foto: Die Spielkinder / Ruhrfestspiele)

Die erfrischenden Beckmanns

Für einen versöhnlichen Ausgang dieser kleinen Wochenendbetrachtung sorgten schließlich „Die Spielkinder“, die vier Geschwister Beckmann auf der Sonntagsmatinee im ausverkauften großen Haus. Die Mädels Maja und Lina, sind wohl etwas fernseh- und bühnenbekannter als die Jungs Nils und Till, alle vier haben mit dem Theater zu tun. Als Gäste waren Charly Hübner, Jennifer Ewert und Sebastian Maier mit dabei.

In der gekonnt unperfekt dargebotenen szenischen Lesung kamen neben ein paar Albernheiten Texte von Ralf Rothmann zum Vortrag, Schule, Ohrfeigen, Pubertät, Schlaghosen – aber auch intensive Passagen über Sterben und Tod der Mutter. Erstaunlicherweise paßten sie in diese Veranstaltung recht gut hinein; das muß etwas mit dem familiären Zusammenhalt zu tun haben, mit jener Vertrautheit, die auch den Tod nicht ausblendet.

Wenn man ziemlich genau so alt ist wie Rothmann, ist es übrigens gleichsam ein V-Effekt, daß die Stories, die die Beckmannkinder vortragen und vorspielen, einem in der Grundierung bekannt vorkommen, die jungen Leute das aber auf keinen Fall erlebt haben können. Wenn sie sich die Geschichten trotzdem zu eigen machen und auf ihre Art erzählen, kann man sicher sein, keiner Nostalgieveranstaltung beizuwohnen. Bei den Beckmanns entsteht da Neues, das ist überaus vergnüglich.

So. Nächste große Produktion im Großen Haus ist „König Lear“ in der Regie von Claus Peymann.

www.ruhrfestspiele.de




Daniel Paul Schrebers Wahnvorstellungen – „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ in Bochum uraufgeführt

Raphaela Möst, Simin Soraya,  Therese Dörr, Veronika Nickl (v.l.)  (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Alle tragen sie zu Beginn hohe schwarze Zylinder. Doch bei vier Personen lugt unter dem Gehrock ein Damenkleid hervor. Eine Holzvertäfelung verheißt Gemütlichkeit, doch das eigentümliche Gebilde in Bühnenmitte, Konzertflügel ebenso wie Billardtisch, irritiert. Auf den zweiten Blick ist hier vieles nicht so, wie es sein sollte, auch die Beziehungen zwischen den Personen sind es schon bald nicht mehr. Wer ist hier Arzt, wer Patient? „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ ist das Stück betitelt, das nun im Bochumer Schauspiel seine Uraufführung erlebte.

Therese Dörr (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Acht Jahre in der Anstalt

Die „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, denen Stefan Wipplinger und Fabian Gerhardt (auch Regie) in Bochum eine dramatische Form geben, verfasste zwischen 1894 und 1902 der Psychiatriepatient Daniel Paul Schreber, während seines Aufenthaltes in der Anstalt Sonnenschein. Dieser zweite Psychiatrieaufenthalt währte lange acht Jahre. Vater des Patienten war übrigens der nicht unumstrittene Orthopäde und Begründer der Schrebergarten-Bewegung, Dr. Moritz Schreber.

Bis zu seiner erneuten Erkrankung war Schrebers Karriere steil nach oben verlaufen. Trotz eines sechsmonatigen Klinikaufenthaltes 1884/1885 war er 1893 zum Senatspräsidenten am Oberlandesgericht Dresden ernannt worden, zu Sachsens oberstem Richter mithin. Doch im Herbst desselben Jahres kehrte die Geisteskrankheit zurück, diesmal endgültig.

Strahlensystem und Nervenschwingungen

Schreber hörte Stimmen, stand durch ein Strahlensystem mit Gott in Verbindung, war der Überzeugung, dass Nervenschwingungen den Urgrund allen Seins bildeten und so fort. Sein Verdienst liegt darin, diesen Wahnideen in seinem 1903 veröffentlichten Text brillant und in sich schlüssig Ausdruck gegeben zu haben.

„Seit Freud und Lacan sind Daniel Paul Schreibers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken das meistzitierte und meistinterpretierte psychopathologische Zeugnis der abendländischen Psychiatriegeschichte“, ist dem Programmheft (in den Worten Martin Stingleins) zu entnehmen. Sigmund Freud, Elias Canetti und andere beschäftigten sich mit Schrebers Text.

Jürgen Hartmann, Raphael Möst, Therese Dörr, Günter Alt (v.l.) (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Auf der Bühne bleibt von dem komplexen Gedankengebäude des Kranken nicht gar so viel übrig. Das bühnentauglichste Motiv ist offenbar Schrebers Wunsch, eine Frau zu sein. Wegen seiner im gesamten Kosmos einmaligen Nähe zu Gott, so argumentiert er, müsse er in der Lage sein, den göttlichen Keim zu empfangen, um einen Erlöser zu gebären.

Siegmund Freud erkannte in Schrebers Paranoia „das Auftreten einer femininen (passiv homosexuellen) Wunschphantasie“. Zudem gab es mit dem Psychiater Dr. Paul Emil Flechsig neben Vater Schreber einen weiteren Mann im Leben des Patienten, auf den sich unterdrückte homosexuelle Wünsche gerichtet haben könnten.

Die Stimmen kann man nicht verbieten

Live-Musik – eher verhalten, suchend – spielt Michael Emanuel Bauer mal auf dem Flügel, mal auf dem Kinderklavier. Die mit Schnurrbärten und bunten Röcken absichtsvoll widersprüchlich gewandete Damenriege (Raphaela Möst, Simin Soraya, Therese Dörr, Veronika Nickl) bildet einen eindrucksvollen, facettenreichen polyphonen Chor der Stimmen, die gleichzeitig locken und verbieten, aber selten ruhig sind. Mal sind sie aber auch, gewandet als phantasievolle Flatterwesen, „Gott“ oder doch wenigstens die Verbindung zu ihm, mal tumbe Protokollanten, die alles aufschreiben, ohne es zu verstehen. Und mal auch vierfaches weibliches Alter Ego, das tun darf, was der Patient gern tun würde. Wie sie flirren und gurren und einfach oft nur lästig sind, geben sie den Qualen des armen Schreber bildhaft Ausdruck.

Günter Alt, Jürgen Hartmann, Simin Soraya (v.l.) (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Vielleicht könnte man ihnen vorwerfen, insgesamt gesehen zu lustig zu sein, zumal es für das Leiden kein adäquates Schauspiel gibt, sondern nur gut gesetzte Videobilder (Vincent Stefan). Andererseits tut der gemessen heitere Grundton dieser Inszenierung dem Stückverständnis gut; es reicht, das Leiden in einer Psychiatrie des 19. Jahrhunderts mit ihren Irrenwärtern und Kaltwasser-Schockbehandlungen, wie hier, nur anzudeuten.

Gediegene Konversation

Doktor und Patient, zwei Herren erkennbar aus besseren Kreisen, pflegen meist den gediegenen Konversationston. Der eine fragt, der andere weiß; immer wieder, ein Spiel, tauschen sie ihre Rollen, und einmal auch kreuzen sie die Klingen vor dem Billardtisch, die hier aber lediglich die Queues sind. Ein symbiotisches Verhältnis, in welchem man dem etwas fülligen Günter Alt den allmächtigen Psychiater eher abnimmt als dem schlankeren Jürgen Hartmann, der letztlich doch der Patient bleibt. Der war er schon gleich zu Beginn, als er sich dem Publikum vorstellte.

Trotz projizierter Kapitelüberschriften (wohl aus dem Originalbuch) ist die chronologische Struktur locker gehalten, wirkt die Darbietung über längere Strecken hin eher wie ein Tableau des Ungeheuerlichen, als wie ein Stufenmodell des Niedergangs. Dem Titelhelden, und das ist fraglos eine Qualität dieser Inszenierung, merkt man in all seiner Not doch auch an, dass er ein Kämpfer ist, ein systematischer Denker, ein schlauer Kopf, und sein Anderssein (vielleicht auch: seine Verrücktheit) nicht als Totalverlust ertragen will.

Könnte man ihm heute helfen?

Eindrucksvoll schließlich geriet das Bühnenbild Christian Wiehles, das neben sparsamer Möblierung von Fransenvorhängen geprägt ist, die gleichsam die Allgegenwart von unendlich vielen Nervenbahnen symbolisieren. Die Vorhänge ermöglichen der Damenriege sogar Andeutungen von „Show-Acts“, heiter wie sinnfällig.

Eine ernsthafte, neugierige Inszenierung ist Stefan Wipplinger und Fabian Gerhardt in Bochum gelungen. Vielleicht wäre es schön gewesen, aus heutiger Sicht eine Diagnose zu hören, vielleicht auch eine Antwort auf die Frage, ob und wie man diesem Patienten heute helfen könnte. Doch mit solchen Themenstellungen wäre es ein anderes Stück geworden. Für dieses Stück und seine präsent agierende Darstellerriege jedenfalls gab es lang anhaltenden, begeisterten Applaus.




„Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt – große Schauspielkunst bei den Ruhrfestspielen

Die 50er und 60er Jahre waren, wenn auch nicht unbedingt eine bleierne, so doch eine recht behäbige Zeit. Schnell hatte man es sich in Deutschland-West in einer funktionstüchtigen Demokratie bequem gemacht, erlebte ein Wirtschaftswunder, und die Parole „Dreigeteilt? Niemals!“ war allemal populärer als „Nie wieder!“ Nie wieder, nämlich: nie wieder Nazis, nie wieder Krieg – übersetzte sich im Alltag oft mit „Schwamm drüber“, was eben auch bedeutete: Die Hitlerei war ein Ausrutscher, der Krieg ein Fehler, soll nicht wieder vorkommen, wir sind jetzt Rechtsstaat.

Burghart Klaußner, Maria Happel (Foto: Reinhard Werner / Ruhrfestspiele)

Zivilgesellschaft

Einem unverstellten Beobachter und Denker wie Friedrich Dürrenmatt muß dieser bequeme Konsens mißfallen haben. Vielleicht ärgerte er sich zudem über die Selbstgerechtigkeit seiner Schweizer Landsleute nach dem Motto „Wir sind ja nicht dabeigewesen“. Im „Besuch der alten Dame“ (Uraufführung 1956 in Zürich) hat der Dichter (deshalb?) einmal durchgespielt, wie weit die Kraft der Zivilgesellschaft reicht. Und er hat recht plausibel vorgeführt, daß es damit nicht so weit her ist, wenn auf der anderen Seite Vorteile locken. So, meine ich, haben wir das Stück in meiner Schulzeit gelesen, mit einem eindeutigen Schwerpunkt bei der Korrumpierbarkeit der Menschen und beim moralischen Appell.

In diesem Jahr stehen die Ruhrfestspiele unter dem Motto „Heimat“. Eröffnungspremiere war Dürrenmatts Klassiker in einer Inszenierung des Intendanten Frank Hoffmann. Hoffmann hat das Stück nicht gewalttätig auf das Festspielmotto hin umgepolt, trotzdem stellt man als Zuschauer mit einer gewissen Verwunderung fest, daß die Fragen nach der Heimat bzw. dem Verlust derselben ihm eine unerwartete Aktualität verleihen.

Von links: Dietmar König (Lehrer), Michael Abendroth (Pfarrer/Helmesberger), Marcus Kiepe (Arzt/Hofbauer), Daniel Jesch (Polizist), Petra Morzé (Frau Ill), Roland Koch (Bürgermeister), Burghart Klaußner (Alfred Ill) (Foto: Reinhard Werner / Ruhrfestspiele)

Koproduktion mit Burgtheater

Die Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater bringt eine Reihe hervorragender Schauspielkünstler auf die Bühne, allen voran Maria Happel als Claire Zachanassian und Burghart Klaußner als ihren einstigen Liebhaber Alfred III, der sie, schwanger von ihm, damals ins Elend stürzte. Claire hat ihre Heimat vor Jahrzehnten schon verloren, Alfred verliert sie lange vor seinem physischen Tod, wenn die selbstverständliche Sicherheit im vertrauten Güllener Milieu wegbricht.

Der Konflikt, ein weiterer Aspekt, brauchte seinerseits eine Heimat, oder doch wenigstens eine Verortung. Was also, mag man sich fragen, ist Heimat dann eigentlich? Ist sie ein Ort der Sehnsucht, der Selbstvergewisserung, der Sicherheit oder, in dem Dramatiker Thomas Bernhard zugeschriebenen Worten, „dort, wo man sich aufhängt“?

Eine tragische Liebesgeschichte

Bei der Wiederbegegnung mit dem Stück im Recklinghäuser Festspielhaus wird überdies erkennbar, wie sehr „Der Besuch der alten Dame“ auch eine große, tragische Liebesgeschichte ist. Im brillanten Spiel von Happel und Klaußner wird klar, daß die Beziehung zwischen Claire und Alfred einmal eine Tiefe hatte, die Menschen, wenn überhaupt, nur einmal im Leben vergönnt ist. Es hat nicht sollen sein, und das ist tragisch.

Eigentlich wären die sentimentalen Erinnerungen der beiden also ein Grund zur Trauer, und man könnte fragen, warum Claire Zachanassian trotzdem so unerbittlich Rache fordert. Nun gut – um aus dem ganzen eine moralische Parabel zu machen, braucht es natürlich diese Härte, sonst könnten die Güllener ja was kungeln und das Stück würde nicht mehr funktionieren. Trotzdem wirkt der Dichter Dürrenmatt in seiner helvetischen Gemessenheit ein wenig auch wie ein literarisches Schlitzohr, das Freude am unterschwellig Absurden hat; Absurdes hatte in jenen Jahren, als die alte Dame erschien, bekanntlich Konjunktur. Aber da er ja auch ein literarischer Olympier ist, sind solche Unterstellungen natürlich ungehörig.

Von links: Marcus Kiepe (Arzt/Hofbauer), Michael Abendroth (Pfarrer/Helmesberger), Roland Koch (Bürgermeister), Dietmar König (Lehrer), Daniel Jesch (Polizist) (Foto: Reinhard Werner / Ruhrfestspiele)

Das Monströse bleibt monströs

Blendung, Kastration, Mord, Geld, Rache; Hoffmanns Inszenierung, die nicht zuletzt von etlichen starken Bühnenbildern lebt (Bühne: Ben Willikens, Kostüme: Susann Bieling) läßt das Monströse monströs und zeigt erfreulich wenig Interesse daran, aktuelle Bezüge gleichsam mit der Brechstange zu erschaffen – sieht man einmal davon ab, daß einige Ortsmarken des nördlichen Ruhrgebietes in den Text eingewoben wurden, was man sich hätte schenken können. So wie die Geschichte hier in zwei Stunden ohne Pause erzählt wird, ist sie rund und auch recht spannend. Und hoch moralisch natürlich überdies.

Verschwurbelte Endlosreden

Selten wirkte ein besseres Ensemble auf der Bühne der Ruhrfestspiele. Roland Koch sorgt als Bürgermeister, der so gern verschwurbelte Endlosreden hält, für Heiterkeit, Daniel Jesch ist ein Ortspolizist von bemerkenswerter Sportlichkeit, der auf Wunsch auch Liegestütz mit einem Arm vorführen kann. Hinreißend wirkt auf der Bühne eine Riege älterer Herren (Rolf Mautz in mehreren Gattenrollen, Hans Dieter Knebel als Butler, Michael Abendroth als Pfarrer), die getragene Burgschauspielerwürde atmen. Harald Retschitzegger, Franz Schöffthaler und Peter Nitsche sind die „falschen Zeugen“, Marcus Kiepe als Arzt und Petra Morzé als Alfreds Gattin Mathilde III schließlich komplettieren das vorzügliche Bühnenpersonal.

Es gab viel Applaus für das Stück und für Frank Hoffmanns Regiearbeit, die fraglos eine seiner besseren ist.

Hoffmanns  letztes Festival

Die Ruhrfestspiele 2018 sind die letzten des Luxemburger Theatermannes, der überdies seit vielen Jahren Direktor des dortigen Nationaltheaters ist. Wie berichtet, übergibt er den Stab an Olaf Kröck. 14 Jahre hat Hoffmann das Festival geleitet, das nach der einjährigen Intendanz Frank Castorfs wirtschaftlich mächtig ins Trudeln geraten war. Hoffmann war und ist ein exzellenter Kulturmanager, der mit seinen Programmen, das kann man sicherlich so sagen, den Geschmack des Ruhrfestspielepublikums recht gut traf und von Anfang an schwarze Zahlen schrieb. Aber noch ist es für eine Verabschiedung zu früh; das geschieht erst auf einer feierlichen Gala Mitte Juli.

  • Keine weiteren Termine in Recklinghausen
  • Premiere im Wiener Burgtheater am 26. Mai 2018



15 Episoden erzählen von der Liebe – „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ von Joel Pommerat in Münster

Das Ensemble: Ulrike Knobloch, Sandra Bezler, Gerhard Mohr, Ilja Harjes, Wilhelm Schlotterer, Carola von Seckendorff, Regine Andratschke, Andrea Spicher  (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Groß ist der Bühnenraum, fast leer und in ungemütliches helles Licht getaucht. In der Mitte steht eine Frau, die erklärt, warum sie die Scheidung will. Im Zuschauerraum verteilte Darsteller stellen peinliche Verhörfragen, warum erst jetzt, warum überhaupt. Doch die Frau wankt nicht, weil da keine Liebe ist, geht schließlich ohne erkennbare Erregung ab. „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ heißt das Stück von Joel Pommerat, das Beziehungsthemen in unterschiedlichsten Spielarten so lapidar zelebriert und das jetzt in Münster Premiere hatte.

Bizarr und alltäglich

Da platzt eine Hochzeit, weil die Schwester der Braut ebenfalls Ansprüche auf den Bräutigam anmeldet, da hören Nachbarin und Nachbar hilflos zu, wie ihre Partner es heftig miteinander treiben (oder woher kommen die Geräusche?), da gibt eine Prostituierte sich zum Nulltarif hin, weil sie an die Liebe glaubt.

15 Episoden zählt das Programmheft auf, die Pommerat in seinem Stück eher unvermittelt aneinanderreiht und in denen er Partnerbeziehungen beschreibt, die mal bizarr sind, mal aber auch von frappierender Alltäglichkeit. So, wenn Paare am Ende sind und der eine vom anderen zurückfordert, was er ihm gegeben habe, emotional. Der andere versteht das gar nicht, alles bleibt im Vagen, beim schwulen Paar ebenso wie bei den beiden Frauen.

Episode „Hochzeit“; Szene mit Regine Andratschke, Ulrike Knobloch, Ilja Harjes, Sandra Bezler, Andrea Spicher (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Mit Korea hat das Stück nichts zu tun, mit Liebe viel. Der Titel ist lediglich ein Zitat aus einer Episode, der Versuch, die Großartigkeit einer ersehnten wie unerfüllbaren Liebe zu erklären. So großartig sei sie, wie – eben – „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“.

Mit der Säge

Graue Plastikstühle sind fast die einzigen Requisiten (Bühne: Sylvia Rieger). Einmal allerdings kommt der Spezialtisch eines Magiers ins Spiel, auf dem er sich anschickt, eine Frau zu zersägen. Die Episode nimmt eine unerwartete Entwicklung, als die Dame sagt, sie halte es für möglich, vom Magier im Zustand der Bewusstlosigkeit vergewaltigt worden zu sein, was sie allerdings in der Erinnerung sehr schön finde und gerne wiederholen würde. Der Magier, dessen empörte Leugnung in rhetorischer Absurdität verpuffen muss, schafft es anschließend nicht mehr, die Frau zu zersägen. Schließlich hat sie die Säge in der Hand – ein putziges Stück Machtumverteilung, auf das man erstmal kommen muss. „Liebestrank“ ist die Episode überschrieben.

Episode „Liebestrank“; Szene mit Christian Bo Salle, Sandra Bezler (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Ein wenig Musik

In Münster baut Regisseurin Anne Bader weitgehend auf die Vorlage, lässt die Episoden auf der Bühne allerdings szenisch ineinanderfließen, so dass sich keine harten Schnitte ergeben. Nur einmal geht das Licht aus, aber da handelt es sich um einen Stromausfall im Stück, der zum Gebrauch von Taschenlampen zwingt, was zur Entdeckung eines Erhenkten führt.

Rhythmische, melodische und trotzdem irgendwie beunruhigende leise Musik liegt unter dem Bühnengeschehen, manchmal tanzen Protagonisten; im Tanz, so scheint es, finden sie die Harmonie, den Gleichklang, die ihnen das wirkliche Leben vorenthält. Wiederholt greift Ilja Harjes in die Saiten seiner Elektrogitarre und stimmt schmachtende Liebeslieder aus dem amerikanischen Repertoire an, die man kennt und mehr oder weniger auch versteht. Manchmal singen die Personen auf der Bühne mit, doch bleibt Live-Musik hier ein zurückhaltendes Bühnenelement, das ein wenig strukturiert und akzentuiert, ohne sich in den Vordergrund zu schieben.

Episode „Schwanger“; Szene mit Christian Bo Salle, Andrea Spicher(Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Erschütternd intensiv

Diese Inszenierung, die gänzlich ohne Video, ohne Projektionen, ohne dramatische Lichtsetzung auskommt, setzt voll und ganz auf die solide agierenden 10 Schauspielerinnen und Schauspieler aus dem Münsteraner Ensemble, die die namenlos bleibenden Personen in den Episoden geben (Regine Andratschke, Sandra Bezler, Joachim Foerster, Ilja Harjes, Ulrike Knobloch, Gerhard Mohr, Christian Bo Salle, Wilhelm Schlotterer und Carola von Seckendorff).

In besonderer Erinnerung bleibt Andrea Spicher in der letzten Episode „Schwanger“. Hier gibt sie eine geistig zurückgebliebene Heiminsassin, die geschwängert wurde und das Kind nicht, wie in früheren Fällen, abtreiben lassen will. Sie liebt, sagt sie, den Kindsvater und will mit ihm ein neues Leben beginnen. Verliebtheit, Verzweiflung, Glück, Trotz – all das spielt Andrea Spicher bis in feine Gesten und Posen hinein mit erschütternder Intensität. Das begeisterte Publikum bedachte sie dafür mit einem deutlichen Mehr an Applaus.




Abgründige Liebesgeschichten einer Dienstmagd – Marlena Keil als „Zerline“ im Theater Dortmund

Wenn das Publikum den Raum betritt, steht sie schon da: Marlena Keil, Rock und Bluse unvorteilhaft eng. Schließlich stellt sie sich vor. Sie sei die alte Magd Zerline, die beim verstorbenen Herrn Baron und seiner Gattin in Diensten war und einst eine leidenschaftliche Affäre hatte.

Marlena Keil als Magd Zerline (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Der schneidige Herr von Juna

Es sei eine, wenn man so will, vertrackte Vierecksgeschichte zwischen dem schneidigen Herrn von Juna, der Baronin, einer weiteren, weitgehend ungezeichnet bleibenden Geliebten von Junas und eben ihr, Zerline, gewesen. Das Kind Hildegard sei aus dieser Beziehung hervorgegangen, das die Baronin zu ihrem machte. Und Zerline weiß, daß das Kind ein Bastard ist und erzählt dies und alles andere mit grimmiger Genugtuung. Betrug und Selbstbetrug prägten die Geschehnisse, einen ungeklärten Todesfall gab es sogar, die unbekannte Geliebte des Herrn von Juna starb unter rätselhaften Umständen. Doch der Prozeß verlief im Sande.

Täter und Opfer

Dies und mehr, ungeheure Dinge, erzählt Zerline in ihrem kurzweiligen Monolog, der übrigens dem Roman „Die Schuldlosen“ von Hermann Broch entstammt und schon mehrfach dramatisiert wurde.

Ob Zerline selber eher Täter oder Opfer war, ob sie für das Geschehen überhaupt „wichtig“ war, klärt sich trotz offenkundiger Verpeiltheit der Protagonistin nicht gänzlich. Einerseits war sie, das süße Zimmermädchen, gewiß kaum mehr als eine kleine Entspannung für den noblen Herrn von Juna; andererseits wußte Zerline auch damals schon um die Wirksamkeit von Intrige und Denunziation. Etwas kriminell war sie auch; und gewiß war es ein Fehler, ihr, der Beteiligten, das Kleinkind Hildegard zu überlassen.

Marlena Keil als Magd Zerline (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Diplominszenierung

Zerlines Monolog verlangt der Darstellerin viel ab, viel Durchdringung, viele Positionswechsel innerhalb ihrer Rolle. Um so bemerkenswerter ist der mutige Entschluß Marlena Keils, dieses dichte Stück Theater zu ihrer Diplominszenierung zu machen. Mit ihm schloß sie 2012 am Wiener Max-Reinhardt-Seminar ab, und zu sehen war sie mit der Produktion (Regie und Bühne: Matthias Rippert), die jetzt in den Dortmunder Spielplan aufgenommen wurde, auch schon im Pumpenhaus Münster. Seit der Spielzeit 2015/2016 ist Marlena Keil fest im Ensemble des Schauspiels Dortmund engagiert.

Etwas Heiterkeit

Daß dieser Soloabend sozusagen eine Diplomarbeit ist, steht im Programmheft, sonst hätte man es nicht gemerkt. Der Spannungsbogen wird souverän gehalten, die Einbettung in ein Rahmenhandlungsmotiv – die Begegnung mit dem immer müden Untermieter Herrn Andreas, dem Zerline ihr Herz ausschüttet – ist fein gewichtet. Ein, wo die Geschichte es zuläßt, pointenreicher Vortrag und zwei, drei zappelige Slapstickeinlagen sorgen für das nötige Quentchen Heiterkeit, ohne das tragische Geschichten nur schlecht funktionieren würden.

Ohne Überspielen

Marlena Keil gibt ihre Zerline intensiv, ohne zu überspielen, und mit großer Suggestion. Erstaunt stellt man fest, daß einem ein auf den ersten Blick so ferner, abgedrehter Stoff durchaus Vergnügen bereiten kann, wenn er so gegeben wird wie hier. Viel liebevoller Applaus.

 




Parallelwelt, Schwanensee, Taubensuppe – Theater Dortmund stellt sein Programm für die kommende Spielzeit vor

Auch wenn es auf diesem Foto nicht so scheint – im Dortmunder Opernhaus tobt in der kommenden Spielzeit wieder das Leben (Foto: Philip Lethen / Theater Dortmund)

Gabriel Feltz fehlte. Ein wichtiger Termin auf dem Balkan hinderte den Orchesterchef  daran, an der Programmpressekonferenz des Theaters Dortmund teilzunehmen. Doch Feltz hatte ein sehr nettes Video mit Musikumrahmung vorbereitet, in dem er seine Pläne schilderte. „Krieg und Frieden“ sei das Leitthema des Orchesters in der kommenden Spielzeit, verkündete er, und deshalb gelangt nun viel Musik zur Aufführung, die auf die eine oder andere Weise damit zu tun hat – von Beethovens „Eroica“ bis zu Schostakowitschs „Leningrader“.

Thorsten Schmidt und Philip Pelzer in „Tschick“. Das Stück wird auch in der Spielzeit 2018/2019 im Kinder- und Jugendtheater gespielt (Foto: Birgit Hupfelf/Theater Dortmund)

Konzert zu „Panzerkreuzer Potemkin“

Die Reihe Wiener Klassik macht die europäischen Metropolen Wien, Paris und Berlin zu Themenschwerpunkten der einzelnen Abende und bedient so das Thema ganz mustergültig, weil Metropolen immer mit Krieg und Frieden zu tun haben. Start ist in „Wien“ am 3. Dezember 2018 mit Beethovens „Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria op. 91“, immerhin.

Ansonsten im Programm: schöne Sonderkonzerte, unter denen das Stummfilmkonzert „Panzerkreuzer Potemkin“ (26.3.2019) besonders auffällt, Kammerkonzerte, Familienkonzerte, Babykonzerte („Maxi“ und „Mini“). Es findet sich alles im einwandfrei strukturierten Programmbuch und im Netz, deshalb erspare ich mir hier das Aufzählen der weiteren Highlights und Merkwürdigkeiten.

Auslastung nahe an 80 Prozent

Das Orchester habe zahlreiche Gastspiele in fernen Landen absolviert, Mahler und Rachmaninow seien jetzt gänzlich eingespielt, die 80-Prozent-Marke bei der Auslastung sei so gut wie erreicht. Als Feltz in Dortmund anfing, erinnert er sich, lag die Marke bei 65 Prozent. Da kann man schon stolz sein.

Das Ballett plant wieder zwei Premieren. Zum einen gibt sich Chef Xin Peng Wang an Dantes Göttliche Komödie und inszeniert im ersten Teil „Inferno“. Bis 2021 soll jedes Jahr ein weiteres Teilstück hinzukommen (Musik von Michael Gordon und Kate Moore, Uraufführung Samstag, 3.11.2018).

Die zweite Premiere ist wieder ein Gemeinschaftswerk dreier Choreographen. Douglas Lee, Jacopo Godani und Wubkje Kuindersma haben „Visionen“ (erstmalig am 9.3.2019).

Wiederaufnahme des Balletts: „Alice“ (Foto: Theater Dortmund)

„Alice“ bleibt

„Schwanensee“, in Xin Peng Wangs Einrichtung erstmalig 2012 in Dortmund zu sehen, ist ebenso bei den Wiederaufnahmen wie „Alice“ nach Lewis Carrolls „Alice’s Adventures in Wonderland“, ein Ballett von Mauro Bigonzetti mit Musik der Gruppe Assurd. Zwei internationale Ballettgalas sind für Mitte Oktober 2018 und Juli 2019 eingeplant. Außerdem, in Stichworten: Sommerakademie, Seniorentanztheater, Open Classes und etwas Drumherum.

„Echnaton“ von Philip Glass

In der Oper „Aida“, Der Barbier von Sevilla“, „Das Land des Lächelns“, „Turandot“ und (immerhin) „Echnaton“ von Philip Glass. Regie und Choreographie bei „Echnaton“ führt Demis Volpi, und es steht zu hoffen, daß ihm Besseres gelingt als Laura Scozzi in Bonn mit ihrer verunglückten Verlagerung des Stoffes in eine Schulklasse mit submotivierten Pubertierenden.

Neben den erwähnten unverwüstlichen Ohrwürmern findet sich mit „MusiCircus“ nach John Cage oder „Fin de partie – Endspiel“ von György Kurtág auch Experimentelles im Spielplan, doch ist so etwas wie ein Stil des Hauses nicht recht erkennbar. Anders als sein Vorgänger Jens Daniel Herzog inszeniert der neue Intendant Heribert Germeshausen nicht selber, sondern plant in großen Würfen. Die Oper werde sich zukünftig in die Stadtgesellschaft öffnen, sagt er, und ab 2020 stehe Wagner verstärkt im Fokus. Von 2021 bis 2024 soll ein kompletter „Ring“ neu entstehen.

Neue Ästhetik im Sprechtheater?

Im Sprechtheater arbeitet Schauspielchef Kay Voges an einer Koproduktion mit dem Berliner Ensemble, Titel „Die Parallelwelt“. Das Projekt, erläutert er, basiere auf der Grundkonstellation, daß an zwei Orten zur gleichen Zeit zwei identische Aufführungen stattfinden. Und daß diese miteinander, via Glasfaserkabel und Videokunst, miteinander in Verbindung treten. Nach dem Weggang Claus Peymanns steht der neue Intendant des Berliner Ensembles, Oliver Reese, solchen experimentellen Projekten positiv gegenüber. Man darf also gespannt sein, ob es beim technischen Spiel bleibt oder ob mit seiner Hilfe eine neue Ästhetik, neue Kunst mithin, erwächst.

Das Schauspiel zeigt weiterhin „Das Internat“. Bild mit Ensemble und Studenten der Folkwang UniversitäŠt der KŸünste (Foto: Birgit Hupfeld  /Theater Dortmund)

Horror – frei ab 18

Jörg Buttgereit, „der Papst des deutschen Horrors“ (O-Ton Voges), setzt mit dem Stück „Im Studio hört Dich niemand schreien“ zu neuen Schandtaten an, und sicherheitshalber hat das Theater hinter diese Ankündigung schon mal den „ab 18 Jahren“-Vermerk geschrieben. Eine „Hedda Gabler“ sticht ins Auge, die der Regisseur Jan Friedrich im Studio zur Aufführung bringen will, ebenso ein Stück des Dortmunder Sprechchores, in dem es „über Fußball und heimliches Begehren“ geht. Genauer gesagt geht es in „Echte Liebe“ um Homosexualität, die im Fußball nach wie vor kaum akzeptiert wird.

Viele Wiederaufnahmen

Diverse größere und kleinere Sachen stehen in der Ankündigung, einige noch etwas unfertig, daneben etliche Wiederaufnahmen: „Das Internat“, „Biedermann und die Brandstifter/Fahrenheit 451“, „Der Theatermacher“, „Die Show“, „Zerline“, „Der Kirschgarten“, „Endspiel“, „4.48 Psychose“ und weitere.

Gerburg Jahnke führt Regie

Ja und dann ist da Gerburg Jahnke, die man vielleicht noch als eine Hälfte der „Missfits“ in Erinnerung hat, die treffsicheres Frauenkabarett macht und regelmäßig auch Regie führt. Jetzt tut sie das in Dortmund, im Stück „Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte“. Das Stück entstand nach dem gleichnamigen Roman von Anna Basener und beschreibt launig das Aufeinandertreffen der hippen Nichte aus Berlin, die eine vielversprechende, aber erfolglose Designerin von Damenschlüpfern ist, mit – eben – Oma, die einen Großteil ihres Erwerbslebens als Puffmutter verbrachte. Die Musik macht, wie in vielen anderen Produktionen auch, Tommy Finke, und den Kostümverantwortlichen, wenngleich er schon lange im Geschäft ist, muß man einfach seines „märchenhaften“ Namens wegen einmal wieder nennen: Michael Sieberock-Serafimowitsch, die Bühne gestaltet er auch.

Anke Zillich wechselt vom Schauspielhaus Bochum an das Theater Dortmund (Foto: Schauspielhaus Bochum)

Abiturstoff im Kinder- und Jugendtheater

Das Kinder- und Jugendtheater (KJT) schließlich tritt mit acht Premieren an, von denen zwei – „Fast Faust“ nach Goethe und „Der Sandmann“ nach einer Erzählung von E.T.A. Hoffmann – demnächst auch Abiturstoff sein sollen. Alle Produktionen sind präzise auf Altersgruppen zugeschnitten, was durchaus auch als künstlerische Herausforderung gesehen werden muß.

„Cinderella“ ist das neue Weihnachtsmärchen (ab 6 Jahren). Als Autor zeichnet KJT-Chef Andreas Gruhn selbst, und er bediente sich der Vorlage Charles Perraults. Uraufführung ist am 15. November, glücklicherweise jetzt wieder im renovierten Schauspielhaus, wo hoffentlich genug Platz für die erwarteten Besucherscharen sein wird.

Weitere Programminfos, noch einmal sei es gesagt, stehen im dicken Programmbuch. Lediglich eine Personalie sei noch erwähnt: Schauspielerin Anke Zillich wechselt vom Bochumer Schauspielhaus nach Dortmund. Fraglos eine Bereicherung des Ensembles.

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Ruhrtriennale in „Zwischenzeiten“ – die neue Intendantin Stefanie Carp präsentiert ihr Programm

Zu den Eigentümlichkeiten der Ruhrtriennale gehört der radikale Stabwechsel, also der alle drei Jahre fällige Übergang von einer Intendanz zur nächsten. Da sitzen dann plötzlich vier fünf, neue Gestalten auf dem Podium, die alten sind weg und finden auch keinerlei Erwähnung mehr. Außerdem ändert sich das Graphik-Design alle drei Jahre so grundlegend, daß man glatt glauben könnte, einer Stunde Null beizuwohnen.

Die Intendantin und ihr Künstler: Stefanie Carp und Christoph Marthaler (Foto: Edi Szekely/Ruhrtriennale)

Beigeordneter Künstler Marthaler

Nun also saßen Stefanie Carp und Christoph Marthaler auf der Bank. Stefanie Carp, wir berichteten, ist die neue Intendantin, Christoph Marthaler „Artiste associé“, also sozusagen der beigeordnete Künstler. Im wirklichen Leben war es meistens umgekehrt, war Frau Carp Dramaturgin bei Marthaler, doch nun ist es an ihr, wichtige Worte zu sprechen. Von rasend schnell sich verändernden Lebensumständen raunt sie, von Verteilungskriegen und unvorstellbarer Grausamkeit, welche Gesellschaften und Kulturen zerstöre. Und weil das nicht lange gutgehen kann und die Forderungen der Geknechteten nach Beteiligung, Gleichheit und Freiheit eine Frage des zivilisierten Lebens seien und deshalb nicht mehr lange überhört werden könnten, befänden wir uns, bis es so weit ist, in einer „Zwischenzeit“.

Zwischenzeit? Klingt eindrucksvoll, stimmt irgendwie immer – war der Frau Intendantin dann aber wohl doch zu wuchtig, als daß sie es in Leuchtbuchstaben über ihr Festival geschrieben hätte. Aus der Zwischenzeit wurden lediglich einige Zwischenzeilen im Programmheft, was dem konkreten Angebot wohl auch eher entspricht.

Choreographin Sasha Waltz (Foto: André Rival/Ruhrtriennale)

Unvollständiges Universum

Der erste Eindruck vom neuen Programm ist, sagen wir mal, guter Durchschnitt. Namen, die nicht nur der Fachwelt ein Begriff sind, finden sich kaum. Aber immerhin gibt es zwei Produktionen von Marthaler zu hören und zu sehen, und erstmalig, man glaubt es kaum, ist die in der Tat berühmte Berliner Choreographin Sasha Waltz bei der Ruhrtriennale zu Gast.

Marthaler, um mit ihm zu beginnen, hat aus der unvollendeten „Universe Symphony“ des amerikanischen Komponisten Charles Ives (1875-1954) die auf jeden Fall durch schieren Aufwand beeindruckende Musiktheater-Kreation „Universe, Incomplete“ geschaffen. Ab 17. August wird sie das Publikum in der Bochumer Jahrhunderthalle dazu einladen, „aus einer entfernten Zukunft auf unser jetziges Leben zurückzublicken“ (O-Ton Programmankündigung). Anna Viebrock sorgt für das Bühnenbild, Titus Engel dirigiert die Bochumer Symphoniker, und fraglos wird dies die gewichtigste Veranstaltung der Triennale 2018 sein.

Warum Schauspiel?

Außerdem gibt es von Christoph Marthaler „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ zu sehen, sein Abgesang auf die Berliner Volksbühne, wo er lange zur künstlerischen Community Frank Castorfs zählte. „Bekannte Gefühle…“ ist ein wunderschöner, lyrischer, leiser, präziser Marthaler, ein Stück, in dem gesungen wird und Choreographie eine große Rolle spielt und das einen berührt, ohne daß man sagen könnte, worum genau es eigentlich geht. Stichworte wie Abschied, Abschied von der Volksbühne, Abschied von den Idealen der Revolution, Selbstvergewisserung und so fort geben da nur Hinweise.

Kelly Cooper und Pavol Liska vom Nature Theater of Oklahoma (Foto: Ditz Fejer/Ruhrtriennale)

Stadt im Dschungel

Erstaunlicherweise läuft dieser zweite, überaus hybride Marthaler in der Abteilung „Schauspiel“, was nur deshalb geht (systematisch betrachtet), weil es „richtiges“ Schauspiel bei dieser Triennale gar nicht gibt. „Diamante. Die Geschichte einer Free Private City“ des Argentiniers Mariano Pensotti etwa wird als sechsstündiges Theaterereignis angekündigt, für das der Regisseur einen Teil der Privatstadt Diamante nachgebaut hat, welche vor 100 Jahren von einem anthroposophisch orientierten deutschen Industriellen mitten im argentinischen Dschungel errichtet wurde. Die Zuschauer sollen den Ort selbst erkunden und selbst herausfinden, warum diese sozial-kapitalistische Utopie scheiterte.

Off-off-off-Broadway

Ganz tief im Westen, in der Gladbecker Maschinenhalle Zweckel, darf möglicherweise gelacht werden. Hier hat sich nämlich die Off-off-off-Broadwaygruppe „Nature Theater of Oklahoma“ aus New York mit ihrem Stück „No President. A Story Ballet of Enlightment in Two Immoral Acts“ angekündigt. Inhalt: Zwei Sicherheitsfirmen haben arbeitslose Schauspieler bzw. Ballett-Tänzer als Mitarbeiter rekrutiert, die nun zu den Klängen von Tschaikowskis „Nußknacker“ ihrer Arbeit nachgehen. Was das genau werden wird, ist nicht ganz klar; jedenfalls werden derzeit noch Tänzerinnen und Tänzer im Ruhrgebiet gecastet. Und das ganze läuft, wie gesagt, als Theater.

Schorsch Kamerun gentrifiziert die Dortmunder Nordstadt (Foto: Michel-Bo-Michel/Ruhrtriennale)

Nordstadt gentrifiziert

Jetzt kommt Dortmund ins Spiel, der problematische Norden, genauer gesagt, dem der Künstler Schorsch Kamerun die Entwicklung zum Trendquartier andichtet. Resultat seiner Bemühungen ist ein begehbares Filmset mitten in der Nordstadt – „mit Live-Soundtrack, echten Anwohner*innen und gefakten Kulissen“. Jede Aufführung endet mit einem Konzert im hippen „Club Kohleausstieg“. Klingt gut.

Am ehesten noch Schauspiel, doch, doch, wir sind immer noch in dieser Fachabteilung, mag wohl „The Factory“ von und mit den beiden Syrern Mohammad Al Attar und Omar Abussada sein. In dem Stück geht es um die profitable französische Zementfabrik Lafarge in Syrien, die während des Krieges ungehindert weiterarbeitete, weil Schmiergeld an den IS floß.

Wanderungsbewegungen

Größere Produktionen des Musiktheaters, die bisher unerwähnt blieben, sind „The Head and the Load“ von William Kentridge in der Kraftzentrale Duisburg und „Das Floß der Medusa“ von Hans Werner Henze in der Jahrhunderthalle. Erstgenannte Produktion befaßt sich mit der Rolle Afrikas im Ersten Weltkrieg, mit rund zwei Millionen Afrikanern, die in Europa kämpfen mußten. Ganz ähnlich gilt Henzes Oratorium als Metapher für die Unterdrückung der „Dritten Welt“, und als es 1968 (!) uraufgeführt werden sollte, kam es zu Tumulten. Die werden wohl ausbleiben, wenn jetzt Steven Sloane die Bochumer Symphoniker dirigiert und Chorwerk Ruhr, Zürcher Sing-Akademie und Knabenchor der Chorakademie Dortmund die Stimmen erheben.

Szene aus „The Head And The Load“ (Foto: Stella Olivier/Ruhrtriennale)

Zwischenformen

Ein paar Namen noch aus der Musikabteilung: Laurie Anderson wird in der Lichtburg Essen auftreten, das Ensemble Modern der britischen Komponistin Rebecca Saunders mit einem Konzert im Salzlager auf Zollverein huldigen. In der Turbinenhalle Bochum wird der amerikanische Multiinstrumentalist Elliott Sharp unter dem Titel „Filiseti Mekidesi (In Search of Sanctuary)“ „eine raumgreifende Zwischenform aus Oper und Installation, die eine Brücke zum visionären Fragment der ,universalen Symphonie’ von Charles Ives schlägt“ realisieren.

Choreographie ohne Begrenzung

Ach ja, Sasha Waltz. Die Produktion in der Bochumer Jahrhunderthalle heißt „Exodos“. Das Wort, entnehmen wir der Programminformation, bedeutet im Griechischen sowohl Flucht als auch Nacht- und Partyleben, und auf den Theater heißt es Verlassen der Bühne. Mit dieser Bedeutungsvielfalt will die Berliner Choreographin die gewaltigen Bochumer Räumlichkeiten beseelen, von einer „Choreographie ohne Bühnenabgrenzung“ ist zu lesen. Und ein bißchen hat das alles auch mit „Wanderungsbewegungen“ zu tun, wie die meisten anderen Stücke in der Abteilung Choreographie. Weitere, weniger bekannte Tanzkompagnien kommen aus Burkina Faso, Kapstadt und von den Kapverden.

Zum Schluß Mauricio Kagel

Es gibt eine junge Triennale und einige Installationen, von denen das im Bau befindliche Flugzeug vor der Jahrhunderthalle wohl am beeindruckendsten sein wird. Am Schluß dann noch einmal Chorwerk Ruhr. Der Klangkörper will Mauricio Kagels (1931-2008) „Chorbuch“ zu Gehör bringen, was nicht einfach sein soll. Singen mit geschlossenem Mund oder mit „Babystimmen“ so ist zu hören, zählten da noch zu den einfacheren Aufgaben.

Viel zu hören, viel zu sehen- und im Programm steht noch einiges mehr als das, was hier Erwähnung finden konnte. Viel gute Kunst, gar keine Frage; doch will auch das Gefühl nicht weichen, nur mehr vom immer Ähnlichen serviert zu bekommen. Gewiß ist es noch zu früh für finale Wertungen. Halten wir es also mit Franz Beckenbauer und schauen wir mal.




Suche nach dem sicheren Ort: „Maxim“ von „Stücke“-Gewinnerin Anne Lepper für Kinder ab 9 in Dortmund

Das Bett ist zum Expreßballon geworden. Szene mit (von links) Philip Pelzer, Ann-Kathrin Hinz, Andreas Ksienzyk und Rainer Kleinespel (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Das Stück heißt „Maxim“ und ist jetzt im Dortmunder Kinder- und Jugendtheater uraufgeführt worden. Geschrieben hat es Anne Lepper, und weil sie im letzten Jahr in Mülheim mit ihrem („Erwachsenen“)-Stück „Mädchen in Not“ den Stücke-Wettbewerb gewonnen hat, war von Interesse, wie nun ihr erstes Kinderstück (für Kinder ab 9 Jahre) geworden ist.

Mobbing und Anderssein

Mehrere Zeitungs- und Rundfunkkritiker hatten sich eingefunden, und überhaupt saßen mehr Erwachsene als Kinder im Zuschauerraum – ein Umstand, der im Kinder- und Jugendtheater nachdenklich stimmt. Möglicherweise waren besonders viele Lehrer zugegen, die prüfen wollten, ob das Stück für ihre Klassen geeignet sein könnte. Man sollte gelegentlich mal nachfragen.

Das Stück dreht sich, ganz grob beschrieben, um Mobbing und Anderssein, um Autonomie und Akzeptanz, um die Macht der Phantasie. Handlungsgang, Bezüge und Personen sind, für die pädagogische Arbeit wohl, stark und eindeutig gezeichnet, das Geschehen schreitet forsch voran, Langeweile kommt in den rund 70 Minuten Spielzeit nicht auf.

Sie sind die Mondelfen: Bettina Zobel, Bianka Lammert und Johanna Weißert (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Mit Fußtritten

Die Dortmunder Inszenierung des Hausherrn Andreas Gruhn kommt brutal zur Sache. Auf dem Schulhof wird Mary-Lou (Ann-Kathrin Hinz) von den anderen mit Fußtritten malträtiert, selbst noch, als sie schon auf dem Boden liegt. Es ist nicht das erste Mal. Mary-Lou ist angeblich zu dick und gehört deshalb nicht dazu.

Auch Max (Philip Pelzer) gehört nicht dazu, weil er immer noch mit Puppen spielt. Die anderen wenden sich von ihm ab, trotz seiner leckeren Salamibrote. Max beschließt die Flucht zum Mond, im Expreßballon, zusammen mit Bär und Hund (Andreas Ksienzyk und Rainer Kleinespel). Denn der Mond ist angeblich repressionsfrei. Auch Mary-Lou kommt mit, doch muß sie zunächst einmal die Vorurteile der drei anderen gegen dicke Mädchen niederkämpfen („Dicke Mädchen wollen immer Blumen geschenkt haben“).

Mond ist auch keine Lösung

Auf dem Mond verheißen die Mondelfen (Bianka Lammert, Johanna Weißert, und Bettina Zobel) völlige Freiheit, doch die Mondpolizei (Thorsten Schmidt) trachtet den Neuankömmlingen nach dem Leben, weshalb sie im letzten Augenblick zur Sonne flüchten. Die ist aber auch nicht begeistert und außerdem sehr, sehr heiß. In letzter Konsequenz bleibt nichts als die gute alte Erde, wo jeder Mensch das Recht hat, so zu sein, wie er eben ist. „Was wir bräuchten, wäre Liebe“,sagt der weise Bär.

Das magische Bühnengeschehen ist sinnhaft mit Pop-Musik von David Bowie („Space Oddity“, „Starman“), Hubert Kah (Sternenhimmel“) und anderen angereichert worden, die die Stimmungen und Sehnsüchte der Personen spiegelt und verstärkt. Bemerkenswert ist der selbstverständliche Einsatz englischer Song-Texte, die unübersetzt bleiben. Können die Kinder in dem Alter schon so viel Englisch? Vielleicht die falsche Frage.

Mary-Lou tanzt; Szene mit (von links) Rainer Kleinespel, Philip Pelzer, Ann-Kathrin Hinz, Andreas Ksienzyk, Bianka Lammert, Johanna Weißert, Bettina Zobel (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Mäßig originell

Alles im grünen Bereich; höchstens hätte man von einer „Stücke“-Preisträgerin etwas mehr Originalität erwartet, als hier an der Dortmunder Sckellstraße sichtbar wird. Auf einen neuen Stoff nach Art Wolfgang Herrndorfs hatten manche gehofft, eine Geschichte à la „Tschick“ für die etwas Jüngeren. Das wäre einfach schön gewesen, auch wenn dieser kritische Einwurf letztlich unzulässig ist, weil „Maxim“ für Kinder geschrieben wurde und sich deren Problemen mit großer Redlichkeit nähert. Sei’s drum.

Tanz ist Freiheit

Es wird viel getanzt auf der Bühne mit ihren drei großen Ballons und der anspruchsvollen Videoprojektion (Ausstattung: Oliver Kostecka, Video und Sound: Peter Kirschke, Choreographie: Joeri Burger). Tanz ist Freiheit, wer tanzt, ist bei sich selbst, eine Botschaft, die wohl auch über den recht konkreten Rahmen dieses Stücks hinausgeht. Und wenn Hund und Bär mit ihren ungelenken Stofftier-Riesenfüßen herumstapfen, ist das auch ausgesprochen lustig.

Bemerkenswert schließlich ist der Programmzettel, der in einigen Stichworten auf das Stück eingeht und auch noch ein kleines Glossar mit möglicherweise nicht bekannten Begriffen liefert, „Epidemie“, „zivilisiert“, „Regression“… . Sogar die „Heteronomie“ hat es bis auf die Liste geschafft, als Gegensatz zur Autonomie. Ganz schön anspruchsvoll, für Kinder ab 9.

Der lange, kräftige Schlußapplaus galt nicht zuletzt den acht Darstellerinnen und Darstellern, die in bis zu drei Rollen auf der Bühne standen, spielten, tanzten. Konzentration und eine im besten Sinne angemessene Ernsthaftigkeit prägten ihrer aller Spiel ebenso wie eine geradezu ansteckende Spielfreude.

  • Nächste Termine: 2., 3., 6. Mai, 4., 5. Juli.
  • https://www.theaterdo.de/detail/event/18822/

 




Ein Herz für die Sammlung und eine Absage an Blockbuster – Peter Gorschlüter wird neuer Direktor des Folkwang-Museums

Peter Gorschlüter (geb. 1974 in Mainz) wird der neue Direktor des Essener Folkwang-Museums. Bis er kommt, dauert es allerdings noch etwas. Sein Vertrag mit dem Museum für moderne Kunst (MMK) in Frankfurt endet erst Mitte 2018. Gorschlüters anschließender Essener Vertrag soll über acht Jahre laufen, und man darf gespannt sein, ob er es hier so lange aushält.

Peter Gorschlüter wird zum 1. Juli Direktor des Essener Folkwang-Museums.(Foto: rp)

Gorschlüters Vorgänger waren schneller wieder weg; Hubertus Gassner zog es 2006 nach nur vier Jahren in die Hamburger Kunsthalle, Hartwig Fischer, wiewohl erster Chef im neuen Chipperfield-Gebäude, verließ Essen nach sechs Jahren in Richtung Dresden (dann London), Tobia Bezzola wechselte jetzt nach fünf Jahren gen Lugano, um sich dort dem Aufbau des Museo d’arte della Svizzera italiana zu widmen.

Überstürzter Abschied

Zwar war in den letzten Jahren manchmal zu hören, daß es Tobia Bezzola in Essen nicht wirklich gut gefiele, trotzdem kam sein vorzeitiger Abgang etwas überraschend, zumal seine Leistungsbilanz sich sehen lassen kann. Man denke etwa an die Ausstellung des Fotografen Thomas Struth, an die deutschlandweit erste Präsentation der edlen zeitgenössischen Sammlung François Pinaults oder die Lagerfeld-Schau. Auch die Entscheidung der Krupp-Stiftung, fünf Jahre lang freien Eintritt in die Folkwang-Sammlung zu finanzieren, fiel in Bezzolas Amtszeit. Die Absage der Balthus-Ausstellung wegen des vehement erhobenen Pädophilie-Vorwurfs gegen Künstler und Werk im Jahr 2013 wiederum kann sicherlich nicht als Ausdruck persönlichen Scheiterns des Museumsdirektors gesehen werden.

Andrea Bezzolas Ausstellungen hatten Strahlkraft

Bezzola weiß um die Bedeutung großer Veranstaltungen für ein großes Haus, um deren Strahlkraft und Attraktivität. Es muß ja nicht gleich ein „Blockbuster“ sein wie vor 17 Jahren die Turner-Schau. Die wäre heutzutage, ohne potente Sponsoren und angesichts immer höherer Versicherungsprämien, sowieso nicht mehr vorstellbar.

Gorschlüter jedoch hält von Blockbustern wenig, er nennt sie nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen möchte er andere Formen der Museumsarbeit erschließen, die er im Pressegspräch kurz umriß. So strebt er „Interdisziplinäre Ausstellungsformate“ an, die Kunst etwa mit Mode, Musik oder Theater verbinden sollen. Mit „gemeinsamen Themenschwerpunkten“ möchte er unterschiedliche Teile der Sammlung neu präsentieren, „Vergangenheit und Zukunft“ oder „Utopie und Dystopie“ wären vorstellbare Überschriften. Auch zahlreiche Aspekte des Riesenthemas „Großstadt“ böten sich an.

Kooperieren und kartographieren

Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt, so Gorschlüter, könnten Kooperationen mit Künstlern aus anderen Disziplinen sein. In Liverpool zum Beispiel, einer seiner früheren Wirkungsstätten, arbeitete der neue Folkwang-Chef mit Carol Ann Duffy zusammen, der Hofdichterin der Queen immerhin.

Die Sammlung möchte Gorschlüter „neu kartographieren“, aufs Neue sozusagen fragen nach den Beziehungen zu anderen Kulturen, zu bisher unberücksichtigten Impulsen. Dies sei ein lohnender Ansatz auch für eine gewachsene Sammlung.

Schließlich geht es Gorschlüter um den Dialog des Museums mit der Stadtgesellschaft. Das Museum solle sich durchaus stärker in Richtung Innenstadt bewegen, gerne auch performativ.

100 Jahre Folkwang – ein trauriger Tag für Hagener

Das konkreteste Projekt der vor ihm liegenden Amtszeit indes ist definitiv für das Jahr 2022 vorgesehen. Da wird das Essener Folkwang-Museum nämlich 100 Jahre alt. „Ich denke daran, das Museum dann in die Stadt zu bringen“, sagt Gorschlüter.

Sollen sie feiern, die Essener, es sei ihnen gegönnt. Weiter östlich im Revier wird das Fest gemischte Gefühle auslösen, markiert es doch den Verlust der einzigartigen Osthaus-Sammlung für die Stadt Hagen. Tröstlich ist da lediglich das Wissen, daß das Essener Folkwang-Museum mit der Osthaus-Sammlung gut umgegangen ist und dies, da sind wir ganz sicher, auch in Zukunft tun wird. Gorschlüter zeigt sich der Osthaus-Tradition bewußt und strebt (auch) deshalb eine enge Kooperation mit dem Fotoarchiv Marburg an, wo im Jahre 1933, was aber kaum einer weiß, das Fotoarchiv von Karl-Ernst-Osthaus verblieb.

Gern auf Augenhöhe mit Ludwig und MoMA

Tja. Um mal kurz persönlich zu werden: Ich hätte nichts gegen einige Ausstellungen, die bundesweit oder auch in den Nachbarländern wahrgenommen würden und Folkwang zumindest zeitweise auf Augenhöhe mit Ludwig in Köln oder Gropius in Berlin brächten (oder MoMA in New York oder Centre Pompidou in Paris usw.).

Es wäre schon sehr schön, wenn man Finanzierungsmöglichkeiten fände, um die eine oder andere große, „wandernde“ Schau nach Essen zu holen; es wäre auch sehr gut für die Wahrnehmung all dessen, was Folkwang überdies zu bieten hat, allem voran natürlich die eigene Sammlung. Die starke Fokussierung der Museumsarbeit auf den Eigenbestand, die in den programmatischen Äußerungen Gorschlüters anklang, kann hingegen zu einem Bedeutungsverlust des Hauses führen.

Kuratoren gesucht

Doch man soll nicht unken. Der neue Mann muß sich noch etwas sortieren für seinen neuen Job, „ein halbes Jahr Findung – die Zeit braucht es“ sagt er selbst. Und dann schauen wir mal.

Wichtig ist natürlich auch, daß bald neue Leute für die beiden anderen Vakanzen im Folkwang-Museum gefunden werden. Nach dem Weggang von Florian Ebner wird ein neuer Kurator für die fotografische Sammlung gesucht, ebenso einer für die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts.




„Memory Alpha“ und „Schöpfung“ – digitale Überlegenheit und die Schönheit des Gehirns im Dortmunder Theater

Hirn, Schöpfung, Erinnerung, digitale Zukunft – mit großer Anstrengung arbeitet sich das Dortmunder Theater in seinen jüngsten Produktionen an den allerletzten Menschheitsfragen ab, die hier nicht mehr jenseitiges Sein oder Jüngstes Gericht zum Thema haben, sondern die Existenz in der Informationsgesellschaft, mit all ihren Ungeheuerlichkeiten, vielleicht aber auch Chancen und Verheißungen.

Nach Unfall im Schlüpfer: Institutsleiter Dr. Gerd Stein (Uwe Schmieder) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Großes Rad

Den Anfang machte am Freitag das Stück „Memory Alpha oder Die Zeit der Augenzeugen“ von Anne-Kathrin Schulz auf der Studiobühne. Am nächsten Tag folgte im Großen Haus eine „Schöpfung“, die in der Tat Joseph Haydns Oratorium (samt Text) mit einer Art Handlung verbindet, inklusive ein machtvoller, aber doch etwas unvermittelter Monolog zum Ende hin. Fraglos drehen sie hier das ganz große Rad. Oder sagen wir lieber: Der Versuch ist erkennbar.

Totalüberwachung

„Memory Alpha“ ist etwa zehn Minuten länger als „Schöpfung“, und in den gut 100 Minuten Spielzeit läßt Anne Kathrin Schulz ihre vier Darsteller eine Menge von dem vortragen, vorspielen, was auf dem großen Themenfeld zwischen Autonomie, Manipulierbarkeit und vorgeblich freier Forschung derzeit so alles zu erzählen wäre.

Da gibt es natürlich die Chinesen, die der Totalüberwachung durch ihre Regierung freudig entgegensehen, da gibt es Forschungen, die Menschen falsche Erinnerungen einpflanzen, welche sie in der Folge zu falschen, möglicherweise gar kriminellen Handlungen verleiten werden, da gibt es einige Wenige, die HSAM haben und deshalb gegen solche Manipulationen immun sind (HSAM, der Begriff taucht auch im Bühnenbild auf, steht für Highly Superautobiographical Memory und bezeichnet Menschen mit ausgeprägtem episodischem Erinnerungsvermögen, die gleichsam jeden Tag ihres Lebens im Format eins zu eins zu memorieren vermögen).

Gedächtnisforscherin Prof. Johanna Kleinert (Friederike Tiefenbacher), Proband Sebastian Grünfeld (Christian Freund) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

So viele Verknüpfungen

Wäre der kriminelle Datendeal bei Facebook schon auf dem Markt gewesen, als Schulz ihr Stück schrieb, hätte er sicherlich auch gebührende Erwähnung im Stück gefunden (Spekulation). Kurz: Hirn und Digitalität sind in den falschen Händen saugefährlich und deshalb müssen wir alle achtsam sein. Weil das menschliche Gehirn doch so einzigartig ist, und so schön, mit seinen Milliarden von neuronalen Verknüpfungen, die nirgendwo sonst in der Natur so eng und komplex sind.

Tödlicher Autounfall

Es ist an Friederike Tiefenbacher, die Schönheiten des Gehirns in einer Art Prolog zu preisen. Ihre Ansprache leitet über in den Handlungsteil des Stücks, denn tatsächlich gibt es hier eine Handlung, oder doch zumindest die Andeutung davon. In dieser Handlung ist Frau Tiefenbacher die Gedächtnisforscherin Prof. Johanne Kleinert, die traurig zu vernehmen hat, daß ihr Chef bei einem Autounfall in Brüssel ums Leben gekommen ist, „zwischen Borke und Stoßstange“.

Uwe Schmieder, bekleidet lediglich mit einer Unterhose, gibt den Institutsleiter Dr. Gerd Stein, der nun gefälligst ins Totenreich zu wechseln hat, das aber gar nicht will. Also hält er eine flammende Rede, dieselbe, die er auch schon erfolgreich vor dem Europaparlament gehalten hat und in der er einen Großteil dessen, was dem Stück ja offenbar ein Anliegen ist, vor Fachpublikum referierte. Hütet euch vor Manipulationen, könnte man den Kern seiner Botschaft umreißen – und vielleicht haben seine Appelle finstere Mächte bewogen, ihm nach dem Leben zu trachten. Vielleicht war es aber auch einfach nur Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort usw.

Ensemble (v.l.): Uwe Schmieder, Christian Freund, Friederike Tiefenbacher, Caroline Hanke vor der Videowand von Julia Gründer  (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Herrlich aufgedreht

Die anderen beiden Mitspieler sind Caroline Hanke als HSAM-Expertin und Christian Freund als Proband 42, der bei den Erinnerungsversuchen Streß macht und einen Hund umgebracht haben soll. Wenn die Erinnerung nicht täuscht.

Das durchgängig präsente Spiel dieser Darstellerriege, vor allem das des herrlich aufgedrehten Uwe Schmieder unter seiner putzigen Glatzenperücke, bereitet großes Vergnügen und sorgt passagenweise für Heiterkeit.

Mit der Botschaft des Abends indes tun wir uns schwer. Vieles, was Darstellerinnen und Darsteller aufsagen müssen, ist eifrig mitgeschriebenes Wissenschafts-Feuilleton, Internetweisheit, Biologieunterricht und alles in allem recht wohlfeil. Wenn Frau Tiefenbacher ihren Prolog über die Wunderbarkeit des menschlichen Gehirns am Schluß, wenig variiert, noch einmal aufsagt, so wirkt dies trotz untadeliger Vortragskunst deshalb eher wie ein unentschlossener Versuch nachlaufender Sinnstiftung.

Eindrucksvolle Videotechnik

In besonderer, guter Erinnerung bleibt die im Grunde leere Bühne (Susanne Friebe) mit ihrer bemerkenswerten Decken- und Rückwandkonstruktion aus 36 bzw. neun in etwa quadratmetergroßen Projektionsflächen in einem solide wirkenden Holzgestell. Hier tauchen – sinnhaft und maßvoll gesetzt – Bilder auf: Köpfe, Dortmunder Stadtlandschaften, unvergeßliche Katastrophenszenen (Breitscheidplatz, Lady Dis Unfall, 9/11 etc.). Das Programmheft nennt Julia Gründer für die Videotechnik und Lucas Pleß für „Engineering“, was immer damit gemeint sei.

„Die Schöpfung“, ganz am Anfang (v.l.): Bjöšrn Gabriel, Uwe Rohbeck, Bettina Lieder, Ekkehard Frey, Frank Genser, Marlena Keil  (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Aus der Tiefe

Die „Schöpfung“ bot am nächsten Abend noch etwas mehr für Auge und Ohr, und einmal mehr sei der Freude darüber Ausdruck verliehen, daß das Dortmunder Theater wieder in einem funktionierenden Haus spielen kann.

Langsam hebt die Technik aus dem Bühnenboden eine Menschengruppe empor (Bühne: Andreas Auerbach), den Chor und die Sänger, wie bald schon deutlich wird. Sängerin und Sänger – Maria Helgath (Sopran), Ulrich Cordes (Tenor) und Robin Grunwald (Baß) – werden ihrem Haydn weitestgehend treu bleiben, indes wird Pianistin Petra Riesenweber an der elektronischen Orgel ab und zu auch die undankbare Aufgabe haben, den Gang der Schöpfung mit mißlichen Rhythmen zu stören. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß der naturgemäß nicht immer verständliche Text bei alledem sorgfältig über die Bühne projiziert wird.

Ulkige Nummer

Der Chor (also die Schauspieler) nun ist „die Schöpfung“, und da es während der Schöpfung bis zur Individualisierung der Geschöpfe ja einige Tage dauert, ist er zunächst quasi amorphe Masse. Claudia Bauer (Regie) macht eine ulkige Nummer daraus, wenn sich die Chormitglieder gegenseitig als „Schöpfung“ vorstellen.

Ensemble im Video (oben) und in der Video-Kiste (links), rechts (sitzend) die Sänger (v.l.) Ulrich Cordes, Maria Helgath, Robin Grunwald. Am Piano sitzt Petra Riesenweber, die musikalische Leitung hat T.D. Finck von Finckenstein. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Überhaupt finden sich die Damen und Herren der Schöpfung – Ekkehard Feye, Björn Gabriel, Franke Genser, Marlena Keil, Bettina Lieder und Uwe Rohbeck – immer wieder zu putzigen Konstellationen zusammen, die wir leider jedoch, zunächst jedenfalls, nur auf der Videoleinwand sehen (Video: Tobias Hoeft). Tatsächlich finden sie in einer Art Holzhütte auf der Drehbühne statt, doch die hat nach vorne hin nur zwei Bullaugen. Später allerdings sind doch direkte seitliche Einblicke möglich, immerhin.

Eva digital

Nun ja. Der Herr schöpft und schöpft, und schließlich hat er den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen, der aber erstaunlicherweise, es muß etwas Zeit vergangen sein, auf eine Computerfrau trifft. Die ist zwar nett, aber eben nur digital, auf jeden Fall jedoch: überlegen. Und das liegt daran, daß bei der Schöpfung so viele Pannen passiert sind und die Krone der Schöpfung nichts weniger ist als dies. Bettina Lieder erklärt es ihrem unglücklichen Adam und dem Publikum in einem ausführlichen Video, und da dieses „hybride“ (Programmankündigung) Stück aus Theater und Musik „unter Verwendung von Szenen aus ,Die Ermüdeten’ von Bernhard Studlar“ entstand, wollen wir ihr die Zwangsläufigkeit der Dinge einmal glauben.

Unterhaltsam

Was auf jeden Fall in guter Erinnerung bleibt, sind einige schöne Bühnenbilder ohne Video, etliche kongeniale Regieideen und zu Herzen gehender Gesang, der die elektronische Verstärkung via Mikroports gewiß nicht nötig gehabt hätte. Kurz, der Theaterabend war unterhaltsam und vergnüglich. Viel freundlicher Applaus für Sänger und Ensemble.

  • “Memory Alpha“. Termine: 13.4., 4. und 20.5., 2. und 22.6., 4. und 12.7.
  • “Schöpfung“. Termine: 13. und 29.4., 20.5., 2. und 22.6., 4. und 12.7.
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Wie sag ich’s meinem Publikum? – Dortmunder Annäherungsversuche an Bernhards „Theatermacher“

Theatermacher Bruscon (Andreas Beck, links) und Wirt (Uwe Rohbeck) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kay Voges, Dortmunder Schauspielchef, hat Thomas Bernhards grandioses Stück „Der Theatermacher“ wohl nicht gänzlich ironiefrei ausgesucht, um sich mit einer Inszenierung im renovierten Dortmunder Schauspielhaus zurückzumelden.

Der schwergewichtige Andreas Beck spielt die Titelrolle, Uwe Rohbeck ist sein quirliger Widerpart, im Textbuch nur „der Wirt“ geheißen. Und natürlich nicht brav von Anfang bis Ende nach Vorlage auf die Bretter gestellt, sondern, nun ja, bearbeitet.

Andreas Beck als Theaterdespot

Doch hält diese Produktion dem Sprachberserker Bernhard bemerkenswert lange Zeit die Treue. Mit Verve und Besessenheit wütet Beck sich durch die redundanten Obsessionen des Theatermachers Bruscon, schwadroniert das Blaue vom Himmel herunter, verletzt und entwertet Frau und Kinder (sein einziges Ensemble), verlangt nach Frittatensuppe, erregt sich über die nicht vorhandene Genehmigung des örtlichen Feuerwehrchefs zum Lichtabschalten, und so fort. Sein Stück „Das Rad der Geschichte“ ist monströs, seine Wahnvorstellungen von der Inszenierung sind es, und daß die ganze Welt monströs ist, wer wollte daran zweifeln.

Der unverwechselbare Stil Thomas Bernhards, der oft durch Verflechtung und vielfache Wiederholung thematischer Stränge gekennzeichnet ist, durch ein zorniges Anrennen gegen die Widernisse dieser Welt, das außer Erschöpfung keinerlei Resultate zeitigt, findet im „Theatermacher“ eine seiner schönsten Ausprägungen, und vielleicht, das aber ist Spekulation, darf Andreas Beck auch deshalb so lange den „altbekannten“ Bruscon geben. So lange, bis ihm – in Bernhards Text, in einer Anwandlung ungeschminkter Erkenntnis – Zweifel an sich selbst und seinem Tun kommen. Nun aber donnert’s, und das Spiel bricht ab.

Nach Rollentausch und Kleiderwechsel gibt Uwe Rohbeck den Theatermacher Buscon. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Wo bleibt der Zeitbezug?

Und wieder stürmt Bruscon aus dem Zuschauerraum auf die Bühne, und das Spiel beginnt von vorne. Doch alles geht schneller; von nun an scheint die Frage im Mittelpunkt zu stehen, was man heutzutage aus diesem Stück machen sollte, 34 Jahre nach der Uraufführung. Es sind dies offenbar Fragen, die um Konflikt, Gewichtung, Moral, Ästhetik, Deutung, Vermittlung usw., aber auch um Ausstattung, Kurzweil und Spaßfaktor kreisen und die in der Tat gerade bei einem Autor wie Thomas Bernhard, der mit starkem Zeitbezug schrieb, unausweichlich sind. Aus diesem Grund ist es wohl auch, wenngleich mit Bedauern, hinzunehmen, daß in der Dortmunder Einrichtung Österreich gegen Westfalen getauscht wurde und Bernhards ätzende Heimatkritik harmlosen Westfalen-Späßen weichen mußte. Doch das Publikum lacht, wenn es von Bruscons Gastspiel in Hörde hört.

Rollentausch zum Donnerwetter

Der zweite Durchgang arbeitet sich – bei gleicher Rollenverteilung – anscheinend etwas stärker an Textmarken wie „Blutwursttag“, „Erna kommt“ oder „Gastronomie“ voran. Dann – Donnergewitter wiederum – tauschen Beck und Rohbeck Rollen, Oberbekleidung und Lockenperücke (Kostüme: Mona Ulrich). Der kleine Alerte ist nun wütender Theatermacher und der Massige in sich ruhende Wurstigkeit, erstaunlicherweise mit norddeutschem Akzent. Der erschließt sich ebenso wenig wie Rohbecks tuntige Attitüde, wenn er doch in längeren Passagen die gänzliche Unzulänglichkeit der Gattin (Janine Kreß) beklagt. Ist aber egal, einige im Publikum haben auch an so etwas ihren Spaß.

Familienaufstellung mit (von links) Xenia Snagowski, Andreas Beck, Uwe Rohbeck, Christian Freund und Janine Kreß. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Von Webber bis Hitler

In weiteren Durchgängen werden sozusagen die Gewichtungen der Rollen im Stück getauscht, werden mal die Kinder (Christian Freund und Xenia Snagowski) zu Theatertyrannen, mal die beiden Frauen. Mal nimmt das Bühnengeschehen die Gestalt eines Andrew Lloyd-Webber- Musicals an, mal die eines sehr lauten Punk-Acts.

Schließlich geben die Damen mit typischem Lippenbärtchen, Schirmmütze und schwarzem Tutu noch den Adolf Hitler, und ganz am Schluß darf Andreas Beck/Bruscon, arg derangiert auf einem Tische liegend, die Seinen flehentlich bitten, einmal lieb miteinander zu sein. Der Mann hat ja so recht. Aber Trost und Frieden sind bei Thomas Bernhard ausgeschlossen. Das Leben, das Theater und die ganze schreckliche Welt mit Krieg und Nazis und Katholizismus sind für ihn nur in endloser rhetorischer Wiederholungsschleife zu ertragen, wenn überhaupt. So gesehen offenbaren Becks flehentliche Schlußworte tiefes Textverständnis.

„Der Theatermacher“ in der Punk/Hitler-Version mit (von links und kaum zu erkennen) Uwe Rohbeck, Xenia Snagowski, Andreas Beck, Janina Kreß und Christian Freund. Die Video-Art ist von Mario Simon und Tobias Hoeft. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kunstfeindliche Orte

Die musikalischen Anreicherungen dieses Theaterabends stammen wieder einmal von T. D. Finck von Finckenstein und fügen sich gut in ein Konzept der unterschiedlichen Annäherungen ein.

Das Bühnenbild von Daniel Roskamp zeigt in Dortmund nicht den abgeranzten Festsaal eines glanzlosen österreichischen Landgasthofes mit Hitler-Portrait an der Wand, sondern eher einen Rohbau mit vielen roten Feuerlöschern, der an die temporäre Ausweichspielstätte „Megastore“ im Industriegebiet denken läßt. Kunstfeindliche Orte sind sie alle beide, könnte man vielleicht deuten, vielleicht auch einfach erschauerndes Erinnern nach den Zumutungen des langen Theaterumbaus herauslesen.

Das „Rad der Geschichte“ übrigens wird tatsächlich einmal hereinrollt. Es ist ein Stück Kulisse und hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Logo der „alten“ Berliner Volksbühne, die nach der Verrentung des Intendanten Frank Castorf gnadenlos und radikal abgewickelt wurde. Spekulationen über die Bedeutung der Räder, über Vermessenheiten auf der einen oder anderen Seite erspare ich mir an dieser Stelle.

Eindruck von Unentschlossenheit

Man verläßt das Theater mit gemischten Gefühlen. Die Sinnhaftigkeit dieser Reihung verschiedener Annäherungen an den „Theatermacher“ will sich letztlich nicht recht erschließen. Es bleibt ein Eindruck von Unentschlossenheit. Doch dem Publikum gefiel es, im restlos ausverkauften Großen Haus. Nicht erst am Ende, sondern in einigen Szenen schon spendete es der tadellos und mit großem Körpereinsatz aufspielenden fünfköpfigen Darstellerriege reichen Applaus.

  • Termine: 11., 14., 15. April, 6. Mai, 7., 24. Juni, 6., 13. Juli
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„Unterwerfung“ – Gert Becker setzt Houellebecqs Roman am Westfälischen Landestheater in Szene

Unterwerfung unter die Religion verheißt vollkommenes Glück; Szene aus dem Stück. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Wahlen im Frankreich des Jahres 2022. Der rechtsextreme Front National ist wieder die mit Abstand stärkste politische Kraft geworden, die Machtübernahme droht. Um sie zu verhindern, schließen sich Sozialisten und Muslim-Bruderschaft unter Führung des charismatischen Mohammed Ben Abbes zusammen und bilden eine Regierung. Frankreich wird islamische Republik. Und dann? In seinem Roman „Unterwerfung“ spinnt Michel Houellebecq, einer der bekanntesten und, wie man vielleicht sagen könnte, eigenwilligsten zeitgenössischen Schriftsteller Frankreichs, den Handlungsstrang weiter.

Buch erschien am Tag des Terrors

„Unterwerfung“ wurde schnell als skandalös gebrandmarkt, hat sich irrsinnig gut verkauft und diente mehrfach schon als Vorlage für Theaterstücke. Schlagartige Bekanntheit erlangte das Buch „Unterwerfung“ im Jahr 2015 allerdings auch dadurch, dass es zufällig am selben Tag auf den Markt kam, an dem die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris von Islamisten überfallen und 12 Menschen, fast die ganze Redaktion, ermordet wurden. Jetzt gibt es auch eine Bühnenfassung im Westfälischen Landestheaters in Castrop-Rauxel zu sehen.

Den Titelhelden und Ich-Erzähler François gibt es vierfach (von links): Franziska Ferrari, Burghard Braun, Maximilian von Ulardt und Mario Thomanek (Foto: Volker Beushausen/WLT)

François ist nicht glücklich

Literaturwissenschaftler François ist Hauptperson und Ich-Erzähler in „Unterwerfung“. Nach bürgerlichen Maßstäben ist er erfolgreich, hat es zum Professor einer Elite-Universität gebracht und es überdies geschafft, alle seine Lehrveranstaltungen auf einen einzigen Tag in der Woche zu legen. Jedes Jahr beginnt er ein neues Verhältnis mit einer Studentin, das jedes Mal zuverlässig mit den Sommerferien endet. Zufrieden stimmt ihn dies alles nicht, Überdruss und Einsamkeit bedrücken ihn. Und sicherlich liegt man nicht falsch, wenn man in diesem François nicht nur die wirklichkeitsnahe Karikatur eines französischen Intellektuellen, sondern auch ein Alter Ego des Autors Houellebecq zu erkennen glaubt, der mit vorgeblicher Unlust an den politischen Verhältnissen beobachtende Distanz wahrt.

Gar nicht so abwegig

Es ist unerhört! In einem „Gottesstaat“ Frankreich, mit Scharia und Polygamie, fühlt François sich deutlich wohler, zumal seine Bezüge gesichert sind und er als Wissenschaftler unerwartete Anerkennung erfährt. Und wer bei dieser Geschichte, deren Gang hier ja nur angedeutet werden kann, „Skandal“ schreit, ist unterschwellig vielleicht auch alarmiert von der Vorstellung, dass all diese klugen, kühlen Houellebecq-Gedanken so abwegig gar nicht sind.

François leidet auf dem Sofa vierfach unter  Fußproblemen (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Im Westfälischen Landestheater, in der Inszenierung von Gert Becker, gibt es François gleich vierfach, gespielt von Maximilian von Ulardt, Mario Thomanek, Burghard Braun und Franziska Ferrari. Alle sind sie Ich-Erzähler, und Becker hat den Monolog sinnhaft so unter ihnen verteilt, dass häufig der Eindruck von Dialogen entsteht. Wenn es um das Thema Frauen geht, um die Geringschätzung, die François ihnen entgegenbringt, kommt naheliegenderweise oft die Schauspielerin zum Zuge; die Männer indes verkörpern nicht unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale. Jeder ist François, wenn er einen Schlips trägt.

Verführbare Eliten

Um den Islam, das wird schnell deutlich, geht es in diesem Stück erst in zweiter Linie. Schon deshalb ist der Vorwurf der Islamophobie, gegen Houellebecq hier und da erhoben, nicht sehr sinnvoll. Die Geschichte zielt eher auf Eliten, die allzu schnell bereit sind, westliche Werte, Aufklärung, Liberalität, Freiheit, was auch immer, für persönliche Vorteile zu opfern. Und möglicherweise empfinden auch Intellektuelle Glücksgefühle bei der völligen Unterwerfung unter die Religion, zumal dann, wenn sie mit erheblichen Wohltaten verbunden ist. Der Titel legt den Schluss nahe. Das Stück ist verstörend, zurückhaltend ausgedrückt.

Verstörend und unterhaltsam

Mario Thomanek ist immer François, die anderen drei Darsteller schlüpfen hin und wieder auch in andere Rollen. So ist Burghard Braun auch mal ein launiger Geheimdienstler, und als ebenso klarsichtiger wie zynischer Verführer Rediger zeigt er fast schon diabolische Intensität. Maximilian von Ulardts Figuren wiederum – er spielt den stets bestens informierten Kollegen Lempereur und die Universitätspräsidentin Marie-Françoise – geraten in ihren pantomimischen Passagen etwas zu klamaukig und passen eher ins Kindertheater als zu diesem nicht ganz jugendfreien Abend. Franziska Ferrari schließlich gefällt insbesondere als Aurélie, als (noch nicht so ganz) abgelegte Einjahresfreundin, deren abendlicher Besuch das sexuelle Elend des Protagoisten einmal mehr offenbart.

Einzige Kulisse ist bei alledem ein überdimensionales Sofa, auf dem alle vier Akteure Platz finden. Hier spielt man sitzend, liegend, stehend, auch davor einige Male, mit großem körperlichen Einsatz über die fast zwei Stunden Spielzeit hinweg. Die karge Bühne bietet dem Auge naturgemäß nicht viel, aber der Konzentration auf Houellebecqs unerhörtes Phantasiegebäude tut sie gut. Und sie hat ihren nicht kleinen Anteil daran, dass Gert Becker mit seiner „Unterwerfung“ ein überzeugendes, verstörendes, durchaus aber auch unterhaltsames Stück Theater gelungen ist. Herzlicher, anhaltender Applaus.

  • Weitere Termine:
  • 23.2. Castrop-Rauxel, Stadthalle
  • 2.3. Bocholt, Städtisches Bühnenhaus
  • 10.3. Sulingen, Stadttheater im Gymnasium
  • 19.3. Minden, Stadttheater
  • 20.3. Warendorf, Theater
  • 15.4. Brilon, Kolpinghaus
  • 23.5. Wolfenbüttel, Lessingtheater

Infos:
http://westfaelisches-landestheater.de/repertoire/++/produktion_id/1494/




Gruselig und wie gemalt – Theater Dortmund zeigt „Das Internat“ von Ersan Mondtag in eindrucksvoller Kulisse

(Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Das Bühnenbild ist beeindruckend. Da steht, so muß man wirklich sagen, eine machtvolle Ritterburg auf der Drehbühne, ein gruseliges gotisches Gemäuer mit Playmobil-Anklängen. Im bildbeherrschenden unteren Bereich ein Schlafsaal mit grotesken Hochbetten, ein Duschraum, ein Speiseraum, ein Raum fürs Foltern und anderes mehr, oben auf dem Burggebilde eine verwunschene Landschaft mit Zäunen und toten Bäumen. Im bedrohlichen Halbdunkel der meisten Szenen wirkt diese Bühneninstallation wie eine materialisierte Graphic Novel (das Wort „Comic“ würde es nicht treffen), gothic, zum Fürchten.

Rotierende Gotik

Die Personen, die namenlos bleiben und meistens in Gruppen zu sehen sind, vervollständigen in ihren wilhelminischen (könnte man vielleicht sagen) Uniformen und in grobstrichiger Überschminkung den Eindruck der zeichnerischen Stilisierung, die in ihrer Radikalität an Inszenierungen Robert Wilsons erinnert. Gut gesetztes Licht (Rainer Casper) und feine Videoprojektionen (Tobias Hoeft) verstärken die beunruhigende Wirkung der meistens rotierenden Ritterburg überdies.

(Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Texte nachgereicht

Das Bühnenbild steht am Anfang, weil es so etwas wie der Hauptdarsteller des gut 90-minütigen Abends im Dortmunder Schauspiel ist. Geschaffen hat es der Autor des Stücks, Ersan Mondtag, ebenso die Kostüme, und er führt auch Regie. Den Text hat er allerdings nicht geschrieben. Was vom Chor der Internatskinder, vom „toten Kind“ (aus dem Off) oder vom „gestürzten Anführer“ zu hören ist, haben Alexander Kerlin und Matthias Seier erarbeitet, unter Zuhilfenahme unter anderem des Eichendorff-Gedichts „Zwielicht“. Diese Form der Autorenschaft, bei der die Texte von der Dramaturgie des Hauses nachgereicht werden, ist ungewöhnlich, doch das Resultat wirkt homogen.

Die Pistolen knallen

Angesichts von so viel Form traut man sich kaum noch, nach dem Inhalt zu fragen. Offenbar geht es um Reifung, Emanzipation, Adoleszenz, was in eine Art Aufstand mündet, der folgenlos bleibt. Doch könnte dies alles auch militärisch grundiert sein, im Ersten Weltkrieg gar (die Uniformen lassen daran denken). Auf jeden Fall blitzen einige Male die Degen, und die Pistolen knallen kräftig. Und offenbar haben das „tote Kind“, das einer Sirene gleich die Schüler lockt, und der „gestürzte Anführer“ das gleiche Schicksal erlitten: Man hat sie nackt und gefesselt in den Schnee geworfen, wo sie erfroren.

(Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Vieles klingt an und erscheint möglich in diesem fiebrigen Bühnen-Alptraum, und irgendwann im Lauf des Abends verliert sich der Wunsch, so etwas wie den roten Faden zu halten. Diese Theaterarbeit sucht ihr Publikum mit Stimmungen, mit Ahnungen von Grauen und Angst. Sprache ist Beiwerk, das nichts bewirkt. So ein Konzept ist etwas gewöhnungsbedürftig, aber keinesfalls reizlos.

Nacktheit dient hier als dramatisches Signal, bedeutet Wehrlosigkeit und Ausgegrenztheit, aber auch Empfänglichkeit und Autonomie. Ein nackter junger Mann steht gleich zu Beginn im Mittelpunkt. Er wird bestraft und geschmäht, ist aber späterhin auch der, der die Stimme des „toten Kindes“ hören kann, die ebenso Weckruf zur Obsession und zur Verweigerung ist wie auch sexuelle Initiation.

(Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nackt auf der Bühne

Zeichen der Auflehnung ist der zum Schweigen auffordernde Zeigefinger vor den Lippen, das tote Kind sagt es dem nackten Jungen, und immer mehr Zöglinge übernehmen es. Außerdem ist die Internatszeit ja auch die der körperlichen Exploration. Nackte – nachher werden es noch ein paar mehr – tragen hier auf der Bühne folgerichtig eine Art „Nacktheitskostüm“ mit beinahe lebensecht applizierten männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen. Eine wirklich nackte Frau gibt es später auch, sie kommt, ist da, verschwindet wieder. Für Internatszöglinge wie Rekruten eine unerreichbare Verheißung.

Bedrohlicher Soundtrack von Finckenstein

Und dann wäre da noch die Musik. Oder besser vielleicht der Klangteppich, der dieser Produktion unterlegt ist und der an der düsteren, gruseligen und bedrohlichen Stimmung keinen geringen Anteil hat. Geräusche der Nacht erklingen, Flügelschläge, Krähenkrächzen, Käuzchenrufe, Donnergrollen – und immer wieder ein kurzer, menschlicher Schrei, der in die Knochen des geneigten Publikum fährt.

Gut, dieser Soundtrack hätte auch manchem alten Edgar-Wallace-Film zur Ehre gereicht und trägt ein bißchen dick auf, manche würden ihn gar kitschig nennen. Doch ergänzt er das optisch-akustische Gesamtkunstwerk hervorragend, das ja so radikal auf Stimmung setzt. T.D. Finck von Finckenstein hat das komponiert, Musiker und Klangtüftler aus Bochum und seit einigen Jahren und in einigen Produktionen für das Theater Dortmund tätig. Und mit Sicherheit jemand, der in seinem künstlerischen Schaffen für weitere Überraschungen gut sein dürfte.

(Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Und die Darsteller, die gegen Ende des Artikels gepriesen werden sollen? Nun, das stringente Bühnenkonzept von Ersan Mondtag bietet ihnen leider kaum Möglichkeiten zur schauspielerischen Entfaltung. Sie agieren anonym und uniform, sind an Aussehen oder Spiel kaum zu identifizieren. Ganz selbstsüchtig hoffe ich auf etwas mehr Schauspieler-Theater in nächster Zeit (und Schauspieler-Innen natürlich).

Das Publikum im ausverkauften Haus applaudierte freundlich und ausgiebig. Doch war in anschließenden Gesprächen auch von Ratlosigkeit die Rede. Warum auch nicht. Auf jeden Fall ist „Das Internat“ eine grandiose, stark beeindruckende Neuproduktion, mit der das Theater Dortmund sich selbstbewußt an seiner alten Wirkungsstätte zurückmeldet.

Weitere Termine: 16. Februar, 10., 11. März, 27., 28. April, 2., 3., 13. Mai, 8., 23. Juni, 8., 11. Juli.

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Überall auf der Welt ist Heimat – Zum Programm der letzten Ruhrfestspiele von Frank Hoffmann

Nein, Frank Hoffmann sieht aus wie immer. Erkennbar ist es nicht dem Alter geschuldet, daß diese Ruhrfestspiele seine letzten sein sollen. Aber nach 14 Jahren Intendanz ist es vielleicht an der Zeit, das Festival anderen, Jüngeren zu überlassen. Frank Hoffmann, 63 Jahre ist er jetzt alt, klebt erkennbar nicht am Intendantenstuhl, und das ehrt ihn.

„Barbarische Nächte oder der erste Morgen der Welt“ („Les Nuits Barbares“), eine Choreographie von Hervé Koubi (Foto: Nathalie Sternalski/Ruhrfestspiele)

Zudem ist 2018 das Jahr, in dem mit Prosper-Haniel in Bottrop die letzte Zeche des Reviers schließt, eine Epoche mithin zu Ende geht, die für das Ruhrgebiet und die Ruhrfestspiele von kaum überbietbarer Bedeutung war und ist. Ein guter Zeitpunkt, um abzutreten. Und ganz feierlich geschieht dies am 17. Juni im Festspielhaus, in der letzten Veranstaltung dieses Jahres mit dem Titel „Frank Hoffmann sagt Adieu“.

Nachfolger Olaf Kröck

Hoffmanns Nachfolger heißt übrigens Olaf Kröck, ist 45 Jahre alt und in dieser Spielzeit Interimsintendant des Bochumer Schauspielhauses, bevor dort in der nächsten Spielzeit Johan Simons das Zepter übernimmt. Der ist zwar schon über 70, aber wohl immer noch recht rebellisch. Wo fürderhin das jugendlichere, frischere Theater stattfindet, in Bochum oder in Recklinghausen, ist also keineswegs ausgemacht.

Es hätte auch Kohle heißen können

Zurück zu den Ruhrfestspielen, die in diesem Jahr, top aktuell wieder einmal, „Heimat“ betitelt sind. Es könnte einem schon der Gedanke kommen, daß der Arbeitstitel vielleicht doch eher „Kohle“ oder „Bergbau“ oder irgend etwas anderes in diesem Kontext gewesen sein könnte und man erst später auf Heimat umschaltete, als dieser Begriff durch die politische Diskussion (samt Gründung diverser „Heimatministerien“) plötzlich eine neue Aktualität bekam. Ist ja auch egal; Heimat eignet sich jedenfalls sehr gut als Überzeile, so lange nicht die Definition von Thomas Bernhard gilt „Heimat ist, wo man sich aufhängt“. Frank Hoffmann zitierte den großen, zornigen, zu früh und durch eigene Hand aus dem Leben gerissenen österreichischen Dramatiker nicht ohne Ernst, wenn auch mit der ihm eigenen Leichtigkeit.

Burghart Klaußner spielt in „Der Besuch der alten Dame“ (Foto: Ruhrfestspiele)

Ein Klassiker von Dürrenmatt

Von Thomas Bernhard, um jetzt endlich mal die Kurve zum Programm zu kriegen, ist leider nichts in demselben. Das Festival startet mit Friedrich Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, den Frank Hoffmann selbst in einer Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater für die Ruhrtriennale inszeniert hat. Um Kohle geht es hier wohl eher nicht, wenn man das Vermögen der alten Dame Claire Zachanassian nicht Kohle nennen will; um Heimat geht es allerdings sehr wohl, um eine grausame, verstoßende Heimat, um Heimatverlust.

Nicht wenige Zuschauer werden dem „Besuch der alten Dame“ im Gymnasium begegnet sein, ein unbedingt respektables, sinnhaftes Stück, aber vielleicht auch etwas angestaubt. Man darf gespannt sein, was Hoffmann daraus macht. Auf jeden Fall stehen gute Leute auf der Bühne, beispielsweise Maria Happel und Burghart Klaußner in den Hauptrollen.

Hauptmann, Brecht und Shakespeare

Das zweite „große“ Stück im Großen Haus ist ebenfalls eine Koproduktion (mit dem Deutschen Theater Berlin). Im Kino wäre diese Produktion von „Vor Sonnenaufgang“ so etwas wie eine Neuverfilmung, für das Theater fehlt der entsprechende Begriff. Ewald Palmetshofer also, ein immer noch recht junger österreichischer (was sonst? Kommen ja alle aus Österreich, die jungen Dramatiker!) Dramatiker, hat Gerhart Hauptmanns gleichnamiges Stück über den abrupten Niedergang einer durch Bergbau reich gewordenen Bauernfamilie aktualisiert, Jette Steckel führt Regie. Ein bißchen geschraubt wirkt die Formulierung im Programmheft „Premiere der deutschen Erstaufführung bei den Ruhrfestspielen“, auch wenn sie letztlich zutrifft. Doch zu sehen war Palmetshofers Stück bereits in Basel (Regie: Nora Schlocker) und in Wien (Regie: Dušan David Pařízek). Die Kritiken fielen durchwachsen aus.

Weitere Theaterproduktionen auf der großen Bühne sind „Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht in der Regie von Albert Ostermaier und ein „König Lear“ von Shakespeare in der Regie des Altmeisters Claus Peymann, der lange Zeit Intendant des Berliner Ensembles war. Diese Produktion allerdings entstand am Schauspiel Stuttgart, und den greisen König, der sich so grausam in seinen Töchtern irrt, spielt Peymanns alter Weggefährte (seit Bochumer Zeiten) Martin Schwab.

„Ruhrepos“ von Albert Ostermaier

Originell ist schließlich die letzte Produktion im Festspielhaus zu nennen. „Die verlorene Oper. Ruhrepos“ von Albert Ostermaier, eine Koproduktion mit dem Staatsschauspiel Hannover, wandelt sozusagen auf den Spuren von Bert Brecht und Kurt Weill. Die wollten ein solches Epos schaffen, machten über und unter Tage fleißig Recherchen, 1927 sollte in Essen Premiere sein. Wegen „antisemitischer Hetze“ so das Programmheft, wurde das Projekt jedoch fallengelassen, und zwei Jahre später entstand in Berlin die „Dreigroschenoper“. Ich gebe das mal ohne weitere Überprüfung so wider, wohl wissend, daß Fragen bleiben. Nun also ein Epos von Albert Ostermaier. Regie führt Thorleifur Örn Arnarsson (what a name!).

Ganz familiär: „Home“ (Foto: Maria Baranova/Ruhrfestspiele)

„La Catastròfa“

Zwei bemerkenswerte, düster grundierte Liederabende harren der Erwähnung. „La Catastròfa“ erinnert, dargeboten von Etta Scollo und Joachim Król, an ein schweres Bergunglück in Belgien, 1956. 262 sizilianische „Gastarbeiter“ kamen bei einem Grubenbrand ums Leben. Sie wurden Opfer skandalöser, unmenschlicher Arbeitsbedingungen, die in bestem zwischenstaatlichen Einvernehmen (zwischen Belgien und Italien) auf Ausbeutung der billigen Arbeitskräfte ausgerichtet waren.

Den anderen Liederabend singt und gestaltet Ute Lemper. Ihre „Lieder für die Ewigkeit“ entstanden im Konzentrationslager Theresienstadt, das der NS-Propaganda als „Vorzeigelager“ diente und in dem etliche Künstler interniert wurden. Anrührende Musik im Angesicht des Todes – Victor Ullmann, Ilse Weber, Willy Rosen nennt das Programmheft namentlich.

Mitbewohner auf der Bühne

Etwas heiterer geht es in „Home“ von Geoff Sobelle zu, einer (wiederum zitieren wir etwas irritiert das Programmheft) „Kooperation mit BAM, Arizona State University – Gammage, New Zealand Festival und Edinburgh International Festival“, wo es um ein mehrgeschossiges Holzbauwerk auf der Bühne geht, in dem etliche Mitbewohner (wortlos) das Mitbewohnen in seinen zahlreichen mehr oder minder komischen Facetten proben.

Die Neue Philharmonie Westfalen spielt Smetana („Mein Vaterland“), man diskutiert („Forum Arbeit – Lied – Bewegung; Forum zum Thema Heimat und Lieder der deutschen Arbeiterbewegung“), und Konstantin Wecker führt samt Trio vor, was damit gemeint sein könnte („Konzert im Rahmen des Forums Arbeit – Lied – Bewegung“).

John Malkovich regt sich auf in „The Music Critic“ („Der Musikkritiker“) (Foto: Sandro Miller/Ruhrfestspiele)

Hollywood-Stars Malkovich und Murray

Ach ja, Hollywood! Es gibt ein Wiedersehen mit John Malkovich, der mit ihm eigener Verve Musikkritiken vortragen wird, sämtliche Verrisse. „The Music Critic“ verspricht höchst unterhaltsam zu werden (Idee und Konzeption: Aleksey Igudesman, Swiss Gart). Und Bill Murray kommt auch. Er, den einst täglich das Murmeltier grüßte und der sich „Lost in Translation“ wähnen mußte, führt bei diesen Ruhrfestspielen ein anregendes Bühnengespräch in englischer Sprache mit dem Cellisten Jan Vogler über klassische Musik und amerikanische Literatur. Mira Wang (Violine) und Vanessa Perez (Klavier) ergänzen die illustre Begegnung, und einige Male singt Bill Murray sogar – Klassiker des Great American Songbooks.

Mehrere afrikanisch grundierte Projekte springen ins Auge, die ihre Energie oft aus dem Zusammentreffen mit europäischen Sichtweisen schöpfen. „Barbarische Nächte oder Der erste Morgen der Welt“ („Les nuits barbares“) des Choreographen Hervé Koubi gehört dazu, eine Produktion mit Tänzerinnen und Tänzern aus Nordafrika, die sich mit der Faszination und den Ängsten befaßt, die der „schwarze Kontinent“ über Jahrhunderte bei den Europäern weckte. Gleichzeitig forscht Koubi, Kind algerischer Eltern, nach Spuren verschwundener Kulturen, sucht Mythen, Masken, Rituale und bindet sie in seine Arbeit ein.

Afrikanisches Tanztheater

„Ein Spiel namens Mut“ von Michael Ojake, koproduziert mit UFA Fabrik Berlin, vereint Spiel und Tanz und erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der beschließt, Nigeria zu verlassen und nach Europa zu gehen. Seine Pläne lösen im Dorf eine heftige Diskussion aus. Ähnliches geschieht in „A Man of Good Hope“, dargeboten im Theater Marl. Das Stück nach einem Roman von Jonny Steinberg dreht sich um den jungen Asad, der es von Somalia nach Südafrika schafft, wo das Leben auch kein Zuckerschlecken ist. Mittelalterliche Clan-Strukturen, staatliche Repression, Menschenhandel, Gewalt, Korruption und latenter Rassismus in den Townships sind stets gegenwärtig in dieser Produktion des Isango Ensembles Südafrika in Zusammenarbeit mit dem Young Vic London, Royal Opera, Repons Foundation, BAM und Les Théâtres de la Ville de Luxembourg.

Unterschiedliche Blickwinkel

Unbedingt zu erwähnen ist schließlich das Tanzprojekt, das aus den Teilen „The Choreonauts“ und „In Between/Digging in the Night“ besteht. Teil 1 verantwortet Afro-European Navigations in Dance, Teil 2, das wird jetzt lang, in einer Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Phumlani Nyanga und Helge Letonja, steptext dance project Bremen, Tanz! Heilbronn, Theater Bremen und Festival AFRICTIONS. Extravagante Black Dandys und Hipster in Johannesburg, obdachlose Müllsammler und Zuwanderer…  Es geht um sozialen Wandel, Veränderungsdruck, Reflexionen gesellschaftlicher Zustände, wahrgenommen aus den Blickwinkeln des Europäers Letonja und des Afrikaners Nyanga. Definitiv ein spannendes Projekt.

Beckmanns, Die Spielkinder (Foto: Die Spielkinder/Ruhrfestspiele)

Die Harfouch spielt Marine Le Pen

Weil es originell ist, ohne lustig zu sein, sei noch auf eine Produktion im Kleinen Haus hingewiesen: Dort spielt die grandiose Corinna Harfouch in einer Koproduktion mit dem Theater Magdeburg „Die Präsidentin“. Das Stück basiert auf der Annahme, Marine Le Pen hätte es in den Elisée-Palast geschafft. Wie wäre es dann weitergegangen, wie stringent griffen in einem solchen Fall die Mechanismen der Macht? Vorlage für diese gar nicht so bizarre Geschichte ist ein französischer Strip von François Durpaire und Farid Boudjellal, Regie führt Cornelia Crombholz.

Und natürlich wäre es reizvoll, dies mit Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ zu vergleichen, dem Stück, in dem das bürgerliche Lager Frankreichs im Bestreben, den Front National zu verhindern, Islamisten den Weg an die Spitze des Staates ebnet. Von Houellebecqs Protagonist François – in Hamburg hinreißend dargeboten vom großartigen Edgar Selge – weiß man, daß das Leben auch in solchen Fällen weitergeht, manchmal sogar ausgesprochen behaglich.

Wir sind die Beckmanns

So. Wir müssen zum Ende kommen. Letzte Erwähnungen sollen den Beckmann-Kids gelten, den Schauspiel-Sprößlingen Nils, Till, Maja und Lina, die alle ihr Ding machen, sich ab und zu jedoch zu überaus ergötzlichen gemeinsamen Bühnenlesungen aus dem Alltag treffen. „Die Spielkinder und Gäste“ heißt ihr (leider nur einmaliger) Auftritt bei den Ruhrfestspielen, und die Gäste sind Jennifer Ewert, Charly Hübner und Sebastian Maier.

Die Kunstausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen schließlich kommt in diesem Jahr von dem Künstler-Zwillingspaar Gert&Uwe Tobias, ist „ein multimediales Ausstellungsprojekt zur Kohle“ und geht über drei Etagen. Die Heilige Barbara fehlt hier ebenso wenig wie der Kanarienvogel und der große Naive Erich Bödeker, der wohl bekannteste Künstler der Stadt.

Das Festspielhaus wartet auf seine Gäste (Foto: Ruhrfestspiele)

Fringe vor dem Aus?

Wiederum bleibt vieles unerwähnt, vor allem viele Lesungen und Kabarett-Auftritte bekannter Künstler. Im Fringe-Festival (eigenes gelbes Programmbuch) wird wieder eine Menge originelle „Kleinkunst“ für alle Altersklassen geboten, und sollte Hoffmann-Nachfolger Kröck, wie in einem Zeitungsinterview angekündigt, Fringe tatsächlich abschaffen, wäre das sehr, sehr schade. Wie immer kann auch diese Programmankündigung nur mit der Empfehlung enden, sich nach Lektüre noch etwas schlauer zu machen.

Und was macht Hoffmann, wenn er in Recklinghausen nichts mehr macht? Nun, nach wie vor ist er ja auch noch Intendant des Luxemburger Nationaltheaters. Dort möchte er zukünftig häufiger Regie führen, mehr Stücke in französischer Sprache inszenieren.

Das reicht gewiß für den Moment. Für einen Nachruf wäre es noch etwas früh.

www.ruhrfestspiele.de




Das Schöne muß sterben: „Übergewicht, unwichtig: Unform“ von Werner Schwab im Dortmunder Theater

Leichenschmaus. Szene mit (von links) Christian Freund, Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser, Amelie Barth und Uwe Rohbeck. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

„Übergewicht, unwichtig: Unform“: Das alliteriert sehr schön und sollte einen auf keinen Fall zu einem Deutungsversuch verleiten. Was nicht bedeutet, daß diesem Stück und seinem Titel kein Sinn innewohnte, doch der erschließt sich besser im Zusammenhang, und dann auch eher assoziativ. Am Sonntag war Premiere von Werner Schwabs „Übergewicht…“ auf der Dortmunder Studiobühne.

Schwab, der 1994 mit gerade einmal 36 Jahren starb, schrieb Erfolgsstücke wie „Die Präsidentinnen“, „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ und eben „Übergewicht…“ in seinen letzten Lebensjahren. Er galt unter den Theaterautoren als Enfant terrible, Provokateur und Punk, in seinen Stücken wird viel gekotzt, geprügelt, geblutet, gemordet und gestorben, gesellschaftliche Fallanalysen sind sie mit maximaler Negativwertung.

Kneipenszene mit (von links) Wirtin (Amelie Barth), Karli (Frank Genser) und Schweindi (Andreas Beck). (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Nüchterne Kneipe

Da ist es geradezu erstaunlich, in welchem vergleichsweise nüchternen Setting Regisseur Johannes Lepper sich dem Schwabschen Kosmos der Abgründigkeiten nähert. Spielort – Lepper sorgte auch für das Bühnenbild – ist eine auch auf den zweiten Blick noch ganz anheimelnde Kneipe, in der ein Fernseher unbeachtet vor sich hin flimmert, zwei Paare an Tischen hocken, ein graues Männchen über gesellschaftliche Verhältnisse doziert und ein Mensch namens Fotzi mit obszön kurzem Kleid in der Ecke hockt.

Verkommene Gesellschaft

Lehrer Jürgen (Uwe Rohbeck) und Fotzi (Christian Freund) sind auf ihre Art auch so etwas wie ein Paar, „Es“ und „Über-Ich“ könnte man in trivial-freudianischer Terminologie vielleicht sagen, einander bedingend. Das Paar zur Linken sind Karli und Herta (Frank Genser und Friederike Tiefenbacher), er schlägt sie, wenn er sie vögelt, und auch, wenn er sie nicht vögelt.

Die anderen beiden sind Schweindi und Hasi (Andreas Beck und Marlena Keil), beide adipös. Beide stricken Strampler, doch mit der Elternschaft will es nichts werden, weil Schweindi bei Hasi keinen hochkriegt, er scheint eher pädophile Neigungen zu haben. Amelie Barth schließlich ist die Wirtin und als solche zunächst in einer Art Moderatorenrolle, kurzum: ein repräsentativer Querschnitt durch Werner Schwabs verkommene, verrohte, verlogene (europäische?) Gesellschaft.

Ach ja, nicht zu vergessen das dritte (bzw. vierte) Paar: Verliebt hocken sie lange Zeit weiter hinten, haben Augen nur füreinander (Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul).

Karli (Frank Genser, stehend) ist gewalttätig. Szene mit Herta (Friederike Tiefenbacher, vorn), Wirtin (Amelie Barth, hinterm Tresen) und dem verliebten namenlosen Paar (Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul, im Hintergrund (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

„Schwabisches“ Schwafeln

Nun, Schwabsches Kneipengeschwafel weist in Schwabs kunstvollem, an eigenen subtil-treffsicheren Wortneubildungen reichen „Schwabisch“ durchaus einige Leckerbissen für Sprachverliebte auf, ist aber für sittenstrenge Theatergänger auch eine Last. Denn ebenso ist „Schwabisch“ grob sexualisierte Fäkalsprache. Beleidigungen, Entwertungen und Entwürdigungen reihen sich, und irgendwann fragt man sich auch als hartgesottener Theatergänger, warum sie nicht endlich mal aufhören mit dem ätzenden Streß, wenn doch endgültig, endgültig alles gesagt, geflucht, geschrieen und herausgekotzt ist.

Gleichzeitig empfindet man Mitleid mit diesem Autor, der nicht lassen kann von seinen Obsessionen und dem auch die Sprache nicht zur Überwindung hilft, so kunstvoll sie ist.

Der Leib des Herrn

Ein Thema zum mindesten gibt es bei alledem schon, und das nicht erst, wenn die Kneipenbande das verliebte Paar im Hintergrund massakriert und auffrißt. Der Untertitel weist den Weg. „Ein europäisches Abendmahl“ hat Schwab sein Stück da genannt, und tatsächlich kreisen die wüsten Phantasien und Gewaltexzesse, weihnachtlich passend, relativ konstant um das christliche Motiv der Hingabe des Leibes zum Zwecke der Erlösung und um die Inkorporation desselben – hier nur eben nicht in Gestalt der Abendmal-Oblate, sondern entschieden realistischer.

Das wirft die Frage auf, warum das unschuldige Opferpaar dran glauben muß, aber wahrscheinlich ist eben gerade ihre (gemutmaßt) unschuldige Liebe dem Kneipenvolk so unerträglich, und von der geringen Lebenserwartung schöner, wilder Rosen weiß man nicht erst seit Nick Caves Lied. Schönheit muß sterben; warum soll man immer nur Toastbrotscheiben essen, wie Schweindi nicht müde wird zu postulieren, wenn man es auch in echt haben kann?

Und so läßt sich recht mühelos assoziativ einiges weiterspinnen von dem, was im Stück angelegt ist und was Johannes Lepper mit dieser Einrichtung übersichtlich und notabene nur mit den traditionellen Mitteln des Sprechtheaters (ohne Video) auf die Bühne stellt.

Fotzi (Christian Freund) provoziert das namenlose Paar (Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul). (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Herta hat nicht mitgemacht

Herta übrigens hat nicht mitgemordet, um auch das noch zu erzählen, sondern nur vom Kneipentresen aus das kannibalische Gemetzel mit angesehen und kommentiert. Mit dem Fortgang der Handlung macht sie das nun zur Heiligen im Brautkleid, der die anderen die Füße küssen müssen. Die derben Anspielungen auf Schweißfüße und flutschigen Hundekot, in den Herta so gerne tritt, sind nur schlichte Ablenkungsmanöver und verfangen nicht; tatsächlich sind wir auch hier wieder mittendrin in der christlichen Schuld-Unschuld-Erlösungs-Mythologie, die dem Autor offenbar keine Ruhe gibt. Vielleicht, weil sie nicht funktioniert und nichts Schreckliches verhindert hat in den zweitausend Jahren ihres Bestehens. Da hätte er natürlich recht mit seiner unstillbaren Wut.

Doch im Jahr 1991 ist Schwab damit eigentlich spät dran, 20, 30 Jahre früher hätte man sich trefflicher und letztlich auch überzeugender über diese Dinge echauffieren können. Man denke da nur an Thomas Bernhards bebende Wut auf Pfaffen, Lungenärzte und Bürokraten, die trotz eindrucksvoller Sprachgewalt nie zu besiegen, höchstens für einige Zeit zu bändigen war.

Wiederauferstehung

In der letzten Szene ist das nette Paar dann wieder da, sitzt jetzt sogar an einem Tisch in der Mitte der Bühne und tritt entschieden offensiver auf als zuvor. Über die anderen Gäste, hilflos und lächerlich in ihren Obsessionen verfangen, lachen sie, und schließlich gehen sie wie Sieger aus der Kneipe. Das Motiv der Wiederauferstehung hat Schwab ähnlich auch in der „Volksvernichtung“ bemüht, alles nur Theater, man mag seine Schlüsse daraus ziehen.

Fazit: Johannes Leppers Inszenierung vermag in Dortmund mehr zu überzeugen als das mit seinen 26 Jahren schon etwas angestaubt wirkende Stück. Eine Freude ist die Wiederbegegnung mit geschätzten „alten“ Ensemblemitgliedern: Uwe Rohbeck, Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser und Friederike Tiefenbacher.

Doch auch einige neue Gesichter bleiben in guter Erinnerung: Amelie Barth, Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul. Christian Freund schließlich ist seit dieser Spielzeit Mitglied des Dortmunder Ensembles.

  • Weitere Termine „Übergewicht, unwichtig: Unform“:
  • 23.12.2017 — 7., 10., 21., 26.1., 18.2., 8.3. und 10.6.2018
  • www.theaterdo.de



Zwei magere Jahre sind vorbei – nach Renovierung spielt das Theater Dortmund endlich wieder im angestammten Haus

Das Leben kehrt zurück. Nach fast zweijähriger Umbaupause wird im Dortmunder Theater endlich wieder Theater gespielt, auf großer und auf kleiner Bühne, und einen leichten Anflug von Freude darüber kann der Verfasser dieser Zeilen nicht verhehlen. Der Mensch braucht eben sein Stadttheater, das auch deshalb so heißt, weil es in der Stadt ist (und nicht im Gewerbegebiet).

Ansicht des Dortmunder Schauspielhauses - Aufnahme von 2009. (Foto: Bernd Berke)

Ansicht des Dortmunder Schauspielhauses – Aufnahme von 2009. (Foto: Bernd Berke)

Trotzdem darf natürlich auch an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, daß sich das Theater in seiner Ausweichspielstätte „Megastore“ wacker behauptet hat und daß dem Intendanten Kay Voges dort mit der „Borderline Prozession“, die Inszenierung ebenso wie Rauminstallation und Video-Arbeit war, definitiv Außergewöhnliches gelungen ist.

Doch im „eigenen Haus“ mit aufgefrischter Technik und optimiertem Brandschutz kann man einfach mehr machen. Und im übrigen auch mehr Publikum bespielen. Eine bange Frage für den Rest der Spielzeit wird daher sicherlich sein, ob das Publikum jetzt wieder in so reicher Zahl wie vordem strömen wird, oder ob es sich möglicherweise anderswo hin, nach Bochum beispielsweise, orientiert hat. Das hängt natürlich auch von dem ab, was geboten wird.

Warten auf den „Theatermacher“

Als erste Produktion gelangte am Samstag „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch zur Aufführung, sinnfällig kombiniert mit Ray Bradburys düsterer Zukunftsvision „Fahrenheit 451“, wo es ebenfalls um Feuer und Verbrennen (von Büchern) geht. Regie führte Gordon Kämmerer.

Kurz vor Jahresende steht das nächste Premierenwochenende in Dortmund an. Tschechows „Kirschgarten“ kommt als Studio-Produktion in der Regie von Sascha Hawemann am 29. Dezember heraus. Und erst am 30. Dezember wird der Chef selbst Regie im frisch renovierten Schauspielhaus führen. Der Theatermacher inszeniert den „Theatermacher“: In der Regie von Kay Voges gelangt Thomas Bernhards bittere Komödie zur Aufführung, mit Andreas Beck (wem sonst!) als Theatermacher Bruscon und Uwe Rohbeck als Wirt. Auch am Silvesterabend läuft die Produktion, und sie ist fast schon ausverkauft.

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Pressemitteilung des Dortmunder Schauspiels vom 27.12.2017:
Premiere „Der Theatermacher“ wird verschoben
„Das Schauspiel Dortmund muss die für den 30. Dezember geplante Premiere von „Der Theatermacher“ aufgrund von Erkrankungen im Ensemble verschieben. Der neue Premierentermin wird noch bekannt gegeben. Die Silvester-Vorstellung muss leider ersatzlos entfallen. Aufgrund des späten Spielzeitbeginns nach dem Rückzug aus dem Megastore kann das Schauspiel keine Ersatzvorstellung anbieten. Bereits gekaufte Karten können an der jeweiligen Vorverkaufskasse zurückgegeben oder umgetauscht werden. Das Schauspiel Dortmund bedauert den kurzfristigen Ausfall und die Unannehmlichkeiten für das Publikum sehr.”
Nachtrag:
Neuer Premierentermin ist Samstag, 3. März 2018 (Schauspielhaus, 19.30 Uhr).




Das Kind des Kunsthändlers – Gurlitt-Stück „Entartete Kunst“ als Berliner Gastspiel in Recklinghausen

Ein wirkliches Aha-Erlebnis: Auch wenn keine Ruhrfestspiele sind, wird im Recklinghäuser Festspielhaus Theater gespielt. Als Veranstalter fungiert dann die Stadt, und die Künstler kommen – manchmal – von weit her. Für Ronald Harwoods Schauspiel „Entartete Kunst“ kamen sie aus Berlin, vom Renaissance-Theater. Die Agentur Landgraf hat sie auf Tournee geschickt: Udo Samel, Boris Aljinovic, Anika Mauer und Ralph Morgenstern.

Im Großen Haus der Ruhrfestspiele in Recklinghausen war das Berliner Renaissance-Theater zu Gast (Foto: Ruhrfestspiele/Torsten Janfeld)

Ein Berg von Raubkunst

Wir erinnern uns: Als offiziell verkündet wurde, was der alte Herr Gurlitt in seiner Schwabinger Wohnung aufbewahrte, verfielen größere Teile der bundesdeutschen Journaille in lebensbedrohliche Schnappatmung. Ganz offenbar war hier ein Riesenkonvolut sogenannter Raubkunst aufgetaucht, das der Sohn eines notorischen Nazi-Kunsthändlers klandestin und illegal hütete. Und der Mann selber war ein Monstrum, wenn auch ein eher ungefährliches. Er zahlte keine Steuern und hatte keine Krankenversicherung.

Weder in der Sozialversicherung noch in der Steuerverwaltung zu existieren, das wurde Cornelius Gurlitt schließlich zum Verhängnis. Bei einer Zollkontrolle fiel er – durch legal mitgeführte – 9000 Euro und durch unbedachte Äußerungen über sein Finanzgebaren auf, was die Staatsanwalt zu einer Durchsuchung seiner Wohnung veranlaßte.

Gnadenlose Staatsanwaltschaft

Übermäßiges Feingefühl kann den Behörden bei ihrem Einsatz im Jahr 2012 nicht vorgeworfen werden. Sie taxierten Gurlitts Kunst mal eben so auf eine Milliarde Marktwert und schafften sie ins Depot. Im November 2013 wurde der behördliche Zugriff bekannt, ein Jahr später starb der alte Mann mit 82 Jahren, nachdem er zuvor noch den damals schon nicht unbeträchtlichen „unbedenklichen“ Teil der Kunstsammlung dem Kunstmuseum Bern vererbt hatte.

Mittlerweile ist unstrittig, daß die Staatsanwaltschaft mit unverhältnismäßiger Härte vorging und daß das Schlagwort von der riesigen Raubkunst-Sammlung kaum haltbar ist. Statt eine Milliarde Euro ist die Sammlung nach seriöseren Schätzungen nur noch einen zweistelligen Millionenbetrag wert (auch nicht wenig!), gerade einmal fünf von insgesamt 1500 Werken konnten bisher als eindeutig geraubt identifiziert und ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgegeben werden.

Kunsthändler der Nazis

Natürlich ist die Provenienzforschung hier ein schwieriges Feld. Auch muß man befürchten, daß rechtmäßige Besitzer oder ihre Nachfahren in manchen Fällen Krieg und Holocaust nicht überlebt haben. Doch den größten Teil der Sammlung scheint Hildebrand Gurlitt, der erfolgreiche Vater Cornelius’, auf korrekte kaufmännische Weise zusammengetragen zu haben – jedenfalls so korrekt, wie es im Nationalsozialismus möglich war, wo man die besetzten Länder plünderte und den jüdischen Deutschen ihre Vermögen abpreßte, bevor sie im besseren Fall ausreisen durften oder in den Vernichtungslagern ermordet wurden.

Hildebrand Gurlitt hat sich die Verhältnisse bestens zunutze gemacht, wie es scheint, hat moderne, als „entartet“ verfemte Kunst im Auftrag der Nazis ins Ausland verkauft, hat in den besetzten Kriegsgebieten beschafft, was die braunen Bonzen gerne haben wollten, beispielsweise für Hitlers geplantes „Führermuseum“. In einer Zeit der Ungeheuerlichkeiten hat er sich bewegt wie ein Fisch im Wasser, und fast folgerichtig ging er nach dem Krieg aus seinem „Entnazifizierungsverfahren“ (was für ein Wort!) als unbelastet hervor.

Das wahrscheinlich wertvollste Bild in Gurlitts Sammlung stammt von Claude Monet (1840–1926): „Waterloo Bridge“ (1903, Öl auf Leinwand, doubliert 65×101,5 cm) (Foto: Bundeskunsthalle Bonn)

Lust am „Fuppen“

Der Hildebrand Gurlitt, dem wir in Ronald Harwoods Theaterstück begegnen, ist nurmehr verklärende Erinnerung seines Sohnes Cornelius. Udo Samel gibt ihn als ewiges Kind, dem die Bilder in der Wohnung seine Familie sind und das voller Hingabe mit seiner Modelleisenbahn spielt. Er bewundert seinen Vater, was bleibt ihm auch übrig, aber dessen Fußabdrücke sind für ihn viel zu groß.

Cornelius Gurlitt hat studiert, wie später zu erfahren ist, Kunstgeschichte, aber das hat ihn nicht davor bewahrt, sein unbedeutendes Kinderleben nach dem Tod des Vaters endlos fortzuführen, das Erbe zu pflegen, zu „seiner Familie“ zu machen. Nur wenige Künstler bedeutender Eltern haben dieses Danach so zurückgezogen und exzentrisch gleichermaßen gelebt wie Cornelius Gurlitt; doch das schmerzende Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit dürften viele von ihnen kennen, die Verletzlichkeit, die sie die Welt draußen meiden läßt.

Wer, wenn nicht Udo Samel, wüßte das herauszuspielen, der kleine dicke Mann mit seiner inneren Getriebenheit, die ihm die großen, schönen, reinen Gedanken ebenso einzugeben scheint wie sie die unvermittelt aufblitzenden kleinen Niederträchtigkeiten formt, die sexuellen Anspielungen, die peinlichen Tiraden über die allgegenwärtige, altersgeile Lust am „Fuppen“. Udo Samel zelebriert mit sparsamen Mitteln große Schauspielkunst; sein Cornelius Gurlitt ist ein tragischer Mensch auch ganz jenseits jeder Beutekunst-Diskussion.

Um den Hauptdarsteller Udo Samel herum inszeniert

Wie für Udo Samel geschrieben wirkt dieses inklusive Pause kaum zwei Stunden dauernde Stück. Auf jeden Fall hat Regisseur Torsten Fischer es in dieser Uraufführung um ihn herum inszeniert. Nur so, mit dieser armseligen, abgründigen Figur in ihrer strahlenden Mitte, funktioniert die Inszenierung. Die weiteren drei Mitwirkenden – Boris Aljinovic und Anika Mauer als hart vorgehende Vertreter der Staatsanwaltschaft, Ralph Morgenstern als halbseidener Kunsthändler Andras Weisz – sind zwar allesamt bemerkenswert gute Darsteller und weit mehr als nur Stichwortgeber, haben aber nur selten die Möglichkeit, mit ihrem Spiel nennenswert zum Fortgang des Stückes beizutragen.

Schrecklich viele leere Plätze

Darf man es verschweigen? Der große Saal im großen Haus war geradezu erschreckend leer. Vielleicht gab es zu wenig Werbung für diesen Theaterabend, auch ist er innerhalb des Monatsprogramms mit seiner Mischung aus Musik, Kindertheater und Comedy fast so etwas wie ein Fremdkörper. Gleichwohl schmerzt es, Udo Samel, der einst als Kaldewey in Botho Strauß’ gleichnamigem Stück an der Berliner Schaubühne unvergeßliche Auftritte hatte (für die man kaum Karten bekam), hier vor weitgehend leeren Reihen spielen zu sehen. Es sei dies, schreibt die Agentur, Samels erste Theatertournee, und bis 5. Dezember ist sie (laut Internet) terminiert. Da ist man gespannt, ob er sich in der Zukunft auf weitere Tournee-Abenteuer einlassen wird.

  • Weitere Termine (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): 2.12. Scharoun-Theater Wolfsburg, 3. 12. Festhalle Viersen
  • Zwei Ausstellungen zeigen aktuell Bilder aus der Sammlung von Cornelius Gurlitt:
  • „Bestandsaufnahme Gurlitt – Der NS-Kunstraub und die Folgen“, Bundeskunsthalle Bonn, bis 11. März 2018
  • „Bestandsaufnahme Gurlitt. Entartete Kunst – Beschlagnahmt und verkauft“, Kunstmuseum Bern, bis 4. März

 




100 Jahre Fake – Dortmunder „Hartware MedienKunstVerein“ zeigt berühmte Fotofälschungen der Russischen Revolution

»Sturm auf den Winterpalast«, unretuschierte Variante und vermutetes Original des theatralen Reenactments auf dem Palastplatz, Sankt Petersburg, 1920, von Regisseur Nikolaj Evreinov u.a. (Foto: HMKV/CGAKFFD SPb, Katalognummer Ar 86597)

Die Oktoberrevolution feiert, wie wohl hinlänglich bekannt, in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag, und gerade noch rechtzeitig ist das Thema nun auch im Dortmunder „U“ angekommen – im „Hartware MedienKunstVerein“ (HMKV), der im nämlichen ehemaligen Brauereigebäude residiert und dem man ein gerüttelt Maß an Fleiß nicht absprechen kann, auch wenn Medienkunst, zumal die hier präsentierte, manchmal keinen leichten Zugang gewährt.

Sturm auf den Winterpalast

Nun also, kuratiert von Sylvia Sasse und Inke Arns, der „Sturm auf den Winterpalast“, genauer eine Auseinandersetzung mit dem möglicherweise berühmtesten Fotodokument, das dieses Kernereignis der Oktoberrevolution zum Thema hat. Das Bild ist im „U“ gleich zweimal wandtapetengroß zu sehen, einmal als Original, einmal so retuschiert, daß es den Vorstellungen der Bolschewisten von einer in jeder Hinsicht „richtigen“ Revolution entsprach.

Riesenspektakel

Original und Fälschung? Nun, die Entstehungsgeschichte dieser und etlicher weiterer Fotografien vom Sturm auf den Winterpalast ging im Jubiläumsjahr 2017 kräftig durch die Medien, und so ist wohl relativ bekannt, daß beide Bilder das sind, was wir heute „Fake“ nennen – Fake und retuschierter Fake (ist Fake männlich, grammatisch gesehen?).

Das unretuschierte Bild entstand nämlich keineswegs 1917, sondern erst am 7. November 1920, und es war Bestandteil einer gigantischen Theaterinszenierung anläßlich des dritten Jahrestages der Revolution. Regisseur Nikolaj Evreinov (1879 – 1953) inszenierte das Spektakel vor dem Palast auf drei riesigen Bühnen, und die Zahl der Mitwirkenden schwankt je nach Quelle zwischen 60.000 und 150.000. Ein revolutionärer Film entstand, und die Revolutionäre träumten ihren Traum vom Palaststurm, den es tatsächlich – so oder so ähnlich – nie gegeben hat.

Auch „La liberté raisonnée“ von Christina Lucas  (2009) wird in der Ausstellung „Sturm auf den Winterpalast gezeigt (Foto: HMKV, Courtesy of Cristina Lucas)

Zuschauer stören

Doch Wirklichkeit läßt sich gestalten; das denkt der amerikanische Präsident, und das sahen auch schon die Bolschewisten so. Deshalb wurde der inszenierte Palaststurm – die Noch-einmal-Inszenierung, das „Reenactment“ – per Retusche passend gemacht und in den folgenden Jahrzehnten als authentisches Bilddokument verbreitet. Man entfernte einen hölzernen Regieturm aus dem Bild sowie eine große Gruppe von Zuschauern, weil eine Revolution keine Zuschauer haben darf, sondern nur entschlossen voranstürmende Kämpfer. Die putzige Bezeichnung für diese Art von Historienbild ist „Als-Ob-Reenactment“, also quasi erfundener Fake, sozusagen doppelt gemoppelt. Und warum soll uns das interessieren? und warum interessiert sich ein Museum dafür?

Lästige Wirklichkeit

Nun, weil es hier, bei diesem Weltereignis, um frühe verfremdende Eingriffe am (Modewort!) revolutionären Narrativ geht, um die Erzählung sozusagen, die sich an Wunschvorstellungen eher orientiert als an der lästigen Wirklichkeit. Die Revolution mußte ja den naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des Marxismus folgen, und die Bilddokumente hatten dies zu belegen. Und möglicherweise, aber das ist natürlich spekulativ, findet sich in diesem unseriösen Umgang mit der Wirklichkeit schon der Keim des Scheiterns. Bezüge zur Gegenwart, zu „alternativen Fakten“ und unseriösen populistischen Verkürzungen liegen auf der Hand. Doch zurück in die Ausstellung des HMKV.

Noch kein Bildjournalismus

Die Dortmunder Ausstellung reichert die Gegenüberstellung der beiden Großabzüge mit vielen detailhaften Fotografien an, Kämpfer, Barrikaden, Kampffahrzeuge usw. – links welchen von der Inszenierung, rechts welchen von der „richtigen“ Revolution. Das ist gut gemeint, offenbart aber schnell das Dilemma, daß die Fotos jener Jahre zwangsläufig fast immer Inszenierungen waren und sich ästhetisch deshalb eigentlich nicht unterscheiden. Das war der damaligen Fototechnik geschuldet, die mit Plattenkameras und wuchtigen Stativen noch wenig geschmeidig war. Ein Bildjournalismus nach heutigem Verständnis etablierte sich erst 10, 20 Jahre später.

Mit dickem Strich

Ein weiterer, großartiger Teil dieser Präsentation indes ist die Wiedergabe von Teilen des revolutionären Films Evreinovs. Vorrevolutionäre Gesellschaft, mit ganz dickem Strich gezeichnet: hungernde Arbeiter, kämpferische Bauern, Plutokraten, die hastig ihre Geldsäcke beiseite schaffen. Es galt, ein Volk, dem wenig Bildung zuteil geworden war, von einer besseren Zukunft im Kommunismus zu überzeugen; dieser Impetus wirkt redlich und rührt an.

Eine Aktion der Gruppe Chto Delat erinnert an die revolutionären Matrosen: „Palastplatz 100 Jahre danach. Film-Vortrag ,Vier Folgen von Zombie'“ (Foto: HMKV/Courtesy of Chto Delat and KOW Berlin)

Die Matrosen sind fort

Angereichert wird die Auseinandersetzung mit dem Winterpalast-Sturm durch einige aktuelle Arbeiten jüngerer Künstler, von denen zwei prominent präsentierte Videos in besonderer Erinnerung bleiben. Das eine stammt von der russischen Gruppe „Chto Delat“, was übersetzt „Was tun“ heißt.

Natürlich stand Lenins kämpferische Schrift gleichen Titels bei der Namensfindung des Künstlerkollektivs Pate, für das sich die Frage „Was tun“ stellte, als es sich auf dem Platz vor der Eremitage in St. Petersburg den alltäglichen Menschenauftrieb anguckte und sich fragte, wo denn die Matrosen geblieben seien – jene, deren Meuterei auf dem Kriegsschiff „Aurora“ am Anfang der Revolution gestanden hatten. In ihrem Video gaben sie den verschwundenen, vergessenen Kämpfern von damals gleichsam als lebenden Toten Gestalt, langsam und wortlos rückwärts den Platz beschreitend. Dabei tragen sie Transparente, auf denen nichts steht. „Palastplatz 100 Jahre danach. Film-Vortrag ,Vier Folgen von Zombie’“ ist der sperrige Titel dieses 34-Minuten-Videos, das so intensiv historische Aufrichtigkeit einfordert, im „U“ seine Deutschlandpremiere erlebt und die Auseinandersetzung mit dem Sturm auf den Winterpalast ganz hervorragend ergänzt.

Pseudo-Parlamentarismus

Das zweite Video stammt von dem Schweizer Milo Rau, der behauptet, der Welt mangle es an demokratischer Repräsentanz, um die wirklich wichtigen Probleme zu behandeln und zu lösen. Deshalb hat er sich ein handverlesenes 60-Personen-Plenum in die Berliner Schaubühne eingeladen und dort Parlament gespielt – stellvertretend für alle, „die von der deutschen Politik betroffen sind, jedoch kein politisches Mitspracherecht haben“. Eine recht autistische Veranstaltung; nur ganz leise und bar jeder Hoffnung auf Verständnis möchte man fragen, wie es denn um die Mandatierung der Abgeordneten steht, ob weltweit agierende NGOs oder die Vereinten Nationen für diesen Künstler nicht existieren. Aber das ist wahrscheinlich sinnlos. Trotzdem paßt diese Arbeit gut in die Ausstellung, weil sie den Pseudo-Parlamentarismus des untergegangenen real existierenden Sozialismus geradezu genial paraphrasiert.

So schon viel zu viel geschrieben. Deshalb muß der Aufsatz über die Winterpalast-Ausstellung jetzt mit dem Hinweis sein Bewenden haben, daß neben dem historischen Komplex insgesamt neun Arbeiten von sechs zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern zu sehen sind.

Ausstellung „Die Grenze“: Taus Makhatcheva (Rußland), „19 a Day“, Photo 2014, Photograph: Shamil Gadzhidadaev (Foto: HMKV/Taus Makhatcheva)

An der Grenze zu Asien

Neben dem Winterpalast gelangt ein Ausstellungsprojekt des Goethe-Instituts zur Präsentation. Es heißt „Die Grenze“ und behandelt, geographisch wie auch kulturell, die Grenze zwischen Europa und Asien. Die ist nach dem Zerfall der Sowjetunion ja wieder deutlicher hervorgetreten, und das veranlaßte Deutschlands nationales Kulturinstitut, junge Künstler der Region zur Auseinandersetzung mit dem Thema aufzufordern.

Es entstand eine Reihe mehr oder minder origineller Arbeiten, etliche Videos zumal, die sich mit den großen und kleinen regionalen Eigenheiten und mit kultureller Identität beschäftigen. Man begegnet einem „interaktiven“ asiatischen Karaoke-Automaten, texanischen Cowboys in Fernost oder auch Sammeltassen aus Samarkand, die die Moskauer sich als Reisesouvenirs mitbrachten, die aber in einem Kombinat 70 Kilometer von Moskau entfernt gefertigt wurden.

Das Ausstellungsdesign wird beherrscht von blauen hölzernen kubischen Transportkisten mit einer Kantenlänge von etwa einem Meter, und das ist so, weil diese Kisten, wie Kurator Thibaut de Ruyter erläutert, auch für den Transport der Schau verwendet werden. An sechs Orten hat das Goethe-Institut „Die Grenze“ in diesem Jahr bereits gezeigt, Moskau, St. Petersburg, Krasnojarsk, Kiew, Tiflis, Minsk. Dortmund ist die Nummer sieben.

Und außerdem:

Noch bis 3. Dezember steht auf dem Platz vor dem „U“ ein 20-Fuß-Container, in dem der englische Künstler Sam Hopkins (Jahrgang 1979) seine Installation „Ministry of Plastic“ aufgebaut hat. Sie präsentiert in edlen Vitrinen Dinge und Scheußlichkeiten des täglichen Bedarfs und spielt mit dem Gedanken, daß der (heute als minderwertig betrachtete) Kunststoff das Gold der Zukunft sein könnte, edel und wertvoll.

Man ahnt, daß es um Recycling, Upcycling, Ressourcenschonung oder Urban Mining gehen könnte, und damit ist diese Arbeit auch schon recht vollständig erklärt. Während des Klimagipfels stand der Container übrigens vor dem Bonner Kunstmuseum; vor das Dortmunder „U“ hat ihn jetzt die „innogy Stiftung“ gestellt, die jüngst im „U“ tagte und deren Stipendiat Sam Hopkins ist.

  • „Sturm auf den Winterpalast“ und „Die Grenze“
  • Hartware MedienKunstVerein im Dortmunder U, Ebene 6, Leonie-Reygers-Terrasse, Dortmund
  • Bis 8. April 2018
  • Geöffnet tägl. 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr, Mo geschl.
  • Eintritt 5 Euro
  • Zur Ausstellung „Sturm auf den Winterpalast“ gibt es ein Begleitheft
  • www.hmkv.de/



Ein Ruhri als Arbeitsmigrant in Istanbul – burlesker Musikabend des Bochumer Schauspiels mit Liedern von Sezen Aksu

Im Dolmus, dem speziellen türkischen Sammeltaxi, kommen sich die Menschen sehr nah. Ensembleszene aus „Istanbul“. (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Schummrig glimmende Messinglampen, dicke Teppiche, im Hintergrund die Blaue Moschee: ganz klar, der Orient.

Umrahmt indes wird die orientalische Szenerie vorne, links und rechts von voll besetzten Biertischen und –bänken, und käme im nächsten Moment eine blonde Resi Maßkrüge stemmend um die Ecke, wunderte es einen nicht. Man ahnt, dass hier Kulturen aufeinanderstoßen werden, und liegt damit natürlich richtig.

Türkische Künstlerin

„Istanbul“ heißt das Stück von Selen Kara und Torsten Kindermann, in dem es meistens laut und lustig zugeht und in dem es viel Musik zu hören gibt – Premiere im Kleinen Haus des Bochumer Theaters.

Zu hören sind an diesem Abend Lieder der türkischen Sängerin Sezen Aksu (Jahrgang 1954). Sie ist in der Türkei seit Jahrzehnten ein Star, singt von Sehnsucht, Liebe, Trauer, Verlust. Im Jahr 1990, verrät uns das Internet, gab es eine Zusammenarbeit mit Udo Lindenberg, dennoch dürfte die Künstlerin in Deutschland nur wenigen bekannt sein. Diesem Defizit mit einem Liederabend zu begegnen, ist somit ein löbliches Unterfangen.

Wie sagt man, daß man Kaffee lieber mag als Tee? Aufmerksame Barkeeper und sprachunkundiger Gastarbeiter (von links): Koray Berat Sari, Torsten Kindermann, Gregor Hengesbach, Jan Sebastian Weichsel, Roland Riebeling. (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Die Rahmenhandlung spielt mit einer Fiktion. Wie wäre es, wenn die türkisch-deutsche Arbeitsmigration umgekehrt verlaufen wäre? Wenn nicht Türken zum Broterwerb nach Deutschland hätten kommen müssen, sondern Deutsche in die Türkei, vor allem nach Istanbul, Boomtown am Bosporus?

Klaus Gruber, VfL-Fan aus Bochum, ereilt dieses Schicksal. Die entwürdigende medizinische Untersuchung erklärt ihn für tauglich, und in einem Ort namens Börök bekommt er Arbeit. Klaus (Roland Riebeling) versteht kein Wort Türkisch, seine Behausung ist winzig, seine Arbeit eine Knochenmühle, immerzu muss er, der notorische Kaffeetrinker, Tee trinken, und erotischen Offerten beiderlei Geschlechts – schließlich ist er verheiratet – muss er entschlossen widerstehen. Doch Klaus schluckt all das, schickt Geld nach Hause, schwört sich und allen, die es hören wollen, dass er das höchstens zwei Jahre macht.

Klaus‘ Frau kam nach

Bekanntlich kam es anders für die Männer und Frauen der „ersten Generation“. Die neue Heimat haben sie nicht gewonnen, die alte aber Stück um Stück verloren. Irgendwann ist Klaus’ Frau Luise (Tanja Schleiff) nachgezogen, und als Rentner sitzen sie immer noch in Istanbul. Obwohl Klaus in Bochum ein Haus gebaut hat, blau-weiß angestrichen, mit Wintergarten. Anfang und Ende der Handlung ist übrigens eine Beerdigungsszene, in der die Hinterbliebenen darüber streiten, wo Klaus’ Urne denn nun vergraben werden soll.

Neben Klaus und Luise wirken eine türkische Geliebte (Raphaela Möst), ein Barkeeper (Martin Weigel) und ein Dolmetscher (Daniel Stock) mit, und alle fünf singen sie abwechselnd Lieder von Sezen Aksu. Begleitet werden sie von einer Viermannkapelle (Gregor Hengesbach, Torsten Kindermann, Koray Berat Sari, Jan-Sebastian Weichsel), die sich auch, wie man spätestens bei der Zugabe hören wird, mit hartem Rockgeschrammel recht gut auskennt. So viel zur Konstruktion dieser eher schlicht gestrickten Zweistundenproduktion.

Klaus (Roland Riebeling) auf seinem Teppich. (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Selbstgemachtes Musiktheater hat in Bochum Tradition. Ein sehr erfolgreicher Johnny-Cash-Abend mit Thomas Anzenhofer in der Titelrolle stand während der Intendanz Anselm Webers jahrelang auf dem Programm. Auch hier verantwortete Torsten Kindermann das musikalische Konzept. Wahrscheinlich hoffen er und die anderen „Istanbul“-Verantwortlichen – zu nennen wäre noch Regisseur Selen Kara, der zusammen mit dem Texter Akin E. Sipal die Fassung dieses Stücks schuf – auf einen ähnlichen Erfolg.

Doch wirklich überzeugend geraten die Musikbeiträge hier nicht. Die eher burleske Darbietung auf der Bochumer Bühne (Thomas Rupert) unterscheidet sich nachteilig vom stilvollen, intensiven Vortrag der türkischen Diseuse.

Auch die musikalische Begleitung gerät zu derb, lässt mit lautem Trommeln eher an den Balkan-Sound eines Emir Kusturica denken. Subtile „orientalische“ Klänge hingegen, die, wenngleich sparsam gesetzt, den Reiz der Lieder von Sezen Aksu zu einem nicht geringen Teil ausmachen, sind Sache dieser Musikanten nicht. So wie in Bochum vorgetragen, klingen die Lieder auch deshalb bald schon einförmig, und ungeduldig harrt man des Fortgangs der Handlung.

Keiner versteht Ruhri-Deutsch

Nun, trotzdem bleibt es vergnüglich, und das ist vor allem Roland Riebeling als Gastarbeiter Klaus zu verdanken. Mit Mutterwitz ist er gesegnet, die Sprache des Reviers ist ihm vertraut, und mit gutem Gespür für die rechte Balance von Tragik und Komik arbeitet er auch die traurigen Valeurs des Gastarbeiterschicksals heraus: Ein armer Ruhri, dessen Ruhri-Sprache keiner versteht und der in seiner existentiellen Not unser Mitleid erregt. Auch die anderen vier Mitspieler wissen zu überzeugen, wenn die Inszenierung ihnen dazu die Gelegenheit gibt. Alle arbeiten sie hoch präsent und mit beeindruckendem Körpereinsatz.

Das Publikum bejubelte „Istanbul“ am Premierenabend frenetisch. Auch zu Silvester, wenn das Schauspielhaus mit Doppelvorstellungen in beiden Häusern maximales Programm bietet, ist das Stück im Angebot. Spaßtheater zum Jahreswechsel, warum auch nicht. Die Sängerin Sezen Aksu indes sollte man sich im Original anhören. Im Internet geht das problemlos.

 




Trash-Komödie um Nazis und Völkermord – Mario Salazars wüste Mixtur „Schimmelmanns“ im Theater Oberhausen

Den Anfang macht Toni Schimmelmann. Er ist Clown im Zirkus von Nazi-Krüger, rote Perücke, rote Schuhe, lappiges Tutu. Eigentlich will er weg von hier, weil er Nazi-Krüger hasst. Und weil er im Zirkus so unerfreuliche Rollen spielen muss wie die eines jüdischen KZ-Gefangenen, der nicht weiß, ob er heute noch vergast wird oder nicht.

"Schimmelmanns"-Szene mit (von links): Mervan Ürkmez, Jürgen Sarkiss, Ingrid Sanne, Clemens Dönicke, Ayana Goldstein. (Foto: © Katrin Ribbe)

„Schimmelmanns“-Szene mit (von links): Mervan Ürkmez, Jürgen Sarkiss, Ingrid Sanne, Clemens Dönicke, Ayana Goldstein. (Foto: © Katrin Ribbe)

Ist das witzig? Was kommt als nächstes? „Schimmelmanns“ heißt das Stück, das von der ersten Minute an mit Provokationen und Zumutungen auf sein erschrockenes Publikum feuert. Geschrieben hat es Mario Salazar, Kind chilenischer Eltern und 1980 in Ostberlin geboren. Im Theater Oberhausen war nun die Uraufführung.

Mit Anklängen an die Titelmelodie der „Schwarzwaldklinik“ (Live-Musiker mit Keyboards und Schlagzeug auf der Bühne: Martin Engelbach) nimmt das Geschehen seinen Lauf. Es kreist um die Beerdigung des Großvaters, das die Familienmitglieder, die einander nur sehr begrenzt leiden können, zusammenbringt. Auch Toni, der einst vor seiner grauenvollen Familie nach Amerika geflohen war, reist schließlich an.

Nazis sind sie mehr oder weniger alle

Nazis und Altnazis sind sie mehr oder weniger alle, und die Konzentrationslager waren ja wohl eine einmalige historische Leistung. Doch die Syrer sollte man nicht vergasen, billigere Arbeitskräfte gibt es schließlich nicht – auch nicht für das profitable Freizeitpark-Projekt Ossiland in Bottrop, wo der geschäftstüchtige Felix Schimmelmann (Clemens Dönicke) als Hauptattraktion stündlich eine scheiternde Republikflucht nachspielen lassen will.

Witwe Rosi Schimmelmann (Ingrid Sanne), familiäres Epizentrum und angeblich erblindet, will nicht von ihrer Bibel lassen, und sie hasst alle, denen das Neue Testament nichts gilt, Juden, Araber, ganz egal. Früher war sie mal in der SPD. Und seit Beginn ihrer Ehe sei sie permanent vergewaltigt worden. Sagt sie.

Und weiter dreht sich das Kaleidoskop der braunen Unappetitlichkeiten. Doch was sich als Handlung ankündigte, ist eher eine Aneinanderreihung von Meinungen, Positionen, Haltungen, es passiert eigentlich nichts. Auch die demente Großmutter mit ihrer panischen Russenangst (Anna Polke) ist kaum mehr als ein grotesker Sidekick.

Schenkelklopfer zum apokalyptischen Gang der Dinge

Nur eine uneheliche Tochter (Ayana Goldstein), Tati Asensio Rodriguez mit Namen und vorgeblich dunkelhäutig, fällt etwas aus der Art. Sie hat sich der linken „Antinationalarmee“ angeschlossen, was vielleicht ehrenhaft, aber nicht plausibel ist und überdies im rassistischen Schimmelmann-Kosmos keine Rolle spielt. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass das Thema Raubkunst und in Gestalt von Videoeinspielungen auch die Nürnberger Prozesse vorkommen.

Von links: Jürgen Sarkiss (hinter der Zeitung), Ingrid Sanne, Lise Wolle. (Foto: © Katrin Ribbe)

Von links: Jürgen Sarkiss (hinter der Zeitung), Ingrid Sanne, Lise Wolle. (Foto: © Katrin Ribbe)

Ach ja: Draußen haben die Nazis (oder war es die AfD?) die Macht übernommen oder stehen kurz davor, und alles wird vermutlich jetzt ganz schrecklich. Drinnen aber, im Hause Schimmelmann, gibt man den apokalyptischen Gang der Dinge als schenkelklopfendes Boulevardtheater, als definitiv kurzweilige Tür-auf-Tür-zu-Komödie auf zwei Etagen (Bühne: Maria-Alice Bahra), die ihren Abschluss mit der Wiederkehr des alten Patriarchen Arius Schimmelmann (Klaus Zwick) findet, SS-Hauptsturmbannführer a.D., ausstaffiert wie Uncle Sam. Oder ist das jetzt doch wieder Nazi-Krüger aus Miami, der im ähnlichen Outfit auftrat? Ist auch irgendwie egal.

Regie führt der neue Intendant Florian Fiedler

Was ist die Botschaft dieser wüsten Mixtur aus Nazi-Denken, aktuellem Rechtsextremismus, hartnäckigem Rassismus, Flüchtlingsthematik und so fort? Alles schlimm, gewiss. Doch die unbedarfte Verarbeitung des millionenfachen, industriell durchgeführten deutschen Völkermords im Nationalsozialismus zu Unterhaltungsstoff in einer Trash-Komödie befremdet denn doch. Der Holocaust als Menschheitskatastrophe bis dahin ungeahnten Ausmaßes war eben nicht „Hololo“, wie Arius Schimmelmann, Lacher sind ihm da gewiss, bei seiner Wiederauferstehung memoriert.

Offenbar wurde der Autor von der wirren Internet-Kommunikation am rechten Rand inspiriert. Claus Leggewie kommt im Programmblatt zu Wort, linksliberaler Politologe und Professor in Gießen, der von einem befremdlichen Internet-Dialog mit dem rechten Publizisten und Verleger Götz Kubitschek berichtet.

Es ist ein fiebrig-delirantes Spiel, das sich Mario Salazar ausgedacht hat und das Florian Fiedler, der neue Intendant des Theaters Oberhausen, nun als sein Regiedebut in einer Stunde 45 Minuten auf die Bühne stellt. Der Unterhaltungswert dieser Produktion ist unbestreitbar, auf die nächste Regiearbeit Fiedlers darf man gespannt sein. Anerkennung ist dem engagiert aufspielende Ensemble zu zollen. Das Publikum spendete langen, freundlichen Applaus.




Radikal und doch gefällig – Werkschauen der Informel-Künstler Karl Fred Dahmen und Peter Brüning in Duisburg und Hagen

Karl Fred Dahmen: „Terrestrische Intention II“ (1958), Mischtechnik auf Leinwand 176,5 x 216,5 cm.  Sammlung Ströher, Darmstadt (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

In den letzten Jahren werden seine Bilder karg. Wolkige Hellgründigkeit dominiert, sparsame Schraffuren und Texturen ordnen die Flächen. Die allerletzte Arbeit von Karl Fred Dahmen, „Ohne Titel (Letztes Bild)“ von 1980/81 gar könnte man, läßt man den rotbraunen Balken am unteren Bildrand außer Betracht, „leer“ nennen, was natürlich nicht stimmt, aber der Dominanz der Flächigkeit Rechnung trägt.

Er hatte nicht immer so gemalt. Das Museum Küppersmühle präsentiert in seinen wunderbaren, lichten, großzügigen Räumen nun gut 110 Werke dieses Großmeisters des Informel aus rund drei Schaffensjahrzehnten.

Karl Fred Dahmen: „Komposition III“ (1952),  Öl auf Rupfen/Papier 60,5 x 80 cm.  Karl Fred Dahmen, Nachlassverwaltung, Van Ham Art Estate, Köln (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: Saša Fuis Photographie, Köln)

Tod mit 41 Jahren

Auch das Hagener Emil Schumacher-Museum widmet sich mit einer Sonderausstellung einem Großen des deutschen Informel. Dort sind auf einer ganzen Etage Werke von Peter Brüning zu sehen, der in etwa zur selben Zeit lebte und arbeitete wie Dahmen, jedoch schon 1970 mit gerade einmal 41 Jahren einem Herzinfarkt zum Opfer fiel.

Dahmen war 12 Jahre älter als Brüning, doch künstlerisch standen sie sich nahe. 1953, es war die Zeit der Künstlervereinigungen, gründeten sie zusammen mit Gerhard Hoehme die „Gruppe 53“, ein rheinisches, wenn man so will, Pendant zum „Jungen Westen“. Vorher, 1951, werden sie sich vermutlich auch bei ihren Paris-Reisen begegnet sein. Sechs Jahre nach Ende des Krieges waren deutsche Jungtouristen, Künstler zumal, an der Seine wohl noch eine Seltenheit. Also auf in die Museen, erst nach Duisburg, dann nach Hagen.

Zum 100. Geburtstag

Karl Fred Dahmen, nun gut, ist einer jener Namen, die ganz sicher fallen, wenn vom frühen deutschen Nachkriegs-Informel die Rede ist – neben Karl Otto Goetz zum Beispiel, Fred Thieler, Bernard Schultze, Emil Schumacher und natürlich den Zero-Leuten Otto Piene, Heinz Mack und Günther Uecker. Doch den Prominentheitsgrad der Letztgenannten hat er nie erreicht. Man kennt ihn am ehesten noch aus den Katalogen der Kölner Auktionshäuser, wo regelmäßig Arbeiten angeboten werden, eher im fünf- als im sechsstelligen Bereich, was ja nicht wenig Geld ist. Aber Spitzenlose sind es eben auch nicht.

So muß man es durchaus verdienstvoll nennen, wenn das Stifterehepaar Ströher, das die Küppersmühle finanziert, zusammen mit dem Versteigerungshaus van Ham und etlichen prominenten Leihgebern nun, zum 100. Geburtstag des Künstlers, diese große Retrospektive auf die Beine gestellt hat. Van Ham, zur Erläuterung, hütet treuhänderisch einen Großteil des Dahmen-Nachlasses.

Karl Fred Dahmen: „Ein Tag“ (1964), Mischtechnik auf Leinwand 165 x 145 cm,  Privatsammlung Köln (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: Robert Häusser, Mannheim)

Von Landschaften inspiriert

In Karl Fred Dahmen nur den abstrakten Künstler zu sehen, den die sichtbare Welt nicht interessiert und der mit Verve sein Inneres auf die Leinwand wirft – nun, das würde es nicht ganz treffen. Dahmens Bilder sind Kompositionen, die von den Landschaften seiner Umgebung inspiriert sind. Die aufgelassenen Braunkohletagebaue seiner Heimatstadt Stolberg nahe Aachen sind da eine starke, oft verwendete Bildwelt, ebenso Schrottplätze und rottende Industrieruinen.

Es ist dies eine Form der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Veränderungen, die in Hinterlassenschaften wie, eben, Schrottplätzen und Müllhalden ihren vielleicht authentischsten Ausdruck finden. Letztlich geht es ihm, wie Kuratorin Ina Hesselmann unterstreicht, immer um die „Aufsicht auf die Städte“ – seien die Früchte der künstlerischen Produktion nun Strukturbilder, Mauerbilder, Montagebilder oder Objektkästen.

Karl Fred Dahmen in Stolberg (1958) (Foto: Ann Bredol-Lepper, Aachen)

Schaffenskrise in Bayern

Wie nahe Dahmen mit seinen vermeintlich abstrakten Arbeiten an der visuellen Wirklichkeit ist, wird besonders deutlich, als er 1967 als Dozent für Malerei nach Bayern übersiedelt. Dort übernimmt er die vorher von Georg Meistermann geleitete Klasse, wird im Folgejahr zum Professor ernannt. Das Ehepaar Dahmen kauft sich in Niederham im Chiemgau, nahe München, einen verwunschenen, alten Bauernhof, und die neue Wohnung stürzt den Künstler in die Krise. Statt kaputter Industrielandschaften nur noch Lieblichkeit, wohin das Auge fällt.

Geschundene Kreatur

Doch Dahmen arrangiert sich. Zukünftig herrscht in seinen Arbeiten die Farbe Grün vor, und bald schon fällt sein Augenmerk auf das Leiden der Tiere im ländlichen Raum, das er in der Folge ausgiebig thematisiert. In seinen dreidimensionalen Objektkästen, die er seit den 60er Jahren mit Trouvaillen füllt und anschließend bearbeitet, landen nun auch Tierhaare vom Bauernhof, Stricke oder auch üble Instrumente, die das Vieh gefügig machen. Bemerkenswerteste Arbeit in diesem Kontext ist sicherlich das archaisch-schroffe „Ambienteobjekt“ mit dem Titel „An die geschundene Kreatur“ von 1972/74, eine von Stricken umschlungene Achse mit eisernen Rädern, gemacht, um von Tieren gezogen zu werden doch auch fixiert an einem grünen Objekt im Hintergrund. Eigentlich ist das eine Rauminstallation, und dankenswerterweise ist sie in Duisburg zu sehen.

Weiß ist der Winter

Übrigens gibt es neben grünen Arbeiten auch etliche mit ausgeprägter Weiß-Dominanz. Sie reflektieren den Winter, und wenn Stricke heraushängen, handelt es sich um „Galgenbilder“. Erfreut nimmt man wahr, daß es auch dem älter werdenden Künstler nicht an Obsession fehlte.

Karl Fred Dahmen: „Maskuline Legende“ (1972), Objektkasten 133 x 56 x 11 cm Frankfurter Privatbesitz (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017  Foto: Saša Fuis Photographie, Köln)

Ein bißchen Kunstgewerbe

Allerdings sind die meisten Bilder, fast oder vollständig quadratisch und mit geschätzt zwei bis drei Quadratmetern Gesamtfläche auch noch recht gut aufhängbar, von oft geradezu unerträglicher Wohlproportioniertheit. Alles ist aufs Wunderschönste komponiert, lieblich möchte man fast sagen. Spannungen zwischen Bildelementen oder, in den Kästen, dem Gemalten und den Fundstücken, fehlen. Man weiß um des Meisters Ringen, doch das böse Wort „Kunstgewerbe“ bricht sich in den Gedanken des Betrachters Mal um Mal Bahn. Und man ahnt, warum damals so plötzlich Schluß war mit dem ganzen Nachkriegs-Informel, damals, als die Pop-Art über den Atlantik schwappte und uns mit ihrem provokanten Auftritt sprachlos machte. Doch wäre dies das Thema einer anderen Geschichte.

Peter Brünings Muster

So wenden wir uns nach Hagen, wo Karl Fred Dahmen übrigens 1966 den Karl Ernst Osthaus-Preis erhielt und sich dem Westdeutschen Künstlerbundes anschloß. Jetzt aber sind hier Bilder von Peter Brüning zu sehen. Einige „gegenständliche“ Baumbilder von 1954 lassen mit ihren prallen Stämmen das Vorbild Fernand Léger erahnen, doch schon wenige Jahre später ist der junge Künstler – 1956 war er gerade einmal 27 Jahre alt – in der Abstraktion unterwegs, wälzt flächige, düstere Kompositionen mit Ölfarbe auf Hartfaserplatten, erschafft eher Muster als Strukturen.

Bildhafter wird es Ende der 50er Jahre, wenn glühendes Rot und tiefes Schwarz das Bildgeschehen dominieren. Den „Kompositionen“ gesellen sich als Bildtitel nun die (Plural?) „Ohne Titel“ hinzu, wilder wird das Ganze, und wenn die beherrschende Farbe Blau ist, dann denkt man nun auch an Emil Schumacher. Oder wenigstens an Yves Klein.

Ein Bild, das jetzt in Hagen hängt: „Komposition 91/62“ (1962) von Peter Brüning, Öl und farbige Kreide auf Leinwand, 170 x 200 cm groß, Düsseldorfer Privatbesitz (Foto: Emil Schumacher Museum Hagen/Katalog)

Landschaftswahrnehmungen

In den 60er Jahren wiederum entstehen äußerst luzide, durchsichtige, weißgründige Arbeiten, die der Künstler mittlerweile durchnumeriert. Pflanzen? Menschen? Man weiß es nicht. Landschaften sind dies sicher nicht, Landschaftswahrnehmungen indes gewiß.

Welt der Zeichen

Richtig landschaftlich wird es erst in Peter Brünings letzten Schaffensjahren. Mitte der 60er Jahre klopft die Pop-Art an die Tür, und voller Humor übernimmt der Künstler in erstaunlicher Gegenständlichkeit und Schärfe kartographische Symbole und Linienführungen, etwa für sein „Blow-up“-Bild einer imaginären Landkarte mit dem Titel „Légende 9/66“ von 1966.

1968/69 schließlich hat Brüning das Offset-Plakat eines Industriegebiets um utopische Regenwolken (oder sind es Ufos?) ergänzt und das Ganze „Super-Rhein-Land“ genannt. Nun ja: Wenn er auch bisher schon vor allem Landschaft gemalt haben sollte, wie der Katalog nahelegt, ist dies ja kaum mehr als die konsequente Fortsetzung einer alten Idee. Doch wüßte man gerne, wohin sich Peter Brüning weiterentwickelt hätte, wenn er nicht ein Jahr später schon gestorben wäre.

„In den aus heutiger Sicht in Hinblick auf Natur und Gesellschaft visionär wirkenden Darstellungen einer von den Erscheinungsformen der modernen Industrie veränderten, geprägten und gleichzeitig gefährdeten Landschaft, in denen – wie Brüning es ausdrückte – ,die Zeichen unsere zweite Natur werden‘, ist er ein klar vorausschauender Seismograph seiner Zeit“, schreibt Rouven Lotz, wissenschaftlicher Leiter des Emil Schumacher-Museums, zutreffend zu dieser Ausstellung.

Artige Tapetenmuster

Gewiß, auch Brünings Bilder sind für uns Heutige sehr artig, sehr wohlkomponiert, in keiner Weise übertrieben. „Tapetenmuster“, wie böse Menschen sagen. Passiert man auf dem Rückweg einige späte große Arbeiten Emil Schumachers in der ersten Etage, so wird einem dieser Mangel an Dramatik und Unbedingtheit geradezu schmerzlich bewußt. Doch der große Hagener hatte auch mehr Zeit, sich zu vervollkommnen.

Baustelle Küppersmühle

Zweimal sehenswertes Informel, ganz ohne Frage. Und es ist auch wohltuend, wenn Kunst einmal nur aus „richtigen“ Bildern besteht – wiewohl Weitungen des Kunstbegriffs auf gesellschaftliche Prozesse und ihre möglichst unorthodoxe Vermittlung sicherlich auch ihren Reiz haben (können). Am besten fährt man selber hin und schaut, ob es gefällt. In Duisburg kann man dann übrigens noch einen Blick auf die Baustelle werfen, wo der Anbau der Küppersmühle munter an Gestalt gewinnt.

Infos:




„Hunger“ – der letzte Teil von Luk Percevals Bühnentrilogie nach Zola-Romanen bei der Ruhrtriennale

Jetzt herrschte „Hunger“ bei der Ruhrtriennale. Nur zweimal kam diese Gemeinschaftsproduktion des Festivals und des Thalia Theaters Hamburg vor düster-rostiger Hochofenkulisse in Duisburg zur Aufführung und war selbstverständlich ausverkauft.

Unter Tage kommen sie sich näher: Szene mit Marie Jung (Catherine) und Sebastian Rudolph (Étienne Lantier) (Foto: Ruhrtriennale/Armin Smailowic)

Den Besuchern wurde zu warmer Bekleidung geraten, außerdem gab es Wolldecken, die, wenn man sie sich nicht über die Knie legte, auch als Polsterung der harten Plastikbestuhlung gute Dienste leisteten. Es ist halt schon eine Herausforderung, stillgelegte Schwerindustrie mit Theater zu bespielen. Doch mittlerweile gelingt dies der Ruhrtriennale souverän. Und es hat auch nicht immerzu geregnet.

Bergleute streiken

Die Bühne in der Gießhalle des Landschaftsparks Duisburg-Nord ist seit dem ersten Teil dieselbe geblieben, eine karge Spielfläche mit schwer erklimmbarer Erhöhung am hinteren Rand und einigen Seilen, die von oben herabhängen.

„Hunger“ ist als Titel durchaus wörtlich zu verstehen. Teil 3 von Luk Percevals Bühnenfassung zentraler Motive aus Émile Zolas Romanzyklus „Die Rougon-Macquart“ erzählt (nach „Liebe“ und „Geld“) zu einem wesentlichen Teil vom elenden Leben der Bergleute im (fiktiven) nordfranzösischen Bergarbeiterdorf Montsou, denen ihr karger Lohn nicht mehr zum Überleben reicht. Angeführt von Étienne Lantier, der erst vor kurzem herkam, planen sie einen Streik. Als Vorlage diente Zolas Roman „Germinal“.

Lebensgefährliche Nähe: Lokführer Jacques (Rafael Stachowiak, rechts) und Severine (Patrycia Ziolkowska). (Foto: Ruhrtriennale/Armin Smailovic)

An Étienne erinnert man sich möglicherweise noch aus Teil 2 der Trilogie als uneheliches Kind der Wäscherin Gervaise. Nun, in Folge 3, ist er erwachsen geworden und sucht händeringend Arbeit – ein echter Proletarier also, ein „freier Lohnarbeiter“, der hier die Bühne der ungestümen, menschenverachtenden Industrialisierung des 19. Jahrhunderts betritt.

Unbändige Mordlust

Sein Bruder Jacques, Lokomotivführer von Beruf, ist Hauptperson des zweiten Handlungsstrangs dieses Abends. Seine Leidenschaft gilt der Maschine, und bangend hofft er, dass das auch so bleibt. Denn wenn Jacques in Leidenschaft für eine Frau erglüht, dann will er sie töten, und gegen diesen Trieb kommt er nicht an. Es sei dies, legt der Stoff nahe, eine Hypothek aus schwerer Kindheit.

Der Programmzettel erinnert uns daran, dass all diese Dinge ja Resultate von Doktor Pascals Recherche sind, welche zur „Trilogie meiner Familie“ führte. Doktor Pascal lernten wir ausführlicher vor zwei Jahren kennen, als ratlosen Erforscher familiären Unglücks, das mit wenig Betrachterphantasie auf Menschheitsunglück hochgerechnet werden kann.

Ein Mord, um noch einmal auf die Bühnengeschehnisse im dritten Teil zurückzukommen, schweißt Jacques (Rafael Stachowiak) und Severine (Patrycia Ziolkowska) in heißer Zuneigung zusammen, doch letztlich geschieht, was wir befürchteten. Der übermächtige Hunger nach Befriedigung bricht sich Bahn. Und unter den Rädern der Lokomotive, so ist zu hören, findet die Geschichte schließlich ihren schauerlichen Abschluss, während Militär streikende Bergleute erschießt.

Barbara Nüsse gibt den Großvater – ein unwirkliches, furchterregendes Anarchistenwesen. (Foto: Ruhrtriennale/ Armin Smailovic)

Mit Saxophon

Viel Stoff also, der da auf die Bühne drängt und inszenatorisch gebändigt sein will. Luk Perceval arbeitet mit einer, wie man vielleicht sagen könnte, filmischen Technik und wechselt zwischen den beiden Handlungen nach Art von Schnitt und Gegenschnitt.

Manchmal, wenn eine Szene ihr (meist) deprimierendes Ende findet, spielt der Saxophonist Sebastian Gille auf der Bühne sehr expressiv und schön ein Intermezzo, und die Klage seiner Töne schwillt mit dem Gang der Dinge an. Doch der Einsatz des Musikers macht die dramatische Konstruktion nicht wirklich geschmeidiger.

Holzschnitthaft und verkrampft

Die Bergarbeitergeschichte wirkt in ihrem Bemühen, möglichst detailreich vom Elend zu erzählen, holzschnitthaft und verkrampft. Aufruhr wird bevorzugt mit erregtem Herumlaufen dargestellt, nie herrscht ein Mangel an markigen Sätzen. Schließlich sondert Mutter Maheu (Oda Thormeyer) nur noch lange, aufgebrachte Schreie ab, einem verwundet aufheulenden Tier nicht unähnlich. Ja, die Verhältnisse sind schrecklich. Doch war das schon lange vorher klar.

Eine vergleichsweise originelle inszenatorische Idee ist es, die jungen Bergleute mit LED-Stirnlampen auszustatten, die bei fortschreitender Dämmerung für längere Zeit einzige künstliche Lichtquelle auf der Duisburger Hochofenbühne sind. Doch gesehen hat man Ähnliches schon öfter, gern würde man von Pfiffigerem überrascht, gern auch von sinnstiftenden Raffungen im Erzählstrang.

Bühnengeschehen im Schein der Kopflampen. Szene mit Tilo Werner (Vater Maheu) und Marie Jung (Catherine), (Foto: Ruhrtriennale/Armin Smailovic)

Sportliches Ensemble

Man könnte ja auch einfach alles zerschlagen, wie Bonnemort (in etwa: „guter Tod“), es den Bergleuten ausmalt. Barbara Nüsse gibt dem Großvater, diesem gespenstischen Anarchistenwesen, das stets da ist und doch neben allem steht, furchteinflößende Gestalt. Gabriela Maria Schmeide, an die wir uns in der Rolle der Wäscherin Gervaise noch gut erinnern, ist jetzt als schwachsinnig-seherische Alzire auf der Bühne, agiert wie auch Bonnemort ein wenig außerhalb der Handlung, die ein jugendliches, ausnahmslos vorzügliches Ensemble hier mit großer Sportlichkeit auf die zugige Gießhallenbühne stellt. Video-Elemente fehlen völlig, ohne deshalb vermisst zu werden.

Anhaltender und lebhafter Applaus.

Die ganze Trilogie wird am 15. und 17. September bei der Ruhrtriennale zu sehen sein, dann warten schlanke 11 Stunden Theater mit zwei Pausen. Start ist um 13.00 bzw. 12.00 Uhr. Besucher sollten sich warm anziehen und auf den Wetterbericht achten. Infos: www.ruhrtriennale.de




Fünf Sparten des Dortmunder Theaters präsentieren für 2017/18 ein üppiges Programm – Personalkarussell dreht sich

Das Programm ist üppig, das Programmbuch ein Schwergewicht. Wenn das Theater Dortmund seine Pläne für die neue Spielzeit vorstellt, mangelt es an Masse nicht. Trotzdem aber wohnt der munteren Zusammenkunft im Opernfoyer, wo die fünf Sparten Oper, Ballett, Philharmoniker, Schauspiel sowie Kinder- und Jugendtheater ihre Pläne dartun, etwas Passageres, Flüchtiges inne. Das ist auch kein Wunder, denn das Personalkarussell dreht sich.

Wie berichtet, wechselt Opernchef Jens Daniel Herzog nach der kommenden Spielzeit 2017/18 als Intendant an das Nürnberger Staatstheater, und wenige Stunden vor der Konferenz wurde bekannt, daß die langjährige Dortmunder Verwaltungschefin Bettina Pesch bereits zur kommenden Spielzeit nach Magdeburg geht. Verwaltungsdirektorin und stellvertretende Generalintendantin ist sie dann dort. Ihre Nachfolge ist noch nicht geregelt, während der Nachfolger Herzogs feststeht. Heribert Germeshausen, bislang noch Heidelberger Operndirektor, soll ihm – wie berichtet – nachfolgen.

Pesch dankte Herzog, Herzog dankte Pesch, wie sich das gehört.

Megastore ist bald Vergangenheit

Schauspielchef Kay Voges ist zwar nach wie vor im Dortmunder Boot, war aber durch die Bauarbeiten im Schauspielhaus für längere Zeit auch mehr oder weniger abwesend. Gänzlich schuldlos, wohlgemerkt, war sein Schauspiel doch gezwungen, in einer unfreundlichen Industriehalle mit dem sinnreichen Namen „Megastore“ zu spielen, wo manches gar nicht und vieles nur mit Abstrichen lief. Am 16. Dezember aber soll es jetzt wirklich wieder im Schauspielhaus losgehen, ein „Doppelabend“ aus Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ und Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ macht den Anfang, erstaunlicherweise nicht in der Regie von Voges.

Musentempel in Schwarz-Gelb: Die Ausweichspielstätte „Megastore“ im Hörder Gewerbegebiet (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kay Voges ist, gleichermaßen erstaunlich, auch nur ein einziges Mal für Regie eingetragen, Thomas Bernhards „Theatermacher“ hat er sich vorgenommen, Premiere am 30. Dezember. Grund für diese Abstinenz, so Voges, seien alte Verträge mit Gastregisseuren, die man abgeschlossen habe – lange bevor man um die sich endlos hinziehenden Bauarbeiten wußte. Jetzt sollen die engagierten Kräfte auch das Vereinbarte liefern, sonst werden Vertragsstrafen fällig, muß ja nicht sein.

Voges hat aber noch so einiges im Sack, deutet er an, will aber noch nicht darüber sprechen. Auf jeden Fall steht zu hoffen, daß das Schauspiel Ende des Jahres wieder unter zumutbaren Bedingungen in ein ruhiges, produktives, kreatives Fahrwasser zurückfindet. Angekündigt werden unter anderem „Übergewicht, unwichtig: Unform – Ein europäisches Abendmahl“ von Werner Schwab im Studio (Premiere 17.12.), ein Tschechowscher „Kirschgarten“ als opulentes Ensemblestück ebenfalls im Studio (29.12.), „Orlando“ nach Virginia Woolf (ab 11.2.2018) und leider auch wieder „Die Kassierer“.

Die Kassierer mit ihrem Frontmann Wolfgang Wendland (vorn) kommen wieder. Ihr neues Stück heißt „Die Drei von der Punkstelle“ (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Die Drei von der Punkstelle“

Die Punk-Rentnerband um Wolfgang „Wölfi“ Wendland droht die „Punk-Operette“ „Die Drei von der Punkstelle“ an (ab 26.5.2018). Und wo wir schon dabei sind: Unter den Extras und noch ohne festes Datum kündigt sich in der „Gesprächsreihe für wahre Freunde der Trashkultur“ Jörg Buttgereits Beitrag „Nackt und zerfleischt“ an. Freut euch drauf!

Auf dem Opernzettel stehen „Arabella“ von Richard Strauss (ab 24.9.), „Eugen Onegin“ von Peter Tschaikowski (ab 2.12.), „Nabucco“ von Verdi (ab 10.3.2018) und schließlich „Die Schneekönigin“ von Felix Lange als „Familienoper“ (ab 8.4.2017). Die Abteilung Leichte Muse wird von Paul Lincke, dem Erfinder des Lincke-Ufers, mit der Revue-Operette „Frau Luna“ beschickt (ab 13.1.2018), und als obligate Musicalproduktion erwartet ein geneigtes Publikum „Hairspray“ von Marc Shaiman (ab 21.10.). Kammersänger Hannes Brock, Dortmunder (Verzeihung) „Opern-Urgestein“, Homeboy, Publikumsliebling und was nicht sonst noch alles wird sich mit dieser Produktion in den wohlverdienten Ruhestand verabschieden. Eine festliche Gala mit Philharmonikern und Band ist zudem am 17. Februar 2018 für Hannes Brocks Verabschiedung geplant, der Titel ist, wenn ich nicht irre, ein Satz des letzten österreichischen Kaisers Franz-Josef I.: „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut“ sprach er einstmals in einen Edison-Phonographen, die Aufnahme ist erhalten.

Xin Peng Wangs Ballett „Faust II – Erlösung!“ bleibt im Programm (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Abstraktes Ballett

Drei Klavierkonzerte von Rachmaninow, 6 Symphonien von Tschaikowski liefern das musikalische Material, mit dem Dortmunds Ballettchef Xin Peng Wang ein neues, abstraktes Ballett gestalten will, das die Namen dieser beiden Komponisten zum Titel hat. Außerdem kommt „Alice“, ein Ballett von Mauro Bigonzetti nach Lewis Carrolls „Alice’s Adventure in Wonderland“, zu dem die italienische Frauenband Assurd die Musik machen wird (ab 10.2.2018). Wiederaufnahmen sind „Der Nußknacker“, ein Ballett von Benjamin Millepied, sowie „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang. Und die traditionsreiche Internationale Ballettgala trägt mittlerweile hohe Ordnungsziffern, XXVI und XXVII (30.9. u. 1.10.2017, 30.6. u. 1.7.2018).

Mahlers Vierte und Achte

Den meisten Platz in den gedruckten Programmankündigungen, so jedenfalls scheint es, beansprucht jedes Jahr Generalmusikdirektor Gabriel Feltz. Das liegt aber einfach daran, daß die Philharmoniker schon lange vor Spielzeitbeginn festlegen, was sie spielen werden, Reihe für Reihe, Konzert für Konzert. Und das schreiben sie dann eben auch schon auf, daher der Umfang.

Zweimal ist in der Konzertreihe nun Mahler im Angebot (die Vierte im Oktober 2017, die Achte im Juli 2018). An Mahler habe er sich in seinen ersten Dortmunder Jahren nicht herangetraut, erklärt Feltz, erst wollte er den Klangkörper besser kennenlernen. Nun aber traut er sich; auch an die Achte, die gern die „Sinfonie der Tausend“ genannt wird. Gut, tausend Mitwirkende wie bei der Uraufführung bringt Dortmund nicht auf die Bühne, aber 330 sind es schon, vor allem wegen der machtvollen Chöre. Neben dem Knabenchor der Chorakademie Dortmund werden der Tschechische Philharmonische Chor Brno und der Slowakische Philharmonische Chor Bratislava zu hören sein.

Blick in das Dortmunder Konzerthaus (Foto: Anneliese Schuerer/Theater Dortmund)

90 Prozent Auslastung im Blick

Um die 80 Prozent Auslastung können die Philharmoniker derzeit vorweisen, das ist nicht schlecht. Wäre es da nicht an der Zeit, den Montagstermin wieder aufleben zu lassen? Feltz’ Vorgänger Jac van Steen hatte den dritten monatlichen philharmonischen Aufführungstermin wegen mangelnder Nachfrage abgeschafft, was die Dortmunder nicht begeisterte. Feltz sagt, er sei in dieser Frage unentschieden, im Orchester werde die Frage kontrovers diskutiert. Unter einer Auslastung von 90 Prozent allerdings sei ein weiterer regelmäßiger philharmonischer Termin schwer vorstellbar. Aber bei Mahlers 8. Sinfonie mit ihrem aberwitzigen Aufwand sollte man vielleicht mal eine Ausnahme vom Zweierzyklus machen – zumal nicht so viele Menschen ins Konzerthaus paßten wie sonst, der großen Chöre wegen.

Die Violinistin Mirijam Contzen (Foto: Mirijam Contzen/Tom Specht)

Übrigens: Die beiden Mai-Konzerte der Dortmunder Sinfoniker waren restlos ausverkauft, zweimal 1260 Plätze. Grund war, wie wir vermuten wollen, der Auftritt der Violinsolistin Mirijam Contzen, die familiäre Wurzeln in Asien, Lünen und Münster hat. Ein „Home-Girl“, wenn der Ausdruck erlaubt ist. Sie spielte Tschaikowskis Violinkonzert d-Dur op. 35.

Meinung aus zweiter Hand

Schließlich das Kinder- und Jugendtheater unter Leitung von Andreas Gruhn, das mit sorgfältiger Alterszuordnung eine erstaunliche Vielzahl von Stücken stemmt. Kafkas „Verwandlung“ bringen sie für Menschen ab 14 heraus (ab 22.9.), den „Gestiefelten Kater“ (ab 10.11.) finden wir – als Weihnachtsmärchen – auf der Liste der Premieren ebenso wie etliche pädagogisch unterfütterte Projekt-Stücke, Stück-Projekte, die sich um Themen wie Leistungsdruck, Selbstoptimierung und Existenzangst drehen, um Schwierigkeiten und Chancen und manchmal auch um dumme Rollenbilder. Von Omas und Opas in meinem Alter, die dort mit den Enkeln hingehen, höre ich immer wieder begeisterte Berichte über die Qualität des Kinder- und Jugendtheaters. Ich gebe das mal so weiter, Meinungen aus zugegeben zweiter Hand, trotzdem recht seriös in meinen Augen.

So viel erstmal in groben Zügen. Natürlich wird in allen Sparten noch viel mehr gemacht, als in diesem Aufsatz erwähnt werden konnte. Das dicke Programmbuch, das man mit seiner Orange-Dominanz und seinen 60er-Jahre-Schriften gestalterisch nicht unbedingt gelungen nennen muß, liefert eine Menge Informationen zur kommenden Spielzeit, die Lektüre ist ausdrücklich anempfohlen. Dem Schauspiel schließlich sei gewünscht, daß dessen karge Megastore-Zeit nun recht bald enden möge und sich der Vorhang wieder im angestammten Theater hebt.

 




Ruhrfestspiele: „Tod“, „Rausch“ und Angst – Extremzustände von unterschiedlicher Qualität

„Tod“: Kleinmann (Albert Bork) würde lieber im Bett bleiben. (Foto: Joachim Schmitz/Ruhrfestspiele)

Kleinmann ist wie er heißt, ein kleiner Mann, der seinen Nachtschlaf braucht, weil die Arbeitstage anstrengend sind. Es ist nämlich Saison, wie beiläufig zu erfahren ist, und Kleinmann ist Verkäufer von irgend etwas. Schlaf aber ist ihm nicht vergönnt.

Nachts um halb drei klopft die Bürgerwehr bei ihm an. Er soll helfen, den Mörder zu fangen, der sich in der Gegend herumtreibt. Kleinmann würde viel lieber schlafen, aber was soll man machen? Die Geschehnisse nehmen ihren Lauf.

Roberto Ciulli inszeniert Woody Allen

Kleinmanns gestörte Nachtruhe steht am Anfang des Theaterstücks „Tod“ von Woody Allen, 1978 uraufgeführt, das das Mülheimer Theater an der Ruhr unter Leitung seines charismatischen Intendanten Roberto Ciulli in einer Koproduktion mit den Ruhrfestspielen nun in Recklinghausen zur Aufführung brachte.

Knappe anderthalb Stunden hat der arme Kleinmann (Albert Bork) dann noch zu leben, bis er schließlich blutüberströmt auf seinem Bett liegt und das Licht ausgeht. Und diese anderthalb Stunden waren verdammt stressig, fand sich der arme Kerl doch plötzlich in einer undurchschaubaren, kafkaesken Szenerie auf der Straße wieder, um einige Zeit später selbst für den Mörder gehalten und beinahe gelyncht zu werden, bevor er schließlich dem echten Mörder in die Hände fiel. Wäre er doch im Bett geblieben.

Albert Bork, ein Mann von zierlicher Gestalt, gibt den Kleinmann (die Ruhrfestspiele schreiben Kleinmann mit nur einem „n“, Reclams Schauspielführer mit zweien, was sinnvoller ist, sonst sollte man „Littleman“ sagen) als treffliches Woody Allen-Imitat, als wenig mutigen Antihelden, der der Ungeheuerlichkeit der Situation seine gewollt lustigen Spruchweisheiten entgegenwirft, ohne sich mit ihnen dem Strudel des Untergangs entziehen zu können.

Lederhose, Hitlerbärtchen

Der bösen Dynamik in „Tod“ hat Roberto Ciulli noch eine weitergehende Interpretation hinzugefügt. Er selbst betritt – kurze Lederhose, Hitlerbärtchen – als Spiro die Bühne, als „Experte“, der Täter zu erschnüffeln vermag. An Kleinmann schnüffelt er besonders lange herum und erklärt ihn schließlich zum Täter: eine bedrückende, rassistische Miniatur innerhalb des Stücks, die sicherlich nicht zwingend, aber doch sehr klug ist. Wie überhaupt einmal mehr beeindruckt, wie reflektiert, aber auch konsequent Roberto Ciulli und sein Theater sich einem Stoff annähern.

Fast wirkt es bei dieser Intensität erleichternd, wenn das eine oder andere kleine Filmzitat erkennbar wird, wenn etwa Spiro/Hitler ähnlich wie Charlie Chaplin im „Großen Diktator“ mit einem Ball wie mit einer Weltkugel spielt. Ciulli (83) macht nach wie vor sein schönes poetisch-politisches Theater, Gralf-Edzard Habben (82) baut ihm dafür spartanisch einfache und trotzdem intensive Bühnenbilder, und hoffentlich machen sie das noch recht lange.

„Rausch“: Szene mit Maik Solbach (vorn) und Maria Gräfe. (Foto: Birgit Hupfeld/Ruhrfestspiele)

Strindberg mit viel Geschrei

Am Tag zuvor hatte „Rausch“ von August Strindberg im Großen Haus Premiere, eine Regiearbeit des Intendanten Frank Hoffmann in Koproduktion mit Luxemburger Nationaltheater, Schauspiel Hannover und Deutschem Theater Berlin. Es ist eine düstere Angelegenheit, in der, stark verkürzt formuliert, kurzer unzulässiger Liebesrausch eine Menge Schuld produziert, die, wie es zunächst scheint, dadurch abgelitten werden muß, daß zwei Nicht-Liebende den Rest ihres Lebens zusammenbleiben müssen.

Dann aber wenden sich die Dinge, und am Schluß sind die wichtigsten Personen des Stückes geläutert, weshalb Strindberg sein Stück als „Komödie“ bezeichnete. Nun ja. Diese repressive, skandinavisch-protestantisch grundierte Schuld- und Sühne-Geschichte sollte schon einige Durcharbeitung erfahren, bevor man sie heutzutage auf die Bühne stellt.

In der Einrichtung der Ruhrfestspiele ist davon leider wenig zu spüren. Da wird burlesk und laut und schlecht und recht eine Geschichte vorgespielt, die an Personenzeichnung oder gar Entwicklung kaum Interesse zeigt und deren bevorzugtes Stilelement bei dramatischer Zuspitzung lautes Geschrei ist. Bedrückend geradezu mutet es an, daß Robert Stadtlober, Jacqueline Macaulay, Wolfram Koch und den anderen Darstellern kaum Gelegenheit geboten wird, ihr differenziertes Können zu zeigen.

„Angst“: Matthias Brandt, Jens Thomas (Foto: Mathias Bothor/Ruhrfestspiele)

Matthias Brandt und die Vögel

Und dann war da noch, am Sonntag zuvor, Matthias Brandt, der zusammen mit dem Musiker Jens Thomas am Flügel (!) im ausverkauften Großen Haus auf nackter Bühne veritables Horror-Kino vorführte. Brandt las die Kurzgeschichte „Die Vögel“ von Daphne du Maurier aus dem Jahr 1952, die Alfred Hitchcock 1963 als Grundlage für das Drehbuch des gleichnamigen Films diente. Die Vögel übernehmen die Macht, meucheln die Menschen, zeigen die Überlegenheit ihrer Schwarmintelligenz.

Die Geschichte von Nat, der auf einem Bauernhof in Cornwall lebt und sich den Vögeln verzweifelt widersetzt, erzählen die beiden Künstler mit minimalem Aufwand, mit einigen verstörenden Songs, mit einigen bedrohlichen Geräuschen. Matthias Brandt ist dabei ein Vorleser, dessen sachlicher, durchgängig scheinbar emotionsloser Vortrag das Publikum frösteln macht.

Eine grandiose Aufführung, zwei grandiose Künstler, und fast so etwas wie der Auftakt zu einem kleinen Matthias-Brandt-Festival. Am Abend nämlich sah man ihn schon wieder, im Fernseh-„Polizeiruf“, wo er als Hauptkommissar Hanns von Meuffels im Altersheim ermittelte.

www.ruhrfestspiele.de




Letzte Wahrnehmungen in Raum und Zeit – Nachtfotografie von Tom Fecht im Duisburger Museum DKM

Eclipse #8031 (C-Print/Unikat 180×295 cm) (Bild: Tom Fecht, VG Bild-Kunst 2017, Courtesy: Museum DKM, Duisburg)

Die Farbe Schwarz, wenn es sie denn gäbe, dominiert die Bilder. Schwarz ist der Horizont, schwarz ist das Wasser, nur geheimnisvolle Reflexe künden von der Plastizität der Wellenbewegungen. Die drei Bilder, jedes mehrere Quadratmeter groß, wurden im Abstand von Sekundenbruchteilen mit drei Kameras aufgenommen, in einem technischen Setting, das schon im 19. Jahrhundert der Bewegtbildpionier Eadweard Muybridge verwendete.

Es entstanden drei sehr unterschiedliche Momentwahrnehmungen in der Unendlichkeit von Zeit und Raum, sehr streng, autonom, kontemplativ. Die Lichtreste einer Sonnenfinsternis erhellten den Moment, aufgenommen wurde im westlichsten Westen Frankreichs, im Finistère, das dem lateinischen „finis terrae“ entspricht und sinnhaft „Ende der Welt“ bedeutet. Hier, bei den letzten schemenhaften Geländemarken auf dem Weg in die Unendlichkeit, begegnet man Tom Fecht. Und den konzeptionellen Ideen, die ihn in seinem künstlerischen Schaffen vorantreiben.

Ingenieur und Bildhauer

Fecht hat eine bemerkenswerte Karriere aufzuweisen. Als Ingenieur entwickelte er in den 70er Jahren Faxgeräte bei IBM, 1979 gehörte er zu den Gründern des viele Jahre lang mit seinen Kunst- und Kinderbüchern sehr erfolgreichen Elefanten Press Verlags. Ab 1989 versuchte er sich in der Bildhauerei, entwickelte für die Deutsche Aids-Stiftung das Memorial „Names and Stones“. 1997 wand er sich als Autodidakt der Fotografie zu, 2008-2012 dann, wie die sorgfältig zusammengestellte Vita in der Pressemappe verkündet, „Einstieg in die Nachtfotografie“.

„Gravitational Pull“ #8475 (Piezo-Pigment/Inkjet auf Baumwolle, Unikat, 91 x 233 cm) (Bild: Tom Fecht, VG Bild-Kunst 2017, Courtesy: Museum DKM, Duisburg)

Ganz ohne Licht geht es natürlich nicht. Deshalb illuminieren, wenngleich spärlich, in der Serie „Electric Cinema“ (2008) einige Blitze in der Ferne punktuell den Horizont. Doch auch in diesen Bildern dominiert das große, unendliche, alles aufsaugende kosmische Schwarz. Der Künstler wähnt sich im Einklang mit der Natur, von der wir immer noch eher ahnen als wissen, daß sie zu mehr als der Hälfte aus einer geheimnisvollen schwarzen Materie besteht, deren Gravitation so heftig ist, daß sie das Licht im All verbiegt oder es gleich ganz verschluckt.

Boten toter Sterne

Manche Strahlen aber kommen durch, wie die Serie „Incertitude“ zeigt. Man muß ganz nahe an die großen, selbstverständlich zunächst einmal tief schwarz anmutenden Bilder herantreten, um die kleinen Lichtpunkte wahrzunehmen, größere und kleinere, hellere und dunklere in reicher Zahl. Es seien dies, erläutert Fecht, die Lichtsignale längst erloschener Sterne, die sich unverdrossen ihren Weg durch die Galaxis bahnen – Schwingungen (wenn man Licht als Schwingung begreift), die für normale Augen und Filme unsichtbar bleiben. Fecht hat herausgefunden, daß er diese Lichtimpulse mit besonderen Filmen aufnehmen kann, mit alten Planfilmen nämlich in der Größe eines DIN-A-4-Blattes, die vor der Exposition erwärmt werden. Die wuchtige Fachkamera mußte für die Aufnahmen in einen Bleimantel, damit nur durch die Linse Strahlung eintrat. Und dann wurde anderthalb Stunden lang belichtet.

Ästhetische Valeurs

Die extremen Randbereiche fotografischen Schaffens, um die es hier geht, wie auch die technischen Entstehungsprozesse werden vermutlich für die meisten Betrachter mehr oder weniger rätselhaft bleiben (auch für den Autor dieses Beitrags). Hier muß man wohl dem Entwicklungsingenieur trauen. Unabhängig davon jedoch beeindrucken die ästhetischen Valeurs insbesondere der Wellenbilder, die nachdrücklich zum Sinnieren über letzte Fragen des Lebens einladen – wenngleich ihre konzeptionelle Einbindung dabei buchstäblich im Dunklen bleibt.

  • „Tom Fecht – TiefenZeit“
  • Bis 3. Dezember 2017
  • Museum DKM, Güntherstraße 13-15, Duisburg-Dellviertel
  • Geöffnet Sa und So 12-18 Uhr, jeden ersten Freitag im Monat 12-18 Uhr. An allen Tagen für Gruppen nach Vereinbarung.
  • Eintritt: 10 € für das ganze Haus.
  • mail@museum-dkm.de
  • www.museum-dkm.de



E.T.A. Hoffmann, Robert Wilson und die Schwarze Pädagogik: „Der Sandmann“ bei den Ruhrfestspielen

Nathanael (mit roten Haaren: Christian Friedel), Mutter (Rosa Enskat) (Foto: Lucie Jausch/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Schrill, grell, bunt, die Figuren ausstaffiert wie biedermeierliche Scherenschnitte, ihre Bewegungen so künstlich und grotesk, wie es nur eben möglich ist: Seit Jahrzehnten liefert Regisseur Robert Wilson höchst eigenwillige Inszenierungen vorwiegend bekannter Theaterstoffe ab, die man infantil und ärgerlich redundant finden kann oder auch genial und radikal fokussiert.

Mal gerieten die Adaptionen etwas unterhaltsamer (wie vor vielen Jahren Büchners „Leonce und Lena“ beim Berliner Ensemble, mit Musik von Herbert Grönemeyer), mal etwas deprimierender (wie der „Woyzeck“ mit Musik von Tom Waits und Kathleen Brennan am Deutschen Theater), doch die Stilmittel kamen erkennbar immer aus dem selben Baukasten.

Coppola/Coppelius (Andreas Grothgar) (Foto: Lucie Jausch/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Augen verfüttern

Nun haben die Ruhrfestspiele in einer Kooperation mit dem Düsseldorfer Schauspiel den „Sandmann“ auf die Bühne gestellt, großes Musiktheater nach einer literarischen Vorlage von E.T.A. Hoffmann.

Ein Stück Schwarze Pädagogik, wenn man so will, bildet den Ausgangspunkt der Handlung. Mit dem Sandmann drohen die Eltern den Kindern. Wenn sie nicht brav zu Bett gehen, raubt er ihnen die Augen und verfüttert sie an seine Brut. Kaum hat der Knabe Nathanael (Christian Friedel) die Angst überwunden, da vermeint er im Advokaten Coppelius und im Wetterglashändler Coppola (beide gespielt von Andreas Grothgar) den Sandmann zu erkennen. Dann aber kauft er Coppola ein Fernglas ab, mit dem er die schöne Olimpia (Yi-An Chen) aus der Ferne sieht und sich in sie verliebt. Doch Olimpia ist ein Automat.

Szene (Foto: Lucie Jausch/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Angstvoll und fiebrig

Die Geschichte auf einen sozusagen rationalen Kern zu reduzieren, wird ihr allerdings nicht gerecht. Angstvoll, fiebrig, bar existentieller Gewißheiten ist das Leben des Heranwachsenden Nathanael, fast könnte man von einer „Hoffmann-Stimmung“ sprechen, die sich in dieser Inszenierung beunruhigend kraftvoll vermittelt.

Im Bühnengraben sitzen neun Musiker, die einen klassischen Streichersound ebenso zu formen wissen wie ohrenbetäubende Rock-Riffs, auf der Bühne spielt, tanzt, singt ein für all diese Einsätze ganz hervorragend geeignetes Ensemble. Die Musik und Songtexte stammen von Anna Calvi, frisch geschaffene Kompositionen, die indes nicht das stärkste Element dieses Theaterabends sind und manchmal etwas hilflos zwischen Wilsonscher Redundanzmanie und Andrew-Lloyd-Webber-Gefälligkeit schwanken. Trotzdem ist das Ganze sehr schön und opulent, stilistisch durchgeformt und in der konsequenten Ausgestaltung doch immer wieder auch atemberaubend.

Olimpia (Yi-An Chen) (Foto: Lucie Jausch/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Man weiß, was kommt

Mit Robert Wilson ist es eben ein bißchen so wie mit Beethovens Neunter: Man weiß vorher ziemlich genau, was man zu hören und zu sehen bekommt. In der einen Rechnung ist das Stück die Variable, in der anderen sind es Chor und Orchester; voll froher Erwartung strebt man der Veranstaltung zu, doch völlig Unerwartetes ist nicht in Sicht, ist auch gar nicht erwünscht.

Es ist dies eine Wilson-Produktion mehr für die Sammlung des persönlich Erlebten, und wenn der große Theatermann, 75 Jahre ist er mittlerweile alt, dereinst mit dem Regieführen aufhören wird, wird man sich über diese Sammlung freuen. Wer nun, wie ein geschätzter Zeitungskollege es tat, Robert Wilson anläßlich des Recklinghäuser Festspiel-Auftakts des Immergleichen zeiht, hat dieses Redundanzprinzip noch nicht verstanden.

In Berlin übrigens läuft seit fast 10 Jahren Wilsons Einrichtung von Brechts „Dreigroschenoper“ im Berliner Ensemble, missionarischer Inszenierungsstil trifft auf weltberühmtes Werk. Erstaunlicherweise funktioniert das sehr gut, trotz des reichen, unverwechselbaren Bühnenzierrats. Denn ein Stückevernichter ist Robert Wilson nicht, was doch sehr für ihn einnimmt.

  • „Der Sandmann“, weitere Termine: 8., 9. Mai, 20 Uhr
  • Ruhrfestspiele Recklinghausen, Großes Haus
  • www.ruhrfestspiele.de



Liebe versinkt im Bühnengeschrei – „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ im Dortmunder Schauspiel

Frank Genser, Friederike Tiefenbacher (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Würde man die Machart des Stücks beschreiben wollen wie das Cuvée eines französischen Rotweins, könnte man vielleicht sagen: 40 Prozent 70er-Jahre-Botho-Strauß, 40 Prozent Yasmina Reza, 20 Prozent Loriot.

Kurze, kleine Beziehungsszenen reihen sich aneinander, denen eigen ist, daß die Protagonisten stets auf die eine oder andere Weise scheitern. Dargeboten werden sie als munteres Gesellschaftstheater, was an die eingangs aufgezählten prominenten Autoren denken läßt, ohne indes deren dramatische Produktionstiefe jemals auch nur annähernd zu erreichen. „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ heißt das Stück von Joël Pommerat, das nicht mehr ganz neu auf dem Markt ist und jetzt auch, unter der Regie von Paolo Magelli, im Dortmunder Theater eingeübt wurde, aufgeführt in der Ausweichspielstätte „Megastore“.

Stetes Scheitern

Der Titel des Stücks, keine Rezension kommt um diese Erläuterung herum, hat mit den politischen Verhältnissen in Fernost nichts zu tun, sondern beschreibt (in einer Szene, in den Worten eines Liebenden) metaphorisch die ungeheure Wucht einer vergangenen Liebe, so unvorstellbar wie das bezeichnete politische Ereignis. Diese Szene ist noch eine der glücklicheren, wenngleich auch sie ihr Glück in der Erinnerung findet, während die Gegenwart Langeweile prägt.

Von links: Marlena Keil, Caroline Hanke, Ekkehard Freye, Merle Wasmuth, Sebastian Kuschmann, Julia Schubert (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Andere Geschichtchen drehen sich um das lange geplante Ende der Beziehung, nachdem die Kinder aus dem Haus sind (nebst Suizid); um eine Psychiatriepatientin, die nicht schon wieder abtreiben will, weil sie den Vater des Kindes (ebenfalls Patient) liebt; um die Beziehung eines Mannes zu einer Prostituierten, die glaubt, daß es um Liebe ginge, bis der Mann Schluß machen und finanziell abrechnen will; um eine Hochzeit, die eine Rivalin der Braut verhindern will; um einen Mann, der mit seiner dementen Frau (Heim, Rollstuhl) schläft, was diese am nächsten Tag aber nicht mehr weiß, und so fort, und so fort.

Von links: Merle Wasmuth, Sebastian Kuschmann, Marlena Keil, Friederike Tiefenbacher (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Keine Entwicklung

Nett herausgespielt, würden diese Szenen trotz düsterer Grundierung doch muntere Unterhaltung erhoffen lassen. Doch kranken Vorlage wie Dortmunder Umsetzung daran, daß den Szenen kaum Entwicklung innewohnt. In den ersten beiden Sätzen eines Dialogs ist eigentlich jedes Mal schon alles gesagt, dann gibt es eine Weile Action, und die nächste Nummer folgt.

Zur Ödnis nicht vorhandener Handlungsgänge gesellt sich der Verzicht auf dramatische Durcharbeitung des Geschehens. Darstellerisches Crescendo ist Regisseur Magelli offensichtlich fremd, Intensität wird als Schreitheater gegeben. Da aber (zumal dieses) Theater eigentlich immer intensiv ist, es ja geradezu zu den unverzichtbaren Eigenheiten des Theaters gehört, intensiv zu sein, wird folgerichtig fast immerzu geschrieen. Man schreit sich an, man schreit ins Publikum und manchmal auch in die Kulisse – ein inkompetenter Regiestil, der das Stück endgültig hinrichtet.

Ensemble (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Wie die Jünger

Warum die 10 Männer und Frauen im Bühnenbild von Christoph Ernst manchmal ähnlich der Jüngerschar an einem langen Tisch sitzen, mag interpretieren wer will. Irgendeinen Sinn wird es schon haben, vielleicht ein Symbol für Gesellschaft. Oft bleiben die Plätze am Tisch leer, denn gespielt, gelaufen, gerungen und natürlich geschrieen wird vor dem langen Tisch und an etlichen weiteren Orten in und über dem Bühnenraum.

Mangelnden Einsatz kann man der Darstellerriege bei alledem nicht vorwerfen, einmal mehr beeindruckt ihrer aller Sportlichkeit. Doch könnten sie auch ein viel schöneres, vielschichtiges, tragisches, psychologisches Sprechtheater geben, wenn man sie denn nur ließe. Das Potential ist in diesem Ensemble, das wir nun auch schon seit Jahren kennen, fraglos vorhanden. Und es wurmt, daß die (überwiegend) jungen Leute in dieser Produktion so unter ihren Möglichkeiten bleiben müssen.

  • Termine: 4., 28. Mai – 4., 14., 23. Juni – 1., 9. Juli
  • Karten 10,00 bis 19,00 Euro
  • Informationen und Karten Tel. 0231 5027 222
  • www.theaterdo.de



Privatsammler setzen Akzente: Anbau für Duisburger Museum Küppersmühle – Editionen von Gerhard Richter in Essen

„Blau-Gelb-Rot“ von Gerhard Richter (1974), jetzt zu sehen im Essener Folkwang-Museum (Bild: Gerhard Richter, Courtesy Olbricht Collection, Museum Folkwang)

Man mag es beklagen, doch bestreiten läßt es sich kaum: Zunehmend setzen Privatsammler in der bundesrepublikanischen Museumsszene die Akzente, treten als Dauerleihgeber hervor oder bauen sich gleich ein eigenes Museum. Nolens volens kooperieren die staatlichen Häuser, bietet die Zusammenarbeit mit Privaten doch oft die einzige Möglichkeit, jüngere teure Kunst in größerer Menge zu zeigen.

Ganz risikofrei ist das nicht. Von willkürlichen Entscheidungen der privaten Leihgeber war hier und da schon zu hören, die ihre Kunst abholen ließen, wenn sie etwa mit Bau- oder Personalentscheidungen unzufrieden waren.

Auch das Kulturgutschutzgesetz („Lex Grütters“) hat viele Kunstbesitzer davon abgeschreckt, ihre Schätze weiterhin öffentlich zu zeigen, könnte sie doch im Weiteren der Bannstrahl des gesetzlichen Exportverbots treffen. Fürchten sie jedenfalls. Wie auch immer: Gleich an zwei Orten des Reviers, in Duisburg und in Essen, setzen Privatsammler nun deutliche Akzente.

Das Ensemble des MKM Museum Küppersmühle in Duisburg in der Zukunft: Rechts neben dem grauen Betonsilo wird dann der (hier bereits sichtbare) Neubau entstanden sein. (Bild: MKM/Herzog und de Meuron)

Privates Geld für Neubau

Fangen wir in Duisburg an. Von dort kommt es diesmal eher nachrichtlich. Das Museum Küppersmühle,  wohl das bedeutendste private Kunstmuseum im Revier, erhält einen Anbau, erweitert seine Ausstellungsfläche von knapp 3000 auf 5000 Quadratmeter. Die Kosten für den millionenschweren Anbau trägt das Sammlerehepaar Sylvia und Ulrich Ströher, das auch schon den grundlegenden Umbau der wuchtigen Industrieimmobilie im Duisburger Innenhafen, die der Strukturwandel 1972 ihrer ursprünglichen Aufgabe beraubt hatte, bezahlte und seitdem sämtliche Betriebskosten trägt. Aus der umfangreichen Sammlung Ströher stammen die Kunstwerke der Dauerausstellung.

Der Neubau in der Animation. Erhaben gesetzte Ziegelsteine formen in der fensterlosen Fassade das Wort KÜPPERSMÜHLE.  (Bild: MKM/Herzog und de Meuron)

Dezentere Neuplanung

Groß und luftig wirkt das Haus schon heute, auch im Parterre, wo es Wechselausstellungen gibt und derzeit Großformate von David Schnell zu sehen sind. Doch es sollte eben noch einiges an Fläche dazukommen. Erste Pläne für eine Erweiterung datieren aus dem Jahr 1999. Sie sahen vor, auf den bislang funktionslosen Betonsilos einen Ausstellungsraum aufzusetzen. Entfernt erinnerte die Architektur an einen „Hammerkopfturm“, einen Zechenförderturm mit ungewöhnlich symmetrischer Optik – die Zeche Minister Stein in Dortmund beispielsweise hat einen, der als Denkmal erhalten blieb. Eine Stahlkonstruktion wurde zusammengeschweißt, stand Jahre lang neben dem Gebäude, und das Publikum konnte ihr beim Verrosten zuschauen. Die Ausführung der Konstruktion, in anderen Worten, war höchst mangelhaft geraten, dann geriet die Baufirma Gebag in finanzielle Turbulenzen, und 2008 schließlich verabschiedeten sich Bauherrschaft und Architektenbüro von diesem Projekt.

Gleiche Architektursprache

Doch ihren Architekten blieben die Ströhers gewogen. Und deshalb machte sich das renommierte Baseler Büro Herzog und de Meuron, das übrigens jüngst in Berlin den Architektenwettbewerb für das Kulturforum neben der Neuen Nationalgalerie gewonnen hat, nach kurzer Schockstarre an eine Neuplanung. Die ist nun wesentlich dezenter geraten, sieht einen Anbau vor, der die Backsteinoptik der vorhandenen Substanz aufnimmt und sich in das ganze, naturgemäß ein wenig industriell-unordentliche Ensemble völlig integriert. Man wird späterhin Mühe haben, ohne nähere Sachkenntnis den Neubau als solchen zu identifizieren. Die Gebäudeteile „sprechen die gleiche Architektursprache“, wie Pierre de Meuron es bei der Präsentation ausdrückte.

Nochmals Animation: Auf den Betonsilos soll eine Aussichtsplattform entstehen.  (Bild: MKM/Herzog und de Meuron)

Am stärksten heben sich auch zukünftig die Getreidesilos aus grauem Beton hervor. Sie stehen zwischen Alt und Neu, sollen teilentkernt als Übergang fungieren und zudem zukünftig eine Aussichtsplattform erhalten, zu der ein Aufzug hinauffährt. Die Fundamente sind gesetzt, der Grundstein ist gelegt, und Ende 2018 soll der Neubau fertig sein. Das ist mutig geplant, doch Pierre de Meuron zeigt sich zuversichtlich: Gutes Team, gute Leute vor Ort, das sei zu schaffen. Na dann: Hals- und Beinbruch!

„Nebenan“ im Museum Folkwang

In Essen, im wunderbaren großen Raum des Folkwang-Museums, ist nun Kunst von Gerhard Richter zu sehen, genauer gesagt: „Die Editionen“ (Ausstellungstitel). Erwarten könnte man mithin Mappenwerke, Drucke, Serigraphien und Ähnliches. Das alles gibt es natürlich auch, beginnend in den frühen 60er Jahren, doch zeichnet Gerhard Richter eben aus, daß er die Dinge oft nicht so läßt, wie sie zunächst sind; auch die eigenen „Editionen“ nicht.

Gerhard Richters Kerze. Es gibt sie in Essen auch mit Übermalungen zu sehen. (Bild: Gerhard Richter, Courtesy Olbricht Collection, Museum Folkwang)

Da hat es ihm mitunter gefallen, jedes (vervielfältigte) Bild einer Serie individuell mit Farbe nachzuarbeiten, von leichten Akzentuierungen (selten) bis zu flächigen Übermalungen (häufiger). Das macht die Arbeiten eigentlich zu Unikaten und läßt einen einmal mehr nachsinnen über die rätselhafte Kunst dieses Mannes, der auf unterschiedlichsten Wegen immer wieder nach Abbildern, Schemen, Ahnungen sucht, die in der formalen Entfernung vom Gegenstand zu größerer Wahrheit streben.

Man kommt ins Grübeln

Die Kerze fehlt nicht und nicht der Totenschädel, nicht die unscharf verwischten Fotos von Schäferhunden und Düsenjägern, nicht die streng komponierten Farbfelder und Farbschichtungen und nicht die Arbeiten, die nur noch Fläche und Haptik sind. Doch dann begegnet man plötzlich dem schlichten, auf den ersten Blick unspektakulären, nicht nachbearbeiteten Foto, das Richter 2014 von seiner Enkelin Ella machte, und kommt erneut ins Grübeln über den Facettenreichtum in diesem Oeuvre.

„Fuji“, 1996 (Bild: Gerhard Richter, Courtesy Olbricht Collection, Museum Folkwang)

Manches, was Gerhard Richter edierte, war groß, vieles aber auch klein, was zur Folge hat, daß diese bestens bestückte Ausstellung über die Jahrzehnte hinweg sehr viel mehr Positionen formuliert, als es beispielsweise 2012 die Richter-Retrospektive mit ihren vielen Großformaten in der Berliner Nationalgalerie tat, bevor diese für einen mehrjährigen Umbau geschlossen wurde. Wer sich Richter also in seiner Vielschichtigkeit annähern möchte, sollte nach Essen fahren.

„Strip“, 2013 (Bild: Gerhard Richter, Courtesy Olbricht Collection, Museum Folkwang)

Die Arbeiten übrigens stammen sämtlich aus der Sammlung des Essener Mediziners, Chemikers und Wella-Erben Thomas Olbricht, der dem Folkwang-Museum seit längerem verbunden ist und hier schon mehrere Ausstellungen bestückte. Olbricht kann in aller Bescheidenheit von sich sagen, daß er alle Editionen von Gerhard Richter besitzt.

„Win-Win-Situation“

„173 mitunter mehrteilige Editionen, 33 Unikate, insgesamt über 350 Arbeiten“, teilt das Museum Folkwang mit. Der „Sponsor“ der Veranstaltung könnte aus dem Bekanntenkreis Dagobert Ducks stammen: „Merck Finck Privatbankiers AG“. Und natürlich könnten die ihr Sponsorengeld auch im Geldspeicher lassen und Olbricht seine Bilder im Depot. Doch vom Letztgenannten ist bekannt, daß er sie gerne zeigt. Wenn nun viele Besucher nach Essen kommen, ist das also sicher eine „Win-Win-Situation“.

Übrigens: Kleinere Richter-Ausstellungen gibt es derzeit auch in Köln und Bonn zu sehen.

◾„Gerhard Richter: Die Editionen“, Museum Folkwang, Essen

  • Bis 30. Juli 2017
  • Geöffnet Sa, So, Di, Mi u. feiert. 10 – 18 Uhr, Do und Fr 10 – 20 Uhr
  • Eintritt 8 €
  • Begleitheft mit Abbildungen 6,50 €
  • Die Duisburger Küppersmühle zeigt noch bis 18. Juni „David Schnell – Fenster“
  • Geöffnet Mi 14-18 Uhr, Do – So und Feiertage 11-18 Uhr
  • Eintrittspreise: Wechselausstellungen: 6 €, gesamtes Haus: 9 €



Vergessen in Amerika – Haus Opherdicke widmet dem Maler Josef Scharl eine Werkschau

Albert Einstein (Bild: Sammlung Karsch/Nierendorf, Kreis Unna)

Ein Portrait Albert Einsteins schmückt den Titel des Katalogs und ist zudem das Plakatmotiv der Ausstellung. Das Portrait stammt von Josef Scharl, 1944 hat er den Wissenschaftler gemalt, die beiden kannten und schätzten einander. Scharl kam in München zur Welt und erfuhr dort als junger Künstler wesentliche Prägungen; als er jedoch seinen Einstein malte, lebte er schon seit sechs Jahren in den USA, geflohen vor den Nazis, die seine Arbeiten als „entartet“ klassifiziert und ihn mit einem Malverbot belegt hatten.

Josef Scharl, geboren 1896, hat Deutschland bis zu seinem Tod im Jahr 1954 nicht wiedergesehen. Haus Opherdicke, wohin der Kreis Unna regelmäßig zu Kunstausstellungen einlädt, bietet nun einen umfangreichen Einblick in das langjährige Schaffen des Künstlers.

Sonnenaufgang (Bild: Sammlung Karsch/Nierendorf, Kreis Unna)

Galerie Nierendorf

Scharl, wenngleich befreundet mit prominenten Kollegen, ist hierzulande heutzutage weitgehend unbekannt. In den Vereinigten Staaten hat er wohl nie so recht Fuß fassen können, trotz der Unterstützung, die ihm dort durch die berühmte Galerie Nierendorf zuteil wurde. Die Brüder Karl und Josef Nierendorf hatten sie in Berlin gegründet, 1936 eröffnete Karl in New York eine Dependance, die sich insbesondere auch der „entarteten“ deutschen Künstler annahm, die nach Amerika geflüchtet waren. Nach Kriegsende gingen große Teile des Bestandes der Galerie an das Guggenheim-Museum. Doch das ist eine andere Geschichte; jedenfalls existiert Nierendorf noch heute, in Berlin, und die Sammlung Karsch/Nierendorf ist der große Leihgeber dieser Ausstellung.

Bewunderer Picassos

Portraits, Akte und Landschaften hat Scharl bevorzugt gemalt, Ölbilder, Gouachen, Zeichnungen mit dem Tuschpinsel. Wie viele andere Künstler seiner Generation war er zudem ein versierter Holzschneider. Geprägt hat ihn gewiß der Expressionismus, doch war er auch, wie man weiß, schon in den 30er Jahren ein großer Verehrer Picassos. Die ikonographische Dichte vieler seiner Frauenbilder vermeint man auch in Scharls Arbeiten wiederzuentdecken, beispielhaft in den Marien- und Mütterdarstellungen. Landschaften erstrahlen in verschwenderischer Farbigkeit, besitzen ähnlich wie die Blumenstilleben eine Neigung zur Auflösung in Textur.

Dame im Pelzmantel (Bild: Sammlung Karsch/Nierendorf, Kreis Unna)

Auch die „toten Soldaten“ von 1948 und 1953 – mit ihrer konkreten Klage eher Ausreißer im thematisch sonst zurückhaltenden Gesamtoeuvre – zeigen in Komposition, Farbigkeit und selbstbezüglicher Flächenstrukturierung einen gewissen Hang zum Dekorativen, der im Spätwerk eher noch zunimmt. Landschaften vor allem, die Mitte der 40er Jahre entstanden, und hier in Sonderheit zu nennen die „Parklandschaft mit Fluß“ von 1942, zeichnet ein außergewöhnlich souveräner Umgang mit Raum und Fläche aus, der zu Ganzheitlichkeit des Bilderlebens strebt. Josef Scharl hatte, wie zu lesen ist, zunächst Dekorationsmaler gelernt, bevor er sich in Kursen weiterbildete. Da hat er das vielleicht schon früh gelernt, starke Wirkung zu erzeugen, Bilder von erstaunlicher Intensität beim „Erstkontakt“ mit dem Betrachter zu erschaffen.

Mit Informel nichts im Sinn

Wie einige andere Künstler, die vor ihm in Opherdicke gezeigt wurden, auch, läßt sich der spätere Scharl stilistisch wohl der Kunstrichtung der „Neuen Sachlichkeit“ zuschlagen, deren schillerndster Vertreter derzeit Karl Hofer zu sein scheint. Josef Scharl ist vergleichsweise unbekannt. Wäre er erfolgreicher (gewesen), wenn ihn die Nationalsozialisten nicht kaltgestellt und zur Flucht nach Amerika gezwungen hätten? Möglich ist es, sicher aber nicht.

Die Kunstwelt wandelte sich in Scharls amerikanischen Jahren. Während er, in seiner eigenen Tradition verharrend, auch 1948 noch schöne, farbige (gerne auch: etwas poppige) Bilder à la „Meeresbucht mit Wolken“ malte, zelebrierte Jackson Pollock in New York seit Jahren schon unerhörtes „action painting“, vernahm der amerikanische Abstrakte Expressionismus im europäischen Informel ein etwas moderateres, aber starkes Echo.

Großes Selbstbildnis (Bild: Sammlung Karsch/Nierendorf, Kreis Unna)

Zeitgenosse von Otto Dix

Diese Prozesse scheinen an Scharl, der ja immerhin in Amerika lebte, spurlos vorbeigegangen zu sein. Auch seine Themenwelten bleiben bis zuletzt sehr europäisch – europäisch-lieblich, genauer gesagt. Zu welchen entlarvenden, verstörenden, verdichtenden (empörenden?) Positionen sich figurative Malerei in seiner Zeit aber ebenfalls entwickeln konnte, zeigt dereit beispielhaft die Ausstellung von Scharls Zeitgenossen Otto Dix (1891 – 1969) im Düsseldorfer K20 (noch bis 14. Mai). Nur mal so zum Vergleich.

Jedenfalls sind in Opherdicke nun schöne, gefällige Bilder in reicher Zahl zu sehen. Als Leihgeber werden die Sammlungen Brabant, Bronner und Fiegel sowie das Hammer Gustav-Lübcke-Museum sowie einige private Leihgeber genannt. Die meisten Bilder aber stammen aus der Sammlung Karsch/Nierendorf. So auch der „Albert Einstein“ von 1944, rot glühende Denkerstirnfurchen, sorgsam „be-greifende“ Hände, sicher eins der besten Bilder dieser Schau. Ruhig und wissend blickt er seinen Betrachtern in die Augen.

  • „Josef Scharl – Maler und Grafiker des Expressionismus“,  Haus Opherdicke, Holzwickede, Dorfstraße 29
  • April bis 23. Juli 2017.
  • Geöffnet Di-So 10.30 – 17.30 Uhr.
  • Eintritt 4 €
  • Öffentliche Führungen So 11.30 Uhr und 14.30 Uhr.
  • Katalog 25 €
  • www.kreis-unna.de