Yasmina Reza, Piccoli, Binoche, Ute Lemper – Frankreich ist Thema der Ruhrfestspiele

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Michel Piccoli, Jane Birkin und Hervé Pierre (von links) tragen Texte von Serge Gainsbourg vor. (Foto: Ruhrfestspiele/Gilles Vidal)

In diesem Jahr soll es unser westlicher Nachbar sein. „Tête-à-tête – ein dramatisches Rendezvous mit Frankreich“ ist das Programm der Ruhrfestspiele 2015 überschrieben, und natürlich erfolgte die thematische Schwerpunktlegung lange, bevor das Land (und seine Kultur) es zu trauriger Aktualität brachten.

Fast wundert man sich, daß Festival-Chef Frank Hoffmann Frankreichs Kultur erst jetzt so entschlossen ins Rampenlicht des Recklinghäuser Festspielhauses rückt, ist er doch als Luxemburger – mit ganz leichter Andeutung eines französischen Akzents, ähnlich seinem Landsmann Jean-Claude Juncker – der französischen (Bühnen-)Kultur schon traditionell recht nahe.

Nein, man muß man nicht befürchten, daß nun ein Gründeln nach französischer Seele oder Ähnlichem einsetzte, wie überhaupt das in dieser unbedingten Art Grundsätzliche eher wohl eine Spezialität von Frankreichs östlichem Nachbarn, vulgo: uns ist.

Hoffmann greift lieber zum Füllhorn und schüttet französisch Gedichtetes, Gefühltes, Inspiriertes und Gesprochenes über seinem Publikum aus, auf daß Nähe sich auf vielfältige Weise herstelle. Das Konzept ist erprobt und funktionssicher, und ein Theater der radikalen Positionen war Hoffmanns Sache sowieso nie. Allerdings erstaunt bei der Sichtung des wieder einmal höchst umfangreichen Programms ein wenig doch die Beliebigkeit der Auswahl. Aber der Reihe nach.

Ute Lemper for Bauer Verlag/Germany 2013

Ute Lemper hat aus Paulo Coelhos Roman „Die Schriften von Accra“ einen Theaterabend gemacht. (Foto: Ruhrfestspiele/Karen Koehler)

Eugène Labiches Komödie „Moi“ (deutsch: Ich) ist der fulminante Auftakt des Festivals, der Titel wurde, was möglicherweise dem prominenten ersten Platz auf dem Spielplan geschuldet ist, aufgehottet auf „Ich Ich Ich“. Die Inszenierung ist eine Koproduktion der Ruhrfestspiele mit dem Münchener Residenztheater, Regie führt der im Revier bekannte und geschätzte Martin Kusej. Auch unter dem Titel „Die Egoisten“ war das 1864 uraufgeführte Stück schon in den Theaterprogrammen zu finden: Erzählt wird die Geschichte des – eben – habgierigen, egoistischen Monsieur Dutrecy, der hemmungslos trickst und intrigiert und am Ende der Geschichte doch als Verlierer dasteht. Er ist eine, wie das Programmheft nahelegt, typische Figur des Second Empire, der postnapoleonischen Restaurationszeit. Möglicherweise, aber das ist eine spekulative Äußerung, ebnet dieses Stück ein ganz klein bißchen den Weg zu einem besseren Mentalitätsverständnis unserer Nachbarn. Vor allem aber wohl ist es was zum Lachen, was ja auch recht wertvoll ist in zutiefst humorlosen Zeiten wie den unseren.

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Yasmina Reza hat ein neues Stück geschrieben. „Bella Figura“ wird seine Uraufführung bei den Ruhrfestspielen erleben. (Foto: Ruhrfestspiele/Pascal Victor/ArtComArt)

Die zweite große Theaterproduktion des Festivals dürfte Yasmina Rezas neues Stück „Bella Figura“ sein. Reza ist die weltweit wohl erfolgreichste Komödienschreiberin unserer Tage, „Kunst“ und „Gott des Gemetzels“ kennt (behaupte ich einfach mal) jeder Theatergänger.

Auch der Plot des jüngsten Reza-Werks ist auf grandiose Weise wieder angesiedelt auf dem Minenfeld des Alltäglichen: Boris führt seine Geliebte Andrea aus und erwähnt eher aus Gedankenlosigkeit, daß seine Ehefrau das Restaurant für dieses Rendezvous ausgewählt habe; in der Hitze der folgenden Diskussion fährt Boris beim Einparken eine ältere Dame um, und sowieso sind die Grenzen zum final Katastrophalen bald schon überschritten. Wir werden unseren Spaß haben, wenn Yasmina Reza uns den nur geringfügigst deformierenden Zerrspiegel vorhält. Thomas Ostermeier führt Regie in einer Koproduktion mit der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, Star des Abends ist fraglos Nina Hoss in der Titelrolle.

Eine weitere Produktion wird groß angekündigt, doch ist sie an zwei Tagen nur dreimal im Programm. Die Bühnenkünstlerin Ute Lemper hat sich das Buch „Die Schriften von Accra“ des Brasilianers Paulo Coelho vorgenommen. Sie habe es, erzählt sie beim Pressetermin, in neun Abteilungen – „9 Geheimnisse“ – aufgeteilt, deren Essenz in Poesie und Musik gefaßt. Schönheit und Harmonie erwarteten nun das Publikum, eine „cinematische Einrichtung“ des Ganzen besorgte Filmregisseur Volker Schlöndorff. Was das Publikum nun genau erwartet, wurde noch nicht recht klar. Zwar fällt es schwer, sich Coelhos komplexe Dichtung in Wohlfühlhäppchen zerlegt vorzustellen, doch wer es genau wissen will, muß eben in die Vorstellung gehen.

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Wolfram Koch in Eugène Ionescos Stück „Die Nashörner“, das Ruhrfestspiele-Hausherr Frank Hoffmann inszeniert. (Foto: Ruhrfestspiele/Bohumil Kosthoryz)

Hausherr Hoffmann inszeniert im Großen Haus Ionescos „Nashörner“, Michael Thalheimer, in Kooperation mit dem Deutschen Theater in Berlin und den Salzburger Festspielen, Schillers „Jungfrau von Orleans“, die bekanntlich in Frankreich wirkte und dort auf einem Scheiterhaufen ihr Leben ließ. Hannelore Elsner liest aus Patrick Süskinds Roman „Das Parfüm“, Isabella Rosselini ist zweimal mit ihrer vergnüglichen, wenn auch nicht mehr ganz neuen Fortpflanzungsshow „Green Porno“ zu Gast. Liebhaber der Texte von Serge Gainsbourg markieren schon jetzt den 31. Mai, wenn Michel Piccoli (85 Jahre ist er mittlerweile alt!), Jane Birkin und Hervé Pierre Texte von ihm lesen. Musik, Tanz, einige Lesungen und, warum auch immer, etliche Termine mit Peter Handkes 1992 in Wien uraufgeführtem, weitgehend textfreiem Stück „Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten“ runden das Programmgeschehen auf der Hauptbühne ab.

Etliche kleinere Produktionen sowie Uraufführungen sind wieder im Kleinen Haus, im Theater Marl und in der Halle König Ludwig zu finden – so in deutscher Erstaufführung und in Regie von Oliver Reese Joel Pommerats Beziehungsdrama „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“. Corinna Kirchhoff und Peter Schröder spielen die Hauptrollen – und mit Korea hat das Stück eigentlich nichts zu tun.

Hier ein bißchen Jules Verne, da eine in Kooperation mit der Woche des Sports produzierte „Slapstick Sonata“, dort einige Produktionen des Hamburger St. Pauli-Theaters mit seinem umtriebigen Chef Ulrich Waller – einmal mehr ist das 2015er Programm der Ruhrfestspiele der sattsam bekannte Theater-Bauchladen, der für jeden Geschmack etliches bietet, aber auch die Aura des Beliebigen verströmt. Hier verwundert es daher auch nicht, daß Claus Peymann und sein getreuer Dramaturg Hermann Beil mit der Jahrzehnte alten Burgtheater-Produktion Thomas Bernhards „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“ zu Gast sind.

Allerdings scheint der Anteil fremdsprachiger Produktionen 2015 höher zu sein, wenngleich es sie in den Vorjahren auch immer gab. Hier boten sich wohl besonders interessante Koproduktionen, etwa mit dem Festival in Avignon, an. In einer mit Barbican London und Les théâtres de la ville, Luxembourg, koproduzierten „Antigone“ ist Juliette Binoche Englisch sprechend zu erleben, Molières „Eingebildeten Kranken“ gibt es, wenngleich mit deutschen Untertiteln, nur auf französisch. Die Boulevardkomödie „Wind in den Pappeln“ von Gérald Sibleyras gar spielt das Vakhtangov-Staatstheater aus Moskau in Russisch. Nun gut, man erinnert sich, daß die Ruhrfestspiele ja ein internationales Festival sein möchten.

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So sieht es aus, wenn Russen französische Komödie spielen:
Vladimir Simonov, Maxim Sukhanov und Vladadimir Vdovichenkov in Gérald Sibleyras‘ „Wind in den Pappeln“. (Foto: Ruhrfestspiele/Vakthangov-Staatstheater Moskau)

Zahlreich sind die literarischen Lesungen im Programm, das freche Fringe-Festival lockt (nicht nur) Kinder und Jugendliche mit internationalem, kurzweiligem und manchmal atemberaubendem Straßentheater. Dominique Horwitz singt Jacques Brel, Burghart Klaußner Charles Trenet („La mer“). Und am Schluß singt Roger Cicero. Auf der so genannten Comedy-Schiene wird alles aufgeboten, was in Deutschland Rang und Namen hat, Hennes Bender und Max Goldt in trauter Nachbarschaft, und Jochen Malmsheimer ist natürlich auch dabei.

Und wer alles noch genauer wissen will, muß ins Internet gehen: www.ruhrfestspiele.de

 

 




Liebe und Fußball – Paul Abrahams Operette „Roxy und ihr Wunderteam“ in Dortmund

Und schließlich ist Party in der Puszta – mit ungarischer Folklore samt Stehgeiger, mit treibendem Swing aus dem Orchestergraben und mit einer vielköpfigen Compagnie, die voller Energie und Tempo den Black Walk tanzt. Überschäumende Lebensfreude auf ihrem Höhepunkt, entfesselter Jazz, ein Ohrwurm, ein angesagter Modetanz und ein Liebespaar, das sich hoffentlich noch findet – aus solchem Material werden erfolgreiche Musikfilme bis heute gemacht. Oder Musicals. Oder – früher – Operetten wie „Roxy und ihr Wunderteam“, die im Dortmunder Opernhaus ihre umjubelte Premiere erlebte.

Roxy und ihr Wunderteam

Roxy (Emily Newton) nebst einigen Herren ihres Wunderteams (Foto: Thomas Jauk / Stage Picture/Theater Dortmund)

„Roxy und ihr Wunderteam“ darf Fußball-Operette genannt werden, weil im Mittelpunkt eine zunächst reichlich sieglose Fußballmannschaft steht. Sie bezieht ihr Trainingslager im Schloss des zwielichtigen Trainers, wo dessen Gattin zeitgleich eine Gruppe junger Damen aus dem Mädchenpensionat unterbringt. Ein Drama mit der Brisanz eines Jugendherbergsaufenthaltes aus heutiger Sicht, aber damals…

Außerdem im Spiel ist Roxy aus Schottland, die den farblosen Loser Bobby heiraten soll und das plötzlich nicht mehr will, ihr Onkel und eine Menge Entourage. Die Fußballer verhelfen Roxy zur Flucht, Roxy macht das Team stark und am Ende steht der Sieg – auf dem Rasen und in der Liebe.

Bislang existierte diese Operette nicht in den Repertoires der deutschen Theater. Die Nazis hatten dem jüdischen Komponisten Paul Abraham (1892-1960), kaum dass sie an der Macht waren, Berufsverbot erteilt und seine erfolgreichen Werke („Viktoria und ihr Husar“, „Die Blume von Hawaii“, „Der Ball im Savoy“) mit Aufführungsverbot belegt. Uraufgeführt wurde „Roxy“ 1936 in Budapest, doch schon die Übernahme an die Wiener Volksoper scheiterte. Allerdings wurde die Operette in Österreich 1937 noch unter dem Titel „3:1 für die Liebe“ verfilmt, bevor das Land durch die Nazis „angeschlossen“ wurde.

Roxy und ihr Wunderteam

Party in der Puszta (Foto: Thomas Jauk / Stage Picture/Theater Dortmund)

Die Dortmunder Inszenierung, die somit auch deutsche Uraufführung ist, gestaltete sich nicht problemlos. Henning Hagedorn und Matthias Grimminger, beide Abraham-Spezialisten, mussten die Partitur aus verschiedenen Fundstücken zusammenfügen, da die Original-Partitur verschollen ist. Die Einrichtung selbst (Regie: Thomas Enzinger) strebt nach „historischer Aufführungspraxis“ und bemüht sich, in Bühnenbild, Kostümen (beide: Toto) und Choreographie (Ramesh Nair) dem alten Vorbild zu folgen, so weit man es denn noch kennt.

Herausgekommen ist dabei ein heiterer, streckenweise burlesker Abend mit hohem Unterhaltungswert. Kammersänger und „Homeboy“ Hannes Brock hat als Mixed Pickles-Fabrikant Sam Cheswick, als augenzwinkernder schottisch-sparsamer Welterklärer und Borussia-Versteher das Publikum, wie nicht anders zu erwarten, hinter sich. Emily Newton passt gleichermaßen geradezu perfekt in die Rolle der couragierten Mannschafts-Motiviererin. Fritz Steinbacher ist als weinerlicher Ex-Verlobter eine Lachnummer, gleiches gilt für Frank Voß und Johanna Schoppa, er Fußballtrainer, sie Internatsleiterin, die als zerstrittenes Ehepaar gleichsam Schicksal spielen. Großartig die steppende und singende Fußballtruppe wie auch die muntere Schar der Internatsmädchen, die die Kunst des modifizierten Kreischens geradezu perfekt beherrschen.

Roxy und ihr Wunderteam

Roxy und die Internatsleiterin v. Tötössy (Johanna Schoppa) begegnen sich im Plattensee, der bekanntlich auch ein platter See ist… (Foto: Thomas Jauk / Stage Picture/Theater Dortmund)

Lucian Krasznec schließlich erledigt seinen Job als Mannschaftskapitän und Märchenprinz Gjurka Karoly untadelig, wenngleich die Liebesgeschichte zwischen ihm und Roxy nicht wirklich überzeugend herausgespielt wird. Aber das ist wohl auch zu viel verlangt. Es ist eben, wie es ist.

In den letzten Jahren ist einiges zu lesen gewesen von der Wiederentdeckung des jüdischen Komponisten Paul Abraham, von einem neuen Umgang mit der Gattung Operette, der ihr die Anteile jüdischer Künstler zurückgibt, welche die Nazis mit ihrer rassistischen Inszenierungspraxis eliminierten. Plötzlich gibt es hier auch wieder Jazz. Und vielleicht fragt sich der eine oder andere (möglicherweise ältere) Musikfreund bang, ob jetzt Schluß ist mit süßer vor- und nachkriegsdeutscher Operettenseligkeit.

Er möge sich entspannen. Auch die Wiederentdeckung „Roxy“ ist gut konsumierbare „leichte Muse“, gepflegte, süffige Abendunterhaltung. Zwar spielt die Operette einige Male ironisch auf aktuelle politische Verhältnisse an, auf das reaktionäre Frauenbild der Nazis zum Beispiel, das die Mädels in einem Song – samt hinreißender Sackhüpf-Einlage – verulken.

Keineswegs jedoch schwebt über diesem Abend bedrohlich das Hakenkreuz. Vielmehr erzählt uns die Inszenierung, was die Menschen damals möglicherweise mehr interessierte als das lange unterschätzte Erstarken der Nazis. Da war offenbar auch damals schon der Fußballsport sehr wichtig, aber auch die verführerisch lässige englische Sprache, die Begriffe für Dinge hatte, die man im Deutschen Reich kaum kannte, Whisky auf Eis zum Beispiel. Oder Cocktails. Ihnen widmet die Operette einen eigenen, hinreißend dargebotenen Song, einen Cocktailshaker-Step mit vielen Cocktailshakern.

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Vorschriftsmäßiges Happy End: Roxy krault Gjurka (Lucian Krasznec). (Foto: Björn Hickmann / Stage Picture GmbH/ Theater Dortmund)

Gewiss ist das Frauenbild dieser Operette – trotz einer starken Roxy – völlig unakzeptabel, die Trennung der Geschlechter in Fußballmannschaft hier und Mädchenpensionat da albern und die brachiale Erzählweise nach Art des Hauruck-Kaspers eine Beleidigung des Intellekts. Doch denkt man beispielsweise an Filme mit dem jungen Heinz Rühmann wie „Die Drei von der Tankstelle“, ahnt man, dass Humor mit erotischer Aufladung in jenen Jahren so funktioniert haben mag.

Die „historische Aufführungspraxis“ bei dieser Operette – der Begriff ist aus dem Bereich der Alten Musik entlehnt – verhilft zu einem gesteigerten Verständnis der Entstehungszeit. Sie erzählt uns quirlig, bunt und jungendlich,. was vor 80 Jahren Eltern und Großeltern in den Bann schlug. Nehmen wir es also als Erkenntnisgewinn mit tragischer Note.

Zu loben schließlich sind die Dortmunder Philharmoniker unter Leitung von Philipp Armbruster, denen der Swing recht flüssig von der Hand ging, sowie der stimmungsvoll gewandete, oft die Bühne bevölkernde Chor unter Leitung von Altmeister Granville Walker und schließlich auch die Herren der Bühnentechnik, die ihre flotten Umbau-Jobs im Schiri-Outfit erldigten. Die schwarzen Sitzpolster, die sie bewegten, haben gelbe Streifen – dezenter Hinweis auf die hiesige Fußballmannschaft möglicherweise.

Termine: 7., 13., 21. 27. 31. Dezember 2014; 17., 29. Januar 2015; 7., 13., 18., 27. Februar 2015; 15. März 2015.

Karten Tel. 0231 / 50 27 222
www.theaterdo.de/detail/event/roxy-und-ihr-wunderteam/

 

 




Das Elend wird seziert – Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“ im Dortmunder Schauspiel

Szenen einer Ehe

Szene einer Ehe mit (v.l.) Sebastian Kuschmann, Julia Schubert, Uwe Schmieder und Bettina Lieder. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Es ist so deprimierend. Vermeintlich freie Menschen in einer modernen, selbstbewußten Bürgergesellschaft haben alle Möglichkeiten, ihr Leben zu regeln, und sie schaffen es nicht.

Früher einmal konnte man die Ursachen vieler Probleme in überkommenen Tabus und im verdrucksten Umgang mit der Sexualität finden, lag die Lösung logischerweise in der Überwindung dieser Zwänge. Im schwedischen Mittelstandsmilieu jedoch, das Ingmar Bergman 1973 für einen Fernseh-Sechsteiler portraitierte, ist die Sexualität – oder das Geschwafel über sie – geradezu allgegenwärtig.

Doch der – vermeintlich – freie Umgang mit der Sexualität ist längst schon nicht mehr Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Denn persönliche Freiheit zu haben bedingt ja auch die Fähigkeit, sie sich nehmen zu können. Aber jetzt wird es vielleicht schon zu küchenphilosophisch. Blicken wir lieber zum Dortmunder Schauspielhaus, wo Bergmans „Szenen einer Ehe“ jetzt in einer recht umgangssprachlichen Umsetzung ins Deutsche von Renate Bleibtreu eine Bühnenpremiere erlebten.

Handlungsort ist ein Allerweltswohnzimmer mit eigenen Wänden und seitlichem Flur, eine Bühne auf der Bühne somit, angesiedelt vielleicht in einem Fernsehstudio, das ein Beleuchter ab und zu ausleuchtet (Bühne und Kostüme: Patricia Talacko). Die Mitwirkenden haben keine Rollennamen, was schlüssig ist, da die Rollen im gnadenlosen Partnerschaftsspiel immer wieder wechseln. Zudem zerlegt Regisseurin Claudia Bauer die Reaktionsmuster der Rollen höchst sorgfältig in ihre Bestandteile und ordnet sie verschiedenen Akteuren zu. Die Frau zum Beispiel, die ihr Mann verlassen will, reagiert mit Zorn, mit Klage, mit Flehen, mit dem verzweifelten Versuch, das ganze noch einmal neu auszuhandeln, mit scheinbar cooler Akzeptanz; und mit jedem Stimmungswechsel wechselt auch die Darstellerin. Ähnliches geschieht beispielsweise im Verhältnis von Mann und Frau, die es ebenso wenig miteinander wie ohneeinander aushalten.

Szenen einer Ehe

Ensemble. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Mal werden Paarbeziehungen in starken, tänzerischen Bildern vervielfacht, mal läßt die Inszenierung die Darsteller pantomimengleich agieren, während Sprecher außerhalb der Szene ihnen Stimmen verleihen, mal ist das Klo der Ort der Selbstbekenntnisse, mal haben alle Eselsköpfe aufgesetzt, mal wird, warum auch immer, das Handlungsentscheidende hinter der Kulisse gespielt und von einer Videokamera übertragen, kurz: das analytische Seziermesser ist gut beschäftigt in dieser Inszenierung.

Doch das macht den Zuschauer, wie gesagt, nicht glücklicher. Denn aus dem Bergmanschen Ehekosmos gibt es kein Entrinnen. Die sprichwörtlichen zehn Prozent Humor, die für den erfolgreichen Verlauf einer Psychotherapie unverzichtbar sind, würden auch hier helfen, aber Bergman gönnt sie uns nicht. Und Regisseurin Claudia Bauer, auch in diesem Punkt sehr auf Linie des Meisters aus Schweden, zeigt eine etwas leichtere, entspanntere Weltsicht lediglich in der Detailzeichnung mancher Paarsituationen, beispielsweise im komischen Geschlechtertausch eines der (rechnerisch) vier Paare.

Szenen einer Ehe

Szene einer Ehe mit Carlos Lobo und Merle Wasmuth. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Man könnte darüber nachsinnen, ob ein skandinavisch-protestantisches Milieu, das scheinbar nichts tabuisiert, aber alles zur Gewissensentscheidung des Einzelnen macht (und ihn in dieser scheinbar grenzenlosen Freiheit überfordert) zur hier inszenierten Ausweglosigkeit beiträgt. Aber kaputte Ehen gibt es nicht nur im hohen Norden. Nun ja.

Obwohl Erkenntnisgewinn nicht unbedingt das hervorstechende Merkmal dieser Einrichtung ist, besticht sie doch durch einige eindringliche Bilder. Wenn etwa nach der Pause das „Wohnzimmer“ verschwunden ist, die Videokamera dankenswerterweise Pause hat und das Ensemble der „Sprachlosigkeit“ (das Stück hat, wohl in Analogie zum Fernseh-Mehrteiler, Zwischentitel) in einer athletischen Choreographie Ausdruck verleiht, gewinnt sie doch erfreulich an Intensität.

Sehr zu loben sind wiederum Einsatz und Präsenz des Ensembles, das aus Frank Genser, Sebastian Kuschmann, Bettina Lieder, Carlos Lobo, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Friederike Tiefenbacher und Merle Wasmuth besteht.

Herzlicher, anhaltender Applaus.

Die nächsten Termine: 4., 21. Dezember 2014, 9., 25. Januar 2015 (Karten 9 bis 23 Euro – Tel. 0231 / 5027 222). www.theaterdo.de




Thomas Mann kann man auch tanzen – Xin Peng Wangs „Zauberberg“ in Dortmund

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Dmitry Semionov tanzt Hans Castorp (Foto: Bettina Stöß/Theater Dortmund)

Als Dortmunds Ballettchef Xin Peng Wang vor der Spielzeit verkündete, er werde Thomas Manns Roman „Zauberberg“ als Vorlage für eine Produktion verwenden, waren die Reaktionen verhalten. Ausgerechnet Thomas Mann!

Gewiß kommt in Thomas Manns Romanen manches vor, was sich gut bearbeitet wohl auch tanzen ließe; doch angesichts seiner nüchtern norddeutschen, in endlos langen Sätzen Mal um Mal um letzte Genauigkeit in der Beschreibung der Sachverhalte ringenden Sprache wollte die Skepsis einstweilen nicht recht weichen. Wenn Wang wenigstens was Lustiges ausgesucht hätte, „Felix Krull“ zum Beispiel! Aber Lungenklinik, lauernder Tod von früh bis spät, oh je. Auch die sinnfällige Nähe zum mörderischen Ersten Weltkrieg und dem nunmehr 100. Jahrestag seines Beginns konnte Zweifel uns nicht rauben. Das gelang erst der Premiere dieser grandiosen Arbeit. Xin Peng Wangs „Zauberberg“ ist zu einem ganz großen Theaterereignis geworden, wie sie nach wie vor nicht nur in Dortmund selten sind.

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Jelena Ana Stupar (Nelly) und Dann Wilkinson (Joachim Ziemßen)
(Foto: Bettina Stöß/Theater Dortmund)

Will man das Stück in gebotener Nüchternheit beschreiben, muß man das wohl aus mehreren Perspektiven versuchen. Zunächst ist diese Produktion (Konzept und Szenario: Christian Baier) in der Tat – Ballett, ist es Botschaft, die sich im Tanz ausdrückt. Wir erleben (in den Erstbesetzungen) Dmitry Semionov als Titelheld Hans Castorp, Monica Fotescu-Uta als umworbene Madame Clawdia Chauchat, Andrei Morariu als ihren Geliebten Mynher Pieter Peppercorn, Dann Wilkinson als Castorps Cousin Joachim Ziemßen und etliche weitere großartige Künstler. Ihre Tanzfiguren, Gestik und Ausdruck sind dem am ehesten wohl „klassisch“ zu nennenden Spektrum entlehnt, das sich von Formen des Ausdruckstanzes oder des Tanztheaters deutlich unterscheidet.

Zum Zweiten sehen wir ein recht konkretes Rollen-Spiel, nicht also, was ein tanzendes Theater ja auch versuchen könnte, die Auflösung einzelner Handlungsstränge des Romans ausschließlich in getanzte Stimmungen und Gefühle. Würden Tänzerinnen und Tänzer nicht tanzen, sondern sprechen, wären wir nahe am Naturalismus. Und das ist auch gewollt, im Erklärteil des Programmhefts werden die Szenen des ersten und des zweiten Teils dieses Abends sehr konkret auf Elemente der literarischen Vorlage bezogen.

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Giuseppe Ragona (Ludovico Settembrini) vor Röntgenbildern (Foto: Bettina Stöß/Stage Picture/Theater Dortmund)

Zum Dritten jedoch ist dies natürlich sehr wohl ein Tanztheater, nämlich in dem Sinn, daß die performative Kunst des Tanzes mit Bühnenbild (Frank Fellmann), Lichtdesign (Carlo Cerri) und Videodesign (Knut Geng) in eine wunderbare, in manchen Momenten schier atemberaubende Symbiose tritt, die mit hoher Suggestion wundervolle Bilder für Kopf und Herz produziert.

Das weiße Tuch zum Beispiel, das im ersten Teil über die Menschen fällt, das verhüllende Schneelandschaft und Anonymität und kollektives Leichentuch sein kann, fällt gegen Ende der Vorstellung erneut – kunstvoll gesteuert – herab, ist nun jedoch, an der Schwelle zum Ersten Weltkrieg, das Leichentuch einer ganzen Epoche. Grandios sind die Stühle, die angeordnet entlang der Schräge einer Bergformation vom Schnürboden herabschweben und wohl den Platz symbolisieren, den einer wie Castorp im Leben sucht, hinreißend die Maskierten des Maskenballs mit ihren künstlichen Riesenköpfen, die gleichzeitig auch typische Vertreter einer bürgerlichen Gesellschaft sind, die es in der Lungenklinik nicht gibt.

Und zu alledem: Tod und Tanz und Totentanz. An keinem anderen Ort der Welt prallen Lebensgier und gnadenlose Vergänglichkeit so unvermittelt aufeinander wie in der Klinik auf dem Zauberberg, wo sie auch nicht zaubern können. Die Tragik der Vorlage transportiert dieses Ballett von Xin Peng Wang mit geradezu furchteinflößender Intensität.

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Monica Fotescu-Uta (Madame Chauchat), Dmitry Semionov (Hans Castorp) (Foto: Bettina Stöß/Theater Dortmund)

Wenn man was Kritisches sagen will, dann vielleicht, daß die Produktion ein ganz klein bißchen zäh in Gang kommt, daß beispielsweise die getanzte Tuberkulose vor unerfreulich schwärzlichen, riesengroßen Röntgenbildern gern etwas früher ihr Ende finden könnte. Doch natürlich gehören das rasselnde Ein- und Ausatmen aus dem Off, gehören die Hustenanfälle der reizenden jungen Patientin mit zum Stoff und haben ihren Anteil am Gesamtkunstwerk.

Bleibt, die Musik zu preisen. Sie stammt von dem relativ unbekannten, früh verstorbenen Balten Lepo Sumera (1950 bis 2000), dessen Arbeiten, wenngleich sie nicht mit der traditionellen Harmonik brechen, ein gewisser Minimalismus eigen ist. Kennzeichnend für viele Stücke sind verhaltene Anläufe mit wenigen Tönen, die sich wiederholen und steigern, und ihre Auswahl für diese Produktion muß man einen Glücksfall nennen, tragen sie zur Homogenität des Abend doch ganz erheblich bei.

Den Stab führte in untadeliger Manier Motonori Kobayashi, die Solisten Shinkyung Kim (Solo-Violine) und Tatjana Prushinskaya (Klavier) spielten im Graben ganz vortrefflich zusammen mit den Dortmunder Philharmonikern.

Wen haben wir noch nicht genannt? Unter den Solisten Jelena Ana Stupar (Patientin Nelly),Giuseppe Ragona (Freigeist Ludovico Settembrini) und Arsen Azatyan (Jesuit Naphta), außerdem Ballett und Statisterie und sämtlich Zwei- (Dritt- und Viert-) Besetzungen in den Hauptrollen. Es würde dies jedoch den Rahmen dieser Besprechung sprengen.

Das Publikum applaudierte stehend und begeistert.

Die nächsten Termine: 6., 12., 28. Dezember 2014, 4.1., 7.1., 1.2., 6.2., 12.3., 20.3.2015.

Karten Tel. 0231 / 50 27222. www.theaterdo.de




Was Architekten gut finden: „Ausgezeichnete“ Bauten im Raum Dortmund – Hamm – Unna

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Die nach den Geschwistern Scholl benannte Gesamtschule in Lünen (hier eine Innenansicht) ist ein Werk des Star-Architekten Hans Scharoun. Der sorgfältigen Renovierung des Baus wurde jetzt eine „Anerkennung“ des Architektenbundes zuteil. (Foto: BDA)

Wenn der Bund deutscher Architekten, Abteilung Dortmund Hamm Unna, gute Architektur und somit in der Regel gute Architekten ehren will, dann finden sich auf der Vorschlagsliste Büros aus Berlin, Nürnberg, Hagen oder Senden, wo lebendige Architekten unermüdlich an der Verschönerung der Welt werkeln.

Will man aber einen großen Toten der Zunft ehren, Fachleute wissen das natürlich, muß man nach Lünen fahren. Das dortige ehemalige Mädchengymnasium, nach den Geschwistern Scholl benannt und heute Gesamtschule, hat nämlich Ende der 50er Jahre Stararchitekt Hans Scharoun entworfen, dem unter anderem Berlin seine Philharmonie und Bremerhaven sein Schiffahrtsmuseum verdankt.

Als Lünen Scharoun und keinen anderen beauftragte, war die Stadt noch eine reiche Stadt; das änderte sich, und lokale Armut spiegelte sich bald auch im Erhaltungszustand des Gebäudes, das im übrigen ja, alte Lüner wissen das, nie ganz dicht war. Mit viel Geld aus der Wüstenrot-Stiftung haben die Architekten Spital-Frenking und Schwarz den Bau jetzt sorgfältig durchsaniert und auf Vordermann gebracht, und dafür gab es warme Worte (und Urkunde, aber kein Geld).

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Stimmig eingepapte Bürobauten neben der Hörder Burg. (Foto: BDA)

Mit der Renovierung wurde das Gebäude auch recht bunt angestrichen, was das Erstaunen Uneingeweihter hervorrief. Denn eigentlich war die Mädchenpenne immer weiß. Doch gab es nun vor der Renovierung einen Putzbefund, der auf einem Prüffeld der Fassade Reste bunter Farben zeigte; und tatsächlich finden sich die auch in Scharouns Entwurfsplanung, wenngleich er ja gegen das Weiß nichts gehabt zu haben scheint. Nun denn, also jetzt Scharoun in Ocker, Grün, Rot…

Kommen wir zu den Projekten, bei denen lebende Architekten ihre Kreativität ausleben konnten. Preiswürdig war der Jury an derSchule Am Eierkamp (Dortmund-Hombruch) die Einbeziehung einer Außenfläche in den Baukörper. Eigentlich, so könnte man meinen, keine große fachliche Herausforderung. Doch das sah die BDA-Jury anders, zumal diese Baumaßnahme richtungweisend für Umbauten von Schulgebäuden in den kommenden Jahren sei.

Auch einem Einfamilienhaus wurde die BDA-Auszeichnung zuteil. Geplant hat es das in Dortmund recht bekannte Büro Schamp und Schmaloer. Richard Schmaloer, dies nur anbei, ist amtierender Vorsitzender der hiesigen BDA-Gruppierung. Das Haus könnte ein Kubus sein, doch sein Dach ist schräg. Des Rätsels Lösung liegt in der Bauherrschaft Wunsch: Sie wollte ein Haus mit Flachdach in einem Neubaugebiet, in dem die Stadt Pult- und Satteldächer forderte. Das Haus steht, der städtischen Auflage ist Genüge getan; doch trägt die Dachschräge nicht unbedingt zur Schönheit des, wie gesagt, von Konzept her eher kubischen Baukörpers bei, und abhängig vom Blickwinkel wird er in der Siedlung wohl auch ein Fremdkörper bleiben. Die Maßnahme ist ein schöner Beitrag zum Thema Sinn und Unsinn behördlicher Vorgaben. Architektonische Kreativität erscheint hier in einem ganz neuen Licht.

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Die Dortmunder Liebfrauenkirche wurde – stilvoll – in ein Kolumbarium umgewandelt. (Foto: BDA)

Der Umbau der Dortmunder Liebfrauenkirche zu einem Kolumbarium durch das Berliner Büro Staab Architekten ist ohne Einschränkung gelungen. Hier ist jetzt Platz für 4000 Urnengräber, deren diskrete Anordnung an die vormalige Möblierung mit Kirchbänken erinnert. Ein guter, starker Ort.

Das nächste Objekt, das den Architekten anerkennenswert erschien, liegt nur einige hundert Meter Luftlinie von der Liebfrauenkirche entfernt. An der zu einem „Boulevard“ rückgebauten Dortmunder Kampstraße steht das ehemalige Verwaltungsgebäude der West-LB, das zu einem Ärztehaus umfunktioniert wurde. Ein Betonklotz aus den 70er Jahren, den umlaufende, meterbreite weiße Plastikwülste prägen und den schön zu finden doch einige Anstrengung erfordert.

Auch wenn Baudenkmäler definitionsgemäß nicht nach Schönheit, sondern nach architektur- und städtebaugeschichtlicher Bedeutung ausgesucht werden sollen, hätte man diesen Bau nicht zwingend erhalten müssen, denn ganz so einzigartig ist er gewiß nicht. Das wesentlich jüngere Volkswohlbund-Haus aus den Achtzigern, nur wenige hundert Meter weiter am Wall gelegen und von weitaus erträglicherem Äußeren, entsorgte man vor einigen Jahren kurz und schmerzlos mit Hilfe einiger Sprengladungen. Die West-LB aber steht jetzt unter Denkmalschutz und trägt angeblich zur Schönheit der Dortmunder Innenstadt bei. Lol.

Munter geht die Reise weiter. Wir erreichen Dortmunds prominentestes Ziergewässer, den Phoenix-See. Hier haben Drahtler Architekten einen Verwaltungsgebäudekomplex neben die so genannte Hörder Burg gestellt, der sich ausgesprochen harmonisch dem baulichen Bild einfügt, gleichermaßen in Materialität und Proportionen. Angenehm fällt insbesondere der Verzicht auf modischen Zierat auf, läßt man die in die Ecken der Gebäudekörper gesetzten Fenster auf einigen Etagen einmal außer Acht. Die Auflockerung des Fassadenbildes durch versetzte horizontale Fensterreihen vermeidet Langeweile. Eine derart gleichermaßen anspruchsvolle wie unaufdringliche Architektur hätte man sich am Phoenixsee häufiger gewünscht. Ist jetzt aber zu spät.

Unna Busbahnhof

Busbahnhof in Unna. (Foto: BDA)

Wir kommen nach Unna, und zwar mit Bahn und Bus. Hier gibt es ein großes Dach über dem Busbahnhof, damit die Fahrgäste beim Umsteigen trocken bleiben. Das wird wohl auch gelingen; doch hätte die Konstruktion nicht etwas filigraner ausfallen können? Das wuchtige Dach sieht aus wie eine plattgedrückte Betonbratwurst auf Stelzen. Darunter ist es düster, weil Beton bekanntlich kein Licht durchläßt. Deshalb gibt es ein Lichtkonzept, das im Wesentlichen aus Strahlern besteht, die von unten das Betondach erhellen. Nachts braucht man die natürlich, aber nicht bei Sonnenschein. Es bricht sich der Gedanke Bahn, daß flächendeckend eingesetztes Glas auch ein schöner Baustoff gewesen wäre.

In Hamm gefiel den Architekten der Neubau einer Sparkassenfiliale, über dessen bauliche Qualität wenig zu sagen ist; einfach gegliederter Baukörper aus Beton und dezent sandsteinfarbenem Klinker mit modischer Entrée-Situation. Eine so uneitle Zweckarchitektur ist oft das Schlechteste nicht!

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Sparkassenneubau in Hamm (Foto: BDA)

Neben den mit einer „Anerkennung“ geehrten Objekten gibt es auf der Vorschlagsliste noch etliche weitere. Viele Neubauten der letzten Jahre, Bürohäuser zumal, tauchen hier auf, daneben aber auch gravierende Umbauten innerhalb bestehender Objekte, wie beispielsweise im Dortmunder Johanneshospital.

Auffällig schließlich ist, daß der jüngst umgebaute und erweiterte Baukörper der Städtischen Musikschule in Hamm es nicht von der Vorschlagsliste in die Liga der Anerkannten schaffte. Ein bißchen Ähnlichkeit hat er mit dem Fußballmuseum, das vor dem Dortmunder Hauptbahnhof im Werden ist. Aber das ist wohl Zufall und hat nichts zu bedeuten.

Eine Ausstellung im Gebäude des ehemaligen Dortmunder Ostwall-Museums, Ostwall 7, präsentiert auf Schautafeln ausführlich die ausgezeichneten und vorgeschlagenen Bauobjekte. Bis 30.11. Geöffnet Freitag, Samstag, Sonntag 15 – 19 Uhr.

 




Tödliche Dreiecksbeziehung – „Einsame Menschen“ im Schauspielhaus Bochum

Man könnte sich in einer antiken Richtstätte wähnen. Gegenüber vom Saal ragen auf der Bühne weitere Zuschauerreihen auf, zwischen den Rängen befindet sich somit der Spielraum. In dessen Mittelpunkt wiederum dreht sich langsam eine Plattform mit fünf Stühlen, welche gemächlich von Schauspielern eingenommen werden, während seinerseits das Publikum seine Plätze einnimmt.

Man erkennt: Was immer in den nächsten zwei Stunden auf dieser Bühne geschehen wird, ist gründlichster allseitiger Betrachtung preisgegeben. Gespielt wird im Bochumer Schauspielhaus Gerhart Hauptmanns Stück „Einsame Menschen“ – genauer: das, was Regisseur Roger Vontobel daraus gemacht hat.

„Einsame Menschen“, uraufgeführt 1891 in Berlin, zählt zu den weniger bekannten Stücken Hauptmanns, behandelt aber doch einen durchaus aktuellen Konflikt. Johannes Vockerat, Wissenschaftler und Freigeist, empfindet wachsendes Unwohlsein in seiner engen, kleinbürgerlichen Existenz, in der Mutter und Vater (Katharina Linder und Michael Schütz), vor allem jedoch Gattin Käthe (Jana Schulz) nebst Nachwuchs seinem intellektuellen Streben enge Grenzen setzen.

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Junges Ehepaar, unglücklich: Jana Schulz und Paul Herwig als Johannes und Käthe Vockerat (Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum)

Als Anna Mahr, eigentlich eine Bekannte des Hausfreundes Braun (Felix Rech), die Szene betritt, ist Vockerat von ihrer Weltläufigkeit und ihrer Bildung geblendet. Er will sie binden, eine Art Dreiecksbeziehung schaffen mit der Intellektuellen hier und der jungen, schlichten Mutter dort, was erwartungsgemäß nicht funktioniert.

Käthe, eh noch geschwächt von der Niederkunft, kränkelt bald schon besorgniserregend, und die Leute reden. Ein väterliches Machtwort macht dem Unbotmäßigen ein Ende. Vockerat erträgt das nicht und erschießt sich – und Schluss.

Nun gut. Väterliche Machtworte sind etwas aus der Mode gekommen, doch ersetzte man sie durch ein zeitgemäßes Treuegebot für den jungen Familienvater Vockerat, so genügten die Postulate in „Einsame Menschen“ durchaus dem aktuellen Moralkodex. Seiner jungen Frau und dem gemeinsamen Kind untreu werden, das gehört sich auch heutzutage nicht. Trotzdem passiert es natürlich immer wieder, und die nächstliegende Frage für eine Inszenierung wäre doch, warum. Was macht Anna Mahr – nicht zufällig wohl klingt der Name ein wenig nach Nachtmahr – so attraktiv, was vor allem aber geht in Johannes Vockerat vor, der blind für die Kränkung seiner Frau ist und tatsächlich zu glauben scheint, die Nähe zu Anna Mahr werde völlig platonisch bleiben? Wirklich nichts Sexuelles?

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Ensemble am Klavier (Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum)

Das Desinteresse, das Roger Vontobels Inszenierung solchen zentralen Fragen entgegenbringt, ist, zurückhaltend ausgedrückt, bemerkenswert. Es bleibt auch unverständlich, warum Vontobel die Gelegenheit nicht nutzt, Anna Mahrs Attraktivität herauszuarbeiten. Therese Dörr muss in ihrer Rolle blass und wenig eindrucksvoll agieren und wirkt deshalb nicht eben wie eine Idealbesetzung.

Hingegen liegt das große Interesse der Inszenierung anscheinend darauf, das fragwürdige Glück in familiärer Enge plakativ zu machen. Dazu müssen Lieder herhalten, kirchliche zumal, doch auch Reinhard Meys etwas angekitschtes „Apfelbäumchen“ gelangt wiederholt zum Vortrag. Und weil vor Spielbeginn Notenblätter an das Publikum verteilt wurden, darf es sogar mitsingen.

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Dreiecksbeziehung, von links: Anna Mahr (Therese Dörr), Johannes Vockerat (Paul Herwig), Käthe Vockerat (Jana Schulz) (Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum)

Nötig für das Stückverständnis wäre all das sicherlich nicht, doch verhilft es der Veranstaltung zu Beginn vor allem zu einigen schönen Musiknummern. Der Sänger Tomas Möwes, ein drahtiger Mann im dunklen Anzug, der äußerlich wirkt wie vom Männergesangsverein abgeworben, hat einige großartige Auftritte und entwickelt sich zügig zum heimlichen Star des Abends. Zu preisen ist auch Cellist Matthias Herrmann, wenngleich aufs Ganze gesehen vielleicht etwas viel Musik im Stück ist. Mitunter verschlechterte sie (trotz Microports) das Verständnis des reichhaltigen Textes, der zudem oft etwas lieblos dargeboten wird.

Andererseits nötigt es einem Bewunderung ab, wie das gerade einmal sechsköpfige Ensemble gegen diesen brutalen, inszenatorische Konzentration konsequent verweigernden Bühnenraum erfolgreich anspielt. Vor allem den Darstellern galt daher der anhaltende, freundliche Schlussapplaus.

Termine: 16.11. (17 Uhr), 20.12. (19 Uhr), 28.12. (17 Uhr).
Karten Tel. 0234 / 3333 5555




Ein Platz für Tiere im Kunstmuseum – Ausstellung „Arche Noah“ im Dortmunder U

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Die größte Arbeit dieser Schau ist von Christiane Möbus, 11 Meter lang und heißt „Auf dem Rücken der Tiere“ (Foto: Museum Ostwall/VG Bild-Kunst, Bonn 2014, Helge Mundt, Hamburg)

Groß war sie angekündigt, die Jahresendausstellung im Dortmunder U. „Arche Noah – Über Tier und Mensch in der Kunst“ ist sie überschrieben, der Titel ist – bar jeder Doppeldeutigkeit – redliche Inhaltsangabe. Sucht man nach einem positiven Eigenschaftswort, das die Schau des Ostwall-Museums am trefflichsten kennzeichnet, so fällt einem am ehesten wohl „fleißig“ ein, vielleicht auch „redlich“ oder „korrekt“, mit etwas gutem Willen gar „engagiert“. Jedoch die Superlative haben Pause. Das sollte man wissen und seine Erwartungen entsprechend justieren, wenn man sich diese Tierschau ansehen will.

Aus dem Pressetext zitiert sind dies die Gliederungspunkte von „Arche Noah“: „Mensch – Tier – Stadt“, „Tiere ausstellen“, „Tierstudien“, „Naturidyllen“, „Natur beherrschen (Dressur/Rituelles/Tötung von Tieren)“, „Tier – Kunst – Wissenschaft“, „The Dark Museum“, „Naturzerstörung“, „Tiere als Co-Produzenten“, „Kunst für Tiere“, „Tierische Sounds“, „Annäherung & Transformation“, „Ängste – Träume – Fantasien“, „Tiersymbolik“, „Tierkomik“. Eine Fleißarbeit, wie gesagt. Und sicherlich ist es sinnvoll, das Thema in einer solchen Weise zu systematisieren, wenn man eine Global-Ausstellung wie die Nämliche plant.

Allerdings wäre es schön gewesen, wenn die Ausstellungsmacher in einem der nächsten Schritte dem sinnlichen Erleben mehr Gewicht zugebilligt hätten. Wenn sie einen Blickfang im Eingangsbereich geschaffen hätten, ihm vielleicht auch eine besondere Lichtsituation hätten zukommen lassen. Dann auch stünde die wuchtigste Arbeit, die raumgreifende Installation „Auf dem Rücken der Tiere“ von Christiane Möbus – 12 Ganztierpräparate tragen auf ihren Rücken ein Boot, der Katalog nennt für diese Arbeit die Maße 400x1100x420 cm – vielleicht im Eingangsbereich und nicht erst in einem der letzten Räume der Schau. Eventuell hätte man dafür die Eingangssituation ändern müssen, was aber doch möglich wäre. Jetzt aber startet man den Rundgang mit viel Kleinkram, zwischen dem sogar August Mackes „Großer Zoologischer Garten“ von 1912 verloren wirkt. Dabei ist dies doch ein besonders wertvolles Bild, auf das das Ostwall Museum auch besonders stolz ist (Was würde es wohl bei Christie’s in der Auktion bringen?).

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Eins der bekanntesten Stücke aus dem Eigenbestand paßt hervorragend in die Ausstellung: „Großer zoologischer Garten“ von August Macke aus dem Jahr 1912 (Foto: Museum Ostwall Jürgen Spiler)

 

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Die Skulptur „All you can lose“ von Deborah Sengl (2009) zeigt sehr naturalistisch eine Art Menschenschwein auf dem Heimtrainer und ist ein bißchen zum fürchten (Foto: Museum Ostwall/Courtesy Galerie Deschler, Berlin)

Einige schöne Einzelstücke findet man natürlich schon, zumal im skulpturalen Bereich. Deborah Sengls furchteinflößender Schweinemensch auf dem Heimtrainer („All you can lose“, 2009) gehört dazu, ebenso Patricia Piccininis verstörendes Mädchen mit schwarzer Beinbehaarung, das ein irgendwie anthropomorphes Fleischwesen im Arm hält („The Comforter“, 2010).

Natürlich fehlt in einer Tierausstellung wie dieser nicht die abstoßende Schlachthofarbeit („Schlachthaus Berlin“ von Jörg Knoefel, 1986/88), bestehend aus einem Blechplattenlabyrinth, in welchem unregelmäßig etliche Schwarzweiß- und einige Farbfotos aufgehängt sind, die blutige Details des unappetitlichen Schlachthofgeschehens zeigen. Möglicherweise soll man sich in diesem Blechkorridor fühlen wie das berühmte Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank, bzw. das Schwein zur Hinrichtung. Nun denn.

Erwähnenswert ist vieles mehr, doch ersetzt das nicht den Gang durch die Ausstellung, und deshalb soll das Auflisten hier auch sein Ende haben. Lediglich auf das schöne Gemälde „Aquarium“ (2007) von Norbert Tadeusz sei noch verwiesen, immerhin ist Tadeusz ein Sohn der Stadt Dortmund (wenngleich 2011 in Düsseldorf verstorben).

Ein mindestens ebenso bedeutender Dortmunder Künstler ist wohl Martin Kippenberger (gest. 1997), den man hier allerdings vergeblich sucht. Dabei war es ja sozusagen eine tierische Arbeit, nämlich ein gekreuzigter Laubfrosch, mit der der „junge Wilde“ bei Dortmunds katholischer Kirche so tief in Ungnade fiel, daß nach wie vor nicht mal ein kleines Sträßchen in U-Nähe nach ihm heißt. Womit nichts gegen Leonie Reygers gesagt sein soll, die es fraglos verdient, Namenspatronin zu sein. Jedenfalls: Auf dieser Arche kein Kippenberger.

Kein Kippenberger, kein Nitsch-Adept, der mit Tierblut rumsaut, kein Damien Hurst, der einst Kühe in Scheiben schnitt und die Schnitte, mit Formalin haltbar gemacht, in Plexiglasbehältern präsentierte. Keine Provokationen jenseits der politisch korrekten Abscheu in dieser Ausstellung, nichts, das zum Widerspruch reizte.

Dabei ist die Arche eigentlich doch ein Skandalon, Symbol massenhafter Vernichtung von Mensch und Tier, denn wer nicht an Bord durfte, mußte (elendig, wie wir vermuten wollen) ersaufen. Wo in der Ausstellung ist das Mahnmal für all jene Arten, die seit der Sintflut nicht mehr unter uns weilen! Zugegeben: Diese Argumentation streift schon verdächtig am Rand des Humorversuchs entlang. Humor jedoch ist, wenngleich auch mehr oder weniger auf eine Abteilung begrenzt, durch große Künstler der Neuen Frankfurter Schule wie Robert Gernhardt oder Hans Traxler bereits manierlich vertreten.

„Arche Noah“, 15. November 2014 bis 12. April 2015. Museum Ostwall im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse, Dortmund. Geöffnet Di+Mi 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr, Sa+So 11-18 Uhr. Eintritt 6 Euro.

www.museumostwall.dortmund.de




Streng, schwarzweiß und einfühlsam – Fotografien von Barbara Klemm und Stefan Moses in der Küppersmühle

Neo Rauch hat sich beim Malen schmutzig gemacht und läuft, warum auch immer, aus dem Bild; und Willy Brandt steht im Wald. Den Leipziger Maler Neo Rauch hat Barbara Klemm 2011 fotografiert, den Altbundeskanzler Willy Brandt 1984 Stefan Moses. Auf den ersten Blick haben die beiden Fotografien wenig gemein. Doch beide eint, dass sie Portraits sind, dass berühmte Pressefotografen sie machten und dass sie jetzt in der Duisburger Küppersmühle in der selben Ausstellung hängen.

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Ikonen unter sich (wenn man so will): 1981 fotografierte Barbara Klemm Pop-Art-Ikone Andy Warhol vor Tischbeins berühmtem Goethe-Portrait. (Bild: Barbara Klemm/MKM)

Barbara Klemm, Jahrgang 1939, war viel Jahre lang Bildjournalistin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und sie machte Pressebilder, von denen einige zu Ikonen wurden. Neben dem tagesaktuellen Geschäft bearbeitete sie – und tut es zum Teil noch heute – Dauerthemen wie ihre Künstlerportraits oder Besucher in Kunstausstellungen. Arbeiten aus diesen beiden Serien sind nun in Duisburg zu sehen, ergänzt unter anderem mit einer kleinen Bildfolge über das Gesamt-Lichtkunstwerk Roden Crater, das der Lichtkünstler James Turrell in Arizona schuf. Stefan Moses, Jahrgang 1928, war unter anderem für den „Stern“ und die Fotoagentur Magnum unterwegs und portraitierte ebenfalls.

Formal zeigen die Arbeiten der beiden Fotoschaffenden Ähnlichkeit, zumal so, wie sie jetzt in Duisburg präsentiert werden. Bild hängt dicht neben Bild, und das ist an Strenge kaum zu überbieten. Durchgängig sind sie schwarzweiß, die Abzüge haben einheitliche, mittlere Größe, nichts wurde um des Effekts willen „aufgeblasen“. Doch davon abgesehen könnten die Unterschiede in der fotografischen Handschrift größer kaum sein.

Barbara Klemm, die es dank mehrerer Ausstellungen in den letzten Jahren zu einer gewissen Berühmtheit brachte, ist bekannt für ihren zurückhaltenden Stil, der die Totale dem engen Ausschnitt meistens vorzieht. Mit Distanziertheit sollte das nicht verwechselt werden. Mal um Mal arbeiten ihre Künstlerportraits die Individualität der Abgebildeten schlüssig heraus, manchmal geradezu auratisch. Einige blicken in die Kamera, andere wirken wie unbemerkt beobachtet. Eine Nadine Gordimer füllt fast das ganze Bildformat, während ein Umberto Eco in seinem Sessel im unteren Bilddrittel wegzusacken scheint. Natürlich ist die immer wieder wechselnde Proportionierung kein Ausdruck von Wertschätzung, sondern kluge, empathische fotografische Charakterisierung. Auch die eher dunkle Grundstimmung der Abzüge trägt zu dieser gleichsam analytischen Haltung bei, die nicht mit dem Neutralitätsstreben der Becher-Schule gleichgesetzt werden sollte.

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Bundeskanzler Willy Brandt steht im Wald; Stefan Moses lichtete ihn dort – im Siebengebirge – 1984 ab. (Foto: Stefan Moses/MKM)

Stefan Moses‘ Portraits sind demgegenüber kontrastreicher, knalliger, näher dran. In der Wald-Serie, in der auch Willy Brandt seinen Platz fand, stellte er Mitte der 80er Jahre deutsche Prominenz aus Politik und Kultur zwischen die Bäume und lichtete sie ab. In einer späteren, in Duisburg breit präsentierten Serie stellte er im Wendejahr 1989 gleichsam typische Vertreter der DDR-Werktätigen in die Hohlkehle und drückte drauf. Anscheinend strebte er danach, ähnlich wie in den 20er Jahren August Sander, die „typischen“ Vertreter einer Gesellschaft zu konservieren. Aus heutiger Sicht scheint der Versuch gelungen, wirkt diese Serie doch wie das Dokument einer versunkenen Welt. Denn Werktätige wie die „Facharbeiter für Tierproduktion“, die lachend und mit kleinen Schweinchen im Arm posieren, gibt es wahrscheinlich nicht mehr. Ebenso wenig die furchteinflößenden „Empfangsdamen“ aus Jena und etliche andere mehr.

Das bildjournalistische Schaffen, vor allem aus den Jahren nach der Wende im Osten Deutschlands, nimmt bei Stefan Moses vergleichsweise mehr Platz ein als bei Barbara Klemm. Das mag damit zu tun haben, dass deren beste Pressebilder in einer eigenen Ausstellung versammelt sind, die zuletzt im Berliner Gropius-Bau zu sehen war. An der Qualität jedoch liegt es nicht. Zwar ist Moses’ Portraitfotografie im Ansatz konventioneller, schwankt stärker zwischen Schnappschuss und Inszenierung, doch das hat immer wieder zu überzeugenden Resultaten geführt. Berühmt ist sein Bild des Staatsanwalts Fritz Bauer, der Mitte der 60er Jahre den ersten Auschwitz-Prozess initiierte; doch auch die Fotos aus der Familie Mann, von Marcel Reich-Ranicki und dessen Frau Teofila auf einem Bahnsteig oder, ganz stark, vom Theaterregisseur Fritz Kortner, sind von zeitloser Intensität.

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Besonders sehenswert sind in der Duisburger Ausstellung die Schwarzweißfotos, die Barbara Klemm 2004 vom Landschaftskunstwerk „Roden Crater“ des amerikanischen Lichtkünstlers James Turrell in Arizona machte. (Foto: Barbara Klemm/MKM)

In einem Zeitraum von mehr als 50 Jahren entstanden die jeweils rund 200 Fotografien, die jetzt in der Küppersmühle zu sehen sind, und für einen so großen Zeitraum sind sie erstaunlich homogen. Man sieht: Hier haben Zwei der Besten früh ihren Stil gefunden und gepflegt. Zudem lassen ihre Arbeiten die Disziplin erahnen, die den professionellen Pressefotografen frommt und unerbittlich von ihm fordert, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und einen Film in der Kamera zu haben, hätte man früher noch gesagt. Heute reicht etwas Platz auf der Speicherkarte.

Barbara Klemm/Stefan Moses. Fotografien. Museum Küppersmühle MKM, Duisburg, Philosophenweg 55. Bis 18. Januar 2015. Mi 14-18 Uhr, Do-So 11-18 Uhr, Feiertage 11-18 Uhr. Eintritt: Wechselausstellungen 6 €, gesamtes Haus 9 €. Katalog (272 S., 238 Abbildungen) 29 €.

www.museum-kueppersmuehle.de

 




Gescheiterter Kraftkerl – „Tod eines Handlungsreisenden“ überzeugt in Dortmund

Tod eines Handlungsreisenden

Andreas Beck in der Titelrolle (rechts) und Uwe Rohbeck (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Tod eines Handlungsreisen“ – das klingt so schön abgehoben, so zeitlos; und der Reisende ist in Religion oder Literatur ja sowieso oft mit quasi mythologischer Aufladung unterwegs, ins Totenreich oder ins Paradies, seiner alten Liebe hinterher oder wohin auch immer. Und möglicherweise ist gar der Weg schon sein Ziel. Auch Arthur Miller wird Gedanken wie diese gehabt haben, als er seinen dramatischen Welterfolg so abgehoben betitelte.

Seit das Stück wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in New York uraufgeführt wurde, mußte es in der Folgezeit, da fraglos auch ein Spiegelbild aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse, wieder und wieder die Vorlage für wohlfeile Reflexionen und Ausdeutungen amerikanisch-kapitalistischer Verhältnisse abgeben. Nicht nur Pennäler wissen davon ihr Klagelied zu singen. Und es stellt sich die Frage, ob man dieses ausgequetschte, fast zu Tode interpretierte Stück heute überhaupt noch guten Gewissens auf die Theaterbühne stellen kann. Sagen wir’s ruhig vorneweg: Doch, man kann, wie jetzt im Dortmunder Schauspiel zu sehen ist.

Vertreter Willy Loman, wir erinnern uns, ist mit seinen 63 Jahren ausgebrannt und erfolglos. Die Söhne Biff und Happy sind, wenngleich anscheinend begabt, nichts Ordentliches geworden, der Lebensabend im abgestotterten Häuschen ist unsicher. Größenphantasien, die Handelsvertetern offenbar in besonderem Maße eigen sind, weichen zunehmend der bedrückenden Erkenntnis des eigenen Versagens im Job und als Vater. Letztlich sieht Loman keinen anderen Ausweg mehr als den lebensversicherten Suizid.

Tod eines Handlungsreisenden

Familienaufstellung (von links): Linda Loman (Carolin Wirth), Willy Loman (Andreas Beck) und Biff Loman (Peer Oscar Musinowski). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Viele Inszenierungen haben den Handelsvertreter als kleines, schwaches Männchen besetzt, dem die Last der Welt rein körperlich schon zu viel ist – Dustin Hoffman beispielsweise in Schlöndorffs Kinoinszenierung, ältere Fernsehzuschauer werden sich an Heinz Rühmann in dieser „Paraderolle“ erinnern.

In der Dortmunder Inszenierung von Liesbeth Coltof hingegen ist Andreas Beck der abgehalfterte Handelsvertreter, ein großer, schwerer Mann, ein Bühnenberserker, einer, der kämpft. Einer, der der Welt jederzeit zeigen könnte, wo der Hammer hängt, unfähig, unwillig zur Selbstkritik. Viele Jahre ging es gut so, hat der Mann seine persönlichen Defizite mit Professionalität und Power weggedrängt, hat seinen Söhnen gesagt, was gut für sie ist.

Natürlich hat er es gut gemeint mit ihnen, besonders mit Biff (Peer Oscar Musinowski). Nur geholfen hat das dem Jungen nicht, weder ist er ein erfolgreicher Fußballer geworden, noch hat er die entscheidende Mathe-Prüfung gepackt. Auch mit Mitte 30 hängt er noch zu Hause ab, findet keinen Job, der ihn interessiert, liegt dem Vater auf der Tasche.

Und wie Andreas Beck in dieser Dortmunder Inszenierung nun pendelt, switcht, oszilliert zwischen illusionsloser Wahrnehmung der grauen Wirklichkeit und grandiosen Phantasien, wie ein Häufchen Elend sich in kurzer Zeit zum Kraftkerl wandelt und gleich darauf in furchterregende Dissoziation treibt, wie er voll Liebe und Opferbereitschaft für seine Familie ist, ohne doch selber die Liebe annehmen zu können, die vor allem seine Frau Lina (Carolin Wirth) ihm schenken möchte – das ist grandios herausgespielt.

Tod eines Handlungsreisenden

Willy und Linda (Andreas Beck und Carolin Wirth) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Regisseurin Coltof rückt die Beziehung zwischen Vater und Biff in den Vordergrund, macht sie gleichsam exemplarisch und demonstriert an ihr die kommunikativen, empathischen Defizite von Titelfigur und Familie. Dies weist als Interpretation doch erheblich über die schnell geäußerte „Kapitalismuskritik“ des Stoffs hinaus und reizt zu weiterer Befassung. So könnte man beispielsweise fragen, ob den Lomans therapeutische Hilfe guttäte, um in den Verhältnissen, wie sie eben sind, zu überleben.

Was ja nicht heißen muß, das die Verhältnisse gut wären. Guus van Geffen (Bühne) hat alles mit zum Teil verpackten Haushaltsgeräten vollgestellt, Kühlschränke, Waschmaschinen, Handelsware des Handlungsreisen, wie man vermuten könnte. Fraglos ist dies eins der ungemütlichsten Bühnenbilder seit langem. „Weiße Ware“ (so nennt die Branche Küchengeräte gern) ist wirklich Trost-los – besonders dann, wenn sie zum (Erwerbs-) Lebensinhalt geworden ist.

Den übergewichtigen Handlungsreisenden Willy Loman hat Carly Everaert (Kostüme) in einen etwas engen grauen Straßenanzug gesteckt, ansonsten bewegt man sich auf der Bühne vorwiegend in gewöhnlicher Alltagskleidung. Sebastian Graf gibt den etwas undurchsichtigen zweiten Sohn Happy, ist zudem noch Ekel-Chef Howard und Onkel Ben aus der Nachbarschaft. Auch der immer so fragil wirkende Uwe Rohbeck gibt den (älteren) Onkel Ben, ist Charley und Stanley. Die Inszenierung kommt mit fünf trefflich besetzten Darstellern aus.

Vor dem „Tod eines Handlungsreisenden“ inszenierte Liesbeth Coltof in Dortmund erfolgreich schon Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ und „Verbrennungen“ von Wajdi Mouawad, und jedes Mal war in ihrer Arbeit viel Respekt für Autoren und Stücke erkennbar, ohne deshalb in den Ruch der Altbackenheit zu kommen. Man kann Theater auch anders spielen, als sie es tut. Viele Regisseure reklamieren mehr gestalterischen Raum für sich selbst, und entscheidend ist, was hinten rauskommt. Auch in Dortmund. Doch wird gerade hier das Nebeneinander unterschiedlicher Auffassungen gepflegt, was die Arbeit des Schauspielhauses in seiner Gänze besonders interessant macht.

Für den „Handlungsreisenden“ gab es herzlichen Applaus.

Die nächsten Termine: 8., 23. November, 3., 19., 26., 28. Dezember

Infos: www.theaterdo.de

 




Wie die Kirche aufklären wollte – „Komm in meinen Wigwam“ im Dortmunder Schauspiel

Komm in meinen Wigwam

Ein beschwingter Moderator, ein irritierter Knabe (Ekkehard Freye und Leon Müller) im übermächtigen Blümchensex. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Das sittliche Wohlergehen des jungen Menschen ging ihnen über alles. Beschützt und behütet sollte er seinen Weg in die Welt der Erwachsenen finden. Wenn da nur diese fluchwürdige Sexualität nicht gewesen wäre, die ja irgendwie zum Leben dazugehört, aber doch mächtig stört. Zumal sie den jungen Menschen beiderlei Geschlechts ablenkt vom Pfad der Tugend. Oder vom Pfad des Herrn, der tunlichst ein katholischer sein sollte.

So hat sich die Kirche in vergangenen Zeiten viel Mühe gegeben, Pubertierenden samt ihren „schmutzigen Gedanken“ mit einer Vielzahl von Jugendbüchern hilfreich zur Seite zu stehen. Und eine Fülle von Peinlichkeit hervorgebracht, die ihresgleichen sucht und großen Unterhaltungswert hat.

Ein besonders bemühter und produktiver Verfasser kirchlicher Jugendschriften war in den frühen 50er Jahren der Päpstliche Ehrenprälat Berthold Lutz, der 2013 im gesegneten Alter von 90 Jahren dahinging und dessen reiches Schaffen nun Widerhall in einem Theaterstück findet. „Komm in meinen Wigwam“ heißt es, im Studio des Dortmunder Theaters erlebte es seine Premiere.

Komm in meinen Wigwam

Der Prälat (Heinrich Fischer). (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Autor und Regisseur des Stücks ist Wenzel Storch, der vordem unter anderem als Filmemacher („Sommer der Liebe“, „Die Reise ins Glück“) oder Kolumnist („Der Bulldozer Gottes“) in Erscheinung trat. Ihn drängt es auch im fortgeschrittenen Alter noch, Lächerlichkeit und passagenweise auch Schlüpfrigkeit jener „Aufklärungsschriften“ aus den frühen 50er Jahren zu entlarven.

Das Stakkato unsäglicher Zitate indes, das mancher vielleicht erwartete, bleibt in der Inszenierung aus. Eher betulich wird das Eine oder Andere aus dem Leben des Prälaten berichtet, werden andeutungsschwere Buchtitel und Textpassagen mit anscheinend unfreiwilligem (homo-)erotischem Inhalt präsentiert, wirkt etwa ein Kapitel über ein Zeltlager mit dem Kaplan plötzlich wie eine nicht mehr ganz jugendfreie Verführungsgeschichte. Worte bekannter Dichter mit eindeutig erotischer Konnotation gelangen zu Gehör und zeigen eine verblüffende thematische Nähe zu den Hervorbringungen Berthold Lutz’.

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Thorsten Bihegue (links) sorgt als „Wissenschaftler“ für größte Heiterkeit auf der Bühne. Ob er das Alter Ego von Wenzel Storch ist oder nicht, diskutierte das Publikum nach der Vorstellung kontrovers. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

All dies geschieht in einer Bühnenshow, in der ein geschniegelter Entertainer (Ekkehard Freye) sein Publikum zur „Pilgerreise in die wundersame Welt der katholischen Aufklärungs- und Anstandsliteratur“ (Untertitel) einlädt. Weitere Mitwirkende sind ein Mädchen und ein Knabe (Jana Katharina Lawrence und Leon Müller), zwei Meßdiener(Finnja Loddenkemper und Maximilian Kurth) und der Kaplan selbst, dem Heinrich Fischer aus dem Seniorenclub des Schauspielhauses mit seinem urwestfälischen Zungenschlag starken Charakter einhaucht. (Er bleibt nur viel zu sympathisch).

Den größten Anteil am Unterhaltungswert dieses Abends jedoch hat ohne Frage Thorsten Bihegue, der als „Wissenschaftler“ dabei ist und mit pennälerhaft-schlaksiger, ungemein lebhafter Körpersprache für Heiterkeit sorgt. Wenn er als Zerrbild eines Showmasters verdruckste Jugendbuchtitel enthusiastisch präsentiert, ist das ein komödiantischer Höhepunkt des Abends.

Weiterhin wirken Damen und Herren des Dortmunder Sprechchores mit – mal als Nonnenchor, mal als wunderbar dekorierte bunte Blumen, Blüten, Samendolden, Fruchtstempel usw. (Bühne und Kostüme: Pia Maria Mackert). Ja, es geht um Sex, doch immer in der Light-Version, dramatische Spitzen bleiben aus. Man unterhält man sich gut in diesen 80 Minuten, die von einer vergangenen Zeit erzählen und augenzwinkernd in ihr verharren.

Weder nimmt das Stück ausdrücklich Bezug auf die zahlreichen Mißbrauchsskandale der Gegenwart, noch zeigt es uns Menschen, die unter sexuellen Übergriffen der Geistlichkeit leiden oder zerbrachen. Beides hätte ja nahe gelegen. Nein, Wenzel Storch beschränkt sich darauf, Unzulänglichkeit, Lächerlichkeit und Verkrampftheit bloßzustellen und das Weiterdenken dem Publikum selbst zu überlassen – über die Zusammenhänge zwischen Unterdrückung von Sexualität in der Pubertät und sexuellen Gewalthandlungen im Erwachsenenalter beispielsweise.

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Die Welt ist voller Blümchensex, den der Dortmunder Sprechchor in passender Kostümierung stilvoll auf die Bühne bringt. Die phantasievollen Dekorationen stammen von Pia Maria Mackert (Bühne und Kostüme). (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Zudem legt das Stück nahe, sich gesellschaftliche Kontinuitäten der Adenauer-Zeit vor Augen zu führen. Wie etwa konnte wenige Jahre nach der Menschheitskatastrophe Zweiter Weltkrieg sich eine (katholische) deutsche Erwachsenenwelt schon wieder anmaßen, die Jugend so erbarmungslos zu erziehen und zu formen? Welche eigenen Ängste und Gelüste wollten die oft traumatisierten Erwachsenen in ihrer Kindererziehung bekämpfen? Gedanken wie diese beim Publikum zu belassen und sie nicht als laut auftrumpfendes, hoch emotionales Theater zu inszenieren, macht den Dortmunder „Wigwam“ zu einer klugen, geschmeidigen Inszenierung, die gleichwohl ohne Tragik nicht ist. Schließlich auch fragt man sich, was einen Künstler wie Wenzel Storch zu so obsessiver, lebenslanger Beschäftigung mit seinem Thema veranlaßt.

Herzlicher Applaus.

Infos: http://www.theaterdo.de/detail/event/829/?not=1

Der Beitrag ist in ähnlicher Form im Westfälischen Anzeiger (Hamm) erschienen.




Klug und beschwingt: „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ in Bochum

Hier droht ein Nervenzusammenbruch. Szene mit (v.l.) Sabine Osthoff (Candela), Anna Döing (Marisa), Bettina Engelhardt (Pepa) und Matthias Eberle (Carlos). Im Hintergrund Katharina Linder (Lucia). (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Hier droht ein Nervenzusammenbruch. Szene mit (v.l.) Sabine Osthoff (Candela), Anna Döing (Marisa), Bettina Engelhardt (Pepa) und Matthias Eberle (Carlos). Im Hintergrund Katharina Linder (Lucia). (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Der langjährige Lebenspartner hat sich per Anrufbeantworter verabschiedet und das gemeinsame Apartment verlassen. Außerdem stellt sich heraus, dass er vorher verheiratet war und Vater ist. Und die Neue ist die Anwältin seiner Ex und nach eigenem Bekunden Feministin. Hemmungslos nutzt Iván, dieser Lump, die Frauen aus, mit ein paar belanglosen Worten – „Blablabla“ – bricht er scheinbar Mal für Mal mühelos ihren Willen.

Das wäre in Kürze die Grundkonstellation des Stücks, einer Beziehungskomödie ganz offenbar mit Neigungen zum politisch Unkorrekten und zu gewissen Schlüpfrigkeiten. Oder doch eher eine Tragödie? Gegeben wird im Bochumer Schauspielhaus das Musical „Frauen am Rande des Nervenbruchs“ nach dem gleichnamigen Film von Pedro Almodóvar aus dem Jahr 1987.

Wie dem spanischen Filmemacher, so ist auch Regisseurin Barbara Hauck vor kräftigen Klischees nicht bange. Den Hauptpersonen begegnen wir deshalb gleich zu Beginn natürlich beim Friseur, wo sie unter Trockenhauben sitzend bunte Magazine lesen und geziert Espresso trinken. Lucía (Katharina Linder), Candela (Sabine Osthoff) und Marisa (Anna Döing) entsprechen den gängigen Weibchen-Mustern voll und ganz, wackeln beim Gehen heftig mit dem Hintern und tratschen alles in Grund und Boden.

Pepa (Bettina Engelhardt), die aktuell Verlassene, lernen wir ein wenig später kennen, wenn sie das gemeinsame Apartment (weiter hinten, weiter oben auf der Bühne) verlassen vorfindet. Und an wieder anderer Stelle sehen wir bald schon das junges Paar Marisa und Carlos (Matthias Eberle), das endlich eine eigene Wohnung haben will und deshalb seine „klammernde“ Mutter (Lucía) samt gemeinsamer Wohnstätte loswerden muss.

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Stefan Hartmann (Ambite), Katharina Linder (Lucia), Bettina Engelhardt (Pepa), Lou Zöllkau (Ana Cristina), Nicola Mastroberardino (Taxifahrer). (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Die häufigen Wechsel der Handlungsstränge und Spielorte bewältigt diese Inszenierung mit einem Bühnenbild aus Plattformen, die sich nach Bedarf heben und senken und auf denen die Szenen spielen. Treppen verbinden sie (Bühne: Mara Henni Klimek).

Auch die Musiker sitzen auf einer Plattform und verschwinden deshalb ab und zu im Untergrund. Requisiten schweben bei Bedarf vom Schnürboden herab, Telefonhörer vor allem, zudem Verkehrsschilder und Ampeln, wenn als Spielort die Stadt Madrid gemeint ist. Dann kommt auch einige Male der launige Taxifahrer (Nicola Mastroberardino) ins Spiel, ein großer Kundinnenversteher mit gut sortiertem Notfallsortiment.

Das Auf und Ab der Ebenen strukturiert die aufgekratzte Handlung sinnvoll, ohne deshalb dem Tempo zu schaden. Einige Male ergeben sich dabei zudem so erstaunliche Perspektivwechsel, dass man vermeint, dreidimensionalen Kamerafahrten beizuwohnen.

Kinofilme auf die Theaterbühne zu bringen, ist in den letzten Jahren Mode geworden, die Qualität der Resultate schwankt. Diese „Frauen am Rande des Nervenbruchs“ allerdings wurden nicht in Bochum adaptiert, sondern stammen von den Amerikanern Jeffrey Lane (Buch) und David Yazbek (Musik und Liedtexte). Sie machten aus Almodóvars Film ein veritables Broadway-Musical, das 2010 in New York seine Uraufführung erlebte. Deutschsprachige Erstaufführung war 2012 in Graz. Aber natürlich verleugnet dieses Bühnenstück seine filmische Vorlage keineswegs, und in Bochum pointiert es sie sogar.

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Veronika Nickl (Paulina), Michael Schütz (Ivan). (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Der weltweite Erfolg von Amodóvars wahrscheinlich bedeutendstem Film liegt gewiss weniger im Gang der Handlung als in einer ungewöhnlichen Empathie und im Perspektivwechsel. Almodóvar hält zu den Frauen, zu allen, die hier vorkommen, er spielt sie nicht dramaturgisch gegeneinander aus. Und er zeigt, dass sie nicht wehrlos sind.

Wahrscheinlich stimmt es ja, dass das treulose und zynische Gebaren Iváns (Michael Schütz) sie eher an den Rand des Nervenzusammenbruchs als zum Griff nach dem Revolver treibt. Doch einerseits, das demonstriert die in die Handlung eingebaute Terroristenfahndung mit schusswaffenfuchtelnden Fahnderdeppen, wären Pistolen wohl auch keine Lösung. Andererseits entwickeln die von Iván betrogenen Frauen schließlich doch ein gewisses gemeinsames Selbstverständnis, aus dem Stärke erwächst, ein zartes Pflänzlein, für das das Wort Solidarität noch zu stark wäre. Aber immerhin.

Die Gesangsdarbietungen vermögen nur begrenzt zu überzeugen. Trotz Mikroports bleibt viel Text unverständlich, und angesiedelt irgendwo zwischen 60er-Jahre-Kino und Webber-Musical strotzen die Melodien nicht unbedingt vor Originalität. Immerhin jedoch singen Bochumer Theaterschauspieler besser als viele Kollegen anderer Revierbühnen.

Musiziert indes wird exzellent von einer (offenbar namenlosen) siebenköpfigen Kombo unter der Leitung von Tobias Cosler. Sie bringt eindrucksvoll auch die Ouvertüren vor und nach der Pause zu Gehör, die mit ihren manchmal schrillen Tönen auf moderat swingender Unterlage an das Weillsche Intro zur Dreigroschenoper denken lassen, die – ein Zufall? – sich dem Motiv der sexuellen Hörigkeit kaum weniger hingebungsvoll widmete als nun das Bochumer Almodóvar-Musical.

Anders als zum Beispiel Dortmund wählt Bochum zum Spielzeit-Auftakt die sichere Seite und verzichtet auf inszenatorische Experimente. Das ist nicht verwerflich. Diese „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ kommen erfrischend leicht daher, sind unterhaltsam, ohne seicht zu werden. Die gleichermaßen kluge wie beschwingte Einrichtung des Stoffs blendet tragische Valeurs keineswegs aus, ohne jedoch dem Publikum die Freude am Theaterbesuch zu nehmen. Wenn Pedro Almodóvar im Parkett gesessen hätte, wäre er wohl zufrieden gewesen.

Nächste Termine: 1. und 19. Oktober, 21. und 22. November 2014

http://www.schauspielhausbochum.de/spielplan/frauen-am-rande-des-nervenzusammenbruchs/




Warum das Zigeunerleben gar nicht lustig ist – eine moralische „Odyssee“ in Essen

Vorn auf der Bühne sitzt eine Gruppe übermütiger, weiß gekleideter Männer und Frauen um den Tisch herum, isst, trinkt und schwadroniert – stets im Chor – über ihre Reise, die andauert, weil sie sich ziemlich verpeilt haben. Die Gruppe ist in ihrer Gesamtheit offenbar Odysseus, nämlicher Held der Odyssee, der auf seiner zehn Jahre währenden Rückreise von Troja nach Ithaka einer Menge verstörender Wesen und Gesellschaften begegnete.

SCHAUSPIEL ESSEN: "Die Odyssee oder 'Lustig ist das Zigeunerlebe

Von links: Axel Holst, Ines Krug, Jan Jaroszek, Thomas Meczele, Stephanie Schönfeld, David Simon (Foto: Theater Essen/Thilo Beu)

Weiter hinten auf der Bühne finden im Verlauf des Stücks die Begegnungen mit den Fremden statt. Hier kommen die Zigeuner ins Spiel, die der Titel ankündigte. „Die Odyssee oder: Lustig ist das Zigeunerleben“ heißt die Produktion, die jetzt im Essener Grillo-Theater ihre Uraufführung erlebte und für die Regisseur Volker Lösch („nach Homer mit Texten von Roma, Sinti und Gadsche“) auch die Textfassung erstellte.

Man sieht: Dem Projekt liegt ein konzeptioneller Gedanke zugrunde, nämlich der, dass Homers Begegnungen mit dem Fremden in unseren Begegnungen mit den „Zigeunern“ eine Analogie haben. Lustig ist das Zigeunerleben bei den Lotophagen, gefährlich aber sind diese Leute, wenn sie als menschenfressende Zyklopen daherkommen. Und ihr skandalöser Umgang mit Frauen – aber auch das skandalöse Verhalten der Frauen selbst – findet Entsprechungen in den Episoden mit Circe, Calypso oder den Sirenen.

Die exotischen Völker und Figuren spielt eine sechsköpfige Roma-und-Sinti-Gruppe, die ihre Rollen in jeder Episode jedoch zügig verlässt, um mit trotziger Attitüde vorzutragen, wo und wie sie benachteiligt werden – in der Schule, bei der Arbeit, bei der Wohnungssuche und so fort. Insbesondere die Behandlung der Sinti und Roma in südosteuroäischen Ländern wird gegeißelt, und die just am Tag der Uraufführung beschlossene Änderung des Asylrechts, die Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina per Gesetz zu „sicheren Herkunftsstaaten“ macht, wird als Ungeheuerlichkeit geschmäht.

Die politischen Mißstände sollen nicht bestritten werden, doch das macht die Inszenierung nicht besser. Leider gilt wie oft auch hier, daß gut gemeint nicht immer gut gemacht ist. Die Verknüpfung von Odyssee und Roma-und-Sinti-Problematik wirkt weit hergeholt, Aha-Erlebnisse bleiben aus; der Duktus der Aufführung ist trotz der munteren weißen Partytruppe hölzern, der ermüdende Textvortrag ausschließlich im Chor hat daran erheblichen Anteil. Zudem monologisieren die jungen Roma und Sinti fast ausnahmslos von der Rampe in das Publikum hinein. Auch wenn sich „Schwarz“ und „Weiß“ auf der Bühne manchmal ziemlich nahe kommen, Rollen und Kostüme zum immer besseren Verständnis in einer Szene gar getauscht sind, finden Dialoge praktisch nicht statt.

SCHAUSPIEL ESSEN: "Die Odyssee oder 'Lustig ist das Zigeunerlebe

Von links: Faton Mistele, David Simon, Axel Holst, Sandra Selimović, Slaviša Marković, Melanie Joschla Weiß, Thomas Meczele, Ines Krug, Nebojša Marković, Stephanie Schönfeld (Foto: Thilo Beu/Schauspiel Essen)

Die zornige Selbststilisierung der jungen Roma-und-Sinti-Darsteller als Opfer von Ausgrenzung, Ausbeutung, Rassismus und so weiter in Vergangenheit und Gegenwart wirkt selbstgefällig und wenig produktiv. Dem Regisseur sollte zu denken geben, dass die Jugend mit ihrem manchmal recht feinen Gespür für Richtig und Falsch das Wort „Opfer“ vor Jahren schon zu einem Schimpfwort gemacht hat, wahrscheinlich nicht zuletzt wegen seines inflationären Gebrauchs. Eine stanzenhafte Aufteilung der Gesellschaft in Opfer und Täter, wie Lösch sie unterschwellig vornimmt, ist auch aus diesem Grund geradezu kontraproduktiv. Überdies bestätigte sie übelwollenden Teilen des Publikums (falls vorhanden) auf perfide Weise, dass Zigeuner eben anders sind.

In späteren Szenen erzählen die sechs Sinti-und-Roma-Schauspieler von sich persönlich, ihrer Selbstwahrnehmung und ihrem Selbstverständnis in einer Welt der „Weißen“ (Nicht-Sinti-und-Roma), von ihren Berufswünschen (Filmemacher, Musiker, Schauspieler…), vom Stress untereinander und in archaischen Familienstrukturen. Unübersehbar besteht hier die inszenatorische Absicht, Vorstellungen von grundlegender Andersartigkeit ad absurdum zu führen. Nur war die Andersartigkeit bis dahin lediglich eine Behauptung, der man folge konnte oder auch nicht. Und mit der Odyssee hat das alles gar nichts zu tun, eher mit dem brachialen Welterklärungsdrang dieser Inszenierung.

SCHAUSPIEL ESSEN: "Die Odyssee oder 'Lustig ist das Zigeunerlebe

Von links: David Simon, Thomas Meczele, Axel Holst, Ines Krug, Jan Jaroszek, Stephanie Schönfeld (Foto: Thilo Beu/Schauspiel Essen)

Ein Lob verdient die Ausstattung von Carola Reuther (Bühne, Kostüme, Projektionen), die ein halb offenes, auf einer Drehbühne installiertes weißes Haus in hübscher dialektischer Manier zur Spielstätte der Fremden wie auch zur Projektionsfläche spießbürgerlicher Sehnsüchte wie auch Überfremdungsängste macht. Erst ganz am Schluss werden hier statt bunter Hintergrundbeleuchtungen richtige Farben auf die Wand geworfen. Wenn Odysseus und seine Mannen sich anschicken, Penelope von ihren „Freiern“ zu befreien und ein gnadenloses Blutbad anrichten, zerplatzen blutrote Farbbeutel auf der weißen Wand. Eine feinsinnige Klimax, immerhin.

Die nächsten Termine: 26. Sept., 10. und 19. Okt.

Telefon: 02 01 / 81 22-200
Info-Hotline: 02 01 / 81 22-600
E-Mail: tickets@theater-essen.de
Infos: http://www.schauspiel-essen.de/stuecke/die-odyssee.htm




„Zeitgenössische Programmierung“: Rückblick auf die Triennale-Ära von Heiner Goebbels

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Die Triennale geht zu Ende, in die Bochumer Jahrhunderthalle kehrt Ruhe ein Bis 2015 Johan Siemons kommt (Foto: Ruhrtriennale/Jahrhunderthalle Bochum)

Es ist – das Ende. Der Platz vor der Jahrhunderthalle wirkt verlassen, hinten bei den Kühlbecken werden letzte Kulissen von „Neither“ in Container verladen. Man kann das Rund des Dampflokkessels erkennen, das in Wirklichkeit eben doch bloß schwarz angestrichenes Sperrholz war. Die Ruhrtriennale 2014 geht zu Ende.

Am Sonntag (28. September) ist in Bochum Schluß mit dem Royal Concertgebouw Orkest. Auch endet, was noch wichtiger ist, die Drei-Jahre-Intendanz von Heiner Goebbels. Er wird sich wieder seiner Professur für angewandte Theaterwissenschaften in Gießen widmen und komponieren. Johan Siemons ist, wie berichtet, sein Nachfolger. Und deshalb war die Abschluß-Pressekonferenz am Mittwoch nicht nur eine Spielzeit-Bilanz, sondern eine der Ära Goebbels, die von 2012 bis 2014 währte.

Drei Jahre Heiner Goebbels. Als sein Vorgänger Willy Decker das Zepter übergab, viele werden sich noch erinnern, fragte man Goebbels natürlich nach einem Konzept. Decker hatte da ja wuchtig vorgelegt und in seinen drei Jahren drei Weltreligionen zu den Zentralthemen gemacht, Judentum, Islam und Buddhismus. Goebbels jedoch schien kein Thema zu haben und wurde am konkretesten stets mit dem, was er nicht vorhatte: Keine religiös-philosophisch grundierten Rekonstruktionen des Welt- und Kunstgeschehens, keine systematischen Begrenzungen der Kunstformen, keine Imperative. Stattdessen: Kunst am äußersten Rand, Kunst, von der nicht alle glaubten, daß sie noch rezipierbar sei. Das gar nicht so erwartungsfrohe Publikum drückte sich bisweilen auch bösartiger aus: Minderheitenprogramm, esoterischer Firlefanz, viel heiße Luft in sündhaft teuren Produktionen.

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Die Intendanz von Heiner Goebbels ist zu Ende (Foto: Ruhrtriennale)

Heute muß man sagen: Goebbels hat tolle Programme gemacht. Unvergeßlich bleibt in seinem ersten Jahr John Cages „Europera“, ein Theaterguckkasten mit Schiebekulissen, wie man ihn sich in früheren Zeiten vor die Augen hielt, um die Tiefe eines Raumes im Modell zu erfahren, eine frühe 3D-Animation. In Bochum hatte der Guckkasten Hallendimension bekommen, hunderte Helfer schoben und zogen die scherenschnitthaften Elemente auf den verschiedenen Tiefenebenen ins Bild und wieder hinaus, und dem Publikum gab man noch die Botschaft mit auf den Weg, daß dies keineswegs eine Opernadaption darstellte. Es sei sinnlos, eine bekannte Handlung wiedererkennen zu wollen, hier erfahre das europäische Opernwesen zu den sparsamen Klängen von John Cage in Gänze seine Zerlegung.

Provokation? Ja, auch. Doch der Abend war grandios. Es war grandios, eine radikale Idee so hemmungslos materialisiert auf der Bühne zu sehen.

Keine Bange, jetzt werden nicht alle Produktionen durchgehechelt, die der Erwähnung würdig wären. Erinnert sei auf jeden Fall aber doch an die hoch emotionale, tief zu Herzen gehende Einrichtung von Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ im Jahr darauf. Robert Wilson führte Regie und spielte selbst mit. Partnerin und „Mädchen“ war Angela Winkler, das ganze fand vor eigens gezimmerten Zuschauerrängen statt, die eine Art vierseitigen Trichter bildeten und an deren oberem Rand sich rundherum die Musiker positioniert hatten. Dolby surround war nichts dagegen. Aber war das alles nötig für dieses kleine Zweipersonenstück?

Und was für ein wunderbarer Wahnsinn war Harry Partchs Glasschlaginstrumentenladen, in dem uns sein (tschuldigung) Kitschstück „Delusion of the Fury“ mit ziemlich voraussehbarem Soundtrack vorgespielt wurde! Zweimal teuer, zweimal ganz großes Theater.

Kommen wir zum Jahr 2014. Die beste Inszenierung der Jahrhunderthalle, also des Gebäudes selbst, war bisher wohl 2006, in der Ära Flimm, Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ in der Regie von David Pountney. Hier war die Bühne (je nach Blickwinkel) wenige Meter tief und einige hundert Meter lang oder umgekehrt, und das Publikum fuhr auf schienengebundenen Zuschauerrängen an dieser Bühne hin und her, immer dorthin, wo gerade etwas los war. Hier wurde das Stilmittel Kamerafahrt für die Bühne auf atemberaubende Art zur „Publikumsfahrt“ adaptiert. Und man „er-fuhr“ die riesige Halle.

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Furchterregend, jetzt im Container: die Lokomotive aus „Neither“. (Foto: Ruhrtriennale)

Wie gesagt: Überzeugender hat bisher keine Inszenierung die Riesendimensionen der Jahrhunderthalle zelebriert als nämliche „Solaten“. In dieser Triennale-Spielzeit jedoch ist ihnen Konkurrenz erwachsen. „Neither“ mit der Musik von Morton Feldman und dem extrem sparsamen Text von Samuel Beckett kann mit Fug für sich beanspruchen, es mindestens ebenso gut gemacht zu haben. Hier durchleuchten starke Scheinwerfer an einem Autokran das glasdurchwirkte nächtlich-schwarze Dach der Jahrhunderthalle und machen so deren schiere Größe ebenso sichtbar wie ihre Architektur, die zwischen industrieller Zweckmäßigkeit und schönem Gleichmaß Charakter zeigt. Da sich die Außenstrahler am Autokran mitunter auch heftig – choreographisch – bewegen, haben sie einen großen Anteil am Spielgeschehen. Überhaupt muß man „Neither“ eine der bedeutendsten Produktionen dieses Jahres nennen, allein schon wegen des (wiederum) erheblichen materiellen Aufwands inklusive fahrender Dampflok und fahrbarer Tribüne.

Nicht weniger grandios war der opulente Opener „De Materie“ in der Rege des Intendanten, alles vom Feinsten, aus dem Vollen geschöpft, teuer und schön. Als Komponist schließlich brachte Goebbels sich noch mit den 1994 uraufgeführten „Surrogate Cities“ in Erinnerung, in Duisburg naheliegenderweise mit der „Ruhr“-Version. Steven Sloane dirigierte die Bochumer Symphoniker, die Sängerin Jocelyn B. Smith und vor allem der „virtuose Vokalist“ David Moss bleiben in dankbarer Erinnerung. (Weniger die wuselige Chreographie von Mathilde Monnier, die mit der Aufbietung von 140 Freiwilligen aus der Region zwar unbedingt eine Fleißleistung ist, aber zu keinem Zeitpunkt mit der Musik kraftschlüssig zusammenwuchs.)

Endlos könnte man aufzählen, doch was nützte es? Unbestreitbar waren die Stücke, deren Auswahl Heiner Goebbels sehr nüchtern „Zeitgenössische Programmierung“ nennt, die wichtigsten Produktionen seiner Intendanz. Sie erbrachten einen unerwarteten Strauß von Kunsterlebnissen, unvergeßlich in seiner Einmaligkeit. Und in einer solchen Qualität wahrscheinlich nicht wiederholbar. Glücklich, wer dabeigewesen.

Nachklapp

Bei Bilanzpressekonferenzen wird in der Regel eine Erfolgsbilanz gezogen. Festivals und Spielzeiten sind immer erfolgreich, wenn nicht größte Katastrophen dies verhinderten. So war auch diesmal nur Gutes zu vernehmen, beginnend bei über 90-prozentiger Auslastung der Plätze und sich fortsetzend bei formidablem Echo der Medien und der Fachwelt.

Deutlich wird aber auch wieder, daß Triennale-Kunst teuer ist. 14 Millionen betrug der Jahresetat, Goebbels konnte in seinen drei Jahren mithin 42 Millionen ausgeben. Das ist viel Geld, vor allem auch mit Blick auf das allgegenwärtige deprimierende Geknappse bei anderen Kultureinrichtungen. Aber Kunst muß nicht billig sein, und der Versuch, gute Kunst abseits der ausgetretenen Pfade zu machen, kann noch teurer werden.

Warum also eine Triennale? Weil wir es uns – als Gesellschaft – wert sind, könnte man vielleicht sagen. Und erst im zweiten Satz auf die positiven wirtschaftlichen Wirkungen eines Festivals wie der Ruhrtriennale für die Region hinweisen, auf internationale Strahlkraft und Imageverbesserung.

www.ruhrtriennale.de

 




Rache ist auch keine Lösung – ein begeisternder „Orest“ im Bochumer Prinzregenttheater

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Schwarz ist die Heimaterde, rot das Blut – die neuen Herausforderungen haben Orest (Alexander Ritter) gezeichnet. (Foto: Martin Kaufhold/Prinzregenttheater)

Ein König, eine Königin, eine Tochter – der größte Teil des Personals steht schon am Bühnenrand, wenn das Publikum eintrifft. Nur einige Papierbahnen, die auf dem Boden liegen oder von der Decke hängen, deuten die Spielstätte zwischen den Rängen an, einziges Möbel im Bild ist ein Ledersessel. In großer Kargheit und strenger Fokussierung erwartet uns die Tragödie. Das Bochumer Prinzregenttheater zeigt „Orest“.

Orest, zur Erinnerung, Prinz aus dem antiken Mykene, wird nach seiner Rückkehr von Schwester Elektra dazu veranlasst, Stiefvater und Mutter zu erschlagen, weil die das Leben ihrer beider Vater auf dem Gewissen haben. Doch Volk und Gottheit akzeptieren die Bluttat nicht, den königlichen Geschwistern droht die Hinrichtung. Onkel Menelaos und Tante Helena sind auch keine Hilfe.

Die Mordtaten reihen sich, die Erdgeister zürnen. Vergebung und Erlösung, die den Wahnsinn stoppen könnten, sind nicht in Sicht. Einige wenige Videoeinblendungen am Ende des Stücks zeigen aktuelle Bombardierungen in arabischen Bürgerkriegsgebieten und sollen wohl andeuten, dass desaströses Rachedenken bis in unsere Zeit hinein seine Fortsetzung findet. Leider kein abwegiger Gedanke.

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Familienbild mit Mutter (von links): Orest (Alexander Ritter), Klytaimnestra (Hella-Birgit Mascus), Chrysotemis (Anna Purwa). (Foto: Martin Kaufhold/Prinzregenttheater)

Auch wenn der Titel des Stücks ein wenig abgespeckt hat, wenn in Bochum nur noch „Orest“ statt „Orestie“ gegeben wird, weckt er doch tiefe Ehrfurcht. Bedeutende Regisseure haben die tragische Geschichte des Atriden-Prinzen und seiner familiären Entourage nach den Übersetzungen von Sophokles, Aischylos oder Euripides in mitunter mehrtägigen Inszenierungen auf die Bühne gestemmt.

Und nun macht sich das kleine Prinzregenttheater anheischig, den ganzen Stoff in spärlicher (wiewohl stimmiger) Kulisse und gerade einmal hundert Minuten zu erzählen, zuzüglich Pause. Und das nicht als Klamauknummer à la „Shakespeares sämtliche Werke leicht gekürzt“, sondern als präzise, konzentrierte Analyse dessen, was beim Stamme der Atriden in die Katastrophe führte. Und vielleicht auch, was über den Einzelfall hinausweist.

Den Text für die neue Produktion des Prinzregenttheaters lieferte – das Programm spricht viel zu bescheiden von einer „Bearbeitung“ der antiken Vorlagen – John von Düffel, ausgewiesener Dramatiker mit erheblichem Renommee. Sein Text mit den prägnant kurzen, deutlichen Sätzen, die gleichwohl noch antikes Versmaß spüren lassen, ist ein radikaler Gegenentwurf zu den schmuckreichen, unendlich gewundenen und in hoher Emotion vorzutragenden (wenngleich oft auch sehr schönen) älteren Übersetzungen, die dem heutigen Publikum den Zugang zu Antikenstoffen nicht eben erleichtert – sofern Theater sich überhaupt noch die Mühe der Textvermittlung macht. In der kongenialen Umsetzung durch Regisseurin und Hausherrin Sibylle Broll-Pape sind seine Zeilen ein ausgesprochener Glücksfall.

Nicht zuletzt diesem „modernen“ Text ist es zu verdanken, dass die kompakte Nacherzählung des blutrünstigen Geschehens ihre Charaktere in unerwarteter Individualität zeichnet. Wir begegnen einer keineswegs verbrecherisch sich wähnenden Klytaimnestra (Hella-Birgit Mascus), die Verständnis für den Mord an ihrem Gatten Agamemnon einfordert, weil der (warum wird nicht klarer) es besser nicht verdient habe; wir erleben Orest (Alexander Ritter) als unglücklichen Zauderer und seine Schwester Elektra (Magdalena Helmig) als Aufwieglerin, deren Hass pathologische Züge zeigt. Stephan Ullrich gibt Aigisthos wie Menelaos als zynischer Machtmensch, Ana Purwa gefällt in der Rolle der kleinen Schwester, die das Richtige sieht und benennt, es aber nicht durchsetzen kann. Fünf Personen – mehr braucht es hier nicht.

Auf unseren Bühnen sind solche konzentrierten, der Schauspielkunst verpflichteten Inszenierungen selten geworden. Es ist dies die letzte Saison der Theaterleiterin Sybille Broll-Pape, die ab 2015 Intendantin in Bamberg wird. Das ist ein Grund mehr, die jüngste Produktion des Prinzregenttheaters nicht zu versäumen.

Herzlicher, anhaltender Applaus.

Weitere Vorstellungen: 23. September, 19.30 Uhr. 3. Oktober, 19 Uhr. 4. u. 31. Oktober, jeweils 19.30 Uhr.

www.prinzregenttheater.de, Tel. 0234 – 77 11 17

 




Wum und Wendelin machen jetzt politisches Theater: „Hamlet“ in Dortmund

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Unten körperlich, oben auf der Videowand: Eva Verena Müller als Hamlet (Bild: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Am Schluß, und man vergibt sich nichts, wenn man es am Anfang schon erzählt, tanzen Wum und Wendelin auf der Bühne herum und wiederholen ungezählte Male aufgeregt und euphorisch den Satz „Wir machen jetzt politisches Theater“. Sie tun es, bis die ersten den Saal verlassen, sie tun es während des bald folgenden Massenexodus’, und ob sie es tun, bis der letzte Zuschauer den Raum verlassen hat, weiß ich nicht. Aber es ist ziemlich wahrscheinlich.

Es ist dies offenbar ein Akt der Zuschauervergrämung, lieblos wie respektlos, der für die Inszenierung allerdings den Vorteil birgt, daß eine echte Zuschauerreaktion unterbleibt. Diese Reaktion wäre vermutlich unerfreulich gewesen. Die Produktion heißt „Hamlet nach William Shakespeare“ und ist eine Regiearbeit des Intendanten Kay Voges, mit der das Dortmunder Schauspiel in die neue Spielzeit startet.

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Bettina Lieder als Ophelia auf der Videowand (Bild: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Indes fällt es schwer, das Wort Schauspielproduktion zu gebrauchen. Meistens ist nämlich niemand auf der Bühne, läuft die Handlung als Video mit einer Vielzahl gleichzeitig gezeigter Bilder ab. Ob diese Videosequenzen live hinter der Bühne gespielt und gefilmt werden oder ob sie vorgefertigte Konserven sind, darüber gingen die Meinungen im Publikum auseinander.

Jedenfalls erzeugt diese Form der Stoffpräsentation große Distanz, man ertappt sich wiederholt beim unwillkürlichen Weggucken, beim quasi mechanischen Ignorieren des lästigen Geflimmers. Im Wechsel mit angemessen intensiver personalisierter Bühnenaktion wäre es gewiß sehr eindrucksvoll, aber so?

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Video mit (v.l.): Friederike Tiefenbacher (Gertrud), Carlos Lobo (König Claudius), Christoph Jöde (Laertes) (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Immerhin erzählt (vorwiegend) das Video so etwas wie eine Geschichte. Mindestens eine, eher zwei. Die eine hat noch viel mit dem Shakespeare-Stoff zu tun, in dem Dänenprinz Hamlet (Eva Verena Müller) im Traum sein dahingeschiedener Vater und König (Sebastian Kuschmann) erscheint und seinen Nachfolger Claudius (Carlos Lobo) des heimtückischen Giftmordes an ihm bezichtigt.

Hamlet, ich mache es ganz kurz, sinnt auf Rache, scheitert tragisch und am Schluß sind die meisten Hauptpersonen tot. Trotzdem ist Hamlet in aller Regel der Sympathieträger und sein Stiefvater Claudius das leibhaftige Böse; auch sein Mordmotiv wird gemeinhin gutgeheißen, wenngleich es recht unchristlich-unerbittlich dem alttestamentarischen „Auge um Auge“ folgt. Daß Vatermord sich nicht gehört, verdeutlichen dann höhere Kräfte.

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Auf der Bühne: Bettina Lieder als Ophelia (Bild: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Der Dortmunder Inszenierung aber reichen die eher klassischen Motive nicht, auch Handlungsum- und –weiterdeutungen im Sinne politisch-gesellschaftlicher Paradigmenwechsel – im Sinne von Heiner Müllers „Hamletmaschine“ vielleicht – interessieren sie nicht nachhaltig. Nein, mehr als alles andere ist der neue böse König Polonius das Gesicht des Überwachungsstaates, der rastlos herausforschen muß, was andere von seinen bösen Taten wissen. Er ist der Rasterfahnder, der mißtrauische Algorithmenprüfer, der Erzfeind alles Privaten. Er ist der Zyniker, der seine Feinde als Kollateralschäden entsorgt.

Nun gut. Es ist es ja nicht so, daß solche Denkfiguren Shakespeare gänzlich fremd gewesen wären, auch wenn er das Internet noch nicht kannte. Mit feinem Humor hat er bekanntlich Rosenkranz und Güldenstern (Frank Genser, Uwe Schmieder) zur Truppe fürs Grobe gekürt. In Dortmund enden sie (bzw. nicht) in den Strampler-Kostümen von Wum und Wendelin, und zumindest in diesem Punkt könnte man fast so etwas wie eine augenzwinkernde Annäherung an den großen Elisabethaner erkennen.

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Doppelpack: Hamlet (Eva Verena Müller) und Totenschädel (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Das Theater verläßt man letztlich unzufrieden. Was wollte uns diese Produktion erzählen, was hat uns berührt, wo ist ein Mehrwert an Erkenntnis, der uns Unzulänglichkeiten freudig erleiden ließe?

Paul Wallfischs Sound-Design bringt sich ebenso unauffällig in Erinnerung wie die Bühne (Pia Maria Mackert). Das heftig agitierte Video, das Bilder und Szenen in häufig wechselnder Zahl und Einstellung abspult (Daniel Hengst, Lars Ullrich), läßt trotz durchgängiger HD-Qualität manchmal an die Ästhetik alter „Raumschiff Orion“-Folgen denken.

Auch über die Schauspieler ist nicht viel zu sagen. Hinter der Bühne (Live-Video oder Konserve?) chargieren sie nach Kräften, körperlich auf der Bühne bleiben sie darstellerisch eher blaß. Nach etwa der Hälfte der Spielzeit befinden sich die Darsteller, Hamlet vorneweg, zudem in einem Zustand der Dauererregung, der für das Publikum ermüdend ist, das Textverständnis (trotz Mikroport) nicht eben erleichtert und dramatische Wendungen kaum mehr nachvollziehbar macht. Es ist dies nicht die Schuld der Darsteller. Neben den bereits Genannten handeln Friederike Tiefenbacher (Gertrud), Michael Witte (Polonius), Christoph Jöde (Laertes) und last not least Bettina Lieder (Ophelia) halt, wie ihnen geheißen.

Und das politische Theater? Vielleicht war der Spruch von Wum und Wendelin (alias Rosenkranz und Güldenstern) ja auf die Zukunft gemünzt. Sonst müßte man unterstellen, daß dieser „Hamlet“ politisches Theater gewesen sein soll, politisches Theater auf Kinderzimmerniveau. Die Reaktionäre, wie man früher vielleicht gesagt hätte, müssen auf absehbare Zeit nichts befürchten.

Weitere Termine: 21.9., 1.10. www.theaterdo.de




Nichts als Text im Tanzzentrum – „El triunfo de la libertad“ bei der Ruhrtriennale

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Was zu lesen: „El triunfo de la libertad“ von La Ribot im Essener Tanzzentrum „pact“. Foto: Ruhrtriennale

Das Publikum wartet auf die Tänzer – doch die Tänzer kommen nicht. Stattdessen sind auf elektronischen Schriftbändern Sätze in Deutsch und Englisch zu lesen, die eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die das Intro zu einem Tanz sein könnte.

„El triunfo de la libertad“ heißt dieser eigenwillige Abend im Essener Tanzzentrum „pact“, für den die Choreographin La Ribot verantwortlich zeichnet. Anscheinend ist mit dem Titel die „Libertad“ (Freiheit) der Künstlerin gemeint, zu machen, wozu sie eben Lust hat.

Da die Kunst (fast) alles darf, ist La Ribote ihre fünfzigminütige Laufschriftvorführung bei schleichend sich wandelnder Bühnenhelligkeit nicht einmal vorzuwerfen. Eher schon dem Veranstalter Ruhrtriennale, der „El triunfo de la libertad“ unter „Theater/Performance“ ins Programmheft geschrieben hat und das unwissende Publikum in seiner Vorankündigung über das zu erwartende Geschehen völlig im Unklaren läßt. Wir lesen etwas von „Deutschlandpremiere“, „zeitgenössischem Tanz“ und einer „Frage nach den ,Extras’ der Komparsen…“, lesen die Namen Juan Dominguez und Juan Loriente, die das Konzept miterarbeiteten und die man, da man sie nicht näher kennt, als Tänzer auf der Bühne erwartete. Aber von Laufschrift lesen wir nichts. Und deshalb darf man das ganze getrost als Betrug am Publikum bezeichnen, als Flunkerei und Machtmißbrauch einer Intendanz, die der künstlerischen Überzeugungskraft der von ihr eingekauften Produktionen selbst nicht traut. Der Volksmund kennt für diesen Sachverhalt weitaus deftigere Formulierungen, die zu verwenden der Anstand verwehrt.

Zugegeben: Hätte man vorher gewußt, daß es sich hier lediglich um eine Textvorführung handelt, wäre man vermutlich nicht hingegangen. Wäre das ganze allerdings als „Installation“ (fraglos der treffendste Gattungsbegriff) aufgebaut worden, hätte man den Text sicherlich nicht von vorne bis hinten gelesen. Im Theatersaal kommt man jedoch nicht daran vorbei, ihn in Gänze wahrzunehmen. Und deshalb kennt man jetzt die Geschichte von Pablo und Egueda aus dem Dorf Alcorcón nahe Madrid, das seine Flitterwochen in der Karibik verbringt. Hier sieht es die Show von „Nelson, dem Skandinavier“ (25), der es schafft, Wallnüsse mit seinem Penis zu zertrümmern. Wow!

50 Jahre später – Goldene Hochzeit – reisen Pablo und Egueda wieder in die Karibik. Das selbe Hotel, die selbe Bühnenshow. Nur zertrümmert Nelson (75) jetzt Kokosnüsse, und sie fragen ihn, warum. „Die Augen werden schlechter“, sagt Nelson. Brüllwitz.

Zusätzlich zu dieser Geschichte, die detailreich und ausladend erzählt wird, gibt es im Wechsel einige kulturell höherstehende Passagen wie den Tagebucheintrag Ludwig des Vierzehnten, der am Tag der Erstürmung der Bastille „keine Ereignisse“ notierte. Oder die Sätze eines Pariser „Anonymus“ aus dem Jahr 1777, der alles Elend der Welt gesehen zu haben meint und dies wortreich ausbreitet. Weiterhin fallen Zitate von Fernando Pessoa und einem Rapper aus dem Gazastreifen, werden mit fiktiven Temperaturangaben aus der Zukunft (immer 17 Grad, was kein Zufall sein kann) und einigen durchnumerierten halluzinatorischen Gedanken angereichert, und ob das ganze inhaltliche Kohärenz und Struktur hat (was letztlich wahrscheinlicher ist) oder die Elemente in radikaler Gleichrangigkeit darbietet, mag das Publikum selbst entscheiden.

Die Künstlerin jedenfalls nimmt sich die Freiheit der (zumindest relativ) freien Assoziation; und wenn sie ihre Ideen nicht tanzen läßt, sondern sie zur Laufschrift macht, ist das doch wenigstens ein Konzept. Wenngleich ein vergleichsweise freudloses.

Wie zu erwarten: kaum Applaus. Es kam auch niemand auf die Bühne, um ihn sich abzuholen. Keine weiteren Vorstellungen.




Kosmos Nordsee – Bilder des Norderneyer Malers Poppe Folkerts in Haus Opherdicke

Die Segel leuchtend oder strahlend weiß, manchmal mit einem zarten Stich ins Rosa; der Himmel so blau wie gerade aus der Tube gequetscht, ebenso die glatte See: von der Farbigkeit her müßte das das Mittelmeer sein, mindestens. Oder die Karibik. Doch da hat Poppe Folkerts nicht oft gemalt. Das so hemmungslos leuchtende Bild entstand 1934 auf Norderney und zeigt den Hafen der Insel, genauer: seine Segelyacht „Senta“ bei der Einfahrt in denselben. Offensichtlich liebte der Maler, dem Haus Opherdicke jetzt eine Ausstellung widmet, die schönen Sommertage ganz besonders.

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Morgenstimmung, 1938, Öl auf Leinwand. Bild: Poppe-Folkerts-Stiftung/Kreis Unna

Immer wieder setzt Poppe Folkerts dem bleiernen Modersohn-Grau des tiefen norddeutschen Himmels ein mehr oder minder leichtes, stets aber intensives Blau in zahlreichen Helligkeiten und Durchmischungen entgegen. Meistens sind Lichter beherrschender als Schatten, und sicherlich offenbart sich in dieser optimistischen Sicht- und Malweise viel von der Lebenshaltung des Künstlers. 1875 auf Norderney geboren, absolvierte er auf dem Festland Schule, Glaserlehre und schließlich eine Ausbildung an der Königlichen Berliner Akademie, um 1900 zur Insel zurückzukehren und bis zu seinem Tod im Jahr 1949 dort zu leben, allen historischen Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Trotz.

Allerdings lebte er nicht als Einsiedler, sondern unternahm zahlreiche Reisen mit Familie ins In- und Ausland. Doch Lebensmittelpunkt wurde und blieb der „Malerturm“, den sich Folkerts 1917 am Nordwestrand seiner Heimatinsel baute. Meer und Menschen, Boote, Strand und Land waren sein überwiegend heiter wahrgenommener Kosmos. Lediglich die Seenotretter in ihren fragilen Ruderbooten legen sich vor düsterem Himmel in die Riemen, was in gewisser Weise ja auch zwingend ist.

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Frauke, 1926, Öl auf Holz. Bild:-Poppe Folkerts-Stiftung/Kreis Unna

Poppe Folkerts stammt aus jener Zeit, in der der Impressionismus dem peniblen naturalistischen Akademiestil – beispielsweise der Düsseldorfer Schule – den malerischen Alleinvertretungsanspruch streitig machte. Es galt, Stellung zu beziehen, und die oft großformatigen Werke im Opherdicker Wasserschlößchen lassen früh erkennen, wie sich Folkerts in dieser Auseinandersetzung moderat positionierte.

Dinge und Menschen bleiben deutlich identifizierbar. „Modern, aber nicht übertrieben“ hätte man diesen Stil in den restaurativen 50er Jahren vielleicht genannt. Daß Meer und Himmel dabei deutlicher als alles andere impressionistischer Darstellung anheimfallen, liegt nahe. Möglicherweise wirkte auch der Wunsch, ab und zu ein Bild an Norderney-Besucher zu verkaufen, stilbildend. Aus heutiger Sicht ist es müßig, zu fragen, wie „mutig“ der Künstler mit seiner Kunst in seiner Zeit war; denn was trotz einer gewissen Gefälligkeit ganz unbestreitbar bleibt, ist die große Ausdrucksstärke, zumal die der Seestücke und Landschaften.

In der Kaiserzeit meldete sich der Künstler freiwillig – mit 39 Jahren war er 1914 für den Militärdienst wohl schon zu alt – als Kriegsmaler. Ein Raum ist in Opherdicke Gemälden von militärischen Aktionen gewidmet, und es fällt auf, daß sie relativ unpathetisch gerieten. Gewiß gehören diese Bilder nicht zum Stärksten der Schau, doch macht ihre stets um formale Ehrlichkeit bemühte Ernsthaftigkeit verständlich, warum Poppe Folkerts nach dem verlorenen Krieg eben nicht als hurrapatriotischer Schlachtenmaler „verbrannt“ war, sondern weiter arbeiten konnte und geachtet blieb.

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Schillbögeln, 1928, Federzeichnung. Bild: Poppe-Folkerts-Stiftung/Kreis Unna

In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, die für Norderney hart waren, da der Tourismus daniederlag, erwarb sich Poppe Folkerts wachsende Verdienste um das Gemeinwohl. Zu den originellsten, wenn auch nicht unbedingt größten Verdiensten gehörte gewiß, wie Hayo Moroni von der Norderneyer Folkerts-Stiftung launig zu berichten weiß, in jener Zeit die Scheine des Notgeldes und das Inselwappen gestaltet zu haben.

Die Nazis mochte er nicht, aber sie ließen ihn in Ruhe. Als er am 31. Dezember 1949 stirbt, ist der Trauerzug lang; und obwohl es eigentlich verboten ist, bekommt er die gewünschte Seebestattung, im schweren Eichensarg im Tiefwasser vor Norderney.

Mehr als 90 Arbeiten von Poppe Folkerts sind ab Sonntag (bis 22. Februar 2015) in Haus Opherdicke zu sehen – neben den Ölgemälden auch sehr bemerkenswerte Kreidezeichnungen und Radierungen. Leihgeber sind vor allem die Poppe-Folkerts-Stiftung auf Norderney, das Ostfriesische Landesmuseum in Emden, einige Privatpersonen und nicht zuletzt die Reederei Norden Frisia, deren Fährschiffe oft zu Motiven wurden.

„Poppe Folkerts – Zwischen Himmel und Meer“. 31. August 2014 bis 22. Februar 2015. Haus Opherdicke, Holzwickede, Dorfstraße 29. Geöffnet Di-So 10:30 bis 17:30 Uhr. Eintritt 4 €. Empfehlenswerter Katalog 24 €

www.kreis-unna.de, www.kulturkreis-unna.de




Aufstand, Entschleunigung, Dunkelheit – „I am“ von Lemi Ponifasio bei der Ruhrtriennale

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Szene aus „I am“ von Lemi Ponifasio Foto: Ruhrtriennale/Jörg Baumann

Dunkel ist es in der Jahrhunderthalle, aber nicht dunkel genug. Der Anfang verzögert sich um runde 20 Minuten, weil noch zu viel Licht durch die Scheiben hinter der Bühne dringt. Dabei ist der Beginn von Lemi Ponifasios Stück „I am“ eh schon auf 20:30 Uhr gelegt worden. Doch erst kurz vor neun geht’s los.

Wenn es losgeht, heißt das aber nicht, daß es auf der Bühne schlagartig heller würde. Die Personen agieren im letzten Schein des dahindämmernden Tages, wandeln auf dem First der schrägen Ebene, die den Bühnenhintergrund abgibt, quellen in großer Langsamkeit links und rechts davon auf die Bühne. Womit ein erstes, sehr zentrales Element dieses Abends genannt ist: Langsamkeit.

Das Programmheft spricht zwar sehr viel vornehmer von „Entschleunigung“, doch gemeint ist das gleiche. Abgesehen von einigen schnellen und aggressiven Kampfmotiven spielt sich das Bühnengeschehen in Langsamkeit ab, die nicht quälend zu nennen schwer fällt. Am ehesten ist sie noch zu Beginn zu ertragen, wo Bilder der Bühne sich mit der assoziativen Maschinerie im Kopf des Zuschauers und der Zuschauerin synchronisieren müssen. Das funktioniert auch recht gut; es ist nicht so, daß die Dinge gänzlich unverständlich blieben, wenngleich so etwas wie faktische Eindeutigkeit sich nicht ergibt und wohl auch nicht erwünscht ist.

Doch wenn das Geschehen seinen Lauf nimmt, wenn beispielsweise die endlos lange (und in unverständlicher Sprache vorgetragene) Rede eines männlichen Führers, in deren Verlauf dieser sich anscheinend vom redlichen politischen Ankläger zum gewalttätigen Demagogen wandelt, einige Zeit später mit einem weiblichen Pendant seine kaum weniger zeitraubende Entsprechung findet, dann dehnt sich das schon. Dann fängt man an, die Sitze unbequem zu finden, die Funktionsfähigkeit der Armbanduhr anzuzweifeln und sich nach dem künstlerischen Mehrwert des ganzen zu fragen.

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Szene aus „I am“ von Lemi Ponifasio Foto: Ruhrtriennale/Jörg Baumann

Verstörenderweise beginnt der Abend mit der deutschen Nationalhymne, die etwas verzerrt und verknistert von einem Plattenspieler im Off kommt.  Aha, es geht um Migrantenschicksale im reichen Deutschland, denkt man. Doch man irrt, wie einem das Programmheft verrät. Dort steht sinngemäß, daß dieser Abend auch so etwas wie eine Gedenkfeier für die 20 Millionen Toten des Ersten Weltkrieges sei, daß dieser Krieg auch die Pazifikinseln nicht verschont habe, die seinerzeit zu einem kleinen Teil deutsches Kolonialgebiet waren und „Kaiser-Wilhelm-Land“ hießen.  Deshalb also ganz am Anfang „Deutschland über alles“, ein Intro mit Bitternote, denn es kündigt auch Aufstand und blutige Niederschlagung an.

Während der nämliche Redner an der Rampe seine unverständliche Rede hält, schieben hinter ihm gebeugte Schattengestalten vor dunklem Bühnenhintergrund lorengleiche schwarze Quader (Särge?) von rechts nach links. Bald wird sich das Volk nach seinen Kommandos auf dem Boden wälzen. Und er wird selbst dann noch schreien, wenn sich alle (nach links) von der Bühne fortgewälzt haben.

Im weiteren Verlauf ändert sich der Sprachduktus des Geschehens. Den brutalen Schreien des Redners folgen aus dem Off scheu vorgetragene Selbstbekundungen einer jüngeren Männerstimme in der Ich-Form und in englischer Sprache. Mit moderner Projektionstechnik werden sie zudem in einer Art Schreibschrift auf die Hallenwand hinter der Bühne projiziert. Doch bleiben sie trotz kombinierten Schrift- und Sprachvortrags überwiegend unverständlich. Und wiederum müssen wir annehmen, daß das gewollt ist, denn in „De Materie“, der Eröffnungsproduktion der Ruhrtriennale, hatte uns Intendant Heiner Goebbels vorgeführt, mit welch brillanter Projektionstechnik Textzeilen in das szenische Geschehen zu integrieren sind, wenn man es denn will. Hier will man nicht, auch wenn, wie wiederum dem Programmheft zu entnehmen ist, Texte von Heiner Müller und Antonin Artaud zum Vortrag gelangen. Bei aller Unverständlichkeit bleibt aber doch hängen, daß neben dem Schicksal der Völker auch so etwas wie die Entwicklung einer Persönlichkeit vorgeführt wird.

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Szene aus „I am“ von Lemi Ponifasio Foto: Ruhrtriennale/Jörg Baumann

Zu den wenigen Requisiten der Produktion gehören Gummihandschuhe, weiße Nelken und ein Schießgewehr, und gegen Ende liegt einer der muskulösen, tattooverzierten Mimen in Jesuspose auf dem schrägen Bühnenhintergrund und kommt auch nicht mehr hoch und wird, wenn er schließlich nur noch still daliegt, von einem sehr gelenkigen Vierfüßler mit Eiern beworfen. Christentum? Folter? Urzustand?

Zugegeben, mit der Zeit fällt es immer schwerer, bei all den langsam sich auf- und abbauenden Bildern stets die Sinnfrage zu stellen. Es bricht das Gefühl sich Bahn, es hier mit Kryptifizierungen um ihrer selbst willen zu tun zu haben, mit dem Bestreben, Sachverhalte ohne Not zu verrätseln, einzig aus dem Drang, ein schwer begreifliches und deshalb hochwertig wirkendes Kunstprodukt zu erstellen. Daß der Autor dieser Performance Lemi Ponifasio („Konzept, Bühne, Choreographie, Regie“) aus Samoa stammt und von dort auch seine MAU-Company mitgebracht hat, macht diese Tendenz nicht eben erträglicher. Allerdings werden durch die Herkunft von Stück und Autor manche Elemente verständlicher: die Ausgebeuteten, der Diktator, die Ringkämpfer mit ihren nackten Oberkörpern, die „Volksmassen“ mit ihrer „asiatischen“ Gruppendisziplin.

Preisen kann man die Choreographie, die in großer formaler Strenge starke Bilder in schwarz-weiß-grauen Einfärbungen erschafft, die das Spiel des Auftauchens und Verschwindens in Dunkelheit souverän beherrscht, die (vor allem in den letzten Bildern) mit großformatigen Rückprojektionen und geneigten Projektionsflächen (welche die Darsteller vor diesen Flächen als Schattenrisse erscheinen lassen) zu operieren weiß.

Nicht preisen soll man das laute und sehr laute Gebrummel der Lautsprecher sowie die technischen Kreischgeräusche, die dem Publikum in Permanenz die Wichtigkeit des Geschehens um die Ohren hauen.  Und obwohl es sich natürlich verbietet, dem Künstler zu sagen, wie er seine Arbeit machen soll, hätte man sich ab und zu eine kleine inhaltliche oder formale Brechung sehr schön vorstellen können.

Das Triennale-Publikum schließlich zeigte sich höflich. Nur wenige Zuschauer verließen während des Spiels die Halle, allerdings setzte der Exodus nach den ersten Verbeugungen des Ensembles schlagartig und massenhaft ein. Bis auf die üblichen Jauchzer blieb der Beifall verhalten.

Jahrhunderthalle Bochum. Termine: 30., 31. August, 20:30 Uhr. Intro 19:45 Uhr. Karten zwischen 20 und 40 Euro. www.ruhrtriennale.de




Aluminium in Duisburg, Videos in Essen – die Installationen der Ruhrtriennale

Die Kunst kann jetzt besichtigt werden. Man darf sogar auf ihr gehen, rennen, hüpfen und – bei hinreichender Körperbeherrschung – tanzen. Der Grund ist schwankend, genauer: federnd: „Melt“, so heißt die Arbeit, besteht aus 50 Aluminiumplatten, die auf einer durablen Federung lagern und aneinander verlegt einen 70 Meter langen Weg ergeben.

Der Weg befindet sich zum größten Teil unterhalb der stillgelegten Hochöfen auf dem Hüttengelände im Landschaftspark Duisburg Nord, weshalb er etwas dunkel ist und auch tagsüber von Scheinwerfern bestrahlt wird. Hier spürt man in den Worten des Künstlerduos Rejane Cantoni und Leonardo Crescenti, das gern auch etwas griffiger als „cantoni crescenti“ zeichnet, die „vibes“, die „communication“, den „sound“, und natürlich ist das alles „very social“.

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„Melt“ (Foto: Leonardo Crescenti/Ruhrtriennale)

Tja.

Eindrucksvoll ist diese Arbeit ganz ohne Frage. Das verbaute Material dürfte einen beträchtlichen Wert haben (Achtung! Metalldiebe!), und ob es die Laufzeit (!) der Triennale bis 28. September ohne Blessuren übersteht, muß sich noch zeigen. Das wäre jedenfalls der Beweis für eine hervorragende technische Qualität dieser Konstruktion.

Der arglose Flaneur indes könnte die Installation unter dem gigantischen Stahlkorsett der rostigen Hochöfen glatt übersehen, würden nicht Schilder und Menschenmassen von ihrer Existenz künden. Wenn er sie dann doch betritt und sein Gleichgewicht suchen muß, läßt ihn das langgestreckte Aluminiumgebilde spontan an eine Hüpfburg denken, an eine aufgeblasene Bereicherung sommerlicher Kinderfeste. Nur sind die dank der Materialien Luft und Plastik deutlich leiser.

Fraglos jedoch gehören Scheppern und Donnern des Aluminiums mit zum künstlerischen Konzept der federnden Laufbahn, und grundsätzliche Gedanken über einen gültigen Kunstbegriff und die zeitgenössischen Weitungen desselben wollen wir uns verkneifen. Wenn wir aber standhaft akzeptieren, daß dies ohne Wenn und Aber ein Kunstwerk ist, bleibt doch eine gewisse Beklommenheit angesichts des Aufwands, der hier getrieben wurde.

Einwenden könnte man jetzt natürlich, daß andere soziale Kunstwerke viel teurer kommen, man denke nur an das Denkmal für die deutsche Einheit, das in Berlin (unter anderem unter Mitwirkung der Choreographin Sascha Waltz) entstehen sollte und aus einer Art Wippe besteht, die das Publikum durch Gewichtsverlagerung bewegen kann. Auch so ein beglückendes soziales Erlebnis; allerdings ist mittlerweile fraglich, ob das Berliner Millionenprojekt noch realisiert wird.

Doch den federnden Alusteg mit Namen „Melt“ gibt’s in Duisburg wirklich. Ein Jeder und eine Jede mögen selber urteilen, der Eintritt ist frei.

 

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Nicht eine – viele Filmeinstellungen versammelt Harun Farockis Arbeit „Eine Einstellung zur Arbeit“ im Folkwang-Museum. (Foto: Achim Kukulies/Ruhrtriennale)

Zu sehen ist jetzt auch die Videoarbeit „Eine Einstellung zur Arbeit“ des jüngst verstorbenen Film- und Videokünstlers Harun Farocki und seiner Frau Antje Ehmann, und der Titel ist von feinem Doppelsinn. Filmemacher aus der ganzen Welt filmten Männer und Frauen in Stahl-, Bau- oder Textilindustrie, Wachpersonal, Museumswärter und so fort. Sie lieferten kurze Filme (maximal zwei Minuten Länge) ab, 450 an der Zahl. Die Filme durften nicht geschnitten sein, sind somit in der Sprache der Filmleute jeweils „eine Einstellung“.

Nun sieht die deutsche Sprache für das Wort Einstellung aber auch die Bedeutung von Haltung, Wertschätzung vor, was dem Projekt seine qualitativen Valeurs verleiht. Wenn im abgedunkelten Ausstellungsraum des Essener Folkwang-Museums auf zehn Leinwänden die Zweiminutenfilmchen in bunter Reihenfolge laufen, stellen sich beim Betrachter gegenläufige Empfindungen ein. Der serielle Charakter des Gezeigten verstärkt den Eindruck der Gleichförmigkeit, die Gleichzeitigkeit des Gezeigten hebt dessen Vielfalt hervor. Die Botschaft des ganzen allerdings bleibt verhalten. Und ähnliches hat man häufig schon gesehen, übrigens auch von Farocki.

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Die Choreographie „Levée“ von Boris Charmatz läuft im Folkwang-Museum als Videofilm von César Vayssié. (Foto: Ruhrtriennale)

„Levée“ schließlich ist ein Videofilm, der bei der Ruhrtriennale 2013 entstand. Auf der Halde Haniel in Bottrop führte das Musée de la danse die Performance „Levée des confits“ des Choreographen Boris Charmatz auf, der Filmemacher César Vayssié filmte. Es entstand ein Video aus Luft- und Bodenaufnahmen, das nun in einem separaten Saal des Folkwang-Museums gezeigt wird und hübsch anzusehen ist. Tänzerinnen und Tänzer sind in ununterbrochener Bewegung und vollführen Posen und Gebärden, wie man sie aus dem Tanztheater kennt, gestikulieren, werfen sich in den Staub, fegen Sand und so weiter. In den Luftaufnahmen scheint sich die Gruppe gegen den Uhrzeigersinn zu bewegen, „Entwicklung“ im dramatischen Sinn indes ist nicht auszumachen – anders als beim geradezu schon klassisch zu nennenden Tanzstück „Le sacre du printemps“ (Frühlingsopfer) von Igor Strawinsky, das das nämliche Opfer nicht überlebt. Das inszeniert, wie berichtet, Romeo Castellucci unter Verzicht auf menschliche Darsteller mit Knochenmehl.

www.ruhrtriennale.de




Emsige Proben und guter Vorverkauf – in wenigen Tagen startet die Ruhrtriennale 2014

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Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord, zentraler Aufführungsort der diesjährigen Ruhrtriennale. Hier realisiert Heimer Goebbels „De Materie“. Foto: Matthias Baus/Ruhrtriennale

Intendant Heiner Goebbels probt schon seit Wochen „De Materie“ in der Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord, der Italiener Romeo Castellucci justiert rund 40 Maschinen, die für seine Inszenierung des Balletts „Le Sacre du Printemps“ „Knochenstaub zum Tanzen bringen“ sollen.

Der Schweizer Boris Nikitin hat in der Halle der Zeche Zwickel in Gladbeck eine Art Raum im Raum installiert, in dem seine sehr eigenwillige Musikproduktion „Sänger ohne Schatten“ nun zur Vorführungsreife gebracht werden soll. Und Katja Aßmann von den Urbanen Künsten Ruhr kann verkünden, daß die rund 50 polierten Aluminiumplatten, aus denen das interaktive Kunstwerk „Melt“ von Rejane Cantoni und Leonardo Crescenti besteht, auf dem Weg nach Duisburg seien. Kurz: Das vielgestaltige Kulturspektakel Ruhrtriennale schickt sich wieder an, ganz unübersehbar Wirklichkeit zu werden. Am 15. August geht es los.

Die Zahlen, die man jetzt schon hat, geben wie stets Anlaß zur Zuversicht. Von den rund 40 000 Eintrittskarten sind 75 Prozent bereits verkauft. Ausverkauft jedoch, so Goebbels, sei noch nichts, mit Ausnahme der Filmoper „River of Fundament“, die nur ein einziges Mal im Essener Kino Lichtburg gezeigt wird (31. August).

Die begehbare und wohl auch ein wenig bedrohliche Großskulptur „Totlast“ von Gregor Schneider wird, wie berichtet, nicht im Duisburger Lehmbruck-Museum zu sehen sein. Die Schau wurde, grantelt Goebbels, „gecancelt oder zensiert, wie immer man das nennt“.

Man kann sicherlich auch nicht ganz ausschließen, daß das Duisburger Loveparade-Trauma bei dieser vermeintlich überängstlichen Entscheidung eine Rolle gespielt haben könnte. Bekanntlich springt kurzfristig Bochum ein und zeigt die „Totlast“ im Kunstmuseum. Start ist wegen des verspäteten Aufbaus allerdings nicht zu Beginn der Triennale, sondern erst am 29. August. Dafür läuft die Ausstellung länger, bis Mitte Oktober. Wird das unselige Hin und Her um Gregor Schneiders begehbare Skulptur ein juristisches Nachspiel haben? „Ich hatte noch keine Zeit, darüber nachzudenken“, sagt Goebbels.

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Ungefähr so soll es aussehen: Das interaktive Kunstwerk „Melt“ aus begehbaren Aluminiumplatten von cantoni crescenti. Bild: Leonardo Crescenti/Ruhrtriennale

Als die Videoinstallation „Eine Einstellung zur Arbeit“ für das Essener Folkwang-Museum geplant wurde, ahnte noch niemand, daß diese Schau zur postumen Würdigung des Ende Juli plötzlich verstorbenen Filmemachers und Videokünstlers Harun Farocki werden würde. Am 24. August sollten er und seine Frau Antje Ehmann in der Gesprächsreihe „tumbletalks“ zu Gast sein. Nun ist offen, wer an diesem Tag diskutieren wird.

Der Intendant wirkt ungeduldig, die Proben zu „De Materie“ warten. Geradezu beseelt ist er vom Stück des niederländischen Komponisten Louis Andriessen, das er als grandiosen Opener der Triennale auf die Bühne stellen wird. Nichts weniger als „eine kopernikanische Wende in der Oper“ sei dieses Werk, „in dem sich Verlust und Erfolg auf fast unerträgliche Weise begegnen“. Wegen der Probenarbeit schlafe er derzeit schlecht, fährt Goebbels fort, er sei auch letzte Nacht um drei Uhr wach gewesen und habe seine Mails gecheckt. Und da habe ihm Gregor Schneider rund 40 Fotos zu seinem „Totlast“-Projekt geschickt, offenbar schlafe auch der derzeit nicht gut. Man sieht an dieser Episode: In den letzten Tagen vor Festivalstart hat der Streß die abgebrühten Kulturprofis fest im Griff.

 

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Szene aus „manger“ von Boris Charmatz. Foto: Ursula Kaufmann/Ruhrtriennale

So startet die Ruhrtriennale 2014 am Wochenende 15./16./17. August:

Freitag (15.8.) ist ab 15 Uhr der interaktive Aluminiumsteg „Melt“ auf der Straße unter den Hochöfen im Landschaftspark  Duisburg-Nord begehbar. Nur wenn hier Menschen unterwegs sind, „lebt“ die Installation. Auch Radfahren soll auf der Alu-Piste möglich sein. Der Eintritt ist frei.

Um 17 Uhr rieselt zum ersten Mal „Le Sacre du Printemps“ in Duisburg über die Bühne (Musik: Igor Strawinsky, Inszenierung: Romeo Castellucci). Dauer 1. Stunde, Tickets 20 bis 30 €.

Um 19.30 Uhr hat in Duisburg das Mammutwerk „De Materie“ des Niederländers Louis Andriessen in der Regie von Festivalchef Heiner Goebbels Premiere. 1. Stunde 50 Minuten, Tickets 20 bis 80 Euro.

Am Samstag (16.8.) sind außerdem im Angebot:

Ab 12 Uhr die Videoinstallation „Eine Einstellung zur Arbeit“ des jüngst verstorbenen Harun Farocki und seiner Frau Antje Ehmann im Essener Folkwang-Museum.

Ab 10 Uhr die Filminstallation „Levée“ von Boris Charmatz und César Vayssié, ebenfalls im Essener Folkwang-Museum (Eintritt frei).

Die „freitagsküche“, die immer samstags stattfindet und in der im Anschluß an die gewichtigsten Aufführungen gegessen und getrunken, geschwärmt und diskutiert werden kann. Die erste „freitagsküche“ lädt am 16.8. nach „Le Sacre du Printemps“ im Landschaftspark Duisburg-Nord ein. Ticket 15 € (exkl. Getränke).

Als „Pas de deux mit der Musik von Arnold Schönberg“ ist Anna Teresa De Keersmakers Tanzproduktion „Verklärte Nacht“ ausgeflaggt. Ab 21 Uhr in der Jahrhunderthalle Bochum, 40 Minuten, Tickets zwischen 15 und 25 Euro.

Schließlich ist für 20 Uhr in der Zeche Carl in Essen das erste „Nachtkonzert“ angesetzt. 2 Stunden, eine Pause.

Am Sonntag (17.8.) geht das Spektakel weiter, um 12 Uhr ist im Essener Folkwang-Museum zudem die erste Diskussion der Reihe „tumbletalk“ angesetzt. Auf dem Podium sitzen dann Louis Andriessen und Heiner Goebbels.

So, das soll mal reichen. Das weitere Programm läßt sich in den mustergültigen Programmheften der Ruhrtriennale, die an allen Spielorten kostenlos erhältlich sind, oder im Netz nachlesen.

www.ruhrtriennale.de

Tel. 0209 / 60 507 100




Flaneur im Stress – der Roman „Leise singende Frauen“ von Wilhelm Genazino

Die neuerliche Begegnung mit Wilhelm Genazino war eher Zufall. Ich sah das Buch beim Buchhändler liegen und dachte: schau doch mal rein. „Leise singende Frauen“ heißt der gerade einmal 176 Seiten umfassende Roman (im Paperback), den Titel ziert das Foto einer keusch berockten Dame mit Highheels und ohne Oberkörper, die sich bedrohlich weit aus einem Fenster zu lehnen scheint.

Erst auf den zweiten Blick gewahrt man, daß das Bild entweder ein farblich ganz zurückhaltendes Buntbild sein muß oder aber doch wenigstens ein kleines Bißchen Rot mitgedruckt wurde. Was sagt uns das? Eher – nichts. Man könnte allenfalls über die Motive der titelprägenden Firma („Wildes Blut, Atelier für Gestaltung“) spekulieren und vielleicht auch ein, zwei erwähnenswerte Erklärungsversuche herausdestillieren, doch wirklich weiter brächte einen das nicht.

Dem Autor jedoch, zumindest könnte ich mir das gut vorstellen, wäre dieses Titelbild ein Kapitel wert. Wie ihm auch andere Wahrnehmungen in seiner alltäglichen Umwelt der textlichen Erwähnung würdig scheinen, die unsereiner, eher eilend als flanierend in den großen Städten unterwegs, vielleicht nie gemacht hätte. Aber der Reihe nach.

Wilhelm Genazino, der nun auch schon über siebzig ist und der bis vor wenigen Jahren noch als so etwas wie der Star unter den unbekannten Autoren galt, ist wieder einmal in seinen Frankfurter Kernlanden herumgeschlendert, im Erlebnisbereich zwischen Mainufer, Eisernem Steg, Zeil und Constabler Wache, hat sich die Welt angeschaut, sich darüber Gedanken gemacht und selbige notiert.

Ab und zu hat er sogar interveniert, hat beispielsweise ein Paar herrenlose Damenschuhe ganz unerlaubt von einem Ort zum anderen getragen und dann geguckt, wie die Umwelt darauf reagiert (kaum). Oder er hat einem armen „Stadtstreicher“, der mit bürokratenhafter Regelmäßigkeit Mülltonnen nach Eßbarem durchforschte, selbige fristgerecht mit den Pausenbroten gefüllt, die Berufsschüler vordem in die Abfallbehälter vor ihrer Schule gestopft hatten. Und dann hat er geguckt, wie der „Stadtstreicher“ guckt, wenn er so reich beschert wird.

Solche Eingriffe in den normalen Gang der Welt zählen aber schon zu den Höhepunkten des Romans. Meistens beschränkt sich Genazino auf das reine Beobachten. Pflanzen und Tiere, in Sonderheit Insekten, scheinen ihn oft mehr zu interessieren als die Menschen. So viel zunächst einmal zum Setting, und das alles wäre auch in keinster Weise zu kritisieren, wenn dem Flaneur beobachtenderweise die schöpferischen Ideen kämen, die die alltäglichen Ereignisse aus dem Alltag herausrissen und idealerweise zu poetischen, das Bewußtsein der Leserschaft weitenden, in ihrem assoziativen Reichtum hin und wieder gar verblüffenden literarischen Stücken (oder doch wenigstens Miniaturen) würden.

Das aber passiert – meistens – nicht. Da bleiben die Gedanken auf der Erde, arbeitet sich der Denker eher angespannt an Amseln, Kühen, Schwalben, Nachtfaltern, Spinnen und vor allem Wespen ab, die einzeln oder im Kollektiv bemerkt zu werden sie zweifellos mit Stolz erfüllen dürfte, die aber deshalb noch lange nicht zu tragenden Charakteren werden.

Fast ist man dem Autor dankbar, wenn er einmal einen schillernden Traum erinnert, in dem es – die Familie muß flüchten, der Träumende muß alles arrangieren, es funktioniert nichts wie geplant – recht offensichtlich (auch) um Versagensängste geht. Bei diesem Traum vermeint man den Autor geradezu vor sich zu sehen, der ein neues Buch vollschreiben soll mit seinen einstmals so federleichten Weltbeobachtungen und dem dieses Ansinnen den nämlichen Versagens-Streß verursacht.

Aber vielleicht ist diese Phantasie schon zu weitreichend. Wie auch immer, die geneigten Leser dieser Zeilen ahnen es längst: Ich war von den „Leise singenden Frauen“ eher enttäuscht, weil ich nicht recht fand, was ich suchte. Vielleicht aber auch war ich mit meiner Suche bei diesem Autor falsch.

Die Titelfiguren indes, Putzfrauen mutmaßlich südeuropäischer Herkunft, die hinter geöffneten Fenstern bei ihrer Arbeit einen anmutigen, polyphonen Gesang anstimmen, der beim Auftauchen einer weiteren Person sein abruptes Ende findet, bevölkern einen der zarteren und auch etwas magischen Absätze, wie ich sie mir in diesem Buch in reicherer Zahl erhofft hatte.

Wilhelm Genazino: „Leise singende Frauen“, dtv, 176 Seiten, 9,90 €




Der arme IT-Experte und seine gute Fee – „Jenny Jannowitz“ bei den Ruhrfestspielen

Wenn täglich das Murmeltier grüßt oder man gar eines Morgens als Käfer aufwacht, ist das bedenklich; wenn man nicht mehr weiß, ob die Wirklichkeit oder man selber mehr oder weniger „ver-rückt“ ist. Ganz so schlimm ist es Karlo Kollmar nicht ergangen, er hat lediglich verschlafen. Doch all die Menschen um ihn herum sind jetzt so anders. Und was er von der geheimnisvollen Zauberin Jenny Jannowitz halten soll, weiß Kollmar gleich gar nicht.

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Karlo Kollmar (Raphael Traub) herzt auf der linken Bildseite seine gute Fee Jenny Jannowitz (Bea Brocks). Foto: Ruhrfestspiele

„Jenny Jannowitz“ war die letzte Premiere der diesjährigen Ruhrfestspiele. Das Stück des Autors Michel Decar (Jahrgang 1987) gewann den Förderpreis des Kleistforums in Frankfurt an der Oder und erlebte deshalb, einer noch nicht all zu alten Recklinghäuser Festspieltradition folgend, als Produktion des Staatstheaters Braunschweig seine Bühnenweihen in der Halle König Ludwig 1/2 (Regie: Catja Baumann).

Es ist ein burleskes Spiel mit sechs munteren Akteuren, die sämtlich große Beweglichkeit zeigen, wenn sie nicht gerade Pause haben und in ihren weißen Regalkästen (Bühne und Kostüme: Linda Johnke) hocken. Man identifiziert Chef, Mutter, Freundin und Kollegen, und mit allen hat Kollmar Stress. Er versteht nicht, was sie von ihm wollen, er kennt die wechselnden Namen seiner Chefs nicht, seine Mutter kritisiert ihn, seine Freundin macht mit ihm Schluss. Mehrfach wird Kollmar von seiner Firma versetzt, was er als Degradierung empfindet, alle reisen sie (Globalisierung!) irgendwo in der Weltgeschichte herum, können sich aber trotzdem auf der Bühne unterhalten. Nur Jenny Jannowitz ist nicht Teil dieser atemlosen Szenerie, sondern so etwas wie die erotische Kollmar-Versteherin im Hintergrund, vielleicht gar nur ein wiederkehrender Traum, der den armen Jungen stabilisiert.

Etwas unterschwellig suggeriert das Programmblatt, dass es in diesem Stück um „Beschleunigung“, in Sonderheit der Kommunikation, gehen soll. Doch ein solcher Anspruch wird dramatisch nicht eingelöst. Was wir wirklich zu sehen bekommen, bleibt dünn. Entwicklung innerhalb der Personen, kathartische gar, lässt sich nicht ausmachen, sieht man einmal vom schlussendlich durch Jenny Jannowitz getrösteten Kollmar ab.

Es fällt auf, wie gänzlich frei von psychischen Ressourcen Autor Decar seine Hauptfigur zeichnet. Karlo Kollmar ist die personifizierte Durchschnittlichkeit, ein Mann ohne Eigenschaften, ohne Persönlichkeit und Stehvermögen, der einer Unterordnung unter gesellschaftliche Wertvorstellungen nichts entgegenzustellen weiß, seien diese auch noch so verrückt. Die Inszenierung bezieht da recht eindeutig Stellung, zeichnet ihn als den Vernünftigen in einer wirren Welt. Doch gäbe der Stoff es auch her, differenzierter zu verfahren und die Eindimensionalität der Menschen, gerade auch der Computer- und IT- Experten, zu geißeln. Eine Entwicklungsgeschichte wäre das dann zwar immer noch nicht, aber doch mehr als die lärmende Zustandsbeschreibung, in der kaum Handlung auszumachen ist und die Analytisches ängstlich außen vor lässt.

Als dauererregter Welt-Nichtversteher ist Raphael Traub – weißes Hemd, hängende Schultern – fraglos die richtige Besetzung. Bea Brocks gelingt es als verständnisvoller Zauberin Jenny Jannowitz, die Aura des Geheimnisvollen bis zum Ende zu erhalten, die anderen vier Schauspieler – Tobias Beyer, Andreas Bißmeier, Martina Struppek und Rika Weniger – chargieren ungeniert und gekonnt und sogar mit einer gewissen Glaubwürdigkeit. Denn im Kern sind die verarbeiteten Episoden – von undurchschaubaren Firmenentscheidungen bis zur zweiten Jugend der Mutter, die plötzlich als Sandra angesprochen werden will – ja dem Alltag entlehnt.

Übrigens gibt es in Berlin eine Jannowitzbrücke, nebst gleichnamiger S-Bahnstation. Aber die kommt im Stück nicht vor, wirkte vielleicht jedoch als lautmalerische Inspiration für den Titel.

Das Publikum applaudierte herzlich.




„Dalí vs. Picasso“ – Fernando Arrabáls genialer Malerstreit bei den Ruhrfestspielen

Ja, so kennt man sie: Picasso trägt Shorts, Dali einen Nadelstreifenanzug, Beide halten sich für genial. Auf der Bühne haben sie sich in zwei abgeranzte rote Sessel gelümmelt, reden miteinander, ohne sich wirklich verstehen zu wollen und erinnern ein ganz klein wenig an Becketts Landstreicher, die auf Godot warten. Aber worauf warten Dali und Picasso?

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Samuel Finzi (Mitte) als Picasso (Bild: Ruhrfestspiele)

Nun, natürlich warten sie nicht in stiller Gottergebenheit. Sie lauern auf Gelegenheiten, ihre Karrieren voranzutreiben. Man schreibt das Jahr 1937, vor wenigen Tagen haben die Deutschen Guernica bombardiert, Picasso winkt ein Großauftrag für den spanischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung. Eine Million Peseten in Gold für ein großes Gemälde! Guernica wäre sicherlich das Thema – dummerweise hat Picasso aber nur ein Großformat zum Lobpreis der Elektrizität im Angebot, in dessen Mittelpunkt eine Glühbirne von der Decke hängt. Aber mit ein paar Änderungen könnte man vielleicht…

Derweil ringt Dalí um das Verständnis des Altvorderen (tatsächlich trennten sie 23 Jahre) für seine Kunst: Das Gemälde „Weiche Konstruktion mit gekochten Bohnen – Vorahnung des Bürgerkriegs“ aus dem Jahr 1936 sei doch ohne jeden Zweifel das Bild zum Thema. Doch Picasso spottet nur – über gekochte Bohnen als politisches Signal ebenso wie über Dalis Behauptung, er habe mit Wolkenformationen, die die iberische Halbinsel darstellen, einen nationalen Bezug geschaffen. Hier der faunische Sinnesmann und Sozialist, dort der zögerliche, neurotische Salvador Dali, der überdies im Ruf steht, auch die Nähe der Franco-Faschisten gesucht zu haben: Ein tragische Künstlerkonstellation, aber auch eine merkwürdige Amour fou.

Das Stück, das Frank Hoffmann zunächst auf Französisch für das Luxemburger Nationaltheater inszenierte und das nun bei den Ruhrfestspielen seine (weitgehend) deutschsprachige Premiere hatte, stammt aus der Feder des spanischen Schriftstellers Fernando Arrabál. Als deutscher Zuschauer (vielleicht auch als Luxemburger) muss man ein bisschen im Gedächtnis kramen, wie das war mit den beiden spanischen Genies. Doch Arrabáls Thesen sind durchaus von einer gewissen Aktualität: Picasso hat sich demnach opportunistisch verhalten, Dalí hingegen mit seiner „Vorahnung“ ein sehr ernst zu nehmendes Kunstwerk geschaffen, das lediglich zu dechiffrieren den Zeitgenossen nicht leicht fiel.

In ihrer weiteren Entwicklung ist Arrabáls Geschichte fiktional. Sie lässt eine wunderbare Künstlerfreundschaft erblühen, auf deren Höhepunkt Dali Picasso bittet, ihn zu kastrieren – wegen seiner doch eher weiblichen Selbstwahrnehmung. Picasso hat damit zunächst Probleme, schreitet dann jedoch mutig zur Tat, und nach ein bisschen Bühnendonner gelangt die Geschichte über die flott durchschrittenen dramatischen Stationen „Alptraum“ und „Irrenanstalt“ zu einer etwas ungelenk nachgereichten Rationalisierung des Bühnengeschehens. Tja.

Frank Hoffmann inszeniert „Dalí vs. Picasso“ sinnhaft als Kammerspiel, zu dessen stärksten Szenen fraglos die Dispute der Titelhelden zählen. Samuel Finzi, dieses große komödiantisch-tragische Talent, den man mit seiner weißen Picasso-Halbglatze zunächst kaum wiedererkennt, dreht auf und sorgt für heftige Heiterkeit, wenn er etwa den stets affektiert wirkenden Dalí nachäfft; Dalí seinerseits wird von einer Frau gespielt (Marie-Lou Sellem), die Dalís Augenfunkeln zwar sehr schön nachmachen kann, gleichwohl aber durchgängig zu feminin wirkt, als dass man ihr den exzentrischen Maler abnähme – trotz Menjoubärtchen. Ihre/seine Muse Gala wiederum spielt mit Luc Feit ein Mann, Jacqueline Macaulay gibt Picassos Dora, und wie zielführend dieser nervöse Mix aus Geschlechtern und Geschlechterrollen ist, steht dahin. Am unterhaltsamsten und nachdrücklichsten ist auch diese Regiearbeit von Ruhrfestspiele-Intendant Frank Hoffmann dann, wenn er die Schauspieler in konzentrierten Spielsituationen ihr Können zeigen lässt und auf überflüssigen Bühnenzauber verzichtet.

In einer Stunde 20 Minuten (ohne Pause) ist alles vorüber. Viel Applaus für eine sympathische Darstellerriege ebenso wie für die Inszenierung.




Grandioser Zeitvertreib – „Warten auf Godot“ bei den Ruhrfestspielen

Die Bühne hat ein Loch. Mit mehreren Metern Durchmesser und gelegen im Mittelpunkt der quadratischen Schrägebene ist es, sieht man von einem in den Zuschauerraum gerichteten Scheinwerfer ab, das einzige Stück Ausstattung dieser Inszenierung. Selbst das Bäumchen fehlt. Doch das macht nichts. Diese Inszenierung von Becketts „Warten auf Godot“ – als Koproduktion der Ruhrfestspiele mit dem Deutschen Theater Berlin hatte sie jetzt ihre umjubelte Premiere – gehört zum Besten, was das Festival mit seinem doch recht durchwachsenen Programm in diesem Jahr zu bieten hat. Leichte Kost ist sie dennoch nicht.

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Samuel Finzi (links) und Wolfram Koch sind Wladimir und Estragon in „Warten auf Godot“, das von Ruhrfestspielen und Deutschem Theater Berlin koproduziert wurde. Foto: Declair, Ruhrfestspiele

Samuel Finzi und Wolfram Koch, zwei fernsehbekannte Gesichter, sind Wladimir und Estragon, jüngere Männer, denen die Last der Lebensjahre und der körperlichen Gebrechen noch nicht so zusetzt wie den Landstreichern früherer Inszenierungen. Eher sind sie Kollegen, Kumpel, Clowns, „Buddies“. Aber nach wie vor würde natürlich auch „altes Ehepaar“ passen. Ihre Haltung zum rätselhaften Godot, dessen Kommen, wie man weiß, angekündigt ist, der jedoch nicht kommt, sich aber entschuldigen lässt und damit die Hoffnung auf ein späteres Erscheinen nährt, wirkt wenig fatalistisch.

Godot hat, so scheint es, für sie nicht wirklich etwas Finales, sondern ist ein Tagesordnungspunkt, der abgearbeitet werden muss. Kommt er, sind sie gerettet, kommt er nicht, sind sie verloren. Und was kommt danach? Einfach wegzugehen ist aber auch nicht möglich, denn dann könnte Godot böse werden und sie bestrafen. Das muss man alles abwägen. Die Begegnung mit Pozzo und seinem Knecht Lucky (Christian Grashof und Andreas Döhler, zwei weitere großartige Bühnenkünstler) quittieren sie mit Erstaunen, ohne aber stark davon berührt zu sein.

Diese Inszenierung des in Bulgarien geborenen Ivan Panteleev führt auf ebenso tragische wie burleske Weise vor, dass am vorgeblich absurden Theater Samuel Becketts kaum etwas absurd ist. Vielmehr leuchtet sie, dem exzellenten, präsenten Spiel der beiden Hauptdarsteller sei Dank, vor dem Hintergrund existentieller Geworfenheit die Abgründe und Untiefen des Zwischenmenschlichen unnachgiebig aus, in dem ein Godot, so lange er nicht kommt, erheblich zur Stabilisierung der Beziehung beiträgt. Samuel Finzi und Wolfram Koch führen eine Paardynamik vor, die Agonie nicht zulässt. Deshalb ist es nur konsequent, wenn sie beispielsweise spontan und aus Spaß eine Runde „Luft-Sport“ ohne Bälle oder Schläger spielen – Tennis, Golf, Fußball usw. – während sie auf Godot warten.

Die beiden Schauspieler waren übrigens Bühnenlieblinge des 2013 verstorbenen Regisseurs Dimiter Gotscheff, der unter anderem von 1995 bis 2000 als Hausregisseur in Bochum wirkte. Ursprünglich beabsichtigte Gotscheff, selbst die Inszenierung von „Warten auf Godot“ am Deutschen Theater zu übernehmen, was wegen seiner Krebserkrankung aber nicht mehr zu realisieren war. Deshalb übernahm sein Schüler Panteleev diese Aufgabe und widmete die Produktion dem Verstorbenen.

Mit der schrägen Spielebene und dem Krater in Bühnenmitte ist die Bühne (Mark Lammert) zwar schon rein topographisch ein Ort für Sisyphusarbeiten, Abstürze und elementares Scheitern, doch macht sie auch pompöse Auftritte möglich – so, wenn Wladimir am Kraterrand eine pathetisch aufgeladene Volksrede über das Wertvolle im Warten auf Godot hält, während vor ihm der erblindete Pozzo (Christian Grashoff) dem Krater nicht zu entkommen weiß, um Erbarmen fleht und auf Hilfe wartet. Warten, hier wird es besonders deutlich herausinszeniert, ist in diesem Stück ebenso Metapher vorgeblicher Sinnhaftigkeit wie Synonym für Qualen. Möglicherweise, ist hier und da zu lesen, inspirierte quälendes Warten auf Hilfe den Resistance-Kämpfer Beckett, als er im Krieg an diesem Stück schrieb.

Mit ihren zwei Stunden 15 Minuten beteiligt diese Inszenierung das Publikum durchaus am nervenzehrenden Nichtgeschehen, ohne indes unsinnige Längen zu entwickeln. Auf eine Pause wird verzichtet, allerdings kündet eine (mit technischem Geläut untermalte) Bewegung des Eisernen Vorhangs in der Dunkelheit von der großen Zäsur zwischen (längerem) ersten und zweitem Teil. Gegen eine Pause hätte an der Stelle allerdings nichts gesprochen, das Publikum wäre anschließend bestimmt zurückgekommen. Schon wegen der hervorragenden Darstellerriege.

Nach einem beglückenden „Endspiel“, ebenfalls mit Wolfram Koch, bot auch dieser Beckett bei den Ruhrfestspielen Schauspielertheater auf ganz hohem Niveau. Leider gibt es keine weiteren Termine. Am Samstag, 14. Juni, gehen die Ruhrfestspiele 2014 mit einem Konzert von „Jupiter Jones“ zu Ende.

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Schwerkraft, nein danke – umjubelter Auftritt des Cirque Éloize bei den Ruhrfestspielen

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Schwerkraft scheint an dieser Stange nicht zu existieren. Foto: Ruhrfestspiele (Valérie Remise)

Die Dinge, die sie für ihre Kunststücke brauchen, wirken schlicht: eine Stange, ein langes Tuch, einige Hüpfseilchen, einige Stühle. Ein Fahrrad leistet gute Dienste, der Jongleur braucht seine Kugeln, die Breakdancer kommen gänzlich ohne Werkzeug aus. Was die jungen Artisten vom kanadischen Cirque Éloise aber mit schlichtem Werkzeug auf der Bühne des Marler Theaters veranstalten, ist schier unglaublich.

Die Schwerkraft scheint nicht zu existieren, wenn ein leichtfüßiger Athlet die wackelige Stange erklimmt, als befände sie sich in der Horizontalen; wenn er an ihr hängt wie eine Fahne im Wind, sich nur mit seinen Beinen an ihr festhält, ungebremst an ihr herabgleitet und erst im letzten Moment abbremst, so daß man für Sekundenbruchteile sein sicheres Ende befürchtet.

Vor dem bühnenhohen Hintergrund (Bühne: Robert Massicotte) – ein bemerkenswertes Bauwerk mit zahlreichen Podesten und türgleichen Öffnungen – hüpft ein junger Mann mit seinem Mountainbike munter von Vorsprung zu Vorsprung, bis nach ganz oben. Die Gefahr des Umkippens scheint es für ihn nicht zu geben. Vergleichsweise konservativ mutet der Auftritt des Jongleurs mit seinen gelben Kugeln an. Sind es acht? Sind es zehn? Ihr Flug gleicht einem flirrenden Insektentanz, nicht dem virtuosen Wirken menschlicher Hände. Und so reiht sich eins ans andere. Auch die Schlangenfrau fehlt nicht, die sich verbiegt, daß man Angst um sie bekommt. Wie werden ihre Bandscheiben in 30 Jahren aussehen, fragt man sich als älterer Mensch. Doch vielleicht ist eine solche Frage ja im Zirkus unzulässig.

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Jonglage in Rückenlage. „Partner“ des Artisten ist bei dieser Nummer eine Glasscheibe rechts im Bild.  Foto: Ruhrfestspiele (Valérie Remise)

Das Stück heißt „iD“, aber natürlich ist das hier Zirkus, in seiner Art – nur Akrobaten, keine Tiere – wahrscheinlich nicht zu übertreffen. Artistik in einer solchen Qualität kennt man möglicherweise von Roncalli, doch anders als der Cirque Éloize gibt sich Roncalli ja sehr konservativ, hegt und pflegt die altertümlich-glamouröse Anmutung, was auch sehr schön ist.

Diese junge kanadische Truppe um ihren Chef Jeannot Painchaud aber grenzt sich sehr absichtsvoll von der traditionellen „Artisten-in-der-Zirkuskuppel“-Anmutung ab, vom Idealbild der Akrobatenpärchen in ihren leuchtenden, straßglitzernden Trikots, vom dramatischen Trommelwirbel vor der Todesnummer und was der Eigentümlichkeiten von, wenn ich einmal so sagen darf, „Opas Zirkus“ mehr sein mag. Sie betten ihre artistischen Highlights in eine Art Handlung ein, und mit diesem Ansatz ähneln sie den Eiskunstläufern, die ihren doppelten Rittberger oft allerdings eher schlecht als recht ins dramatische Konzept packen. Der Cirque Éloize ist da ungleich geschmeidiger.

Ihre Rahmenhandlung finden die Kanadier auf der Straße, bei den jungen Leuten, die dort abhängen, dort Liebe und Gewalt erleben. Aus mehr oder weniger differenzierten Massenszenen entwickeln sich Mal um Mal die akrobatischen Nummern, an denen besonders bemerkenswert ist, daß sie auch ohne konzentriertes Scheinwerferlicht und dramatischen Trommelwirbel das Publikum vollständig in ihren Bann schlagen. Die Musik hämmert derweil ununterbrochen ihren Rhythmus und ist für ein Theaterpublikum vielleicht etwas zu laut.

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Der Biker weiß genau, wo er landet; ein Bißchen hat seine Nummer auch von der Kunst des zielgenauen Messerwerfens. Foto: Ruhrfestspiele/Valérie Remise

Jedenfalls hat die Show einen ausgesprochen souveränen Lauf, keine Längen, keine Peinlichkeiten, ein begeisterndes Stück Akrobatik, wie man es selten zu sehen bekommt. (Übrigens wird man in Deutschland auch lange warten müssen, bis der Cirque Éloize mal wieder hier ist. Auf seinen Internetseiten reihen sich Tourneestationen in aller Welt aneinander. Vielleicht aber hat Intendant Frank Hoffmann ja ein Einsehen und bucht die Truppe für die Ruhrfestspiele 2015…)

Die Schlußnummer ist auch der Höhepunkt des Abends. Hier springen die Männer aus der Kulissenwand metertief auf ein (hinter einer Verkleidung unsichtbar bleibendes) Trampolin und werden meterhoch wieder in die Luft geworfen – höher als sie starteten. Einmal mehr scheint die Schwerkraft gänzlich aufgehoben zu sein. Wie sie da so durch die Luft fliegen ähneln die Artisten Figuren eines Videospiels auf dem Bildschirm, sind bunte, hüpfende Flummibälle.

Der Saal, wie nicht anders zu erwarten, raste. Und zu den Standing Ovations erhob das Publikum sich wie ein Mann (sagt man so). Gehört ein solches artistisches Programm zu den Ruhrfestspielen? Natürlich, denn es ist Inszenierung und Illusion und Geschichtenerzählen und spielt außerdem notabene auf einer Theaterbühne. Außerdem ist dies angesichts all dessen, was heutzutage im Theater und drumherum geschieht, sowieso die falsche Frage.

Tja.

Vor einigen Tagen erinnerte sich das Recklinghäuser Publikum an den großen Schauspieler Otto Sander, der viele Jahre bei den Ruhrfestspielen umjubelte Auftritte hatte und im September 2013 mit 72 Jahren gestorben ist. Meret und Ben Becker, seine beiden (böses Wort!) Stiefkinder, waren in einer Produktion des St. Pauli-Theaters so etwas wie persönlich betroffene Laudatoren, die einige Kindheitserinnerungen beisteuerten, einige Balladen und Lieder vortrugen. Deutsche Balladen hat Otto Sander den Kindern nämlich früh beigebracht, ebenso hat er ihre Liebe zu diesen Texten geweckt. Zudem gab es viele Filmausschnitte zu sehen, „Sommergäste“, „Das Boot“, „Der Himmel über Berlin“ und mehr, auch lustige Sachen. Eine gleichermaßen würdige wie anrührende Veranstaltung war dies, die übrigens auch zeigte, was für ein treues Publikum die Ruhrfestspiele haben: es war restlos ausverkauft.

 

Cirque Éloize: „iD“. Weitere Termine: Samstag, 31.5., 15 Uhr und 20 Uhr, Sonntag, 1.6., 18 Uhr.

www.ruhrfestspiele.de

www.cirque-eloize.com

Fotos: © 2010 Theatre T&Cie/ Valérie Remise

 




Es gibt ein Leben nach Opel – das Bochumer Detroit-Projekt

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Das Motto der Ausstellung weist, auf den Asphalt gesprüht, den Weg – jedenfalls manchmal. Foto: rp

Der Bus steht. Auf der anderen Spur geht es auch nicht schneller. Unter normalen Verhältnissen wäre die Strecke vom Exzenterhaus nahe dem Schauspielhaus zum Bergbaumuseum in zehn, fünfzehn Minuten zu schaffen, im freitagnachmittäglichem Berufsverkehr jedoch nicht. Doch Bochum hat viele hübsche Fassaden. Das wäre einem sonst vielleicht nie aufgefallen.

Eingeladen zur Rundfahrt im Bochumer Stadtgebiet haben das Schauspielhaus und „Urbane Künste Ruhr“. Zusammen haben sie in diesem Jahr das „Detroit-Projekt“ aus der Taufe gehoben, das an etlichen Stellen der Stadt Kunst präsentiert. Und alles hat irgendwie mit Opel zu tun, der Traditions-Automarke, die bald schon in Bochum keine Autos mehr bauen wird. Das Kunstprojekt ist nach der Stadt benannt, wo Opels Mutterkonzern General Motors sitzt, außerdem steht der Name für den dramatischen Niedergang, den die Schließungen der Autofabriken dort für die US-Stadt bedeuteten. So schlimm soll es in Bochum natürlich nicht kommen, auch wenn das Schlagwort von der „postindustriellen Gesellschaft“ gern und häufig Verwendung findet. Nein, die Unterzeile des Projekts wie auch eine ihrer Internetanschriften pochen auf den eigenen Weg: „This Is Not Detroit“, beziehungsweise www.thisisnotdetroit.de.

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„HOW LOVE COULD BE“ steht in flammendem Rot auf dem Förderturm des Bergbaumuseums. Eine Lichtkunst-Intervention des Briten Tim Etchells. Foto: Schauspielhaus Bochum

Allerdings sollen die künstlerischen Arbeiten durchaus das Postindustrielle reflektieren. Künstlerinnen und Künstler kommen aus Ländern, in denen es noch General Motors-Standorte gibt, aus Großbritannien, Polen, Spanien, den USA und natürlich weiterhin auch Deutschland.

Bevor der Bus sich in den Dauerstau begab, hatten sich seine Insassen im Exzenterhaus, das wie eine gigantische Nockenwelle aussieht, die Videoinstallation „The Pigeon Project“ des Polen Michal Januszaniec angesehen. „Das Tauben-Projekt“, so die Übersetzung, zeigt uns deutsche, polnische, deutsch-türkische „Taubenväter“ und läßt sie ausgiebig zu Wort kommen, erzählt vom Abwicklungsstreß bei Opel, läßt uns einer Schauspielerin zusehen, die mühsam einen vor Selbstbewußtsein strotzenden Text einstudiert, und verweist mit solchen Elementen unaufdringlich, aber schlüssig auf eine Zukunft, der soziale wie kollektive Gewißheiten zunehmend fehlen werden.

Aber ist das wirklich die Zukunft? Wird es wirklich so trostlos, wie Januszaniec behutsam andeutet? Jedenfalls ist die Arbeit im 13. Stockwerk des asymmetrischen Hochhauses zu besichtigen, was zum einen zwar 8 Euro Eintritt kostet, zum anderen aber einen grandiosen Blick über die Stadt bietet, die von hier oben aus überhaupt nicht hinfällig wirkt, sondern grün und vital und sehr ordentlich. Andererseits ist zu hören, daß sich die Vermarktung des Hauses schwierig gestalte – weshalb die 13. Etage für das Kunstprojekt noch zu haben war. Alles hat seine zwei Seiten.

Das Bergbaumuseum, endlich hat es der Bus geschafft, ziert eine Leuchtschrift. „How Love Could Be“ steht in roten (LED-befeuerten) Buchstaben oben am mächtigen Förderturm. Die Zeile, die der Brite Tim Etchells dort platziert hat, stammt aus dem ersten Song, der bei der legendären Detroiter Schallplattenfirma Motown 1961 herauskam: „Bad Girl“ von den Miracles. Denkanstoß: Bochum, Detroit, Liebe, Menschen… Die Museumsleute haben einen Rekorder mitgebracht und spielen den Song vor. Auf den Bänken vor dem Bergbaumuseum gucken die Leute irritiert.

Außerhalb der Bochumer City geht es zügiger voran. Im Viertel hinter der Jahrhunderthalle wurde eine ehemalige Schlecker-Filiale zum Kunstraum. Hier zelebrieren Chris Kondek, Christiane Kühl und Klaus Weddig mit grimmigem Humor das Scheitern einer Idee. Es ist ein Kunstwerk mit (erfundener) Geschichte: Das Hochglanz-Magazin „Reconquer“ beauftragte im Frühjahr 2014 eine renommierte Werbeagentur, die „sieben gelungenen Überlebensformen der geldlosen Gesellschaft (Tauschen, Klauen, Betteln, Besetzen, Jagen, Verzicht und Saufen)“ für eine fetzige Geschichte ins Bild zu setzen. Der Vesuch scheiterte völlig, das „Making of“ jedoch hinterließ Videos und Fotos, die nun hier, in der einstigen Schlecker-Filiale, gezeigt werden. Eine originelle und hintersinnige Idee, ganz ohne Frage; noch bemerkenswerter jedoch ist das Vorkommen von Humor, was in der zeitgenössischen Kunst ja sonst eher selten ist. Gleichzeitig aber wird im quasi ernsten Kern des Projekts auch viel Hilflosigkeit erkennbar angesichts des großen Rades, das diese Künstlergemeinschaft, das Elend der („postindustriellen“) Welt streng im Blick, gerne drehen würde. Wie kann man einer Gesellschaft noch helfen, in der wegen Streß immer weniger Schnaps getrunken wird?

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Hier ist einem nicht recht geheuer:“Der Keller“ des Polen Robert Kusmirowski. Foto: Schauspielhaus Bochum

Weiter geht die Tour zu juvenilen künstlerischen Interventionen im Stadtgebiet, zur Thyssen-Industriebrache, auf der eine Ein-Mann-Sauna steht, zum Prinzregent-Theater, wo im Keller (von Robert Kusmirowski) ein Toter liegt… Und immer wieder vorbei an großformatigen Bochum-Fotos, die an markanten Punkten im Stadtgebiet hängen. Sie stellen eine Auswahl aus dem Material dar, das beim Projekt „Mein Bochum – unsere Zukunft“ zusammenkam. 29 Motive hat Hans-Günter Golinski vom Bochumer Kunstmuseum daraus ausgewählt.

Befindet Bochum sich also jetzt im Detroit-Fieber, vibriert die Stadt im Rhythmus des Motown-Sounds, pilgern Heerscharen von Kunstliebhabern zu den Ausstellungsstätten? Eher wohl nicht. Die Standorte liegen weit auseinander, über die Erreichbarkeit scheinen sich die Veranstalter wenig Gedanken gemacht zu haben, sieht man einmal vom kostenlos angebotenen zweistündigen Fußmarsch „durch ausgewählte Arbeiten des Projekts“ ab. Touren mit dem Reisebus sind, wie erlebt, Glückssache, eine ÖPNV-Tour (welches Ticket?) findet sich in den Unterlagen nicht. Geführte Fahrradtouren sind wegen hoher Sicherheitsauflagen angeblich kaum genehmigungsfähig.

Eine Ausstellung für Kunst-Flaneure ist das „Detroit-Projekt“ aber auch nicht, weil die Öffnungszeiten einiger Standorte recht eingeschränkt sind und man dort, wo sie sich befinden, einfach nicht flaniert. Die Kunstwerke wiederum, sieht man einmal von der Leuchtschrift am Förderturm des Bergbaumuseums ab, sind so unauffällig,  daß sie es kaum schaffen werden, aus sich heraus Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Doch freuen wir uns auf die Spanier, die eingeladen wurden! Ab dem 23. Mai führen Tänzerinnen und Tänzer von Trayectos „choreographische Vermessungen“ in der Stadt durch, gibt es „Saludos de Zaragoza“ (Grüße aus Zaragossa) von der Gruppe Asalto im Bochumer Hauptbahnhof, fördert basurama „kollektive Freizeit und Pflege“ auf einem ehemaligen Fabrikgelände. „Esto no es un solar“ schließlich kündigt die Ankunft des Küchenmobils an, was immer das bedeuten mag. Jedenfalls klingt es recht vital. Am 29. Juni feiert das Detroit-Projekt sein Zukunftsfest, offizielles Ende ist am 5. Juli.

www.schauspielhausbochum.de

www.urbanekuensteruhr.de

www.thisisnotdetroit.de, Info-Hotline 0234 / 3333 5555




Eine Inszenierung vernichtet sich selbst – „Purpurstaub“ bei den Ruhrfestspielen

Wer heutzutage ins Theater geht, braucht eine steife Oberlippe (wie die Briten sagen). Augen zu und durch und keine Schwäche zeigen! Auch wenn die Aufführung grauenvoll ist, wenn man sich für dumm verkauft fühlt und wenn man nicht ein Fitzelchen von dem bekommt, was man sich nach Kenntnis des Stücks (naiv, wie man ja immer wieder antritt) erhofft hatte. Und man erinnert sich an Horst Köhlers Forderung nach irgendwie „vorlagengerechter“ Inszenierung, die zwar von großer Ahnungslosigkeit getragen war, ihren Urheber aber sympathisch machte.

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Noch sind sie alle fröhlich. Szene aus „Purpurstaub“ in der Stuttgarter Inszenierung. Foto: JU Ostkreuz

Die Rede ist von „Purpurstaub“, der abgründigen Komödie von Sean O’Casey, die ihren Honig aus dem schwierigen Verhältnis zwischen Engländern und Iren saugt, zwischen neureichen, kulturlosen Dummköpfen und Eingeborenen, die es ihnen gründlichst zeigen (und ihnen überdies, wir bitten die politisch unkorrekte Formulierung zu entschuldigen, aber genau das ist gemeint: die Weiber ausspannen).

Aus dem Stoff ließe sich viel machen. Regisseur Sebastian Hartmann macht daraus – in einer Koproduktion des Schauspiels Stuttgart mit den Ruhrfestspielen – eine Versammlung von sechs burlesken Gestalten, die mit wechselnden Rollenzuschreibungen eine Geschichte vermitteln sollen, die man aber kaum erkennt, wenn man sie nicht kennte.

Es müssen ja so viele originelle Inszenierungs-Ideen untergebracht werden! Da wird das wohlige Zusammensein im frisch erworbenen „Tudor-Schlößchen“ zur endlos währenden, theatervernebelten Versammlung rund um eine Wasserpfeife, reduziert sich die Exposition auf einen endlos langen, maskenhaft fröhlichen irischen Volkstanz vor zugezogenem Vorhang, verkommen einstmals geschliffene Dialoge zu plumpem Bauerntheater zum Zwecke des Handlungsfortschritts.

Und die besten Witze sind natürlich die, die man selber macht. So schwäbeln einige Darsteller bis zum Überdruß, was wohl ihre Fremdheit im fremden (Ir-)land betont und was sich schlaue, weltgewandte Dramaturgen bestimmt in Boomtown Berlin abgeguckt haben, wo die bösen Zuzügler, die die Einheimischen qua Gentrifizierung aus ihren Wohnung vertreiben, angeblich vor allem aus Schwaben stammen. Der Schwabe ist dort – Schwaben raus! – fast schon ein Schimpfwort. Und das im Schauspiel der Schwabenmetropole Stuttgart, lustig, lustig.

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Szene aus „Purpurstaub“ in der Stuttgarter Inszenierung. Foto: JU Ostkreuz

All das, wie gesagt, wäre man letztlich ja bereit zu erleiden, wenn künstlerischer Mehrwert sich an irgendeiner Stelle des Geschehens zeigte. Hier allerdings ist Demontage von Anfang an das Grundprinzip. In der vierstündigen (!) Veranstaltung, verkünden Plakate wie auch die Damen an den Kassen, sei eine Pause nicht vorgesehen. Man solle den Theatersaal nach Belieben verlassen und aufsuchen, wenn einem später wieder danach sei. Super-Idee! Die Erosion der Handlung (wg. Dauerregen geht schließlich alles wortwörtlich den Bach runter) spiegelt sich in einer auf Erosion angelegten Inszenierung!

Das Publikum hat auch fleißig mitgespielt. Um die zwei Drittel verließen im Lauf der Zeit den Saal, das Parkett war zum Ende hin sehr luftig besetzt. Aber was soll das? Bringt das irgendwen zum Nachdenken? Und was für ein respektloser Umgang mit den Schauspielern ist dies, die trotz aller Zumutungen dieser Produktion doch gerne und vor großem Publikum gezeigt hätten, was sie drauf haben. (Und wir hätten es auch sehen wollen!)

Kritik geht aber auch an die Adresse der Ruhrfestspiele. Von ihnen hätte man erwarten können, daß sie einen warnen. Dies war nicht, wie im Programmheft verkündet, „Purpurstaub von Sean O’Casey““, dies war besten- resp. schlimmstenfalls ein Machwerk nach einigen Motiven der Vorlage. „In beißenden Dialogen schildert der Text den vergeblichen Versuch, das eigene Leben mit diffusen Wünschen zu versöhnen“, können wir im blauen Heftchen lesen, doch gesehen haben wir Klamauk. Die wenigen klugen Sätze, die es aus der Vorlage bis auf die Bühne schafften, starben hier einen schnellen, unbemerkten Tod. Dem Kollegen von der WAZ, der in dieser Produktion schlichtweg eine Katastrophe erblickte, ist uneingeschränkt zuzustimmen.

Die nächste Produktion im Großen Haus ist Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“, ebenfalls Schauspiel Stuttgart, aber inszeniert immerhin vom jugendlichen Altmeister Jan Bosse. Der hat auch Becketts „Endspiel“ inszeniert, das vor wenigen Tagen als Veranstaltung der Ruhrfestspiele im Theater Marl mit Ulrich Matthes und Wolfram Koch zu sehen war. Ganz großes Theater! Und deshalb hoffen wir, dass der Bergman auch schön wird.

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Zwischen Wahn und Wirklichkeit – Pirandellos „Heinrich IV“ bei den Ruhrfestspielen

Ein Pferd macht den Anfang. Gelassen knabbert es in der Kulisse am Heu, bis es schließlich weggeführt wird. Es ist ein sinnfälliger Verweis. Mit einem Pferd, genauer gesagt mit dem Sturz vom Rücken eines solchen, begann die Tragödie, deren weiterer Verlauf das Thema dieses Abends ist. Intendant Frank Hoffmann inszeniert Luigi Pirandellos Stück „Heinrich IV“ als zweite große Premiere der diesjährigen Ruhrfestspiele im Festspielhaus.

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Rudolf Kowalski als „Heinrich IV“ in Recklinghausen. Foto: Ruhrfestspiele/Birgit Hupfeld

Heinrich IV ist in diesem Stück nur der Rollenname eines selber namenlos bleibenden Adeligen, der bei einem Maskenumzug als Kaiser auftrat, vom Pferde fiel und seitdem verwirrt ist. Rudolf Kowalski, den man aus dem Fernsehen möglicherweise als Düsseldorfer Serien-Kommissar Stolberg kennt, gibt ihn mit Verve und bemerkenswertem Pathos. Übeltäter bei dem Maskenumzug war übrigens Rivale Belcredi (Ulrich Kuhlmann), der „Heinrich IV“ vom Pferde stieß, weil beide die schöne Bertha liebten.

Wenn das Stück einsetzt, erfahren wir vom eigentlich lobenswerten Vorstoß des Neffen Marchese Carlo di Nolli (Marc Baum), dem armen Heinrich mit einer Art Schocktherapie sein Gedächtnis zurückzubringen. Er schafft Berthas (Anne Moll) bildhübsche Tochter Frida (Sinja Dieks) herbei, die ganz nach ihrer Mutter kommt und ihr verblüffend ähnelt.

Doch dann offenbart Heinrich seinen fassungslosen „geheimen Räten“ (Josiane Peiffer, Roger Seimetz, Nickel Bösenberg), dass seine Verwirrung nur gespielt ist, und auf dem Höhepunkt der dramatischen Selbstbekenntnisse erschießt er den alten Widersacher Belcredi (bei Pirandello verletzt er ihn mit dem Degen schwer). Das ganze endet mehr oder weniger diffus, weil Heinrich seine Rolle nach dem Mord nicht mehr verlassen kann und zudem seine Räte zu Komplizen gemacht hat. Im politischen Raum, so könnte eine These des Stücks formuliert werden, verschwinden die klaren Grenzen zwischen Erkenntnis und Gedächtnisverlust, durchdringen sich die Zustände wechselseitig und gebären Monströses. Und unversehens wird der scheinbar leichte Stoff zu einem schweren, komplexen Handlungsgefüge.

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Rudolf Kowalski, Anne Moll. Foto: Ruhrfestspiele/Birgit Hupfeld

Was nun macht Ruhrfestspiele-Intendant Frank Hoffmann aus Pirandellos flirrendem Spiel? Bei ihm dauert es lange, bis der Titelheld erstmalig die Bühne betritt. Äußerst sorgfältig breitet die Inszenierung vordem aus, wie sich die Entourage formiert, um die Seele des Verwirrten in seiner Villa zu erreichen, wo und wie die alten Rivalitäten lauern. Doch bleibt die Frage unbeantwortet, warum gerade jetzt sich diese Intervention formiert, vor allem jedoch, warum „Heinrich IV“, wie er irgendwann gegen Ende des pausenlosen Hundertminüters seinen Räten gesteht, die Rolle des Verwirrten seit Jahren schon nur noch spielte.

Man gewinnt den Eindruck, dass Regisseur Hoffmann sich in Bezug auf die dramatischen Wendungen in der Handlung allzu sehr auf das Geschick seines Hauptdarstellers Rudolf Kowalski verlassen hat. Doch dessen intensives naturalistisches Spiel arbeitet die Handlungsstationen ab, ohne sie dramatisch zu verknüpfen. Hier hätte man sich mehr Inszenierung gewünscht, mehr als nur tiefe Bühnenhintergründe (Ben Willikens), die aufwendig kollabieren, wenn die Dramatik der Situation akzentuiert werden muss.

Im Umgang mit seiner krankhaft eifersüchtigen Frau, so ist im Programmheft zu lesen, fand Luigi Pirandello einen Zugang zu den unterschiedlichen Valeurs von Realität, wie sie in vielen seiner Stücke auftauchen. Und natürlich reflektiert er als politischer Schriftsteller auch die Verhältnisse im Italien des Risorgimento, der Umbruchzeit des 19. und 20. Jahrhunderts, die je nach Sichtweise bis zum Faschismus oder gar bis in die Jetztzeit reicht. Details wie die zackigen Uniformen und die todschicken Hosenanzüge (Ausstattung: Jasna Bosnjak) deuten die Mussolini-Zeit an. Jedoch verzichtet die Inszenierung darauf, hier eindeutige Bezüge des Wahnhaften zu konstruieren. Das ist sicherlich vernünftig, zumal „Heinrich IV“ bereits 1922 herauskam, als die Herrschaft des italienischen Faschismus erst begann.

Für manche Unzulänglichkeit dieser Inszenierung entschädigt der große, tragische Epilog. Rudolf Kowalski zeigt hier eine Schauspiel- und Vortragskunst, die selten geworden ist auf deutschsprachigen Bühnen. Und am Schluss kommt nochmal das Pferd.

Großer Beifall, vor allem für das engagiert aufspielende Ensemble.

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Keine weiteren Termine.

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Zwischen Repertoire und Experiment – Theater Dortmund stellt Spielplan 2014/2015 vor

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Die Theater-Reihe „Das goldene Zeitalter“ – hier ein Bild aus der letzten Produktion – wird fortgesetzt: „100 neue Wege dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“ kommt im Januar 2015 heraus. Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund

Spielzeit 2014/2015 – das Theater Dortmund mit den Abteilungen Oper, Ballett, Philharmoniker, Schauspiel und Kinder- und Jugendtheater hat seine Pläne vorgestellt. Ein einheitliches Bild ist nicht auszumachen, zu unterschiedlich sind die Fachabteilungen und die Menschen, die sie prägen. Hier eine erste kleine Übersicht, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit.

Den französischen Friseur Arthur hat es auf eine Insel fern ab von aller Zivilisation verschlagen. Hier, die Welt ist ja voller verrückter Zufälle, lernt er die hübsche Häuptlingstochter Atala kennen, und alles könnte richtig schön werden. Leider aber kündigt Häuptling Biberhahn, Herrscher über die Nachbarinsel Papatutu, kurz darauf seinen Staatsbesuch bei Atalas Vater Abendwind an, und das verlangt nach einem Festmahl. Die Tragik nun liegt darin, daß man in dieser Gegend der Welt dem Kannibalismus zugetan ist, und daß der französische Friseur nach einhelliger Meinung ein wunderbares Schmorgericht abgeben dürfte. Was ihm naturgemäß gar nicht schmeckt, um im Bild zu bleiben. Und wie er aus der Nummer wieder herauskommt, erfährt man ab dem 24. Januar im Dortmunder Schauspielhaus. Dann hat dort nämlich das Stück „Häuptling Abendwind und Die Kassierer: Eine Punk-Operette“ Premiere.

Der Stücktitel verlangt nach Erklärungen. Zunächst „Die Kassierer“: Sie gelten, sagt Schauspielchef Kay Voges, seit 30 Jahren als die kultigste Punk-Band aus dem Ruhrgebiet. In Sonderheit sei die Revier-Lebensweisheit „Das schlimmste ist, wenn das Bier alles ist“ ihr Leib- und Lebensmotto. Den Spruch kann man ja etwas umrubeln auf „Das schlimmste ist, wenn das Fleisch alle ist“, womit man dann sozusagen schon beim Grundmotiv des hier zur Aufführung gelangenden Kannibalen-Stoffes wäre, welcher ursprünglich ein Opernlibretto war, geschrieben von Philippe Gille und Léon Battu zur Musik Jacques Offenbachs. „Vent du soir ou l’horrible festin“ hieß das Werk auf französisch, und Johann Nestroy machte daraus eine Burleske mit dem (annähernd exakt übersetzten) Titel „Häuptling Abendwind oder Das gräuliche Festmahl“. Diese Burleske nun, der Anlauf hat etwas gedauert, wird von Den Kassierern mit Offenbachs Klängen zur Punk-Operette verwurstet. Es wird absehbar schräg und laut und lustig, zumal Die Kassierer auch auf Musikfeldern wie Country oder Jazz zu Hause sind.

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Die Oper „Carmen“ wird auch in der neuen Spielzeit gegeben. Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund

Das Projekt habe sich auch deshalb geradezu angeboten, weil Punk und Operette sich doch recht ähnlich seien, merkt Kay Voges treuherzig an. Doch, doch! Der hohe Mitsingfaktor sei durchaus vergleichbar. Jedenfalls ist diese Punk-Operette des Schauspielhauses in der Spielzeit 2014/2015 und in der Abteilung Originalität unangefochtener Spitzenreiter. Regie führt übrigens Andreas Beck, den man aus dem Ensemble und bislang vor allem „vor der Kamera“ kennt. Daneben, wir bleiben beim Schauspiel, wird ein bunte, anspruchsvolle Themenmischung geboten.

Schauspiel

Kay Voges selbst inszeniert für den Spielzeitauftakt am 12. September einen „Hamlet“, bei dem ihn Video-Artist Daniel Hengst („Tannhäuser“) und Musikchef Paul Wallfisch unterstützen werden. Jetzt, so Voges, fühle er sich alt genug für diesen Shakespeare-Stoff. Und man wüßte jetzt schon gerne, wie er wohl den Hamlet-Monolog anlegen wird. Oder ob er ihn einfach weglässt?

Der notorische Wenzel Storch, der durch seinen Film „Die Reise ins Glück“ einer größeren Zahl von Menschen bekannt wurde, führt Regie bei einer „Pilgerreise in die wunderbare Welt der katholischen Aufklärungs- und Anstandsliteratur“. „Komm in meinen Wigwam“ heißt die Produktion mit Premiere am 17. Oktober. Jörg Buttgereit ist wieder da und verkündet mit breitem gesellschaftlichen Bezug, daß „Nosferatu lebt!“. „Ein Mystery-Crime-Science-Fiction-Hospital-Theater-Web-Adventure in sieben Teilen“ steht auf dem Programm, das sich Alexander Kerlin, Anne-Kathrin Schulz und Kay Voges ausgedacht haben und das so eine Art Krankenhausserie ist. „The Madhouse of Ypsilantis“ heißt es. Fans des „Goldenen Zeitalters“, von denen es etliche gibt, dürfen sich auf eine weitere Folge freuen. Der neue Theaterabend mit unvorhersagbarem Verlauf hat im Februar 2015 das Motto „100 neue Wege dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“. Das kann einen schon nachdenklich machen.

In der nicht-experimentellen Abteilung, auch das soll nicht unerwähnt bleiben, ist ebenfalls Leben: Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ (Premiere 18. Oktober) gelangt zur Aufführung, ebenso eine Adaption von Ingmar Bermans „Szenen einer Ehe“ (Premiere 28. November). Für die „Elektra“ am 7. Februar 2015 werden Sophokles, Euripides und Hugo von Hoffmannsthal als Autoren genannt, doch zuvörderst plant Regisseur Paolo Magelli eine Beschäftigung mit Deutschland und Dortmund in den Zeiten nach den Weltkriegen. Paul Wallfisch steuert seine musikalischen Interpretationen von Richard Strauß’ „Elektra“ bei.

Schließlich ein Hinweis auf „Identity“. Mit diesem „Jugendclub-Projekt der Theaterpartisanen 16+“ will das (Erwachsenen-) Schauspiel auch Schulklassen besuchen und wildert damit scheinbar im Revier von Voges’ Kollegen Andreas Gruhn, dessen Kinder- und Jugendtheater (KJT) ja eigentlich zuständig für diese Altersklasse ist. Überhaupt fällt auf, daß das Schauspielhaus – beispielsweise auch mit dem „UNRUHR Festival“ im Juni 2015 – jugendliches Publikum umwirbt. Doch das ist vermutlich mit dem KJT abgesprochen.

Kinder- und Jugendtheater

Für die Theaterleute von der Sckellstraße bleibt genug zu tun, und auch sie überschreiten Grenzen. So wendet sich Lutz Hübners Klassiker „Frau Müller muß weg“ (Premiere 13.2.2015) eher an Eltern und Erzieher als an Kinder. „Sneewitte“ von Sophie Kassies und Jens Joneleit (Premiere 19. März 2015, Regie Antje Siebers) entsteht in Zusammenarbeit mit der Jungen Oper Dortmund und will Kinder ab sieben Jahren in musikalisches Neuland führen. „Industriegebietskinder“ – ein Arbeitstitel angeblich, den sie ruhig so lassen sollten – vergleicht als Projekt dreier Theater die Lebenssituationen an drei mehr oder weniger entindustrialisierten Orten. In Dortmund hat sich das KJT in den (neuerdings noblen) Stadtteil Hörde aufgemacht, das Berliner Theater Strahl blickt auf den ehemaligen DDR-Unterhaltungselektronik-Standort Oberschönweide, das Neue Theater Halle auf die streckenweise verwaiste Neustadt. Am Anfang des Projekts steht ein Camp in Berlin, geplant sind weiterhin Recherche-, Entwicklungs- und Produktionsphasen, und am 8. Mai 2015 soll das Ding zum ersten Mal über die Bühne gehen.

Ach ja: Das Weihnachtsmärchen heißt in diesem Jahr „Peters Reise zum Mond“. Andreas Gruhn hat Bassewitz’ langjähriges Erfolgsstück „Peterchens Mondfahrt“ gründlich überarbeitet und aktualisiert und zu einem „Weltraummärchen“ für Kinder ab sechs Jahren gemacht. Erster Mondstart von Peter und Anna ist am 13. November.

Oper

Sechs Premieren kündigt Opernchef Jens-Daniel Herzog an, was formal auch zutreffend sein dürfte. Aber Richard Strauss’ „Rosenkavalier“, Mozarts „Don Giovanni“ oder Verdis „Ein Maskenball“ halten sich landauf, landab, so hartnäckig in den Repertoires, daß es geradezu unglaubwürdig wirkt, ihren Wiedereinrichtungen das Etikett „neu“ aufzukleben. Das sagt natürlich nichts über die Qualität der Dortmunder Produktionen aus, um die es so schlecht nicht bestellt sein kann. „Ein Maskenball“ zum Beispiel entsteht in Kooperation mit dem Royal Opera House Covent Garden in London.

„Jesus Christ Superstar“ von Andrew Lloyd Webber steht am 19. Oktober erstmals auf dem Programm des Opernhauses, das szenische Oratorium „Saul“ von Händel ist am 25. April 2015 die letzte Premiere der neuen Spielzeit. So weit, so gut.

Ein strahlendes Highlight hat die Oper aber doch im Programm: Die Vaudeville-Operette „Roxy und ihr Wunderteam“ von Paul Abraham, den die Theater seit einigen Jahren wiederentdecken. Der Plot klingt so herrlich doof, daß er fast in einem Satz erzählt werden kann: Fußball-Nationalmannschaft findet kein Quartier und wird notgedrungen im Mädchenpensionat untergebracht. Zum Finale treffen sich alle im Stadion.

Man darf gespannt sein, wie Regisseur Thomas Enzinger „Roxy und ihr Wunderteam“ umsetzen wird. Auch wenn der Stoff es nahezulegen scheint, muß die Inszenierung nicht zwangsläufig ein burlesker Schenkelklopfer werden. Die Verfilmung aus dem Jahr 1937, entstanden im damals noch nicht von den Nationalsozialisten regierten Österreich, wohin der jüdische Komponist Paul Abraham geflohen war, macht aus dem Stoff einen eleganten Tanzfilm, der an Fred Astaire, Ginger Rogers oder Gene Kelly denken läßt. 15 Termine zwischen dem 29. November 2014 und dem 15. März 2015 hat das Opernhaus schon angesetzt. Im fußballverrückten Dortmund hat man guten Grund, auf ausverkaufte Häuser zu hoffen (wenn nicht zeitgleich ein Pokalspiel läuft).

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Streifen statt Farben: Der aktuelle Ballett-Dreiteiler heißt „Drei Farben: Tanz“ (Bild). In der nächsten Spielzeit ist „Drei Streifen: Tanz“ zu sehen… Foto: Bettina Stöß/Theater Dortmund

Ballett

Xin Peng Wang hat Motive aus Thomas Manns Roman „Zauberberg“ zu einem Ballett verarbeitet, dessen musikalische Leitung bei Motonori Kobayashi liegt (Premiere 8. November 2014). Zweite Premiere der kommenden Spielzeit ist wieder einmal ein Dreiteiler, der diesmal „Drei Streifen: Tanz“ heißt. Das Drittel mit dem Titel „Closer“ choreographiert Benjamin Millepied zur Musik von Philip Glass, jenes mit dem Titel „The Piano“ – eine Uraufführung – Jiri Bubenicek. Und die Uraufführung von Dennis Volpi hat noch gar keinen Titel. „Schwanensee“ wird wieder zu sehen sein, ebenso „Der Traum der roten Kammer“ in der Hongkonger Fassung von 2013. Außerdem gibt es etliche „kleinere“ Ballett-Aktionen: „Internationale Ballettgala XX & XXI“, Sommerakademie, NRW Juniorballett und so fort.

Konzerte

Bleibt, von der Musik zu künden, der konzertanten zumal. Die üppigen Spielpläne liegen detailliert vor, man findet sie im soeben erschienenen Spielzeitprogramm und auf dem Internetauftritt des Theaters Dortmund. Der Eindruck hier: Viel solide Arbeit im klassischen Repertoire, wenig Starkino. Zwei prominente Namen fallen ins Auge, zum einen der der Sopranistin Edita Gruberova, die den mit 25.000 Euro dotierten Preis der Kulturstiftung Dortmund erhält und ihn sich am 5. Dezember im Konzerthaus abholen wird, zum andern der Sebastian Kochs, fernsehbekannter Schauspieler („Speer“), der, finanziert mit etwas Sponsorengeld, beim 5. Philharmonischen Konzert am 13. und 14. Januar in Beethovens Bühnenmusik zu Goethes „Egmont“ den Sprecher gibt.

Bei den Philharmonikern ist man übrigens auf die Idee gekommen, die Wörter, die die Titel der Reihen und Veranstaltungen bezeichnen, silbenweise zu zerhacken und dann mit so genannten Underlines zu verbinden. Deshalb heißt die philharmonische Reihe in diesem Jahr „helden_innen_leben“ und die Veranstaltung mit Herrn Koch im Januar „spiel_zeiten“. (Davor, nur als Fußnote, gibt es „gefühls_welten“, danach „helden_mut“.) Darf man in Blogs ungestraft das Wort Schwachsinn verwenden?

Fünf Konzerte der philharmonischen Reihe werden von Generalmusikdirektor Gabriel Feltz dirigiert, fünf von Gästen, unter denen sich in dieser Spielzeit doch tatsächlich auch eine Frau befindet: Das 9. Konzert (12. und 13. Mai 2015) leitet die Amerikanerin Karen Kamensek, Generalmusikdirektorin in Hannover. Es gibt Kissenkonzerte und Kammerkonzerte und Babykonzerte (immer ganz schnell ausverkauft!) und „Konzerte für junge Leute“, deren Titel neugierig machen: „Groove Symphony“, „Superhelden der Filmmusik“, „Romeo und Julia in New York“. Und ganz am Schluß dieses Aufsatzes das schöne Gefühl, von der darstellenden Kunst geradezu umzingelt zu sein. Zumal seit kurzem auch das Programmbuch des Konzerthauses raus ist (grauenvoller Titel: „Stell dich der Klassik.“, mit dem Punkt). Es wiegt über ein Pfund und damit sogar noch etwas mehr als das von Oper und Theater.

http://www.theaterdo.de/startseite/

www.konzerthaus-dortmund.de




Was wird hier gespielt? NRW-Theatertreffen 2014 in Dortmund

Der Dortmunder Theaterchef Kay Voges gibt sich bescheiden. Die zehn besten nordrhein-westfälischen Theaterproduktionen des Jahres 2014 herauszufinden, sei schlichtweg unmöglich. „Wer will das entscheiden?“ Stattdessen haben die Dortmunder ihre Kollegen in den anderen Städten um Vorschläge gebeten. Und die Vorschläge haben sie darauf hin geprüft, ob sie auf einer Dortmunder Bühne gespielt werden können.

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Szene aus „wohnen. unter glas“ von Ewald Palmetshofer. Foto: Christoph Meinschäfer/Theatertreffen

Die ausgesuchten Inszenierungen sind das Teilnehmerfeld des NRW-Theatertreffens, das vom 13. bis 20. Juni in Dortmund stattfindet. Und weil ein bißchen Superlativ eben doch sein muß, werden nun, wenn schon nicht die zehn besten, so doch die zehn bemerkenswertesten Produktionen präsentiert. Übrigens mit einer Ausnahme, der Oberhausener Beitrag ist nicht transportabel. Deshalb fährt am 19. Juni ein Shuttle-Bus.

Dies sind, chronologisch geordnet, die Teilnehmer:

„Das Mädchen aus der Streichholzfarbrik“, Schauspiel Bochum, 13. Juni, 20 Uhr, Schauspielhaus. Das Stück entstand nach dem Film von Aki Kaurismäki, Regie führt Bochums Hausherr David Bösch. Und in der Titelrolle ist die quirlige Maja Beckmann zu erleben.

„wohnen. unter glas“, Theater Paderborn, 14. Juni, 18 Uhr, Studio. Eins der zeitgenössischen Stücke im Wettbewerb. Geschrieben hat es der fleißige Österreicher Ewald Palmetshofer (Jahrgang 1978), der 2008 mit „hamlet ist tot. keine schwerkraft“ am Mülheimer Stücke-Wettbewerb teilnahm und über den die Meinungen, wie man so sagt, auseinandergehen. Jedenfalls ist nach 60 Minuten alles vorbei und somit genug Zeit für eine weitere Aufführung am selben Tag, nämlich:

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Szene aus „Minna von Barnhelm“. Foto: Philipp Ottendörfer/Theatertreffen

„Minna von Barnhelm“, Theater Bielefeld, 14. Juni, 19.30 Uhr, Schauspielhaus. Die Bielefelder, ist zu hören, gehen den Stoff sehr komödiantisch an. Da werden die 160 Minuten (eine Pause) ganz fraglos wie im Flug vergehen.

„Der Prozess“, Schauspiel Essen, 15. Juni, 18 Uhr, Schauspielhaus. Natürlich besonders interessant für die, die den Dortmunder „Prozess“ mit dem Essener vergleichen wollen. Übrigens gibt es ein Wiedersehen mit Axel Holst, der früher in Dortmund spielte.

„JR“, Wuppertaler Bühnen, Montag, 16. Juni, 20.15 Uhr, Schauspielhaus. Nach dem Roman von William Gaddis, in einer Fassung von Tom Peuckert, vermerkt das Programm. Das Stück ist eine Uraufführung und erzählt die Geschichte von JR, einem elfjährigen „Rotzlöffel“ (O-Ton), der eine steile Karriere als Brachialkapitalist macht und dabei zum Systemrisiko wird.

„Kasimir und Karoline“, Düsseldorfer Schauspielhaus, 17. Juni, 20 Uhr, Opernhaus. Für die Aufführung im Opernhaus entschied sich das Dortmunder Theater wegen der dortigen Drehbühne. Sie bietet zwar nicht die Möglichkeiten der Düsseldorfer Maschinerie, erlaubt aber doch, einen Großteil der Bewegungseffekte zu zeigen. Bierbänke und –tische in atemberaubender Bewegung, und das gegebenenfalls sogar alkoholfrei. Regie führt Nurkan Erpulat, der mit der „Ehrenmord“-Tragödie „Verrücktes Blut“ ziemlich bekannt wurde.

„Der gute Mensch von Sezuan“, Schauspiel Köln, 18. Juni, 20 Uhr, Schauspielhaus. Moritz Sostmann inszenierte mit Menschen und Puppen, 180 Minuten mit Musik (von Paul Dessau).

„Die deutsche Ayse. Türkische Lebensbäume“, Theater Münster, 19. Juni, 18 Uhr, Studio. „Ein spitzzüngiges Sittenbild über die Anfänge der Migration in Deutschland“ schrieben die Westfälischen Nachrichten zur Premiere.

„Die Orestie“, Theater Oberhausen, 19. Juni, 21 Uhr. Simon Stone hat den Stoff von Aischylos in die Gegenwart gestellt. Und das Theater bleibt, wo es ist, weil der Dortmunder Schnürboden kaputt ist. Der Shuttle-Bus fährt um 19.30 Uhr.

„Das Himbeerreich“, Theater Aachen, Freitag, 20. Juni, 18 Uhr, Studio. Andreas Veiel schrieb seine entlarvende Kapitalismus-Kritik, nachdem er 25 Top-Banker und Manager interviewt hatte. Das Stück fand viel Beachtung, als es herauskam.

Am selben Tag um 20.30 Uhr ist auch die Preisverleihung vorgesehen. Ob dann jedoch eine Inszenierung oder eine Schauspielerin/ein Schauspieler oder eine Regie den Lorbeer erhält, steht ganz in der Entscheidung der Jury.

Neben dem traditionellen Theaterprogramm haben die Dortmunder diverse Diskussionsveranstaltungen („Panels“), Workshops, Konzerte und Performances in das Programm eingeflochten. Bei den letztgenannten scheint „The Smartphone Project“ besonders interessant zu sein; Hier kann sich das Publikum eine App herunterladen (die übrigens bei Android mehr kann als bei Apple) und mit ihr Tänzer im Schauspielhaus ähnlich beeinflussen wie Spielfiguren in einem Computerspiel. Von den eingeladenen Musikanten seinen die nicht gänzlich unbekannten „Tiger Lillies“ genannt, die hier mit „Support“ von Dortmunds Musikchef Paul Wallfisch auftreten.

Es gibt Jörg Buttgereits „Sexmonster“ als Film zu sehen, Kindertheater, Party und einen Theatervorplatz, den die Dortmunder „Urbanisten“ temporär in einen „selbstorganisierten und ungezwungenen Lieblingsort“ verzaubern wollen. Für Fußballfans wird im „Labor“ neben dem Theaterfoyer an allen Tagen der Fernseher laufen und von der Weltmeisterschaft berichten.

Und wer das alles genauer wissen will, nutze die nachfolgend aufgeführten Netzadressen.

www.nrw-theatertreffen.de

www.theaterdo.de

 




Gasometer Oberhausen – grandiose Lichtinstallation verformt die Riesendose

Lichtinstallation "320° Licht" von Urbanscreen im Gasometer Oberhausen Foto: Wolfgang Volz

Die Installation „320 Grad Licht“ der Künstlergruppe Urbanscreen sorgt im Gasometer für atemberaubende Formen. Foto: Wolfgang Volz/ GasometerOberhausen.

Zuletzt hing Christos Luftsack im Rund des Gasometers und akzentuierte grandios das atemberaubende Nichts. Jetzt ist hier nur noch Licht – eine Licht-Installation, genauer gesagt, die „320 Grad Licht“ heißt und den einzigartigen Raum auf kluge Weise nutzt. Da Licht aber nur bei Dunkelheit sichtbar wird, ist es im Gasometer insgesamt gesehen eher dunkel – bis Ende des Jahres, denn dann endet die Ausstellung mit dem Titel „Der schöne Schein“.

Doch weißes Licht, das die Wände verzaubert, auf ihnen herabrieselt, Wellen schlägt, Tiefendimensionen auf dem glattrunden Blech erscheinen lässt und noch eine Menge mehr vermag, ist nicht alles. Genau genommen ist die Installation ja nur eine Arbeit von rund 150, die derzeit zu sehen sind. Kurator Peter Pachnicke hat nämlich in den unteren beiden Etagen des Gasometers Reproduktionen von „ausgewählten Meisterwerken der Kunstgeschichte“ aufhängen lassen, und die gaben der Schau ihren Titel. Wiewohl es, wie könnte es anders sein, eine sinnfällige thematische Verkettung mit der Lichtkunst im Obergeschoß gibt. Dort nämlich könne man „die Schönheit des Gasometers“ erfahren, samt Schönheit der Lichtarbeit. Irgendwie hängt ja immer alles mit allem zusammen.

Lichtinstallation "320° Licht" von Urbanscreen im Gasometer Oberhausen Foto: Thomas Wolf

Die Installation „320 Grad Licht“ arbeitet mit minilamilstischen Grundformen – Quadraten, Quadern, Linien – und ist ständig in Bewegung. Foto: Volz/Gasometer

Man wandert durch die von der Decke hängenden Bilder und wundert sich. Das Profil einer zarten, blonden Botticelli-Schönheit zum Beispiel füllt jetzt um die vier Quadratmeter und lässt an Werke der Pop-Art aus den 60er Jahren denken, zu deren wesentlichen Stilmitteln ja das „Blow Up“ gehörte, also das starke Vergrößern des vermeintlich Alltäglichen. Doch mag dieser Eindruck in Oberhausen zufällig sein, nicht alle Bilder wurden derartig stark vergrößert wie manche Renaissance-Portraits. Überhaupt scheint es keine festen Regeln für die Bestimmung des Vergrößerungsmaßstabs gegeben zu haben.

Lichtinstallation "320° Licht" von Urbanscreen im Gasometer OberhausenFoto: Wolfgang Volz

Blick zur Decke des Gasometers in über 100 Metern Höhe. Foto: Volz/Gasometer

Peter Pachnicke erzählt, er habe zeigen wollen, was Künstler im Lauf der Jahrhunderte an Schönheit empfanden. Er habe gleichsam „in sich selbst gegoogelt“ und geschaut, welche Bilder und Skulpturen ihm einfielen. 150 bis 200 Stück seien es gewesen, ein mehrheitsfähiger Kanon im europäischen Raum, Ausdruck eines kollektiven Bildgedächtnisses.

Nun hängen die meisten davon – ergänzt durch vorzügliche Gipsabdrücke vornehmlich antiker Plastik – im Halbdunkel des Gasometerrunds: Von Hieronymus Bosch das (etwas apokalyptische) Paradies, von Caspar David Friedrich ein Mondaufgang, von Edouard Manet die nackte Olympia, von Katshika Hokusai die Tsunami-Welle, und so weiter, und so weiter, mal mehr mal weniger größer als das Original. Ein „Best of Schönheit“, vierfarbig ausgedruckt und auf stabile Bildträger gezogen.

Doch ist dies ein ernstzunehmendes Konzept? Und trägt es, ist es attraktiv für das Publikum? Oder prägten vor allem ökonomische Überlegungen den Charakter der vergleichsweise preiswerten Sommerschau für das Jahr 2014, deren „Projektpartner“ übrigens ein bekannter Druckerhersteller ist?

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Eins von über 150 ausgedruckten Meisterwerken im Gasometer ist Arcimboldos kunstvolles Gemüsearrangement „Sommer“. Foto: Gasometer

Dieser „Schöne Schein“ hat ein Geschmäckle. Und das unvergleichliche Industriebauwerk hätte sicherlich eine bessere Bespielung verdient als die Ausstellung von Computerausdrucken. Der Besuch im Gasometer lohnt sich natürlich trotzdem, erstens sowieso und zweitens wegen der Lichtkunst der Bremer Künstlergruppe Urbanscreen. 21 Projektoren sind für ihre Realisation nötig, sie läuft in einer 20-Minuten-Endlosschleife („Loop“) und wird untermalt durch eine eigens geschaffene, dem einmaligen (Nach-) Hall der Riesenblechdose angepasste „minimalistische“ Musik. Und sie ist auch „schön“. Wenngleich Schönheit zu finden schon lange nicht mehr der Kunst vornehmstes Ziel ist.

Bis 30. Dezember 2014. Di-So 10-18 Uhr, in den NRW-Ferien auch mo. geöffnet. Eintritt 9 Euro. www.gasometer.de




Es gibt etwas zu lachen – „Der nackte Wahnsinn“ in Dortmund

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Vicki (Merle Wasmuth) und Tramplemain (Frank Genser) haben Streß auf der Treppe (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nein, dass das Dortmunder Theater in der Intendanz von Kay Voges eine besonders trübselige Veranstaltung wäre, kann man wirklich nicht behaupten. Glücklicherweise gibt es hier immer wieder was zu lachen. Und jetzt erst recht!

„Der nackte Wahnsinn“ von Michael Frayn, der hier am Samstag seine Premiere erlebte, ist ein Spaßstück erster Güte, ein Komödienstoff nach allen Regeln der Kunst, den ein hellwaches Ensemble mit Tempo und großem Körpereinsatz zum ungetrübten Vergnügen macht. Damit wäre fast schon alles gesagt. Aber warum sollte eine Bewertung erst am Schluß der Besprechung stehen, wenn sich der Rezensent so gut amüsiert hat?

„Der nackte Wahnsinn“ ist der Form nach eine klassische Türenkomödie, folgerichtig hat die Kulisse derer zehn, auf mehreren Ebenen (Bühne: Pia Maria Mackert). Außerdem dient das Fenster dem Einbrecher als Bühnenzugang. Allerdings beschränkt sich das Stück nicht auf die Mechanik der exakt gespielten Auf- und Abtritte durch die diversen Türen, sondern ist zudem ein „Theater auf dem Theater“ – in drei Akten.

Im ersten Akt erleben wir, wie eine eher unbekannte Theatertruppe das Stück „Spaß muß sein“ des (fiktiven) Stückeschreibers Robin Housemonger für die Premierentournee probt, im zweiten – der Drehbühne sei Dank – erleben wir staunend, daß die Vorstellung für uns fast unsichtbar irgendwie weiterläuft, während sich hinter den Kulissen die Mimen zanken und prügeln, Eifersuchtsgeschichten, Sinnkrisen und Alkoholismus den Fortgang der Tournee gefährden. Doch die Show muß bekanntlich weitergehen. Das dritte Bild schließlich zeigt die Bühne wider von vorn. Die Tournee ist fast zu Ende, Kulisse und Mimen sind verschlissen, die Hauptdarstellerin ist betrunken und außerdem ist ihr das auch völlig egal. Running Gag bei alledem ist von Beginn an ein Teller mit Sardinen, der mal da ist und mal nicht, was für Verwirrung sorgt.

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Das Ehepaar Brent (Ekkehard Freye und Eva Verena Müller) weilt inkognito im eigenen Hause (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Der Plot schließlich, um auch ihn kurz zu erwähnen, kreist wesentlich um zwei Liebespaare, die sich heimlich in das Haus schleichen, um es dort miteinander zu treiben. Das eine sind (mit ihren Rollennamen des Stücks im Stück) der Häusermakler Tramplemain (Frank Genser) und das blonde Dummchen Vicky (Merle Wasmuth) sowie der Dramatiker Philip Brent (Ekkehard Freye) und seine Gattin Falvia (Eva Verena Müller). Alle wähnten Haushälterin Clackett (Friederike Tiefenbacher) abwesend, doch die ist noch da, weil sie irgendeine Promi-Hochzeit im Farbfernseher sehen möchte, während sie selbst zu Haus nur Schwarzweiß hat. Und einen Teller mit Sardinen hat sie sich fertig gemacht. Den Brents gehört das Haus tatsächlich, doch sind sie inkognito hier. Die Steuerfahndung darf nicht wissen, daß sie in England weilen.

Schließlich gibt es noch einen Einbrecher, der von Uwe Schmieder gespielt wird. Er ist dem Whisky sehr zugetan, weshalb man nie weiß, ob er seinen Einsatz schafft. Und da das Stück ja im Stück spielt, sind auch noch drei Personen sozusagen ohne Rolle dabei: der fette Regisseur Lloyd Dallas (Andreas Beck), der schwule Regieassistent Poppy (Peer Oscar Musinowski) und der Bühnenmeister Tim (Sebastian Graf).

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Vicki und Tramplemain mit ihrem Regisseur Lloyd Dallas (Andreas Beck, rechts) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

So viel zur Handlung, die, man ahnt es vielleicht schon, natürlich zu keinem glücklichen oder auch weniger glücklichen Ende führt, sondern sich im atemlosen Kampf gegen das Unheil in der Welt im allgemeinen und das Entdecktwerden im Besonderen, aber auch um verlorene und nicht wieder aufgefundene Kleider, Bettlaken, Kisten und Taschen dreht. Und natürlich um Teller mit Sardinen. Das Stück im Stück hat auch deshalb kein Ende, weil ja nie bis zum Ende gespielt wird. Wie aber sollte so ein Plot schon enden, wenn nicht im Chaos?

Urkomisch sind viele Handlungsdetails – wie Brents absehbar aussichtsloser Kampf gegen den Sekundenkleber, mit dem er sich unlösbar einen Mahnschreiben vom Finanzamt und einen Sardinenteller an die Hände klebt, weshalb er im Weiteren nicht mehr in der Lage ist, die Hose hochzuziehen und panisch durch das Bühnenbild hüpft, treppauf, treppab. Poppy wechselt jedes Mal Hemd und Hose, wenn er aus der Szene verschwinden darf, Regisseur Lloyd Dalls stiftet mit Blumengeschenken, die Inspizient Tim zuverlässig an die falschen Adressen leitet, Chaos und Haß. Ausgesprochen spaßig auch sind im dritten Akt die Kostüm-Tauschaktionen, um schnell Ensemblemitglieder zu ersetzen, die gerade irgendwie abhanden gekommen sind. Schließlich stehen gleich drei Einbrecher auf der Bühne, was den Regisseur nur noch „Vorhang“ flehen läßt.

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Mrs. Clackett (Friederike Tiefenbacher) findet sich zwischen der Doppelbesetzung für den Einbrecher wieder (Uwe Schmieder li., Sebastian Graf re.) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Entscheidender aber als die Vielzahl gelungener Einzelgags ist das rasende Tempo, das diese immerhin dreistündige Produktion von Anfang bis Ende durchhält. Peter Jordan und Leonhard Koppelmann, die gemeinsam für die Regie zeichnen, verdeutlichen das durch einen Moment der Verlangsamung: Wenn dem Regisseur im ganzen Bachstage-Durcheinander ein Kaktus in den Allerwertesten gerammt wird, reduziert sich die Geschwindigkeit des Bühnengeschehens plötzlich wie in einer Zeitlupe. Die Töne dehnen sich, das Licht flackert wie bei einem langsam laufenden Filmprojektor, Schmerzverzerrt verzieht sich das Gesicht des fülligen Regisseurs im Schneckentempo, und ganz langsam beginnt Poppy, ihm die Nadeln einzeln wieder herauszuziehen. Und dann ist die Zeitlupe zu Ende und es geht so flott weiter wie vorher.

Die Damen nuttig, die Herren hasenfüßig, der Regisseur zynisch, der Schwule schwul: Natürlich ist das hier reinstes Chargenkino. Doch diese Überzeichnungen wirken nicht wirklich diskriminierend, weil ausnahmslos alle Personen auf der Bühne einen Schuß haben.

Und jetzt müßten noch ein paar wertende Zeilen folgen. Doch die stehen ja schon am Anfang. Das Publikum applaudierte erwartungsgemäß begeistert.

Termine: 9., 19., 25., 27. April, 8., 23. Mai, 1. Juni. www.theaterdo.de




Die Katastrophen sah sie kommen – „Kassandra“ in Dortmund

Die Rückwand eine Spiegelfläche, einige Scheinwerfer – mehr Bühnenbild braucht es nicht, um Kassandras Denken sinnfällig zu machen: Reflexion und Erhellung (vielleicht auch Erleuchtung) kennzeichnen es, ein Verstandesmensch ist sie, eine Analytikerin, ein Intellektuelle. Und eine Leidende unter eigener Erkenntnis.

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Bettina Lieder als Kassandra (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Im Studio des Dortmunder Theaters gibt die jugendliche Bettina Lieder Kassandra Gesicht und Stimme. In einem kräftezehrenden 80-Minuten-Monolog erzählt sie ihre – Kassandras – Lebensgeschichte, und sie wirft sich so bedingungslos in die Rolle, daß ein Schwächeanfall nach etwa einer Stunde den Fortgang der Aufführung für kurze Zeit fraglich macht. Doch nach wenigen Minuten ist Bettina Lieder wieder vorne. Und sie ist wieder Kassandra, die zornige Frau, die die Gabe der Weissagung haben soll und die darunter körperlich leidet.

Tochter von König Priamos und seiner Frau Hekabe ist sie, doch die hohe Herkunft erspart ihr nicht das entwürdigende Deflorationsritual, das sie ganz selbstverständlich erkennt als Teil der politisch gewollten Frauendiskriminierung. Sie will Abstand halten zu den Widrigkeiten dieser Welt, strebt das Amt der Priesterin an und wird in der Folgezeit eine mehr oder weniger involvierte Beobachterin der Verhältnisse, insbesondere der Kriegstreiberei gegen die Griechen.

Den Trojanischen Krieg sieht sie ebenso kommen wie sie späterhin auch früh die List der Griechen erkennt, die den Trojanern ein viel zu großes Holzpferd zur Opfergabe machen. Und sie weiß auch, dass das Trojanische Pferd Symbol für ein besonders grausames Gemetzel und den Untergang Trojas sein wird. So viel Inhalt im Kurzdurchlauf. Der Text, den Bettina Lieder vorträgt, berichtet natürlich ungleich mehr. Und man kann ihm recht gut folgen, wenngleich auch er mit vielen Namen und langen Sätzen gewisse Anforderungen an die Aufmerksamkeit des Publikums stellt.

Der Text nun stammt in seiner angewandten Form von Dirk Baumann und Lena Biresch und entstand „nach Christa Wolf“. Christa Wolf starb 2011 und kann sicherlich die bedeutendste Schriftstellerin der DDR genannt werden, hoch geschätzt und viel gelesen auf beiden Seiten der deutschen Grenze. Ihre „Erzählung“ (Untertitel) „Kassandra“ kam in Westdeutschland 1983 heraus, ein mit nicht einmal 160 Seiten recht schmales, also wichtiges Buch, in dem die Schriftstellerin eine antike Heldin frauenbewegt, soziologisch und mit kühlem Intellekt erforscht.

Wenn Christa Wolfs Kassandra im Rückblick ihr Leben erzählte, so vermeinte man bei der Lektüre immer auch die Schriftstellerin selbst zu vernehmen, seelisch und methodisch mit ihrer Heldin nahezu verschmolzen. Auch vom Alter her war der Rückblick eine plausible Form des Erzählens. Somit ist der Vortrag des Textes durch eine junge Frau zunächst einmal irritierend. Was Bettina Lieders Kassandra im Dortmunder Schauspiel zornig, traurig, aufgewühlt erzählt, kann sie ja noch gar nicht erlebt haben.

Doch andererseits ist alles schon angelegt, es gehört zur Menschheitstragik, daß man vieles kommen sehen könnte, wenn man es denn wollte. Und nicht den letztlich wohlfeilen Zorn der Götter zur Ursache allen Übels erklärte. So gesehen ist eine jugendliche Kassandra eine stimmige Besetzung, denn es war ja ihr Los, vorher schon Bescheid zu wissen. Und nicht gehört zu werden. Und so zum Sonderling zu werden.

Auf unerwartete Weise lädt die Einrichtung des Stoffes von Dirk Baumann und Lena Biresch (auch Regie) dazu ein, über göttliche Fügung, Tragödie, Erkenntnis oder auch Verantwortung nachzudenken, wie es das Bühnenbild (Ausstattung: Mareike Richter, Licht: Rolf Giese) beizeiten schon nahelegte. Und die Sympathie des Abends gehörte selbstverständlich der kämpferischen Darstellerin.

Die nächsten Termine: 9., 25. April, 23. Mai. www.theaterdo.de




Knochenstaub für die Ruhrtriennale

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Szene aus dem Musiktheaterstück „Neither“ von Morton Feldman und Samuel Beckett (Foto: Ruhrtriennale)

Das Ballett „Le sacre du printemps“ von Igor Strawinsky ist ja eigentlich ein etabliertes Stück Bühnenkunst. Deshalb erstaunt es auf den ersten Blick, daß sich der Titel unter den insgesamt vier Musiktheater-Produktionen findet, die Ruhrtriennale-Intendant Heiner Goebbels  für das Festival im Spätsommer ankündigt. 

Doch keine Angst! Dies ist keineswegs die reumütige Rückkehr zum Mainstream, wie immer der auch beschaffen sein mag. Vielmehr ist der italienische Theatermacher Romeo Castellucci, der diese Produktion zu verantworten hat, eines Tages zu der Erkenntnis gelangt, daß bei Strawinsky zweifelsfrei ein Tier geopfert werde und das Tieropfer somit auch den Kern der Handlung bilden müsse.

Über einige weitere gedankliche Kaskadensprünge gelangte Castellucci schließlich zu seiner inszenatorischen Idee: Nicht Menschen bevölkern die Bühne, sondern fein gemahlener tierischer Knochenstaub rieselt von der Decke herab, rhythmisch und motorisch ausgestoßen, herausgeblasen von einer machtvollen Maschinerie, die, wie Proben-Videos zeigten, auch dann noch in ihrer präzisen Verrichtung sichtbar bleibt, wenn der Rest des Bühnenraums im Knochenstaub versinkt. Kein Scherz, der 1. April ist schon durch. Zum Trost der zahlreichen Asthmatiker und Allergiker konnte Heiner Goebbels wenigstens verkünden, daß das Staubopfer hinter einer dichten Folie stattfinden wird, die den Bühnen- vom Zuschauerraum abtrennt. Willkommen bei der Ruhrtriennale!

Keiner seiner Vorgänger hat den Grenzbereichen der Kunst in seiner Arbeit, um es einmal mit einem letztlich unzulänglichen Begriff zu bezeichnen, so radikal und beharrlich nachgespürt wie Heiner Goebbels. Während sein Vorgänger Willy Decker sich drei Jahre lang an letzten Fragen der Religionen abarbeitete, inszeniert er die Werke vergessener Zeitgenossen, holt freakige Instrumentenbauer auf die Bühne, weitet mit beträchtlichem technischen Aufwand die Möglichkeiten der Rezeption. Feste Abgrenzungen der Bühne zur Bildenden Kunst ignoriert Goebbels, und was in den letzten beiden Jahren unter seiner Intendanz entstand, war mal atemberaubend und mal banal, manchmal auch beides. Und oft war man sich da gar nicht sicher. So mag es jetzt auch dem Tierknochenmehl ergehen. Vielleicht kommt es ja ganz groß raus, und die Menschen werden davon noch in Jahrzehnten reden, vielleicht aber auch wird es einfach weggefegt.

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Der Niederländer Louis Andriessen schrieb die monumentale Oper „De Materie“, die Heiner Goebbels jetzt für die Ruhrtriennale inszeniert hat (Foto: Ruhrtriennale)

Zu den vergleichsweise „sicheren Bänken“ des neuen Programms gehört sicherlich die Inszenierung der Oper „De Materie“ des Holländers Louis Andriessen (75) durch den Hausherrn selbst. Das Werk wurde zuvor nur ein einziges Mal auf die Bühne gebracht, Ende der 80er Jahre von Robert Wilson in Amsterdam. Somit erlebt Duisburg in der Kraftzentrale Duisburg Nord eine veritable deutsche Erstaufführung, in der es, der Titel deutet Grundlegendes ja bereits an, um Zusammenhänge von Materie, Geist und Gesellschaft gehen soll. Die niederländische Unabhängigkeitserklärung von 1581 ist ein Topos dieses Werks, religiös-erotische Visionen einer Nonne aus dem 13. Jahrhundert ein anderer. Aber ebenso findet die Kunst Piet Mondrians Erwähnung, schließlich auch eine öffentliche Rede von Marie Curie. Die Musik zu dieser bunten philosophischen Mischung immerhin macht das renommierte Frankfurter Ensemble Modern.

Bei „Surrogate Cities Ruhr“ machen die Bochumer Symphoniker die Musik, Steven Sloane schwingt den Taktstock. Das Stück, erläutert Goebbels, sei eine „Bewegungsrecherche“ mit Menschen des Ruhrgebiets, mit Kindern wie auch mit Teilnehmern der Gruppe „50 plus“. Hier wird nicht Pas-de-deux gedrillt, hier lernen und integrieren Künstler die Bewegungsabläufe normaler Menschen. Für diese Produktion schrieb Goebbels die Musik, für den Fortgang des Bühnengeschehens mit seinen rund 250 Akteuren sorgt die Choreographin Mathilde Monnier.

Die Produktion „Neither“ (deutsch: weder) ist die Frucht einer gemeinsamen Antihaltung zur Oper, die Morton Feldman und Samuel Beckett pflegten. Diese hielt sie, nachdem sie sich 1976 in Berlin zum ersten Mal getroffen hatten, nicht davon ab, ein Werk zu verfassen. Beckett schrieb einen zehnzeiligen 87-Wörter-Text, den er – eben – „Neither“ nannte, Feldman die Musik dazu. Dieses Musiktheater, das sich angeblich an den „psychologischen Patterns des amerikanischen Film noir“ orientiert, hat zur Musik der Duisburger Philharmoniker wiederum Romeo Castellucci inszeniert – der mit dem Knochenmehl.

Viel schöne Musik steht auf dem Programm, auch ganz klassisch. Und natürlich bleibt vieles kryptisch, bis man es wirklich gesehen und gehört hat. Was beispielsweise tun Sarah Nicolls und Sam Beste mit den „20 Pianos“ von Matthew Herbert? „Konzert/Performance“ ist die Show überschrieben, das macht einen nicht automatisch klüger. Wer auf Nummer sicher gehen will, schaut nach bekannten Namen und findet sie auch. Es konzertieren das unvermeidliche ChorWerk Ruhr, das Royal Concertgebouw Orchestra und das hr-Sinfonieorchester, das im Vorjahr auch das „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ auf seinem schweren Weg begleitete.

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Immer etwas beängstigend: Installation von Gregor Schneider, der das Lehmbruck-Museum mit „Totlast“ ausstatten wird (Foto: Ruhrtriennale)

In der Abteilung Bildende Kunst/Film/Installation schließlich springt ein bekannter Name ins Auge: Gregor Schneider aus Rheydt, der ab etwa 1985 sein Elternhaus zum schauerlich beengenden, klaustrophobische Neigungen bestens befriedigenden „Toten Haus u r“ umbaute, der mit einer Art Kopie dieser Arbeit 2001 an der Biennale in Venedig teilnahm und dort auch prompt den Goldenen Löwen gewann. Er wird im Duisburger Lehmbruck-Museum das begehbare, teilweise unterirdische Röhrensystem „Totlast“ errichten, mit wie man sicher annehmen darf starken sinnlichen Valeurs.

Eine weitere Arbeit, die ganz bestimmt zum Publikumsliebling wird, haben die Urbanen Künste Ruhr für die eigentlich eher schlichte Straße unter den Hochöfen auf dem Duisburger Gelände geplant. „Melt“ ist 70 Meter lang, besteht aus 55 glänzenden Aluminiumplatten und kann begangen werden. Die Spiegelungen ändern sich durch das Nachgeben des Materials beständig, ein „Hingucker“ im wahrsten Sinn des Wortes.

Noch viel mehr könnte (und müßte!) man aufzählen aus dem Programm der Ruhrtriennale. Tanz bei PACT Zollverein und in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck, das Jugendprogramm „No Education“ die Diskussionen „tumbletalks“ und „freitagsküche“. Genauere Programmrecherchen sind natürlich auf den Netzseiten der Ruhrtriennale möglich.

Auffällig an Heiner Goebbels’ letzter Spielzeit ist eine gewisse Verlagerung des Schwerpunkts nach Duisburg-Nord. Hier werden große Sachen wie „De Materie“ und „Le sacre du printemps“ gegeben, im Lehmbruck-Museum wühlt Gregor Schneider seine „Totlast“ ins Gelände. Bochum mit seiner Jahrhunderthalle, früher geradezu der zentrale Aufführungsort der Triennale, bleibt die Nummer zwei. In Essen findet einiges statt – so die klassische Kammermusikreihe in der Zeche Carl -, doch lediglich das Kino Lichtburg, in dem „River of Fundament – Ein sinfonischer Film von Matthew Barney und Jonathan Bepler“ gezeigt wird, ist nicht den kleineren Spielorten zuzurechen. Und Dortmund, überhaupt das östliche Revier ist gänzlich außen vor. Nun gut. Es gibt ja die B 1.

Man sollte die feingeistige Grenzgängerschaft des Heiner Goebbels noch ein letztes Mal genießen, auch wenn sie nicht immer – oder nicht sofort – ihren Zugang zu den Herzen der Menschen findet. Ab 2015 regiert Johan Siemons die Ruhrtriennale, hier seit seiner Produktion „Sentimenti“ ein alter Bekannter. Dann wird es laut und lustig und vielleicht auch etwas flach (das wissen wir natürlich nicht). Auf jeden Fall jedoch ganz anders.

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Die Duisburger Gebläsehalle ist einer der Spielorte der Ruhrtriennale (Foto: rp)

Informationen und Eintrittskarten www.ruhrtriennale.de

Karten-Telefon

+49 (0)221 / 280210)




Russland gehört zu Kultur-Europa

Ich sehe die Geschehnisse in der Ukraine und denke, das kann doch nicht wahr sein. Jetzt ist Rußland wieder der Feind? Das Reich der finsteren und selbstverständlich unbelehrbaren Despoten? Die ideologische Konfrontation schien doch überwunden. Und die  Gegenüberstellung von „Europa“ und „Rußland“ ist doch geographischer Unsinn. Europa geht bis zum Ural, natürlich liegt Moskau in Europa.

Um nicht mißverstanden zu werden: Ich will hier kein politisches Urteil fällen. Nach meinem Eindruck haben beide Seiten des Konflikts gravierende Fehler gemacht, die aber alle nicht in den Untergang führen müssen. Mir geht es, ich bitte um Entschuldigung für den bombastischen Sound, um „Kultur-Europa“, in dem die russische Kultur größte Bedeutung hat. Landauf, landab spielen Theater und Konzertsäle in allen europäischen Ländern Tschechow und Tschaikowsky, um nur die beiden zu nennen; die russische Literatur hat Weltgeltung, und in den letzten Jahren hat beispielsweise auch die vormoderne russische Malerei, die sich mit dem Namen Ilja Repin verbindet, im Westen wachsende Beachtung erfahren. Russische Kultur ist, wie auch die französische oder die italienische, Teil unserer gemeinsamen europäischen Kultur. Wie kann man eine Nation, mit der uns kulturell viel verbindet, politisch ausgrenzen? Nach meinem Empfinden geht das nicht. Auch deshalb nicht, weil man den Russen Unrecht täte, die in ihrer großen Mehrzahl fraglos vernünftige Menschen sind.

Eine Lösung habe ich nicht – nur die Hoffnung, daß „die Politik“ vernünftig handelt. „Versöhnen statt spalten“, war ein Drei-Worte-Spruch unseres ehemaligen Ministerpräsidenten Johannes Rau. Zu seinen Lebzeiten klang das banal; doch jetzt wäre es für alle Beteiligten die richtige Parole.




Ungeheuerlich und ganz natürlich – „Der Prozess“ nach Franz Kafka in Dortmund

Wie inszeniert man Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ für die Bühne? Ganz offensichtlich reizt der Stoff die Theaterleute, in den vergangenen Jahren hat es in der Region etliche Versuche gegeben, abgründige, kryptische, pompöse: 2010 in Wuppertal, 2012 in Düsseldorf, 2013 in Essen, und die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollzähligkeit. Keine dieser Inszenierungen aber geriet so minimalistisch wie die von Thorsten Bihegue und Carlos Manuel auf der Studiobühne des Dortmunder Schauspielhauses.

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Der Angeklagte und seine Wärter: Josef K. (Björn Gabriel, Mitte), Willem (Andreas Beck, Links) und Franz (Uwe Rohbeck, rechts) (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

„Nach dem gleichnamigen Roman von Franz Kafka“ (Untertitel) agieren dort, unmittelbar vor den Füßen der Zuschauer in der ersten Reihe, drei Männer und eine Frau in wechselnden Rollen. Nur der vierte Mann bleibt immer Josef K., gegeben wird er von Björn Gabriel. Und die Frage, die schnell sich über den Köpfen des geneigten Publikums nebelgleich erhebt, ist natürlich: Geht das? Funktioniert dieser geheimnisvolle, psychologisch aufgeladene, beengende und bedrückende Stoff noch, wenn man ihn ähnlich inszeniert wie ein naturalistisches, schmutziges, kleines englisches Theaterstück à la Dennis Kellys „Waisen“ ,das ebenfalls auf dem Spielplan des Dortmunder Schauspiels steht?

Sagen wir es mal so: Das, was hier von der Vorlage an „Kafkaeskem“ übrigbleibt, ist sicherlich nur ein kleiner Teil. Doch in der Einrichtung des verantwortlich zeichnenden Regie-Duos entsteht gleichwohl ein passables, schlüssig ablaufendes Bühnenstück, das in seinem linearen Aufbau stellenweise den Charakter einer Nummernrevue hat. Es erzählt, stark gerafft und vereinfacht ausgedrückt, wie die völlig absurde alptraumhafte Situation des Verhaftetseins aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet schnell eine Qualität des Normalen entwickelt. Für die Wärter ist der Umgang mit Verhafteten etwas Normales, Repression und Großherzigkeit im Kontakt mit Josef K. sind ihre üblichen Umgangsformen; Fräulein Bürstner aus dem Büro weiß – wie vermutlich das gesamte Büro – schon von der Verhaftung des Prokuristen K., der ja weiterhin arbeiten gehen darf, der Onkel will helfen, der Maler vermitteln, der Advokat schließlich, seinerseits mit großer Machtfülle ausgestattet, dem Angeklagten sein Ohr leihen. Und bald schon scheint es hauptsächlich darum zu gehen, wie man aus der Sache herauskommt, ohne daß die Sache, eine Straftat demnach, je erkennbar geworden wäre. Es gibt, erfährt das Publikum, wirklich Freisprüche, scheinbare Freisprechungen und die Verschleppung des Prozesses. Sollte man sich also auf einen „Deal“ einlassen?

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Frau Bürstner (Merle Wasmuth) und Josef K. (Björn Gabriel) (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Für die jugendlich-karge Dortmunder Inszenierung nimmt ein, daß sie scheinbar anstrengungslos immer wieder Bezüge zum realen Justizgeschehen unserer Tage schafft, zur vielfach üblich gewordenen Trennung von Tat und Urteil beispielsweise, die eher der Bequemlichkeit und der allseitigen Zufriedenstellung huldigt als dem Streben nach Gerechtigkeit und Sühne. Sehr viel mehr allerdings sollte man nicht erwarten. Wenn Merle Wasmuth uns in verschiedenen Frauenrollen auf die eine oder andere Art sexuelle Verführung und Obsession vorspielt, dann ist das möglicherweise zwar der Versuch, einen Hinweis auf (unterdrückte) sexuelle Anteile in der Verursachung der einen oder anderen Irritation des Josef K. zu geben, mehr aber nicht. Auch hält sich diese Inszenierung nicht damit auf, den Romantitel in seiner zweifachen Bedeutung auszuschmecken, nach der „Prozess“ ja nicht zwingend einen solchen vor Gericht bedeutet, sondern auch als Synonym für eine undurchschaubare innere Entwicklung stehen kann. Sonderbare Entwicklungen sind, man denke nur an den armen Käfermann Samsa, ja geradezu ein Markenzeichen für Franz Kafkas Werk. Aber das wäre dann Psychologie, vielleicht gar Psychoanalyse, wie sie in etwa zeitgleich zur Entstehung des Romans von Siegmund Freud in Wien formuliert wurde. So etwas bleibt hier außen vor.

Den Schauspielern ist es zu danken, daß dieser Theaterabend anregend und streckenweise durchaus auch unterhaltsam gerät. Der massige Andreas Beck und der zierliche Uwe Rohbeck geben schon rein äußerlich ein komisches Aufseherpaar ab, Sebastian Graf weiß den obrigkeitlichen Anteil seiner verschiedenen Rollen überzeugend auszuspielen. Björn Gabriel in der Titelrolle schließlich kommt dem literarischen Vorbild eines Dreißigjährigen sehr nahe. Mit seinem leichtem Unterspielen akzentuiert er geradezu die ungeheuerliche Situation, in der er sich plötzlich befindet.

Dem Personal auf der Bühne galt am Premierenabend der größte Applaus.

Die nächsten Termine 23. Februar und 8. März sind ausverkauft. Weitere Termine werden noch bekanntgegeben. Theaterkasse: 0231 / 50 27 222

www.theaterdo.de




„re:set“ – Recklinghausen zeigt Malerei nach Computer-Motiven

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Viereinhalb Quadratmeter wabernde Kunst: „Drum’n Bass“ von Volker Wevers aus dem Jahr 2007 (Bild: Kunsthalle Recklinghausen/Katalog)

Der Computer, eine Binse, hat viele Lebensbereiche gravierend verändert. Auch die bildende Kunst bedient sich seiner, manche Menschen behaupten gar, der Computer selbst besäße Kreativität und würde den Künstler bald überflüssig machen. Ist die Maschine also das letzte Maß der Dinge? Das will man ja auch nicht so recht glauben, zumal Bäume nicht in den Himmel wachsen, selbst dann nicht, wenn sie digitalisiert sind.

In der Recklinghäuser Kunsthalle sind nun rund 70 Bilder zu sehen, deren Schöpferinnen und Schöpfer sehr bewußt eine Trennlinie zur elektronischen Kunstgenerierung gezogen haben. Es ist dies eine Grenze irgendwo auf dem Weg zum künstlerischen Endprodukt, keine Ausgrenzung des Elektronischen schlechthin. Vielmehr sind viele Entwürfe im Rechner entstanden, um letztlich jedoch zu einem „gemalten“ Bild zu führen. „Re:set – abstract painting in a digital world“ ist die Gemeinschaftsschau von 16 Künstlerinnen und Künstlern überschrieben, und es darf einen nicht wundern, daß vier von ihnen mit Video arbeiten, was der Malerei ja nur mit einigen definitorischen Anstrengungen zuzuordnen ist.

Die Teilnehmer stammen aus Deutschland, Belgien, Dänemark und den Niederlanden, kuratiert wurde die Ausstellung von Claudia Desgranges und Friedhelm Falke, die auch als Künstler beteiligt sind, und das ganze ist ein Gemeinschaftsprojekt der Kunsthalle Recklinghausen mit dem Kunstmuseum Heidenheim, dem Clemens-Sels-Museum in Neuss und dem Kunstmuseum Celle, wo die Ausstellung bereits zu sehen war. Womit wir endlich beim Thema wären: Was gibt es überhaupt zu sehen?

Global und kränkend phantasielos geantwortet: Viele große bunte Bilder, die in Machart und Anmut natürlich ebenso heterogen sind wie das Teilnehmerfeld. Noch komplizierter wird es, wenn in jedem Oeuvre die spezifische Beziehung zur elektronischen Bildergenerierung mitgedacht werden soll oder gar der Mehrwert für den Betrachter, der durch die handwerkliche Ausführung entsteht. Da hat Friedhelm Falke beispielsweise von schwarzen Balken dominierte Flächenkompositionen auf dem Rechner durchprobiert und seine Favoriten mit Acrylfarbe auf Nesselgrund gemalt; Signe Guttormsen betont die Stofflichkeit ihrer Werke, indem sie beim hölzernen Trägermaterial immer wieder die rechteckige Grundform bricht, Ab van Hanegem wiederum malt vergleichsweise traditionelle, farbenfrohe Flächenkompositionen auf Segeltuch. Ist er damit eher bei Cézannes Stilleben-Apfel, oder war der Bildschirmschoner sein Vorbild? „Eher Apfel als Bildschirmschoner“, stellt Hans-Jürgen Schwalm, der stellvertretende Chef der Kunsthalle, kategorisch fest. Wenngleich van Hagenems farbsatte Bilder auch sehr schöne Bildschirmschoner ergeben würden, unterlegt vielleicht mit einem pfiffigen Animationsprogramm.

Man schreitet voran durch die Hallen des ehemaligen Hochbunkers am Recklinghäuser Bahnhof, trifft auf Michael Jägers stupende Ansammlungen kleinteiliger Dekorationsmuster in knallbunten Clustern auf monochromen Flächen, begegnet Martijn Schuppers’ geheimnisvollen, dreidimensional wirkenden Farboberflächen, die aus dem All oder auch aus dem Elektronenmikroskop stammen könnten, tatsächlich jedoch in einer sehr speziellen Prozedur unter Zuhilfenahme von Lösungsmitteln und weiteren geheimen Chemikalien entstanden. Entfernt lassen sie in ihrer Textur übrigens an manche Flächenbilder von Gerhard Richter denken, der jedoch mit vollkommen anderer Technik zu seinen Resultaten gelangte.

Den wild geschweiften Flachformaten Volker Wevers’ ist eigen, daß sie kraftvolle Titel tragen: „Roundaboard“ heißt eines von ihnen, „Drum’n Bass“ ein anderes, „Wide Car in Germany“ ein drittes. In ihrer schlierigen, plastischen Anmutung erinnern sie an den spontanen Expressionismus des hundertjährigen K.O. Götz, den die Kunstwelt soeben wiederentdeckt (ab März in der Duisburger Küppersmühle), doch sind sie, wie angesagt, Früchte der Auseinandersetzung mit Computergeneriertem.

Einige Plastiken sind in der Ausstellung, und warum sie nicht Plastiken sein sollen sondern Malerei, ist beim besten Willen nicht nachvollziehbar. Aber die stilistischen Zuordnungen von Kunst sind eh immer schwierig und wirken oft auch willkürlich. Ohne Computer-Hintergrund könnte man durchaus auch meinen, in dieser Schau etlichen Vertretern beispielsweise des abstrakten Expressionismus oder der konkreten Malerei begegnet zu sein.

Der Eindruck, den diese Recklinghäuser „postdigitale“ Bilderschau hinterläßt, bleibt verhalten. Natürlich liegt das ganz wesentlich daran, daß die zwölf unterschiedlichen Positionen einander gegenseitig Aufmerksamkeit wegnehmen. Doch köchelt das Gezeigte auch sehr im eigenen Saft, zeigt jenseits des autoreferentiellen Eifers wenig Lust auf Botschaft oder gar Radikalität.

Schließlich gilt, wie stets: Man (und frau!) gehe selber ins Museum und mache sich ein Bild. Denn nur hier gibt es die Originale zu sehen, und die wirken viel stärker als jede Reproduktion.

„re:set“ – Kunsthalle Recklinghausen, Große Perdekamp-Straße 25-27 (am Bahnhof). Sonntag, 9. Februar, bis 13. April 2014. Geöffnet täglich außer Montag 11 bis 18 Uhr. www.kunst-re.de, Eintritt 3 Euro. Der ausführliche Katalog kostet im Museum 12 Euro, im Buchhandel 24,80 Euro.




Afrikanischer Immigrant im mörderischen Dauerstress – „Call Shop“ beim WLT uraufgeführt

Noch ein Stück über afrikanische Immigranten? Wieder die bis zum Überdruss vernommene Klage über das Unrecht in der Welt und die Ignoranz der reichen Europäer?

Die Ankündigung des Stückes „Call Shop“ von Jubril Sulaimon, das jetzt beim Westfälischen Landestheater seine Uraufführung erlebte, weckt solche Erwartungen, geht es doch in der Tat um einen afrikanischen Studenten und seine „typischen“ Probleme, die immer deutlicher werden, je länger wir ihm beim Telefonieren zusehen. Doch was Sulaimon als Autor wie auch als Hauptdarsteller erzählt, ist weitaus komplexer als erwartet. Und beschämt, wie könnte es anders sein, all jene, die vorher schon alles ganz genau wussten.

Im Gepäck vieler Menschen aus ärmeren Teilen der Welt, die in den reichen Norden kommen, stecken riesengroß auch die Erwartungen der Daheimgebliebenen. Man rechnet mit Geldüberweisungen, mit Hilfe vor Ort für Nachzügler. Außerdem, das Telefon macht die Erde zum globalen Dorf, erwartet die Verwandtschaft, dass sich die jungen Emigranten weiter um die Probleme zu Hause kümmern, um den kaputten Stromgenerator, um Großmutters Verdauungsprobleme, um die Ziege, die einem Nachbarn angeblich eine Glasscheibe zerstört hat, wofür dieser Schadensersatz haben will. Nicht im geringsten können sich die eigenen Leute vorstellen, dass ihr Sonnyboy Lamidi in Europa ganz andere, riesengroße Probleme hat, dass sein Visum erloschen ist und ihm die Abschiebung droht. Im Call Shop, in dem einige Telefone gar nicht und manche nicht richtig funktionieren, kämpft Lamidi einen aussichtslosen Kampf gegen übermächtige Widerstände. Er muss einem leid tun.

Die andere Figur in diesem Zweipersonenstück ist Damika (Julia Gutjahr), die mit mäßiger Motivation im Call Shop an der Kasse sitzt und für die Dauerklagen des gestressten Dauertelefonierers den entspannten Dialogpartner abgibt. Heirat verhieße Bleiberecht – man spricht über Paare, über alte Europäerinnen und ihre jungen afrikanischen Männer, über subtile Formen der Ausbeutung.

Späterhin verändert sich Damikas Rolle grundlegend, die Maske der Coolness fällt von ihr ab. Sie berichtet, dass ihre osteuropäische Familie sie schon als Kind zur Prostitution zwang, dass sie nach Deutschland floh und keinen Kontakt mehr zu ihren Leuten hält. Das ist ihre Überlebensstrategie, die sie auch Lamidi beschwörend nahelegt: Wenn er in der Fremde überleben will, muss er sich von den Problemen der alten Heimat abnabeln. Aber das ist nicht leicht.

So, wie Christian Scholze es in Castrop-Rauxel inszeniert hat, ist Jubril Sulaimons aufgeregtes, rastloses Einstundenstück eher Statement als Erzählung. Doch sicherlich hätte man auch die Geschichte im Stück stärker betonen können. Denn wenn Damika und Lamidi einander näherkommen und der Call Shop sich als ihrer beider verzweifelter Sehnsuchtsort entpuppt, als kümmerlicher Treffpunkt der fortgejagten, einsamen Kinder, dann ist das eine Liebesgeschichte, wenngleich ohne Happy End. „Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll“, sagt Lamidi gegen Ende des Stücks, „Ich brauche die Stimmen von zu Hause“. Und dann geht er doch.

Seit 1992 lebt und arbeitet der Nigerianer Jubril Sulaimon (Jahrgang 1968) in Deutschland, spielte in Essen, Bochum, Bremen, Wuppertal, Düsseldorf und Hamburg Theater, ist aktuell mit seinem Tanz- und Theaterensemble „Jubril Sulaimon und aipo“ auf Tournee, macht Soloprogramme. Er ist ein Märchenerzähler und ein Komödiant, meistens. Wenn in diesem bedrückenden „Call Shop“ keine Heiterkeit aufkommen konnte, so lag dies sicherlich nicht an ihm.

Die nächsten Termine sind in Essen: 26. u. 27. Februar, 20 Uhr, Einführung 19.30 Uhr. Maschinenhaus Essen. www.maschinenhaus-essen.de, Tel. 0201 / 83 78 424.
Weitere Infos: http://westfaelisches-landestheater.de/repertoire/++/produktion_id/400/

(Der Text ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen)




Programm vorgestellt: Ruhrfestspiele 2014 entdecken die Inselreiche

Shakespeares „Sturm“ wird die Ruhrfestspiele 2014 eröffnen, Pirandellos „Heinrich IV“, Sean O’Caseys „Purpurstaub“ und Becketts „Warten auf Godot“ werden auf der Bühne des Großen Hauses folgen. Auch andere Spielstätten wie das Kleine Theater im Festspielhaus, das Theater Marl oder das Theaterzelt werden Leben zeigen. Intendant Frank Hoffmann hat den Spielplan der diesjährigen Ruhrfestspiele bekanntgegeben.

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Szene aus Shakespeares „Sturm“, mit dem die Ruhrfestspiele in diesem Jahr eröffnet werden (Foto: Andreas Pohlmann/Ruhrfestspiele)

„Inselreiche. Land in Sicht – Entdeckungen“ lautet das diesjährige Motto, wie wir jetzt wissen, und da ist ein Eröffnungsstück wie „Der Sturm“ natürlich naheliegend, bläst der Namentliche doch in Shakespeares spätem Meisterwerk eine illustre Gesellschaft auf eine unbewohnte Insel, wo sie sich sozial neu sortieren muß und das auch recht lustvoll tut. In Gisli Örn Gardarssons Einrichtung für Ruhrfestspiele und Residenztheater München allerdings ist die urwüchsige Vegetation des Eilands einem gefängnishaften Gebilde aus Gitterstäben gewichen, wie erste Probenvideos zeigen. Nun gut, es gibt ja auch Gefängnisinseln, man bleibt gespannt, wohin die Irrfahrt ging. Jedenfalls spielt Manfred Zapatka den Prospero.

Irische Kaltgetränke in der frühen Pause

„Inselreiche“ ist natürlich ein Allerweltsmotiv mit universaler Tauglichkeit. Und wenn die Stoffe es nicht spontan hergeben, dann muß wenigstens der Autor von einer Insel stammen, einer britischen oder der irischen bevorzugt. An solchen war im Heer der Stückeschreiber bekanntlich nie ein Mangel, und auch in Recklinghausen finden sie sich, wenn man einmal so sagen darf, reichlich ein: Samuel Beckett of course, von dem neben „Warten auf Godot“ ein mit Wolfram Koch und Ulrich Matthes exzellent besetztes „Endspiel“ (Regie: Jan Bosse) ebenso zu sehen sein wird wie der extrem kompakte Zweiteiler „Eh Joe/I’ll Go On“, in dem ein Sterbender mit Namen Malone Abschied von Muttern und der Welt nimmt. Erste Pause ist nach 29 Minuten, Intendant Hoffmann verspricht für die Pause die Bereitstellung irischer Kaltgetränke. „Eh Joe…“ ist ein Gastspiel des Gate Theatres Dublin mit Barry McGovern und anderen.

Weitere Autoren von westlichen Inselreichen sind Owen Mc Cafferty mit „Quietly“, Brian Friel mit „Molly Sweeney“, Harold Pinter mit „Verrat“, James Joyce mit „Penelope“.

Angesichts der Fülle von höchst passablen Theaterproduktionen könnte man sich sowieso auf einer Insel der Seligen wähnen. Doch da geht es dem Publikum deutlich besser als dem Personal auf der Bühne, das sich hin und wieder intensiv mit den Unerfreulichkeiten dieser Welt beschäftigen muß, mit Gewalt und Terror zumal. So erzählt Owen McCaffertys Stück „Quietly“ von der Begegnung eines Attentäters mit einem Überlebenden, der bei dem Attentat einen Angehörigen verlor. Und in Dennis Kellys „Waisen“ entpuppt sich ein desolates Familienmitglied als übler Rassist, der einen Moslem gefangenhält und foltert. Das Stück steht übrigens auch in Dortmund auf dem Spielplan, wo es oben im Harenberg Citycenter gezeigt wird, von wo aus man mit großer Geste auf die Nordstadt zeigen kann, wo es Probleme dieser Art (vermeintlich) ganz bestimmt gibt. Übrigens führt bei der Produktion des Hamburger St. Pauli Theaters der Altmeister Wilfried Minks Regie, und auf der Bühne stehen Uwe Bohm, Judith Rosmair und Johann von Bülow.

Prominente Namen zuhauf

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„Das letzte Band“ in Recklinghausen war eine seiner letzten Rollen. Ein Themenabend mit Meret und Ben Becker erinnert an den großen Otto Sander (Foto: Momme Röhrbein/Ruhrfestspiele)

Bekannten Künstlern wie Hannelore Elsner, Katja Riemann, Thomas Thieme oder auch Sophie Rois traut man zu, daß sie mit Lesungen das Große Haus füllen werden. Im Theaterzelt gibt sich die Nomenklatura des deutschen Comedy- und Kabarettwesens – wer kann das immer so genau unterscheiden – ein Stelldichein, von Tina Teubner über Ingo Oschmann und Georg Ringswandl bis Wigald Boning. Meret Becker singt Lieder in Begleitung von Buddy Sacher, Jasmin Tabatabai tut Gleiches in Begleitung des Quartetts David Klein. Es gibt Tanz, Jazz, Zirkus und Artistik, Straßenkunst (was nichts Schlechtes ist!) unter der Überschrift „Fringe“ für ein jüngeres Publikum – 192 Aufführungen, 78 Produktionen, 20 Koproduktionen, wie wir dem Waschzettel entnehmen können.

Unmöglich ist es, alles aufzuzählen. Ab Donnerstag, 23. Januar, findet sich das komplette Programm auch im Netz. Besondere Erwähnung muss auf jeden Fall aber noch der Bochumer Komponist Stefan Heucke finden. Er hat „Iokaste“ komponiert, ein Musikdrama nach Motiven von Homer und Sophokles, das mit einer einzigen Person auskommt, die alle Personen der Tragödie spielt resp. singt. „Sie werden große Oper erleben“, kündigt Heucke freudig an.

Nach Zeiten der Irritation ist auch die Recklinghäuser Kunsthalle wider mit von der Partie. In dem von Ferdinand Ullrich geleiteten Haus ist Kunst aus Island zu sehen, die nicht Vulkane noch Bankenkrisen ausschließt, wie man hört.

Also alles paletti? Eigentlich schon, in den Jahren seiner Intendanz hat Frank Hoffmann die Ruhrfestspiele perfektioniert, hat sie zu einer ersten Adresse für deutsches Theater und darüber hinaus ganz generell für deutsche und internationale Bühnenkunst gemacht. Vielleicht täte dem Programm etwas mehr Reibung, Provokation, Polarisierung gut, doch dürfte sich solches nicht in Mätzchen erschöpfen. Wie auch immer. Die Ruhrfestspiele geben auch in diesem Jahr wieder einen guten Grund, sich auf den Mai zu freuen.

www.ruhrfestspiele.de

 




Mit Farbe fabulieren: Werkschau von Otmar Alt auf Schloss Cappenberg

„Ach, da würd’ ich auch mal ganz gerne“, hat er sich oft gedacht, wenn er auf Schloss Cappenberg eine Ausstellung von Kollegen besuchte. Da würde er auch gerne selbst einmal ausstellen: Otmar Alt, der Künstler mit den bunten Farben, den man in seiner scheinbaren Verspieltheit so schnell zu begreifen glaubt. Jetzt hat es geklappt. Mit einem starken Gewicht auf Arbeiten der letzten Jahre zeigt der Kreis Unna im Museum des Schlosses eine breit angelegte Werkschau Otmar Alts unter dem Titel „Rückblick und Ausblick“.

Dem Rückblick auf das Frühwerk des 1940 in Wernigerode im Harz Geborenen, dessen Oeuvre seit 1996 in der Hammer Otmar-Alt-Stiftung gepflegt wird, räumt die Ausstellung relativ wenig Platz ein. Erste Bilder von ihm huldigen Mitte der 60er Jahre dem Informellen, gleichförmig Strukturhaften. Früh jedoch findet er zu eigenen Formen des Figurativen, doch seine Motive bleiben jenseits ihrer fröhlichen Ausstrahlung assoziativ verschlüsselt und rätselhaft.

(Bild: Otmar Alt Stiftung/Katalog)

(Bild: Otmar-Alt-Stiftung/Katalog)

Und der Ausblick? Natürlich weiß auch ein Otmar Alt mit seinen 73 Jahren, dass seine Arbeit irgendwann ihr Ende haben wird. Doch nennt er sich selbst einen „fabulierenden, positiven Menschen“, sieht die Kunst als „Botschaft und Abenteuer“ und lässt sich deshalb eben nicht zu bequemer Alterstrübnis verleiten.

Eine gewisse Radikalität des Spätwerks ist allerdings durchaus feststellbar, die Farbe Schwarz hat mehr Gewicht bekommen, nicht mehr nur schwarze Striche dienen der Strukturierung, auch schwarze Flächen hielten Einzug in die jüngsten Bilder. Bleifenster mit ihren starken Konturierungen durch Maßwerk und Bleifassungen hätten ihn dazu inspiriert, sagt der Künstler, doch sei dies lediglich „das Vokabular von Otmar Alt in einem neuen Kostüm“. Gleiches gilt für die wachsende Neigung, die Bilder stark weißgründig zu halten, die Motive gleichsam auf der Leinwand stehen oder auch schweben zu lassen.

Die Cappenberger Ausstellung zeigt einen geradezu unerwartet tiefgründigen, vielschichtigen Künstler und wird vor allem jene frappieren, die Otmar Alt längst schon in die Schublade derer wegsortiert hatten, die mit gefälligen Entwürfen lediglich den Massengeschmack zu treffen suchen und damit gutes Geld verdienen wollen. Gewiss hat er viele serielle Werke in Glas und Porzellan, aber auch in Bronze geschaffen, und vielleicht war sogar mal ein „Weihnachtsteller“ dabei. Doch zu dieser Art der „Massenfabrikation“ steht er: „Die 30 Jahre Porzellanzeit bei Rosenthal möchte ich nicht missen“. Besonders faszinierte ihn die Zusammenarbeit mit den Handwerkern, mit den Glasbläsern zumal, die seine technisch komplizierten Entwürfe realisierten.

(Bild: Otmar Alt Stiftung/Katalog)

(Bild: Otmar-Alt-Stiftung/Katalog)

Wenn er die Wirksamkeit eines Bildes überprüfen will, erzählt Otmar Alt, geht er mit ihm auf die Wanderschaft durch Atelier und Wohnung, betrachtet es in verschiedenen Umgebungen und fragt sich: Hält das Bild? Doch auch seine Arbeiten selbst laden zur Wanderschaft ein: „In den Bildern, die ich male, kann man topographisch wandern“, sagt er. Und schließlich auch, Stichwort Wanderschaft, lassen Museumsmenschen seine Bilder wandern, wenn sie sie aufhängen: „Es ist wahnsinnig aufregend, was die Leute aus deinen Sachen machen“, sagt der Künstler. Und schaut anerkennend zu Sigrid Zielke und Thomas Hengstenberg vom Fachbereich Kultur des Kreises Unna hinüber, die diese Cappenberger Ausstellung sehr zu seiner Zufriedenheit ausgerichtet haben.

Künstler mit Humor, so scheint es, sind selten geworden in unserer Zeit, doch Otmar Alt ist so einer. In besonderem Maße zeigen dies seine knubbeligen Bronzen. Dabei fehlt ihnen das wichtigste Stilmerkmal, nämlich die bunte Farbe, wenn man einmal vom sinnfälligen Wechsel zwischen Politur und Patinierung absieht. „Das ist mein Fußpilz“, lacht der Künstler, und weist auf eine in der Tat pilzförmige Plastik, der zwei ausgestreckte Füßchen offenbar größere Standsicherheit verleihen. Und dann dreht er den Pilzkopf so, wie es ihm am besten gefällt.

„Otmar Alt – Rückblick und Ausblick“ Museum Schloss Cappenberg, bis 23 März 2014. Geöffnet Di-So 10-17 Uhr, öffentliche Führungen So 11.30 Uhr und 14.30 Uhr. Eintritt 4 Euro.

Zu der Ausstellung wird ein Museumspädagogisches Begleitprogramm mit den Themenblöcken „Karneval der Tiere“ (1.-6. Schuljahr) und „Phantastische Geschöpfe – Balanceakte mit Formen und Farben“ (7.-11. Schuljahr) angeboten. Weitere Informationen Tel. 0251 664758 und 0251 7625919