Kollektiv ohne Erbarmen: Der MiR Dance Company gelingt in Gelsenkirchen ein eindrucksvoller Einstand

Die MiR Dance Company tanzt „Le Sacre du Printemps“ in der Fassung von Uri Ivgi und Johan Greben. Die Choreographen interessieren sich dabei vor allem für gruppendynamische Prozesse in einer scheinbar ausweglosen Situation (Foto: Bettina Stöß)

Von einer archaischen, vor-zivilisatorischen Gesellschaft ist zumeist die Rede, wenn es um Igor Strawinskys Ballettmusik „Le Sacre du Printemps“ geht. Dieses Frühlingsopfer ist ein Fest heidnischer russischer Stämme: ein barbarisches Ritual, das ein Menschenleben fordert, um die Natur gnädig zu stimmen.

Nach Vaslav Nijinsky, Choreograph der im Tumult endenden Uraufführung 1913 in Paris, inspirierte Strawinskys explosiv rhythmische Musik viele Künstler zu immer neuen, teils Maßstäbe setzenden Fassungen: Mary Wigman (1957), Maurice Béjart (1959) und Pina Bausch (1975) sind nur einige von ihnen. In der Gegenwart versuchten sich Sasha Waltz (2013) und Mario Schröder (2018) an dem nur halbstündigen, aber schwergewichtigen Ballett-Dinosaurier.

Im Gelsenkirchener Musiktheater ist das „Sacre“ jetzt im postzivilisatorischen Gewand zu sehen. Das israelisch-niederländische Choreographenduo Uri Ivgi und Johan Greben sperrt die Natur aus, die Tänzer dafür aber in einen düsteren Bunker ein. Vergitterte Luken in Bodennähe verweisen auf unterirdische Kerker. In der Rückwand klafft ein großer Riss, als habe das Gebäude unter Beschuss gestanden. Dahinter zeigt sich keine Welt, sondern nichts als ein paar lose Kabel, Rauch und Dunkelheit (Bühne: Karol Dutczak). Claude Debussys spöttisches Bonmot vom „Massacre du Printemps“ bekommt hier eine neue Bedeutung.

Die Tänzerinnen und Tänzer der MiR Dance Company demonstrieren im Sacre ekstatische Hingabe. (Foto: Bettina Stöß)

Das liegt auch an der MiR Dance Company, der mit diesem Strawinsky-Abend ein höchst eindrucksvoller Einstand gelingt. Gelsenkirchens neuer Ballettchef Giuseppe Spota hat eine Gruppe von Tänzern formiert, die starke individuelle Qualitäten haben, aber auch im Kollektiv fantastisch funktionieren. Im „Sacre“ verschmelzen sie zu einer Masse Mensch, die das Fürchten lehrt. Sie rollen zu Haufen übereinander, branden in verzweifelten Fluchtversuchen die Wände hoch wie das Meer an den Klippen.

Endzeitstimmung macht sich breit. Die Gruppe sucht Sicherheit im Ritual, ist in Wahrheit aber orientierungslos und panisch. Immer wieder sieht sich der Einzelne plötzlich einem feindseligen Kollektiv gegenüber. Da werden Schultern und Ellbogen ausgefahren, da werden Menschen am Hals gepackt, da wird dem Individuum kein Platz gegönnt.

Das Opfer ist bei Ivgi/Greben keine Frau, sondern ein Mann. Zu Tode tanzt sich in dieser Fassung niemand. Gleichwohl kommt es zu einem erbarmungslosen Showdown. Unterstützt von der Neuen Philharmonie Westfalen, die sich unter der Leitung von Giuliano Betta sehr ehrbar durch diesen Hexenkessel komplexer Rhythmen schlägt, begeistert die MiR Dance Company durch ekstatische Hingabe und eine nachgerade gewaltbereit wirkende Körpersprache, die der absichtsvollen Rohheit der Partitur in nichts nachsteht.

Streng ritualisiert sind die Hochzeitsrituale in Strawinskys „Les Noces“. Die MiR Dance Company tanzt eine Choreographie von Mario Bigonzetti. (Foto: Bettina Stöß)

Im ersten Stück des Abends hingegen halten die Rituale der Enthemmung noch Stand. Strawinsky beschreibt in „Les Noces“ abstrakte Hochzeitszeremonien, untermalt von vier Klavieren, vier Gesangssolisten, einem Chor und viel Schlagwerk. Mario Bigonzetti zeichnet in seiner Choreographie eindringlich scharfe Bilder von der Beziehung der Geschlechter. Ein langer Tisch oder Laufsteg trennt die Sphäre der Männer von der der Frauen. Metallgestelle, die wie niedrige Hocker mit hoher Rückenlehne aussehen, engen die Körper ein (Bühne: Fabrizio Montecchi). Die MiR Dance Company zeigt einerseits formelhafte Erstarrung und Unterdrückung, andererseits Verlangen und feurige Leidenschaft.

(Informationen und Termine: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2019-20/les-noces-sacre/)




Dortmunder Sirenengesänge: Das Konzerthaus installiert mit der Reihe „Curating Artist“ ein kleines Festival im Spielplan

Sergei Babayan war der erste „Curating artist“ im Konzerthaus Dortmund. (Foto: Petra Coddington)

Diese Einladung dürfte in den Ohren von Musikern wie Sirenengesang klingen: „Komm zu uns, bring deine Freunde mit und spiele, was immer dir gefällt!“ Auf solche Weise versucht Dortmunds Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech, Künstler für seine neue Reihe „Curating artists“ zu gewinnen.

Als Mini-Intendant dieses kleinen Festivals darf der gestaltende Künstler selbst bestimmen, was er wann spielt – und mit wem. Das ist durchaus eine Verlockung im internationalen Konzertbetrieb, der sich eher selten durch Freiräume und Experimentierfreude auszeichnet.

Wenn einer so berühmte Freunde hat wie Sergei Babayan, ist der Festivalcharakter von vorneherein garantiert. Der gebürtige Armenier gilt als einer der größten Pianisten unserer Zeit, was aufgrund seiner Biographie aber eher in den USA bekannt ist als in Europa. Weggefährten wie Martha Argerich, Mischa Maisky, Valery Gergiev und sein Schüler Daniil Trifonov halten indessen große Stücke auf ihn. Sie alle folgten dem Ruf nach Dortmund, um mit Babayan zu konzertieren.

Die gestaffelte Aufstellung der Konzertflügel gestattete den beiden Pianisten räumliche Nähe (Foto: Petra Coddington)

Dem Auftakt mit Martha Argerich folgte ein Abend mit Babayans einstigem Schüler Daniil Trifonov, der längst weltweit große Konzertsäle füllt. Musik für zwei Klaviere stand folglich auf dem Programm, zum Teil mit exzellenter Begleitung durch das Mahler Chamber Orchestra. Die gestaffelte Bühnenaufstellung der Flügel, die gewissermaßen eine Riesen-Klaviatur mit 176 Tasten schafft, hat auch den Effekt, dass Trifonov und Babayan beinahe nebeneinander sitzen statt weit voneinander entfernt.

Das erleichtert das Zusammenspiel, das bei diesen beiden Pianisten ohne einen einzigen Blickkontakt funktioniert. Mag Robert Schumanns Andante und Variationen für zwei Klaviere B-Dur op. 46 zuweilen für den Hausgebrauch komponiert scheinen, so rücken die beiden Interpreten das Stück mit glücklicher Hand in die Nähe der anspruchsvollen Symphonischen Etüden.

Daniil Trifonov, einst Schüler von Sergei Babayan, zählt heute zu den gefragtesten Pianisten der Welt (Foto: Petra Coddington)

Ihre technische Überlegenheit steht auch in den folgenden Konzerten mit Orchester nicht zur Debatte, die Dank einiger Handzeichen der Pianisten gut ohne Dirigenten auskommen. Bestenfalls gäbe es in Mozarts Konzert Nr. 10 Es-Dur KV 365 Stilfragen zu erörtern, denn Trifonov und Babayan setzen mehr auf ihre ungeheuer ästhetisierte Anschlagskultur als auf Prägnanz, wie man sie aus der historischen Aufführungspraxis kennt. Gleichwohl ergibt sich im Dialog mit dem Mahler Chamber Orchestra ein höchst lebendiges Musizieren, das in Johann Sebastian Bachs Konzert c-Moll BWV 1062 bei aller barocken Strenge zu einem regelrechten Groove führt.

Den wahren Zenit erreicht der Abend aber nach der Pause. Es dürfte derzeit extrem schwer fallen, ja vielleicht schier unmöglich sein, bessere Rachmaninow-Interpreten zu finden als Sergei Babayan und Daniil Trifonov. Sie steigern die Suiten Nr. 1 g-moll op. 5 und Nr. 2 C-Dur op. 17 zu einem pianistischen Rausch der Extraklasse. Diese ist keineswegs durch wirbelnde Finger, glitzernde Tonkaskaden und nachgerade frenetische Steigerungen definiert, sondern durch den Grundton einer Schwermut und Leidenschaft, der sich auch in den stürmischsten Akkordgewittern nie verliert. Stets bleibt ein Element des Sanglichen: eine Innerlichkeit, die Virtuosität zur Nebensache macht.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Fünf gute Feen und ein Pferd: Ballettchef Van Cauwenbergh zeigt im Aalto-Theater ein Dornröschen mit viel Zuckerguss

Yanelis Rodriguez als Prinzessin Aurora in „Dornröschen“ von Ben Van Cauwenbergh (Foto: Hans Gerritsen)

Da steht sie, rosahell und lächelnd, auf der Spitze ihres rechten Fußes. Das linke Bein waagerecht weg gestreckt, die Arme über den Kopf erhoben. Vier Kavaliere reichen ihr nacheinander eine Hand, drehen sie einmal um die eigene Achse, lassen dann wieder los.

Aber eine Primaballerina wird nicht umsonst Primaballerina. Kein zitternder Muskel, nicht die leiseste Bewegung im Knöchel verrät die Anstrengung, die es Yanelis Rodriguez kosten muss, der Schwerkraft zu trotzen und das gesamte Körpergewicht auf der Zehenspitze zu halten. Am Essener Aalto-Theater tanzt die Kubanerin jetzt die Hauptrolle in Tschaikowskys Ballettklassiker „Dornröschen“, mit dem Ballettchef Ben Van Cauwenbergh in einer zweieinhalbstündigen Fassung nach Marius Petipa „sein Publikum verwöhnen“ möchte. So hatte es der Belgier bereits in der Pressekonferenz zur aktuellen Spielzeit angekündigt.

Yanelis Rodriguez (Prinzessin Aurora) und Artem Sorochan (Prinz Désiré) in „Dornröschen“ (Foto: Hans Gerritsen)

Was er darunter versteht, war bei der Premiere am letzten Samstag zu erleben: eine Flut glitzernder Tutus und prachtvoller Kostüme, eine zum Applaus einladende Nummernfolge von Tänzen, funkelnde Kronleuchter und große Vorhänge sowie Ballettmädchen, die bogenförmige Festgirlanden schwenken. Das Bühnen-Halbrund von Dorin Gal wird dominiert von Videoprojektionen (Valeria Lampadova), die surreale Landschaften des deutschen Malers Hans-Werner Sahm zitieren: Fantasy-Welten, die einem Wolkenkuckucksheim zwischen Neuschwanstein und Disneyland entsprungen scheinen.

Auch das aufgebotene Personal ist erheblich. Es tanzen sechs Feen, vier Kavaliere, zwei Liebespaare, zwei blaue Vögel, ein Frosch, ein Koch, eine Dienerin, zwei Katzen, König und Königin und die gesamte Jagdgesellschaft, die ein paar echte Vierbeiner mit sich führt (vier Hunde und ein Pferd). Dazu die Schülerinnen des Gymnasiums Essen-Werden, von denen Laura Kubicko als junges Dornröschen sogar mit einem kleinen Solo glänzt.

Yuki Kishimoto und Davit Jeyranyan im Pas de deux „Blauer Vogel“ (Foto: Hans Gerritsen)

Auf das tänzerische Können seiner Compagnie, vor allem der Solistinnen und Solisten, kann Essens Ballettchef sich selbstredend verlassen. Im berühmten Pas de deux „Blauer Vogel“ faszinieren Davit Jeyranyan durch athletische Sprungkraft und Yuki Kishimoto durch virtuose Anmut. Adeline Pastor entwickelt als böse Fee Carabosse eine ausdrucksstarke Körpersprache. Flankiert von den fünf guten Feen, den vier Kavalieren und den tierischen Märchenfiguren, brillieren Yanelis Rodriguez in der Hauptrolle und Artem Sorochan als Prinz Désiré.

Von einer psychologischen Tiefendimension, wie sie fast allen Märchen eigen ist, will diese Produktion indes nichts wissen. Statt einen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele zu riskieren, statt von den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens und dem damit verbundenen Hereinbrechen der Sexualität zu erzählen, konzentriert sich Cauwenberghs hochglänzender Bilderreigen auf den Oberflächenlack. Indessen ist der Orchesterklang der Essener Philharmoniker schwärmerisch bis imperial, aber erholsam schmalzfrei. Nach der musikalisch großartig gelungenen „Pique Dame“ punkten die Musikerinnen und Musiker, hier unter der Leitung von Andrea Sanguineti, erneut mit noblen Tschaikowsky-Qualitäten.

Da dauert es nicht lange, bis eine Sitznachbarin die Melodie des berühmten Dornröschen-Walzers mitsummt. Auf dem mit Zuckerfee-Süße übergossenen Gipfel der Gefälligkeiten verfällt das Premierenpublikum in ein Entzücken, das sich beim Auftritt der vier Hunde und des Pferdes seufzend Bahn bricht. Haaaaaach, ist das schön.

Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.

Informationen: https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/dornroeschen/

Tickets Tel. 0201/ 81 22 200.




Wenn Molly Bloom Konsonanten knattert: Das „Now!“-Festival schmückte sich mit einer Uraufführung von Rebecca Saunders

Das 1990 gegründete Ensemble Musikfabrik zählt zu den führenden Klangkörpern der zeitgenössischen Musik (Foto: Katharina Dubno)

Prozesse des Übergangs rückte das am Wochenende zu Ende gegangene Essener Festival „Now!“ für Neue Musik in den Fokus. Exemplarisch spiegelte sich das diesjährige Motto „Transit“ in den monumentalen Gurreliedern von Arnold Schönberg: Ein Schlüsselwerk an der Nahtstelle zur Moderne, das aufgrund der verlangten Riesen-Besetzung mit mehr als 400 Interpreten nur selten zur Aufführung gelangt. In der Philharmonie Essen war es in der reduzierten Fassung von Erwin Stein zu erleben, gewissermaßen in einer Taschenversion mit „nur“ rund 100 Musikern und 200 Choristen.

Rebecca Saunders, die im Juni 2019 den Ernst von Siemens Musikpreis entgegen nahm, zählt zu den führenden Komponistinnen unserer Zeit (Foto: Astrid Ackemann)

Von Übergängen und von der Faszination an der Zusammensetzung von Klängen sprach die Komponistin Rebecca Saunders in einer öffentlichen Einführung vor Beginn des 11. Festival-Konzerts. Etwa 100 Jahre nach den Gurreliedern komponierte die in Berlin lebende Britin ein Raumklang-Stück nach dem berühmten Monolog der Molly Bloom aus dem Roman „Ulysses“ von James Joyce. Einen Teil daraus mit dem Titel „Nether“ hat sie jetzt überarbeitet und verlängert. Saunders, im Juni 2019 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis geehrt, beschreibt ihr Werk als ein Lauschen auf die Stimmen im Kopf, als Tiefenbohrung in eine verborgene innere Welt.

Kontinuierlich gesteigerte Erregung

Wie ausdrucksstark sie dabei nicht nur mit den Mitteln der Sprache, sondern auch mit den verschiedenen Klangfarben der Instrumente arbeitet, demonstrierte das in Köln ansässige Ensemble Musikfabrik beim „Now!“-Festival. Von einem mystisch fernen Pianissimo-Beginn ausgehend, steigern die fabelhaften Musikerinnen und Musiker die Erregung kontinuierlich. Dabei wandern die Motive so raffiniert durch die verschiedenen Stimmen, dass selbst das aufmerksame Ohr zuweilen zweifelt, welches Instrument gerade welchen Klang produziert. Wie Janet Fraser (Sopran) den Text der Molly Bloom wispert und haucht, ihn zuweilen singt, dann hinter vorgehaltener Hand erstickt murmelt oder in einem wahren Konsonanten-Gewitter heraus knattert, ist ohnehin ein Ereignis.

Dirigier-Spaß der demokratischen Art

Eine konzertante Aufführung von Stephan Winklers kleinem Musiktheater „Schweres tragend“ für zwei Sänger, fünf Instrumentalisten und Elektronik hatte den Abend eröffnet. Die Geschichte von Gisela aus Schwabing, einer Institution der Münchner Nummernkabarett-Szene, zerfällt dabei in zwei Teile. Im Opernteil findet zwischen Sachika Ito (Sopran) und Daniel Gloger (Countertenor) szenische Interaktion statt. Indessen rutschen die Sänger völlig in den Hintergrund, sobald Thomas Hupfer als „Erzähler“ auftritt. Die Lippen zur Stimme von Stephan Winklers Freund Max Goldt bewegend, die vom Zuspiel-Band kommt, verleiht er der Geschichte einen unerwartet nüchternen Anstrich.

Ein nachgerade unterhaltsames Ende findet der Konzertabend mit dem Stück „Intermezzi“ des griechisch-französischen Komponisten Georges Aperghis. Das liegt nicht nur an den mit Doppeltrichtern ausgestatteten Instrumenten der Blechbläser, die ungewöhnliche Spaltklänge erzeugen, sondern auch an der kommunikativen Situation der im Kreis aufgestellten Musikerinnen und Musiker.

Die beweisen reihum ihre Qualitäten, die auch in das Feld der Komik hinein reichen. Da greift die Flötistin Helen Bledsoe plötzlich zur Gitarre und lispelt dazu mit Kleinmädchen-Stimme. Florentin Ginot unterstreicht sein wildes Kontrabass-Solo durch lautes Hecheln und Keuchen. An dem Klarinettisten Carl Rosman, der in sein Instrument hinein brabbelt wie ein Weltmeister, ist ein veritabler Stimmkünstler verloren gegangen. Mit dem Dirigat wechseln sich die Ensemblemitglieder sowieso ab. Anders als bei Wolfgang Amadeus Mozart ist dieser musikalische Spaß offenbar demokratischer Natur.




Überraschungsei: Das Konzerthaus Dortmund verkauft einen geheim gehaltenen Kammermusikabend als „Joker“

Antoine Tamestit, 1979 in Paris geboren, arbeitet schon lange intensiv mit dem in Den Haag geborenen Masato Suzuki zusammen. (Foto: Petra Coddington)

Wer weiß, wie gut dieses kleine Kammerkonzert besucht gewesen wäre, hätte es nicht die große Geheimniskrämerei im Vorfeld gegeben. So gut wie nichts gab das Konzerthaus Dortmund über diesen Abend der Reihe „Musik für Freaks“ bekannt: nicht die Interpreten, nicht die Werkfolge, nicht einmal das musikalische Genre.

Ob Intendant Raphael von Hoensbroech mit diesem „Joker“-Format tatsächlich das Vertrauen der Besucher testen will, das er an diesem Abend wiederholt lobte, oder ob die Marketingabteilung auf die menschliche Neugier als verkaufsfördernden Faktor setzt, sei dahingestellt.

Konzerthausintendant Raphael von Hoensbroech (rechts) lüftet das „Geheimnis“ um die Interpreten und das Programm. (Foto: Petra Coddington)

Auf Unwägbarkeiten mussten Veranstalter und Publikum sich immerhin einlassen. Wie sich zeigte, war auf beiden Seiten Mut vorhanden. Rund 700 Menschen kauften dem Konzerthaus Dortmund die Katze im Sack ab, wie immer in dieser Konzertreihe bei freier Platzwahl und zum Einheitspreis von 20 Euro.

Der Inhalt des werbeträchtig aufgeblasenen Überraschungseis entpuppte sich als klein, aber fein: Der dem Dortmunder Publikum bestens bekannte Bratschist Antoine Tamestit und der japanische Cembalist Masato Suzuki spielten Werke von Johann Sebastian Bach. Die Künstler gestalteten einen ruhigen, kontemplativen Konzertabend, der zu dem vorausgehenden Rummel wohltuend quer stand.

Drei Sonaten für Viola da Gamba hatten die Künstler im Gepäck, durchbrochen von der Französischen Suite Nr. 5 G-Dur für Clavecin und der eigentlich für Violoncello Solo komponierten Suite Nr. 2 d-Moll. Wie unerschöpflich reich Bachs Komponieren war, rückten Tamestit und Suzuki mit großer Musizierlust in den Vordergrund. Obschon die drei Gambensonaten alle um 1720 entstanden, unterscheiden sie sich deutlich im Charakter. Welten liegen zwischen der mit Fugenkunst gespickten Sonate G-Dur Nr. 1 BWV 1027 und der Sonate Nr. 3 g-Moll BWV 1029, in der die Instrumente ganz ähnlich miteinander wetteifern wie im 3. Brandenburgischen Konzert.

Das Bach-Programm, das Tamestit und Suzuki in Dortmund spielten, haben sie im August 2019 bei Harmonia Mundi aufgenommen (Foto: Petra Coddington)

Tamestit und Suzuki harmonieren als Duo nachgerade perfekt. Ihr intensiver musikalischer Dialog funktioniert oft ohne Blickkontakt, sprüht aber besonders helle Funken, wenn er gelegentlich doch zustande kommt. Tamestit weiß den edlen Ton seiner Stradivari-Viola immer stärker zu entfalten, kann sich klanglich aber auch dezent zurücknehmen, um das Cembalo in den Vordergrund treten zu lassen. Das ist ein Geschenk, denn Masato Suzuki, als Bach-Interpret von den Niederlanden bis nach Japan enorm renommiert, spielt auf seinem zweimanualigen, mit Chinoiserien verzierten Cembalo mit höchster Finger- und Kunstfertigkeit. Da funkeln die Praller und Triller, da fliegen die Sechzehntelketten dahin, da malen Auszierungen zärtliche Schnörkel in den Raum.

Vom tänzerischen Impuls der Musik lassen Tamestit und Suzuki sich immer aufs Neue befeuern. Aber in den langsamen Sätzen, den Sarabanden und Adagios, regieren Ernst und Tiefe: eine Beschaulichkeit, die man einst Muße nannte.

Auch solo können die beiden Musiker vollkommen überzeugen. Die Französische Suite Nr. 5 gestaltet Masato Suzuki mit der spielerischen Freiheit des technisch und intellektuell überlegenen Interpreten. Tamestit lässt nach der Pause keinen Zweifel, wie sehr ihm daran gelegen war, die für Cello geschriebene Solosonate Nr. 2 d-Moll auf der Bratsche zu interpretieren. Unter dem Strich seines Barockbogens entfaltet sich der Klang seines Instruments immer voller und vielfältiger. Eine Überraschung ist das nicht. Ein Genuss fürs Ohr aber unbedingt.

(Informationen zur Konzertreihe „Musik für Freaks“: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/255/)




Mett-Igel statt Haifisch: In Bochum bringen Schauspiel und Symphoniker zum 100. Geburtstag wenig auf die Beine

Figuren aus der Vergangenheit: Jonathan Peachum (Martin Horn), Hauer-Hendrik (Dominik Dos-Reis), Jenny (Friederike Becht), Celia Peachum (Veronika Nickl), Polly (Romy Vreden) und der Kommissar a.D. Braun (Michael Lippold, v.l. Foto: Jörg Brüggemann)

Kinder, wie die Zeit vergeht. Der Haifisch trägt keine Zähne mehr im Gesicht, Mack the Knife ist nur mehr ein Mackie ohne Messer und verlebt sein Altenteil mit Frau Polly im Ruhrgebiet. Gemeinsam mit den Schwiegereltern Peachum hängen sie in Bochum in der Kneipe „Zur Ewigkeit“ ab. Sie warten auf den Beginn eines großen Festes, denn angeblich wird die Schenke 100 Jahre alt. Die Ewigkeit ist eben auch nicht mehr das, was sie mal war.

Mit dieser Kneipen-Kantate für Bettler, Bergleute und Betrunkene, die jetzt im Anneliese Brost Musikforum Premiere hatte, feiern das Bochumer Schauspielhaus und die Bochumer Symphoniker gemeinsam ihren 100. Geburtstag. Diesen bedeutenden Anlass hat es gebraucht, um nach vielen vergeblichen Anläufen endlich zu einer Koproduktion zusammen zu finden. Statt nun mit vereinten Kräften ein künstlerisches Großprojekt zu stemmen und beispielsweise Ibsens „Peer Gynt“ samt der Schauspielmusik von Edvard Grieg aufzuführen, gab man beim Komponisten Moritz Eggert ein neues Stück in Auftrag, das sich als inszenierte Ereignislosigkeit entpuppte.

Als Geschäftsführerin der Firma „Bergmanns Freund“ muss Polly (Romy Vreden) viel telefonieren (Foto: Jörg Brüggemann)

So wird „Ein Fest für Mackie“ zwar unentwegt angekündigt, kommt aber mangels Geld und Personal nicht in die Gänge. Der einst gefürchtete Gangster (Guy Clemens) will nicht von seinem Turm aus Kohle steigen, auf dem er in Bademantel und weißen Socken sitzt, als sei er ein Bruder der TV-Comedyfigur Dittsche. Da keift und wettert Romy Vreden als Polly Peachum ganz vergeblich.

Das Geld ist futsch, die Kneipe pleite und Pollys Firma „Bergmanns Freund“ findet keine Mitarbeiter mehr. Es ist Schicht im Schacht. Trotz virtuoser Betrunkenheits-Akrobatik, die Michael Lippold als Tiger Brown und Martin Horn als Jonathan Peachum auf ihren Barhockern vorführen, ist das von Schauspiel-Chef Johan Simons persönlich inszenierte Stück ungefähr so attraktiv wie der Mett-Igel, den Celia Peachum (Veronika Nickl) an der Bar zubereitet, die Simons und Oliver Kroll vor das Orchester gestellt haben.

Jonathan Peachum (Martin Horn,l.) und Kommissar Braun (Michael Lippold, r.) sind virtuos versoffen (Foto: Jörg Brüggemann)

Schmerzlich wenig reicht diese Anhäufung von Klischees an den Geist und das Genie von Brecht/Weill heran. Immerhin färbt die Vorlage ein wenig auf die Musik ab. Wo Moritz Eggert sich hörbar an berühmte Nummern wie den „Anstatt dass“-Song oder das Dreigroschen-Finale anlehnt, entwickeln die Bochumer Symphoniker unter der Leitung von Steven Sloane einigen Schmiss. Gekonnt auch die böse Ironie, mit der Eggert manche Musical-Süßlichkeit zentimeterdick aufträgt. Die Texte von Martin Becker passen sich hingegen ganz dem Niveau einer Ruhrgebiets-Spelunke an. „Wat is denn dat jetz für ne Scheiße?“, brüllen die Figuren gegen Ende zunehmend entnervt. Das wüssten wir in der Tat auch ganz gerne.

Aber mögen diese versoffenen Gestalten auch trostlos in das Jahr 5000 stieren: Der laue Beifall des Publikums brandet herzlich auf, sobald der Ruhrkohle-Chor das Steigerlied anstimmt. Die Frage, ob ein derart mageres Produktiönchen dem Ruf und der Bedeutung zweier kultureller Flaggschiffe wie dem Bochumer Schauspielhaus und den Bochumer Symphonikern gerecht wird, muss freilich gestellt werden dürfen.

Zwei weitere Aufführungen am 13. Oktober 2019. Karten/Infos:

https://www.schauspielhausbochum.de/de/stuecke/3114/ein-fest-fur-mackie

(Der Bericht ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Brillante Solistin, beirrtes Orchester: Sol Gabetta und die Sächsische Staatskapelle Dresden im Konzerthaus Dortmund

Sol Gabetta wurde als Tochter französisch-russischer Eltern 1981 im argentinischen Villa María geboren (Foto: Petra Coddington)

Die Maske eiserner Konzentration tragen manche Musiker, sobald sie die Konzertbühne betreten. Ganz auf den Augenblick fokussiert, wirken sie dabei wie Hohepriester ihrer Kunst: ernst, nach innen gekehrt, beinahe streng. Nicht so Sol Gabetta. Sobald die in Argentinien geborene Cellistin die Bühne betritt, erfasst ihre lebensbejahende Ausstrahlung den gesamten Saal. Ihr strahlendes Lächeln spricht, bei aller Professionalität, unverstellt von der Freude am Augenblick und an der Musik.

Mit dieser positiven Energie war sie nach neun Jahren endlich wieder im Konzerthaus Dortmund zu erleben, wo sie erstmals 2008 in der Nachwuchsreihe „Junge Wilde“ auftrat. Wie stark Sol Gabetta seither zu souveränem Format gereift ist, zeigte jetzt ihre Rückkehr mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Daniele Gatti. Sie ist als Interpretin klug genug, das Cellokonzert Nr. 1 des Franzosen Camille Saint-Saëns nicht mit romantischer Emphase aufladen zu wollen, sondern einen objektiveren, mehr auf Geist und Feinheit zielenden Ton anzuschlagen.

Sol Gabetta spielt auf einem Cello von Matteo Goffriller aus dem Jahr 1730. (Foto: Petra Coddington)

Dieser Ansatz kommt dem oft nervös vorwärts drängenden, leuchtend lyrischen und zuweilen vertrackt virtuosen Cellokonzert von Saint-Saëns sehr entgegen. Sol Gabetta setzt ihr Vibrato sparsam ein, lässt Töne zuweilen gar ins Aschfahle erblassen. Aber sie zieht lange sangliche Bögen, ernst und innig, alles Süßliche streng meidend. Energisch packt sie in den kaskadenartig herabstürzenden Triolen des Hauptthemas zu. Aber sie kennt auch Traumverlorenheit, wenn sie das zart hingetupfte Menuett der Streicher mit langen Trillerketten begleitet. Die fingerbrecherischen Tücken im Finale bereiten ihr, der brillanten Virtuosin, offenkundiges Vergnügen. Ins Nachtdunkle lässt sie die „Elegie“ von Gabriel Fauré abgleiten, die sie dem begeisterten Publikum als Zugabe gönnt.

Daniele Gatti interpretierte mit der Staatskapelle die monumentale 5. Sinfonie von Gustav Mahler (Foto: Petra Coddington)

Zwiespältig fällt die Bilanz für die Sächsische Staatskapelle Dresden aus, die nach der Pause Gustav Mahlers 5. Sinfonie spielt. Unter der Leitung von Daniele Gatti nimmt der Edelklang des Orchesters zuweilen überraschend imperiale Züge an. Von Zerknirschung, gar von einem „glühend Messer“ ist im Kopfsatz wenig zu spüren: Gattis Mahler ist feierlich groß, oft schönheitstrunken, aber auch unter Dauerspannung, weil der Dirigent zuweilen eigenwillig mit den Tempi verfährt.

Natürlich bewährt sich die Staatskapelle als das tönende Wunderhorn, das Mahlers komplexe Welt – wie manche Karikatur es trefflich darstellt – eindrucksvoll heraus posaunt. Selbstredend ist an der hohen Qualität der Instrumentengruppen nicht zu zweifeln. Indessen lässt ein zu früh ertönender Beckenschlag im zweiten Satz aufhorchen. Er kündet von Irritationen zwischen Dirigent und Orchester, die sich im weiteren Verlauf dieser Monstremusik steigern.

Gatti nimmt das berühmte Adagietto, das leider viel zu oft verkitscht wurde, in so zügigem Tempo, dass niemand in Versuchung geraten kann, in Sentiment zu baden. Im Gestrüpp des gewaltigen Scherzo, vor allem aber im Finalsatz kommt es dann jedoch zu mancher Konfusion. In den polyphonen Verdichtungen nimmt das Chaos auf eine Weise überhand, die deutlich anzeigt, dass hier mehr schwankt als nur das Tempo. Dass etwas insgesamt nicht mehr rund läuft. Die traditionsreiche Staatskapelle hinterlässt, im doppelten Wortsinn, an diesem Abend keinen durchweg glücklichen Eindruck.

(Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Finsteres Kolonialabenteuer: Ruhrtriennale zeigt szenische Umsetzung von Éric Vuillards Erzählung „Congo“

Faustin Linyekula, Pasco Losanganya und Daddy Moanda Kamono (v.l.) in „Congo“ (Foto: Agathe Poupeney)

An altehrwürdige, unantastbare historische Gegebenheiten glaubt der französische Autor Éric Vuillard nicht. In seinen Romanen und Erzählungen versucht der Schriftsteller, der 2017 den Prix Goncourt erhielt, an starren Bildern zu rütteln, schreibend „die Girlanden vom Baum der Geschichte zu schütteln“, wie er es nennt. Gerne begibt er sich dabei auf die Spuren des Bösen: eigenwillig, bildreich, große historische Momente neu erzählend.

Die jüngste Deutsche Erstaufführung bei der Ruhrtriennale basiert auf Vuillards Erzählung „Congo“. Die Schilderung der blutigen Kolonialvergangenheit des Landes im Herzen Afrikas faszinierte den kongolesischen Tänzer, Choreographen und Regisseur Faustin Linyekula so stark, dass er ein gleichnamiges Stück schuf. Weitgehend im Halbdunkel, zerrissen von gelegentlichen Stroboskopblitzen, setzt er den Text auf der Bühne in der Gebläsehalle des Landschaftsparks Duisburg-Nord in Szene.

Als Mischform zwischen Schauspiel, Tanz und Performance kündigt die Triennale diese Produktion an. Sie entpuppt sich indes als inszenierte Lesung. Der aus Kinshasa stammende Schauspieler Daddy Moanda Kamono spricht fast drei Viertel des Textes, der eins zu eins aus dem Buch übernommen ist. Insgesamt gibt es drei Darsteller, zwischen denen eine merkliche Asymmetrie entsteht. Linyekulas eigener tänzerischer Anteil und der Gesangspart von Pasco Losanganya wirken gegenüber dem emotionsgeladenen Monolog wie eine Arabeske, wie eine bloße Dekoration des Textes, von dessen Eindringlichkeit sich Linyekula offenbar schwer lösen kann.

Geschichten im Halbdunkel: Pasco Losanganya, Faustin Linyekula und Daddy Moanda Kamono (v.l., Foto: Agathe Poupeney)

Das ist verständlich, bedenkt man die nachgerade filmische Detailbesessenheit, mit welcher der Autor die Berliner Kongo-Konferenz von 1884/85 wiederaufleben lässt. Wie 13 Staatschefs das afrikanische Kolonialgebiet unter sich aufteilen, wie das, was sie zwischen Häppchen und Champagner beschließen, zu einem blutigen Kolonialabenteuer mit bizarren Auswüchsen führt, erzählt Daddy Moanda Kamono mit scharfer Lust an der Ironie, aber auch mit wachsender Wut und resignierter Trauer.

Faustin Linyekula, Pasco Losanganya und Daddy Moanda Kamono (v.l.) erinnern an Gewaltexzesse im Dschungel (Foto: Agathe Poupeney)

Zu sehen gibt es in „Congo“ nicht viel. Ein paar Jutesäcke, einige weiße Tücher und ein niedriger Tisch sind die einzigen Requisiten im leeren Bühnenraum, in dem Beleuchtung, Gesang und die auf Kautschukplantagen aufgenommenen Klänge viel Atmosphäre schaffen. Zu lesen gibt es umso mehr, denn wer Französisch nicht mühelos versteht, klebt zwei Stunden mit den Augen an der Übertitelungsanlage.

Vor ausführlich geschilderten Gewaltexzessen muss sich indes niemand fürchten. Zwar verschweigt Vuillard nicht die im Dschungel begangenen Grausamkeiten, aber oft sind es die scharf nachgezeichneten, bis heute wirksamen Mechanismen von Macht und Gier, die fassungslos machen. Wie konnte es dem belgischen König Leopold II gelingen, ein Territorium als Privatbesitz an sich zu reißen, das achtmal größer war als sein eigenes Land? Wie konnten Staatsmänner und Diplomaten Freihandel und Politik nennen, was in Wahrheit skrupellose Ausbeutung und finsterste Unterdrückung war?

Die Stärke des Abends liegt darin, dass er sich keinesfalls in einer zwei Stunden währenden Anklage erschöpft. „Congo“ zeigt die persönlichen Motivationen, Ängste und Schwächen der Konferenzteilnehmer und Befehlsausführer des Kolonialabenteuers. Vor allem aber kündet das Stück von einer tiefen Liebe zu einem Land, das einst Kongo-Léopoldville und später Zaïre hieß, das von Wald und Fluss ebenso geprägt ist wie von der langen Kette von Heimsuchungen, die aktuell bis zum Bürgerkrieg und dem Ebola-Virus reicht.




Abenteuer eines Wundermusikers: Jaromír Weinbergers Oper „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ in Gelsenkirchen

Die Untertanen der Eiskönigin sind von Schwandas Spiel entzückt (Foto: Monika Forster)

Diese Oper ist ein Kuriosum. Ihr Titelheld, Schwanda, ist ein spielfreudiger Dudelsackpfeifer aus einem südböhmischen Dorf. Aber aus seinem Instrument klingt bis zum Schluss nicht ein einziger Ton. Vielmehr zieht das Orchester alle Register, wenn der sagenumwobene tschechische Wundermusiker auf der Bühne die Backen aufbläst. Statt brummender Borduntöne und durchdringender Pfeifen dringt Symphonisches ans Ohr: folkloristische Melodien und feurige Tanzrhythmen, dicht verwoben in die üppige, teilweise expressiv aufgeraute Sprache der Spätromantik.

Der Räuber Babinsky (Uwe Stickert, Mitte) drängt sich zwischen Schwanda (Piotr Prochera, l.) und dessen junge Frau Dorota (Ilia Papandreou. Foto: Monika Forster)

Mit „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ gelang dem jüdisch-tschechischen Komponisten Jaromír Weinberger 1927 ein Welterfolg. In 17 Sprachen wurde das Werk des Schülers von Max Reger übersetzt. Mehr als 2000 Aufführungen im In- und Ausland erlebte der Zweiakter bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten, die Weinbergers Karriere beendete. Versuche, diese märchenhafte Volksoper wiederzubeleben, gab es in Augsburg (2007), Dresden (2012) und Gießen (2018).

Im Gelsenkirchener Musiktheater erhielt die einst höchst populäre Oper jetzt heftigen Premierenbeifall. Dieser wurde freilich auch durch ein Finale forciert, das den im Ruhrgebiet gerne kultivierten Lokalpatriotismus knüppeldick auftrug – ob mit ironischer Absicht oder nicht, blieb ärgerlich unentschieden.

Babinsky (Uwe Stickert, r.) überredet Schwanda, seine Frau Dorota (Ilia Papandreou) zu verlassen und als Künstler Karriere zu machen. (Foto: Monika Forster)

Doch bis es so weit kommt, findet der niederländische Regisseur und Bühnenbildner Michiel Dijkema spektakuläre optische Entsprechungen für Weinbergers farbige und lebenspralle Musik. In diese Partitur hat der 31-Jährige Komponist solche Mengen verschiedener musikalischer Stile gegossen, dass sie schier aus allen Nähten platzt. Dijkema setzt sie in Bilder um, die dem Publikum manch erstauntes Raunen, ja sogar spontanen Szenenapplaus entlocken. Der Räuber Babinsky überredet Schwanda zu einer abenteuerlichen Reise, die ihn vom bäuerlichen Zuhause ins Reich der Eiskönigin und schließlich in die Hölle führt. In Gelsenkirchen entwickelt sie sich zu einem Farb- und Kostümrausch sondergleichen.

Mit seiner an phantastischen Stoffen geübten Hand entwirft der Niederländer märchenhafte, großartige Tableaus. Er lässt den Chor, als Untertanen der Eiskönigin in leuchtend blaue Kostüme gekleidet, so lange in erstarrter Pose verharren, bis Schwandas Dudelsackspiel das Menschenmeer in Bewegung bringt. Zur zauberischen Atmosphäre trägt auch die Beleuchtung von Thomas Ratzinger bei, der die aufwendig und mit größter Liebe zum Detail gestalteten Röcke, Mäntel, Häubchen und Zylinder auf schneebedecktem Grund zum Strahlen bringt (Kostüme: Jula Reindell).

Platzmangel in der Hölle: Schwanda (Piotr Prochera, vorne rechts) wird für eine freche Lüge bestraft (Foto: Monika Forster)

Über die meterhohe Pyramide aus dicht gedrängten Teufeln und über die große Höllenfuge, bei der Satan persönlich versucht, dem Dudelsack ein paar brauchbare Töne zu entlocken, sei hier nicht allzu viel verraten. Für Auge und Ohr gibt es reichlich zu tun, bis Schwanda mit Hilfe des Räubers Babinsky den Weg zurück zu seiner geliebten Frau Dorota findet. Wo sich das Stück an Motive aus Faust, Orpheus und Robin Hood anlehnt, mag ein jeder für sich herausfinden.

In der nahezu hypertrophen, mehr als zehnminütigen Ouvertüre zeigt die Neue Philharmonie Westfalen zunächst einige Anlaufschwierigkeiten. Aus dem dichten Geflecht der Mittelstimmen klingt manches zunächst behäbig, ja unbeholfen. Aber unter der Leitung von Dirigent Giuliano Betta entwickeln die Musiker zunehmend Schwung und Kolorit. Mit immer größerem Nachdruck machen sie sich zu Anwälten der Partitur, die über alle Wagner-, Puccini- und Janacek-Anklänge hinaus Eigenständiges zu bieten hat und immer wieder mit Überraschungen aufwartet. Mit Beginn der Höllenszene ist dann eine Expressivität erreicht, die durchaus spüren lässt, dass diese Oper zwei Jahre nach der Uraufführung von Alban Bergs „Wozzeck“ entstand. Das akustische Pandämonium, das Weinberger hier auf das Publikum loslässt, wird zu einem teuflischen Hörvergnügen.

Der Teufel (Joachim G. Maaß) versucht, Schwandas Dudelsack ein paar brauchbare Töne zu entlocken (Foto. Monika Forster)

Die Partie des Räubers Babinsky, der mehr als nur ein wohlgefälliges Auge auf Schwandas junge Frau Dorota wirft, ist mit Uwe Stickert überragend gut besetzt. Es ist ein Genuss, wie lyrisch und doch kraftvoll sein Tenor über das Orchester hinweg strahlt – bei größter Natürlichkeit des Ausdrucks. Ebenfalls als Gast ist die Griechin Ilia Papandreou zu erleben, die Dorota einen wendigen, temperamentvollen Sopran verleiht. Diesen kann sie bei Ausbrüchen des Zorns wirkungsvoll erkalten lassen, in der Trauer um den vermeintlich verlorenen Gatten aber auch in Klänge von Schmerz und Sehnsucht tauchen.

Der polnische Bariton Piotr Prochera als Schwanda (Foto: Monika Forster)

Der Bariton Piotr Prochera erweist sich einmal mehr als tragende Säule des MiR-Ensembles. Er gibt einen Schwanda, der sich mit viel Selbstvertrauen in die Brust wirft, im weitgehend fröhlichen Forte aber auch ein wenig eindimensional bleibt. Ob der Titelheld nicht auch andere Facetten abwerfen könnte, bleibt am Premierenabend offen. Petra Schmidt setzt sich als auftrumpfende Eiskönigin wirkungsvoll in Szene, und als Teufel lässt Joachim G. Maaß seiner Lust am Komödiantischen vollen Lauf.

Der von Alexander Eberle glänzend vorbereitete Chor, der viel zum Erfolg des Abends beiträgt, demonstriert Geschlossenheit und Spielfreude. Überlaut klingt seine Stimmgewalt erst in der „Daheim-Apotheose“. Mit ihr pfropft der Regisseur eine Schluss-Szene auf, in welcher der Chor in Alltagskleidung an die Rampe stürmt, während bekannte Gelsenkirchener Stadtansichten auf einen Vorhang projiziert werden. Worauf das Publikum in vorhersehbarer Verzückung tobt. Ja ja, zu Hause ist es doch am schönsten.

(Informationen und Termine: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2018-19/schwanda-der-dudelsackpfeifer/)




Feuervogel spreizt farbenfrohe Federn: Das Konzerthaus Dortmund heißt „Maestra Mirga“ willkommen

Mirga Gražinytė-Tyla wurde bereits mit 29 Jahren Chefin des CBSO. (Foto: Pascal Amos Rest)

Ihre Füße stecken in schwarzen Ballerina-Schühchen. Klein, zierlich und mädchenhaft jung wirkt die Frau, die jetzt im Konzerthaus Dortmund aufs Dirigentenpodest steigt und sich verbeugt. Beinahe möchte man um sie fürchten angesichts der schieren Masse von Orchestermusikern, der sie sich an diesem Abend gegenüber sieht: verlangen doch zwei der drei aufgeführten Werke eine ausgesprochen üppige Besetzung. Aber derlei Gedanken verpuffen, sobald die Künstlerin den Taktstock hebt.

Als „Maestra Mirga“ begrüßt das Konzerthaus Dortmund seine neue Exklusivkünstlerin aus Litauen, deren komplizierter Nachname so manchen bei der Aussprache ins Schwitzen bringt. Mirga Gražinyté-Tyla (sprich: Mirga Graschiniiiite-Tilá) kehrt mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra zurück, das sie seit September 2016 als Chefin leitet. Die 32-Jährige tritt am Pult des CBSO in große Fußstapfen: vor ihr formte Andris Nelsons diesen Klangkörper, den Simon Rattle ab 1980 von eher provinziellem Niveau zu internationaler Klasse führte.

Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech heißt die neue Exklusivkünstlerin mit Blumen willkommen. (Foto: Pascal Amos Rest)

Nicht zufällig eröffnet sie diesen Konzertabend mit Musik von Mieczysław Weinberg. Die Litauerin setzt sich stark für das Werk des polnisch-jüdischen Komponisten ein, das sie für nicht minder bedeutend als das Schaffen von Bach oder Beethoven hält. Weinbergs „Rhapsodie über Moldawische Themen“ gleicht unter ihrer Leitung einem temperamentvollen Ausrufezeichen voller folkloristischer Klänge. Die Dirigentin scheut sich nicht vor ausladenden Gesten, kann aber auch so knapp und präzise sein, dass kein Zweifel aufkommen kann, wie sehr sie den großen Orchesterapparat im Griff hat.

Einer spannungsreichen Einleitung, in der Kontrabässe, Celli und Bratschen im Pianissimo raunen, folgen feurig wirbelnde Tänze, die sich nahe an der Welt von Zoltán Kodály und Béla Bartók bewegen. Hinreißend verführerisch geraten die ruhigeren Passagen, in denen das Tambourin effektvolle Akzente setzt. Das CBSO breitet eine luxuriöse Klangpracht aus, als gelte es, die Salome von Richard Strauss im Tanz der sieben Schleier zu begleiten.

Für die erkrankte Yuja Wang sprang kurzfristig der Pianist Kit Armstrong ein: freilich nicht mit dem 5. Klavierkonzert von Sergej Prokofjew, sondern mit dem Klavierkonzert von Robert Schumann. Der von Alfred Brendel stark geförderte Künstler, der selbst komponiert und neben Musik auch Physik, Mathematik, Chemie und Biologie studierte, bevorzugt in seiner Interpretation kristalline Klarheit statt romantische Emotionalität. Unter seinen Fingern klingt Robert Schumann, als sei er ein direkter Nachfahre von Johann Sebastian Bach.

Kit Armstrong sprang mit Robert Schumanns Klavierkonzert für die erkrankte Yuja Wang ein. (Foto: Pascal Amos Rest)

Das führt zu gläserner Transparenz und introvertiert-leisem Spiel, das sich von Gefühlen bewusst fern zu halten scheint. Der langsame Satz (Intermezzo) klingt eher weltabgewandt als verträumt. Nicht immer wirkt Armstrongs Fingerfertigkeit in den vollgriffigen Akkordfolgen souverän. Aber er hat sein Ohr stets nahe am Orchester, sucht wach und aufmerksam den kammermusikalischen Dialog. Das kommt dem rhythmisch vertrackten Schluss-Satz zugute, der das auch dynamisch sehr ausgewogene Zusammenspiel mit dem Orchester noch einmal unterstreicht.

Zum Abschluss spreizt Igor Strawinskys „Feuervogel“ seine Federn. Es ist ein wahres Prachtvieh, das hier vor unseren Ohren zu tanzen beginnt. Wir hören flirrende Delikatesse, zauberische Leichtigkeit, irisierende Farben. Mirga Gražinyté-Tyla begnügt sich nicht mit der verkürzten Fassung der allseits bekannten Suiten, sondern spielt die Ballettmusik in voller Länge. Daraus wird ein packendes Abenteuer, das über quirlige Holzbläser-Arabesken, ferne Hornsignale und märchenhafte Idylle in den Höllentanz des bösen Zauberers Kaschtschei führt. Frenetischer Beifall.

Informationen zu weiteren Konzerten mit Mirga Gražinyté-Tyla: 

https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/276/?gclid=EAIaIQobChMIjpPYgZei4gIVBeN3Ch2uMQrJEAAYASABEgLv-_D_BwE)

(Der Text ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen).




Endstation Walhall: Michael Schulz setzt „Das Rheingold“ von Richard Wagner in Gelsenkirchen neu in Szene

Die Rheintöchter treiben ihr Spiel mit Alberich (Urban Malmberg). (Foto: Karl Forster)

Das Wasser wogt und leuchtet. Licht fällt in die blaue Flut, diese Wiege des Lebens, deren kristallene Klarheit den Blick bezaubert. Im Speisewagen sitzen nur wenige Herren, aber auch sie schauen nachgerade andächtig aus den Zugfenstern, gebannt von der Majestät des Rheins. Nach und nach erkennen wir sie: An den Tischen sitzen Alberich und Wotan. Der zwielichtige Feuergott Loge drückt sich in die Ecke, ein Beobachter des Geschehens. Dann tauchen die Rheintöchter hinter der Bordbar auf.

Willkommen im Rheingold-Express, dem historischen Luxuszug mit seinem gläsern überdachten Aussichtswagen, der einst die Nordsee mit den Alpen verband und die Niederlande mit der Schweiz. Michael Schulz, Generalintendant des Gelsenkirchener Musiktheaters, und Bühnenbildnerin Heike Scheele schicken uns mit Richard Wagners Oper auf eine Reise, die vom Raubbau an der Natur erzählt, von der Gier nach Reichtum und Macht und den zerstörerischen Konsequenzen. Diese werden bereits am Ende der ersten Szene augenfällig. Wenn Alberich der Liebe abschwört und den Nixen ihren Schatz entreißt, wird das Spiel des Lichts auf dem Wasser fahl. Und auf der Oberfläche treibt Plastikmüll.

Der Götter Schar: Donner (Piotr Prochera), Fricka (Almuth Herbst), Wotan (Bastiaan Everink), Froh (Khanyiso Gwenxane) und Freia (Petra Schmidt). (Foto: Karl Forster)

Der Vorabend zum „Ring“-Zyklus wird in Gelsenkirchen als Solitär gegeben, als Auftakt ohne Fortsetzung. Mag mancher Wagner-Fan dies auch bedauern, so führt mit Michael Schulz doch einer Regie, der – um die Nornen zu zitieren – „weiß, wie das wird“; der die weiteren Ereignisse bis zum Ende der Götterdämmerung erkennbar mitdenkt, auch wenn sie nicht aufgeführt werden. Statt den ersten Teil seines in Weimar realisierten Rings ins Revier zu transferieren, hat er sich die Mühe gemacht, die Geschichte noch einmal neu zu erzählen.

Ein Spiel der Interessen

Das Spiel der Götter, Riesen und Zwerge ist bei ihm vor allem eines der Interessen. Die Regie durchleuchtet das wilde Geflecht wechselseitiger Abhängigkeiten, zeigt bis in die Körperbewegungen hinein, wer aus welchen Motiven heraus handelt. Die Geldnot treibt nicht nur Wotan voran: Sie bringt ein Schicksalsrad in Schwung, das sich nicht mehr aufhalten lässt, auch nicht von dem glücklosen Gott. Das pompöse Walhall, das er auf Pump errichten ließ, bleibt in dieser Inszenierung unsichtbar. Ein Luftschloss, fürwahr.

In den wirkungsvollen Bühnenbildern von Heike Scheele, die uns vom eleganten Zugabteil über eine Kühlturmkulisse in einen düsteren Endlos-Stollen namens Nibelheim geleiten, stellt Schulz die Weichen Richtung Untergang. Weshalb dieser heraufdämmert, zeigt er über weite Strecken überaus punktgenau: einerseits hängen die Welten von Riesen, Zwergen und Göttern zusammen, andererseits kann keiner der Charaktere aus seiner Haut. Beim finalen Einzug in die Burg, durch eine Videoprojektion dargestellt wie die Einfahrt in einen virtuellen Bahnhof, sind alle Beteiligten wie in einem Netz gefangen. Walhall bringt keinen Anfang. Es ist eine Endstation.

Erda (Almuth Herbst) warnt Wotan vor der verhängnisvollen Macht des Rings. (Foto: Karl Forster)

Unheimliche Machtgelüste

Vieles ist bestechend genau gezeichnet, so der zauberische Nährwert von Freias Äpfeln und die unheimlichen Machtgelüste des Underdogs Mime, der sich nach Alberichs Entführung mit irrem Lachen in den Chefsessel wirft. Die Verwandlung Frickas in Erda, beide gespielt und gesungen von Almuth Herbst, gelingt auf offener Bühne so einfach wie wirkungsvoll.

Daneben steht manche szenische Verlegenheitslösung. Fragezeichen hinterlässt das unbestimmte und öde Zwischenreich, in dem Alberich seines Ringes beraubt wird. Über dieses triste Setting helfen auch amateurhafte Schattenspiele nicht hinweg. Wo der Mythos das Märchenhafte streift, scheut Schulz sich nicht vor kindlichen Elementen. In der Industrie- und Bergbaukulisse taucht der Riesenwurm als Alu-Abluftrohr auf. Ob sich hinter der winkenden Kindergruppe mit ihrem gemalten Regenbogenbild eine Kritik am Umweltaktivismus à la Greta Thunberg verbirgt oder nicht, ist vermutlich keine entscheidende Frage.

Wenn das Orchester die Muskeln ballt

Von vokaler Krafthuberei, die bei den Riesendramen Richard Wagners leicht in grob deklamierten Sprechgesang umschlägt, ist aus Gelsenkirchen nichts zu berichten. Unter der umsichtigen Leitung von Kapellmeister Giuliano Betta wird erfreulich viel gesungen, auch wenn nicht alle Stimmen die Anforderungen ihrer Partie vollends erfüllen können. Betta hält sich hörbar an das Diktum des Komponisten, dass der Gesangswohlklang der italienischen Schule für Wagners Opern nicht aufgegeben werden dürfe. Die Neue Philharmonie Westfalen spielt unter seiner Leitung einen transparenten, zuweilen beinahe leichtgewichtigen Wagner, der sich dynamisch weitgehend zurückhält. Beim Schrei der von Alberich geknechteten Nibelungen ballt das Orchester eindrucksvoll die Muskeln, aber die kantige Härte der rhythmisch hämmernden Ambosse greift es nicht auf.

Wotan (Bastiaan Everink, l.) und Loge (Cornel Frey, r.) besuchen Alberich (Urban Malmberg) in Nibelheim. (Foto: Karl Forster)

Die nahezu gänzlich aus dem Ensemble heraus besetzte Produktion punktet mit einem starken Wotan: Bastiaan Everink lässt stimmlich kaum Zweifel an seiner Autorität als Hüter der Verträge aufkommen. Cornel Frey gibt einen charakterstarken Loge, der mit einer Mischung aus Eleganz und Spott gekonnt auf der Grenze zum Zynismus balanciert. Dank Almuth Herbst darf Fricka eine von Sorge getriebene Ehefrau sein statt keifende Xanthippe. Dass sie stimmlich obendrein noch in die Tiefen der allwissenden Erda hinab zu steigen vermag, muss man der Künstlerin hoch anrechnen.

Alberich (Urban Malmberg) als Gefangener, im Hintergrund triumphiert Mime (Tobias Glagau). (Foto: Karl Forster)

„Ihr hattet die Wahl“

Urban Malmberg gibt dem finsteren Alberich gallige Töne der Erbitterung. Unterdrückte Wut, herrisches Kommando und eine Portion Verschlagenheit liegen so nahe beieinander, wie es sich für den fiesen Chef-Nibelungen gehört. Wenn es dann aber endlich zum Ring-Fluch kommt, kann Malmberg kaum noch Reserven aktivieren. Stimmlich blass bleibt der Mime von Tobias Glagau, der unter Alberichs Knute zwar jammert und stöhnt, als Charakter indessen nur darstellerisch greifbar wird.

Das Schlusswort gebührt den Rheintöchtern, in Gelsenkirchen gesungen von Bele Kumberger (Woglinde), Lina Hoffmann (Wellgunde) und Boshana Milkov (Flosshilde). Deren Übermut wogt uns in strahlendem Dur entgegen, klingt am Premierenabend aber in manchen Spitzentönen hart. Der Umschlag von jubelnder Lebensfreude in klagenden Wehlaut gelingt gleichwohl gut. Später, während eines Zwischenspiels, entfalten die sehnsüchtigen Undinen ein Stoffbanner mit einer Aufschrift. Unentrinnbar dem Untergang geweiht, konfrontieren sie uns, für die es womöglich ebenfalls zu spät ist, mit einer bitteren Wahrheit: „Ihr hattet die Wahl“.

Termine und Informationen: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2018-19/das-rheingold/#date_2019-05-11_1930




Auf der Suche nach Neuland: Raphael von Hoensbroech stellt seine erste Saison im Konzerthaus Dortmund vor

Raphael von Hoensbroech hat nun vollends die Führung im Konzerthaus Dortmund übernommen (Foto: Pascal Amos Rest)

Er geht die Dinge behutsam an. Fügt Neues hinzu, ohne Bestehendes abzuschaffen. Zugleich steckt Dortmunds Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech, der jetzt sein erstes eigenverantwortlich verfertigtes Programm im Rahmen einer Pressekonferenz vorstellte, in einem luxuriösen Dilemma.

Der aus einer alten Adelsfamilie stammende Musikwissenschaftler und Kulturmanager hat von seinem Vorgänger Benedikt Stampa einen derart gut funktionierenden Betrieb übernommen, dass dieses Privileg beinahe zur Bürde wird. Was anders anpacken, wenn alles nahezu optimal läuft? Wie ein eigenes Profil entwickeln, wo alle noch auf die mammutgroßen Fußspuren des nach Baden-Baden Entschwundenen starren?

Die litauische Dirigentin Mirga Gražinyté-Tyla kommt als Exklusivkünstlerin nach Dortmund (Foto: Ben Ealovega)

Doch Kontinuität ist von Hoensbroech wichtiger. Er setzt alle etablierten Formate und Konzertreihen fort, mithin die erfolgreiche „Dortmunder Dramaturgie“, die unter anderem einen Residenzkünstler für jeweils drei intensiv gestaltete Spielzeiten an das Haus bindet. Ein erster Coup gelang ihm, als er dafür die junge litauische Dirigentin Mirga Gražinyté-Tyla verpflichtete, die derzeit wie ein Wirbelwind durch Europas Orchester- und Festivallandschaft fegt. Mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra, dessen Chefdirigentin sie seit September 2016 ist, wird „Maestra Mirga“ dreimal in Dortmund gastieren. In der ungewohnten Rolle als Sängerin tritt sie in der Reihe „Musik for Freaks“ auf, während sie im unterhaltsamen „Salon“ öffentlich Rede und Antwort steht.

In den Orchesterzyklen finden sich viele bekannte Konzerthausgäste wieder: vom Mahler Chamber Orchestra, Rotterdam Philharmonic, Budapest Festival Orchestra, Mariinsky-Orchester bis zum London Philharmonic und dem London Symphony Orchestra. Die Wiener und Berliner Philharmoniker sind nicht dabei, auch keines der „Big Five“ genannten Spitzenensembles aus den USA, die einzuladen freilich ein eminent teures Unterfangen wäre. Ein gemeinschaftliches Projekt wie die Ruhr-Residenz der Berliner Philharmoniker, das nur durch die Zusammenarbeit mit der Philharmonie Essen Wirklichkeit werden konnte, ist laut von Hoensbroech erneut denkbar, aber derzeit nicht in Sicht.

Der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard wirkt im Februar 2020 an der fünftägigen Zeitinsel zum Werk von György Kurtág mit (Foto: Marco Borggreve)

Auf die „Zeitinsel“ müssen die Besucher indes nicht verzichten: Herausragende Interpreten wie der Pianist Pierre-Laurent Aimard, das Arditti Quartet, der Bariton Benjamin Appl und viele andere widmen sich an fünf Tagen ganz dem Schaffen des ungarischen Komponisten György Kurtág. Neu hinzugekommen ist die Reihe „Curating Artist“, in der ein ausgewählter Künstler mehrere Konzerte mit seinen musikalischen Freunden kuratieren und gestalten darf. In der neuen Saison wird der in Armenien geborene, US-amerikanische Pianist Sergej Babayan im Verbund mit Martha Argerich, Daniil Trifonov, Mischa Maisky und dem Mariinsky-Orchester unter Valery Gergiev auftreten.

Vom Willen zur Innovation kündet insbesondere die Reihe „Neuland“, die konventionelle Aufführungsformen klassischer Musik durchbrechen und zu einem anderen Musikerleben führen soll. Eröffnet wird sie am 19. November 2019 durch den finnischen Geiger Pekka Kuusisto und das Mahler Chamber Orchestra, die sich in einem inszenierten Konzert mit Live-Elektronik musizierend durch den Saal bewegen. Ähnlich hält es das Stegreif.orchester aus Berlin, das Beethovens 9. Sinfonie mit Klängen aus anderen Kulturen verweben wird. Die Sopranistin Caroline Melzer singt György Kurtás „Kafka-Fragemente“, die samt filmischer Installation im Jazzclub Domicil zu erleben sind.

Das Stegreif.orchester aus Berlin sprengt die herkömmliche Aufführungssituation klassischer Musik (Foto: Roman Novitzky)

Am Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 kommt auch das Dortmunder Konzerthaus nicht vorbei. Daher findet sich das Sonderprojekt „B250hoven“ im Programm, das sich nicht mit den Abspulen der „Greatest Hits“ begnügt, sondern eine möglichst tiefe Auseinandersetzung mit dem Werk und der Persönlichkeit des Komponisten anstrebt. Zu diesem Zweck rekonstruiert Dirigent Thomas Hengelbrock mit seinem Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble Beethovens legendäres, knapp vierstündiges Akademiekonzert von 1808. Das Mahler Chamber Orchestra bringt unter der Leitung von Gustavo Dudamel eine konzertante Aufführung der Oper „Fidelio“ auf die Bühne.

Nach welchen Regeln und Gesetzmäßigkeiten Beethoven komponiert hat, macht das Performance-Ensemble „Nico and the Navigators“ auf großer Leinwand sichtbar, wenn das Kuss-Quartett die Große Fuge B-Dur op. 133 und das späte Streichquartett F-Dur op. 135 spielt. Welch wichtiges Experimentierfeld die Gattung des Streichquartetts für den Komponisten war, zeigen das Quatuor Ébène und das Belcea Quartet im Rahmen eines durch Pausen unterbrochenen Konzertmarathons.

Yannick Nézet-Séguin dirigiert am 20. Februar 2020 „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss (Foto: Hans van der Woerd)

Als Großtat im Bereich der Oper sei noch die konzertante Aufführung der „Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss durch das Rotterdam Philharmonic Orchestra unter Yannick Nézet-Séguin erwähnt. An die Stelle der Weltmusik tritt die Reihe „Soundtrack Europa“ mit fünf Künstlern bzw. Bands aus Bosnien, Österreich, Polen, der Türkei und von den Färöer Inseln.

Vom reichhaltigen Musikangebot der Jazz-Nights, Orgelkonzerte, Liederabende, des Pop-Abos, der Meisterpianisten und der Jungen Wilden möge sich jeder selbst ein Bild machen – ebenso wie vom veränderten Erscheinungsbild des Programmhefts. Eher fliegt wohl ein Nashorn durch ein Türkis umrahmtes Rechteck, als dass ein neues Design auf ungeteilte Zustimmung träfe.

(Informationen: https://www.konzerthaus-dortmund.de/saison-2019-20/)




Ernste Gesänge: Angela Denoke und Hendrik Heilmann in der Reihe „Große Stimmen“ in der Philharmonie Essen

Angela Denoke erhielt ihr erstes Engagement am Theater Ulm. Weitere Stationen führten über Stuttgart und Wien zur großen internationalen Karriere. (Copyright: Johan Persson)

Auf der Opernbühne verkörpert sie häufig traumatisierte Frauen: Salome, Kundry, Jenufa, Katja Kabanova, die Marie aus Alban Bergs „Wozzeck“, die „Lady Macbeth von Mzensk“ von Schostakowitsch. Angela Denoke mag die abgründige Tiefe dieser Figuren, die Kraft ihrer Geschichten, die in Verbindung mit der Musik einen nachgerade unwiderstehlichen Sog entwickeln. Die Sängerin mit der rotblonden Kurzhaarfrisur und der norddeutschen Ausstrahlung – sie wurde 1961 in Stade bei Hamburg geboren – feierte mit ihren intensiven Rollenporträts weltweit triumphale Erfolge.

In der Philharmonie Essen war Angela Denoke zuletzt im Herbst 2018 in Arnold Schönbergs „Erwartung“ zu erleben. Nun kehrte sie als Liedinterpretin zurück, in der Reihe „Große Stimmen“, begleitet von dem Berliner Pianisten Hendrik Heilmann. Nachgerade vorösterlich geprägt schien die Werkauswahl der beiden Künstler. Die „Vier ernsten Gesänge“ von Johannes Brahms, die von letzten Dingen und der Eitelkeit alles Irdischen künden, gaben dabei den Weg vor. Nebenstraßen führten zu Alexander von Zemlinsky, Richard Strauss und Alban Berg.

Zentrale Bibelstellen hat Brahms in seinen „Vier ernsten Gesängen“ vertont. Texte wie „Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh“ oder „O Tod, wie bitter bist du“ inspirierten den Komponisten ein Jahr vor seinem Ableben zur musikalischen Bußübung, zum klingenden Lebewohl von dieser Welt. Angela Denoke trägt das ruhig schwingend vor, mit innigem Gespür für die tiefe Religiosität dieser Musik. Unterstützt von Hendrik Heilmann, der den anspruchsvollen Klavierpart zu atmosphärischer Dichte webt, steigt sie in die staunenswerten, volltönenden Tiefen ihres Stimmregisters hinab. Dabei erreicht sie einen Ausdruck von Wahrhaftigkeit, der alle Emotion hinter sich lässt – sogar die im Text formulierte Bitternis.

Denokes Mittellage ist so reich wie ihre Gestaltung schnörkellos. Das kommt den Liedern Alexander von Zemlinskys zugute, deren Wehmut und Melancholie sich fern aller Larmoyanz entfalten können. Ein Kunststück auch, wie die Sängerin „Geduld“ von Richard Strauss mit einem verhaltenen, aber intensiven Drängen erfüllt. Sich vom Grabesdunkel in lichte Höhen aufzuschwingen, bereitet ihr dabei leichte Probleme. Indes ist die teils etwas tief angesetzte Intonation sofort vergessen, wenn Gottfried Heinrich Stölzels „Bist du bei mir“ in balsamischer Schönheit dahin strömt. Das ehemals Johann Sebastian Bach zugeschriebene Stück (BWV 508) umhüllt den Hörer mit samtiger, vollkommener Harmonie.

Mehr Licht gönnt uns der zweite Teil des Abends, in dem es vor allem der Liebe gilt. In „Rote Rosen“ und „Die erwachte Rose“ beweist die Kammersängerin der Wiener Staatsoper ihre große Strauss-Kompetenz. Üppig und farbenreich rauscht das auf, ohne Höhenprobleme, dafür mit einem abgeklärten Glücksleuchten in „Freundliche Vision“. Stilsicher bereitet Hendrik Heilmann Rosen und Nachtigall eine duftige Klangkulisse, ohne ins Parfümierte abzugleiten. Aus vier weiteren Brahms-Liedern tönt die Wehmut wie ein fernes Echo. Dann legen Denoke und Heilmann blitzschnell einen Schalter um. Keck und leicht kommt ein Frühlingslied von Alban Berg daher. Mit changierenden Farben lockt Bergs „Das stille Königreich“, während Liebesglück und -leid in „Fraue, du Süße“ überströmend sinnlich besungen wird.

Den Schlusspunkt unter diesen Abend sollte Johannes Brahms mit seiner Vertonung aus dem „Hohelied der Liebe“ setzen. Aber die Künstler gönnen ihrem Publikum zwei Zugaben, die an den ernsten Beginn des Abends erinnern: „Allerseelen“ von Richard Strauss und „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ von Gustav Mahler. Die Denoke lässt ihre Stimme ins Nichts gleiten: still und gänzlich unprätentiös.

(Am So. 12 Mai setzen Christiane Karg, Thomas Quasthoff und Justus Zeyen die Reihe „Große Stimmen“ fort. Informationen: https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/christiane-kargthomas-quasthoffbelles-amours-83658/)




Der Kindsmord als klingende Tragödie: Aribert Reimanns Oper „Medea“ im Aalto-Theater

Medea (Claudia Barainsky) hütet das goldene Vlies. (Foto: Karl Forster)

Medea (Claudia Barainsky) hütet das goldene Vlies. (Foto: Karl Forster)

Medea. Die Frau, die ihre Söhne ermordet. Die schöne, stolze, mythenumwobene Priesterin und Zauberin aus Kolchis (heute Georgien), Hüterin des goldenen Vlieses, die zu Göttern und Naturgewalten Kontakt hat. Wer erfasst ihre Tragödie, das schlimme Schicksal der liebenden Königstochter, die vom Argonautenführer Jason erst ausgenutzt, dann in die Fremde verschleppt, allein gelassen, betrogen und schließlich sogar verstoßen wird? Wer vermag die entsetzliche Tat zu begreifen, mit der sie sich am treulosen Gatten rächt?

Viele haben es über Jahrtausende hinweg versucht. Beginnend bei Euripides, der den Stoff 431 vor Christus in seinem Trauerspiel „Medea“ aufgriff, befassten sich zahlreiche Schriftsteller, Dichter, Maler, Komponisten, bildende Künstler, Filmregisseure und Tänzer mit diesem Mythos. Untrennbar mit ihm verbunden ist der Name der Sängerin Maria Callas, die Luigi Cherubinis Oper durch ihre grandiose Gestaltung der Titelpartie dem Vergessen entriss.

Einer der namhaftesten Komponisten unserer Zeit fühlte sich von Franz Grillparzers Drama „Medea“ inspiriert: Aribert Reimann, geboren 1936 in Berlin, einst Schüler von Boris Blacher, Träger des Ernst von Siemens Musikpreises sowie des „Faust“-Theaterpreises für sein Lebenswerk. Für seine gleichnamige Oper in vier Bildern, uraufgeführt am 28. Februar 2010 an der Wiener Staatsoper, extrahierte er selbst das Libretto.

Kampf um die Liebe, Kampf um die Kinder: Medea (Claudia Barainsky) und Jason (Sebastian Noack). (Foto: Karl Forster)

Im Essener Aalto-Theater, das Reimanns Werk jetzt neu in Szene setzt, erzählt der Komponist vor Beginn der Premiere höchstselbst von der Faszination am antiken Stoff. Er schwärmt von der Sprache Grillparzers, die ihn unmittelbar zu Musik inspiriert habe, und schildert seine langjährige Zusammenarbeit mit der Sängerin Claudia Barainsky, die am 28. Februar 2010 mit großem Erfolg die Uraufführung an der Wiener Staatsoper sang. Nach Produktionen in Frankfurt, Tokio und Berlin hat Essen nun erneut Claudia Barainsky für die Titelpartie engagiert.

Weiß Gott keine schlechte Entscheidung, wie sich am Premierenabend rasch zeigt. Barainsky, die bei der Ruhrtriennale 2006 als Marie in Bernd Alois Zimmermann „Die Soldaten“ glänzte, kennt keine Furcht vor dem aberwitzigen Koloraturgewitter, in das sie als Medea immer wieder ausbrechen muss. Sie schafft es, die für Reimann charakteristischen zackigen Gesangslinien mit Emotion anzufüllen, die Koloratur wie eine Waffe einzusetzen, wann immer die Figur der Medea sich in die Enge getrieben sieht.

Obgleich selbst von eher geringer Körpergröße, verleiht die Barainsky der Titelheldin ein staunenswertes Format. Sie wirft sich mit voller Wucht ins Spiel: nicht etwa als augenrollende Furie, sondern als leidenschaftliche Frau, die wieder und wieder gedemütigt wird. In der Regie von Kay Link, der in Essen bereits „Into the little Hill“ von George Benjamin in Szene setzte, erscheint sie schließlich wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.

Medeas Söhne werden rasch von den Korinthern vereinnahmt. (Foto: Karl Forster)

Dazu tragen auch die Kostüme bei. Ganz in Rot gewandet, ist Medea die Fremde, die Außenseiterin gegenüber den Korinthern, die ihr in kühlem Aalto-Blau entgegentreten. Oft lauert sie wie ein Tier unter dem Königspalast des Kreon, ein asymmetrischer, einsehbarer Kubus, der auf hohen Stelzen steht und nur über Treppen zu erreichen ist (Bühne, Kostüme und Video: Frank Albert). Kay Link bewegt die Figuren so, dass Rangordnungen sofort augenfällig werden.

Bis Medea im ersten Teil des Abends das goldene Vlies vergraben und Bekanntschaft mit den Korinthern geschlossen hat, bleibt das Geschehen auf der Bühne oft statisch. Aber der zweite Teil nimmt Fahrt auf: Beim Versuch einer Aussprache mit Jason und beim Kampf um die Kinder spitzt sich das Drama zu. Das Ensemble rund um die Barainsky muss stimmlich kaum weniger Virtuosität beweisen. Es hält sich höchst ehrbar: Als Kreons Tochter Kreusa brilliert Liliana de Sousa mit Melismen in klarer, absichtsvoll kalter Höhe. Empathie findet Medea bei ihrer Amme Gora, der Marie-Helen Joël Großherzigkeit und Wärme verleiht. Hagen Matzeit führt seinen Countertenor in nachgerade artistischer Manier, um die vertrackten Intervallsprünge zu meistern.

Ein kurzer Moment der Annäherung: Medea (Claudia Barainsky, l.) versucht sich zu adaptieren (Liliana de Sousa als Kreusa, r. ) (Foto: Karl Forster)

Auch Sebastian Noack (Jason) und Rainer Maria Röhr (Kreon) engagieren sich auf Äußerste, zumal der Komponist unter den Premierengästen ist. Aber gegen die starken Frauenfiguren wirken die beiden Sänger beinahe etwas blass. Der Tscheche Robert Jindra dirigiert die Essener Philharmoniker mit großer Kompetenz durch Aribert Reimanns dicht gewobene, dem Ohr oft sperrige Partitur. Eine Dauer-Nervosität, eine beinahe nervenzerrüttende Spannung tönt da aus dem Orchestergraben. Schockierend wirken die blockhaften Einsätze der Instrumentengruppen, insbesondere die brutalen Blech-Cluster, die das Bühnengeschehen häufig kommentieren. Die Essener Philharmoniker übernehmen eine sehr aktive Rolle in dem Drama, sind quasi der siebte Hauptdarsteller, der ständig mit den Sängern interagiert.

Am Ende erhebt sich das Publikum zu Ehren von Aribert Reimann von den Sitzen. An seinen „Lear“, den das Aalto-Theater vor 18 Jahren in der Inszenierung von Michael Schulz zeigte, mag mancher sich an diesem Abend auch erinnern.

(Termine und Informationen:https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/medea/)




Die Flöte als „Faden im Webstoff“: Thomas Hengelbrock und das Royal Concertgebouw Orchestra in Dortmund

Thomas Hengelbrock zählt zu den Stammgästen im Konzerthaus Dortmund (Foto: Pascal Amos Rest)

Thomas Hengelbrock zählt zu den Stammgästen im Konzerthaus Dortmund. (Foto: Pascal Amos Rest)

Als Opernkomponist fand Franz Schubert zeitlebens nicht die ersehnte Anerkennung. Acht vollendete Bühnenwerke und acht Fragmente hinterließ er der Nachwelt, darunter die Oper „Alfonso und Estrella“, die es zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung nicht aus dem Schatten von Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ herausschaffte. Erst 26 Jahre nach Schuberts Tod verhalf Franz Liszt „Alfonso und Estrella“ zur Uraufführung.

Mit der Ouvertüre zu diesem selten gespielten Werk eröffnete der Dirigent Thomas Hengelbrock jetzt einen Abend im Konzerthaus Dortmund, zu dessen Stammgästen er bereits seit 2003 zählt. Er hat sich hier ein treues Publikum erobert, nahezu eine Fangemeinde: Das ist bei seiner erneuten Rückkehr mit dem Royal Concertgebouw Orchestra deutlich zu spüren. Der Dirigent seinerseits schwärmt von der Frische, der Neugier und der aktiven Musizierlust der Musiker aus Amsterdam, wie einem Interview auf der Internetseite des Konzerthauses zu entnehmen ist.

Tatsächlich ist diese Musizierlust sofort präsent, wenn auch in auffallend starker Besetzung. 13 erste Geigen und sechs Kontrabässe bietet Hengelbrock für Schuberts Ouvertüre auf, die ganz konventionell mit langsamer Einleitung und schnellem Hauptteil daherkommt. Alles tönt sprühend vital, strahlend hell, aber mit recht knalligem Forte. Während manch stürmische Passage überraschend nach Felix Mendelssohn klingt, scheint der Schluss nahezu unverblümt Mozarts „Zauberflöte“ zu kopieren. Wer Schuberts Genie kennt und verehrt, registriert es mit leiser Enttäuschung.

Der deutsche Flötist Kersten McCall wuchs als Sohn des Komponisten Brent McCall in Donaueschingen auf. (Foto: Pascal Amos Rest)

Nach verschiedenen Stoffarten sind die drei Sätze des Flötenkonzerts „Soie“ („Seide“) von Lotta Wennäkoski benannt. Fasziniert von der Analogie zwischen gewebten und komponierten Meisterwerken, hat die 1970 in Helsinki geborene Finnin ein hoch virtuoses Konzert geschrieben, das zu einem Höhepunkt des Abends wird. Atmosphärische Dichte, raffinierte Instrumentation, reiche Detailarbeit und das souveräne Spiel mit den klanglichen Möglichkeiten eines Orchesters sind so staunenswert und packend, dass das Ohr nicht eine Sekunde von den akustischen Ereignissen auf der Bühne loskommt.

Einen mit allen Wassern gewaschenen Solisten benötigt dieses Konzert natürlich auch. Kersten McCall, erster Soloflötist des Royal Concertgebouw, beherrscht Instrument und Partitur, dass es jeder Beschreibung spottet: von rasend schnellen Figurationen bis zu intensiv ausgehaltenen Tönen, vom seidenweichen Piano bis zum schrillen Pfiff, von der heftig überblasenen Attacke bis zu Effekten wie der Flatterzunge. Mal intensiv mit dem Orchesterklang verwoben, mal solistisch hervortretend, stellt er seine überragende Kompetenz kompromisslos in den Dienst des Werks. Das ist große Kunst, frei von Star-Allüren.

Aus dem Off lässt Thomas Hengelbrock das eröffnende Hornmotiv von Schuberts 8. Sinfonie C-Dur („Die Große“) spielen. Ein Vorgriff auf die Fernklänge von Gustav Mahler mag dies sein, denn Hengelbrocks Interpretation macht auch in der Folge musikhistorische Bezüge deutlich. Diese sprechen von der Vergangenheit, wenn sich im Andante plötzlich ein Abgrund à la Don Giovanni öffnet, oder wenn Beethovenscher Ingrimm durch das Scherzo zittert. In die Zukunft weisen von Wehmut vergiftete Holzbläsersoli (Mahler) und blockhafte Tempowechsel (Bruckner). Hengelbrock hält alles wunderbar leicht und tänzerisch in Schwung. Silbern wirbeln und flirren die Triolenketten der Geigen im Finale dahin. Großer Beifall.

(Der Bericht ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Paris zum Ersten, Zweiten und Dritten: Kent Nagano dirigiert das Orchestre Symphonique de Montréal in Essen

Kent Nagano, seit 13 Jahren Chef des Orchestre Symphonique de Montréal, bleibt den Kanadiern noch bis 2020 verbunden. (Foto: Wilfried Hösl)

Bis heute scheint das Orchesterstück „Jeux“ von Claude Debussy überschattet von dem beispiellosen Skandal, den Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ auslöste. Nur zwei Wochen lagen zwischen den beiden Uraufführungen im Mai 1913 im Pariser Théâtre des Champs-Élysées. Beide Stücke entstanden für das berühmte Tanzensemble „Ballet Russes“, beide wurden von Pierre Monteux dirigiert, beide gelten auf ihre Weise als Schlüsselwerke der Moderne. Gleichwohl hat Debussys einaktiges Tanzpoem bislang nicht ins gängige Konzertrepertoire hineingefunden.

Ob dies allein am unglücklichen Zeitpunkt der Premiere liegt oder auch am Ballettlibretto von Vaslav Nijinsky, dessen ästhetische Vorlieben weit entfernt waren von den Ansichten und dem Geschmack Debussys, sei dahingestellt. Doch bildeten „Jeux“ und „Sacre“ jetzt die Klammer für ein Konzert in der Philharmonie Essen, das trotz starker Konkurrenz als Höhepunkt der Saison durchgehen kann. Erhellend, ja in höchstem Maße aufschlussreich war die Programmfolge, die das Orchestre Symphonique de Montréal unter seinem langjährigen Chefdirigenten Kent Nagano im Gepäck hatte.

Debussys Partitur, von Komponisten wie Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez ob ihrer Fortschrittlichkeit hoch geschätzt, erfährt dabei eine späte, aber wunderbare Würdigung. Bereits die ersten Takte von „Jeux“ lassen aufhorchen. Es kann kein Zufall sein, dass hier eine archaische Atmosphäre anklingt, die Strawinskys „Sacre“ ungeheuer verwandt wirkt. Die frühlingshaft lichten Holzbläsersoli, die rätselhaft-raffinierten Klänge und Harmonien erscheinen wie eine Vorwegnahme dessen, was zwei Wochen später in die Welt hinaus dröhnen sollte.

Gewiss, es fehlen die schockierenden Schlagzeug-Eruptionen, die dem „Sacre“ rasch zur Unsterblichkeit verhalfen. Aber Kent Nagano und die Musiker aus Montréal machen Debussys Partitur zu einem ungeheuer vielschichtigen Ereignis, das harmonisch und auch seiner Form nach kaum weniger mutig erscheint als das Skandalstück des Exil-Russen.

Der Franzose Jean-Yves Thibaudet spielte das „Ägyptische Konzert“ von Camille Saint-Saëns. (Foto: Decca/Kasskara)

Es folgt eine Sternstunde des Pianisten Jean-Yves Thibaudet, der als einer der profiliertesten Saint-Saëns-Interpreten gilt. Diese Kompetenz kommt dem fünften Klavierkonzert des Franzosen („das Ägyptische“) in höchstem Maße zugute. Thibaudet trumpft mit Fingerfertigkeit und brillanter Virtuosität auf, ohne jemals in den Verdacht zu geraten, sich in bloßem Tongeklingel zu gefallen. Mit großem Feingefühl spürt er dem poetischen Tiefgang dieses farbenreichen Klavierkonzerts nach: seinen schillernden Exotismen, gipfelnd in arabischen Tonleitern und einem nubischen Liebeslied, das Saint-Saëns in Kairo den Schiffern auf dem Nil ablauschte.

Unter Thibaudets Zugriff hält zusammen, was weniger kundigen Interpreten leicht zu zerfallen droht: Passagen von Schubertgleicher Schlichtheit, kraftvolle Ausbrüche à la Rachmaninow, Liszt’sche Campanella-Glöckchen im Diskant. Der Franzose, seit langem eine feste Größe in der internationalen Pianistenszene, stellt sich mit dieser exzellenten Interpretation ein blitzsauberes Zeugnis aus.

Strawinskys Frühlingsopfer („Le Sacre du Printemps“), das im Untertitel „Bilder aus dem heidnischen Russland“ beschwört, lässt mindestens ebenso aufhorchen wie der Beginn dieses erstaunlichen Abends. Denn zunächst hämmert uns keineswegs der harte Sound des anbrechenden Maschinenzeitalters um die Ohren. Die Ostinati klingen vergleichsweise weich, die Klangflächen sind geprägt von französischer Clarté. Das mag zunächst verblüffen, hält den Fokus dieses Abends aber mit äußerster Konsequenz auf Paris. Die Wahlheimat des Exil-Russen drückt dieser Interpretation ihren Stempel auf.

Da Nagano auf erhöhte Podeste für die Bläser verzichtet, mithin alle Musiker auf der gleichen Ebene sitzen, entsteht zwischen den Gruppen eine erstaunliche Balance. Die gestopften Trompeten bringen im zweiten Teil Fernklänge mit purem Gänsehaut-Effekt. Manches Instrument scheint sich beinahe zu verstecken, und doch knüpfen Englischhorn und Bassflöte plötzlich an das ägyptische Kolorit des zuvor gehörten Klavierkonzerts an.

Hartes und Barbarisches muss der „Sacre“-Freund übrigens keineswegs ganz vermissen: Wenn die Pauken simultan losdröhnen, fährt es dem Hörer regelrecht in die Magengrube. Den Tanz des Opfers steigert Nagano bei vollkommener Kontrolle zu einem Hexenkessel, aus dem die Piccoloflöte heraus schrillt. So endet ein grandioser Abend mit einem zutiefst russischen Stück aus dem Geiste französischer Tonkunst.

(Die Reihe „Sinfonische Höhepunkte“ endet am 6. April 2019 mit dem Russian National Orchestra unter Dirigent Alain Altinoglu. Auf dem Programm stehen die „Chowantschina“-Ouvertüre von Modest Mussorgsky und Dmitri Schostakowitschs 5. Sinfonie. Der Pianist Mikhail Pletnev spielt Sergej Rachmaninows 2. Klavierkonzert. Informationen: https://www.theater-essen.de/spielplan/mikhail-pletnevrussian-national-orchestrarac-81418/2531/)




Botschaften aus Theresienstadt: Der Bariton Benjamin Appl und Liedpianist James Baillieu zu Gast im Konzerthaus Dortmund

Der Bariton Benjamin Appl stammt aus Regensburg und lebt in London (Foto: Uwe Arens)

Wer Benjamin Appl unbedingt in eine Schublade stecken möchte, wird damit Schwierigkeiten bekommen. Zwar gilt der 37-jährige Bariton aus Regensburg als exzellenter Liedsänger, aber er tritt auch in der Oper und im Konzert auf.

Das Etikett vom „hoffnungsfrohen Lied-Talent“ bleibt gleichfalls nicht recht haften an einem, der in den großen Konzertsälen Europas singt, bereits an der renommierten Guildhall School of Music & Drama in London lehrt und seit 2016 bei einem großen Plattenlabel unter Vertrag steht.

Sein Debüt im Konzerthaus Dortmund gab der letzte Privatschüler von Dietrich Fischer-Dieskau im Februar 2016 in der Reihe „Junge Wilde“. Jetzt kehrte er mit dem Pianisten James Baillieu zurück: Im Gepäck ein Programm, das wagemutig zwischen Kunstlied, Operette und Chanson balanciert. Orientalische Lyrik des persischen Dichters Hafis, vertont von den Komponisten Victor Ullmann und Johannes Brahms, trifft darin auf die opulente und todessehnsüchtige Romantik von Erich Wolfgang Korngold, auf einige „Wunderhorn“-Vertonungen von Gustav Mahler und auf Lagerlieder aus dem KZ Theresienstadt.

Für Victor Ullmanns „Liederbuch des Hafis“ stimmt Appl zunächst einen ironischen Tonfall an. Herrlich heuchlerisch klingt das, wenn er den Dichter über die Größe Allahs räsonieren lässt: Dessen vorausbestimmende Allmacht mache es ihm ja ganz unmöglich, nicht durch Wein und Weib zu sündigen. Das Zeugnis, das der Poet sich im Lied „Betrunken“ selbst ausstellt, fällt gleichwohl miserabel aus. Wut und Scham über die eigene Schwäche brechen sich Bahn. Appl findet für sie ingrimmig bebende, ja gallig gefärbte Töne.

Danach wird die Stimmung weicher, träumerischer. Frauenschönheit, Liebe und Güte klingen an, bei Victor Ullmann frei zwischen Dur und Moll schwebend, bei Johannes Brahms mit inniger, gleichwohl verhaltener Glut. Dank der Kunst des vorzüglichen Pianisten James Baillieu dringt Appl hier bis zu jenem abgeklärten Tonfall vor, wie man ihn aus den Intermezzi von Johannes Brahms kennt. Baillieu gehört zu jenen Zauberern, die ganze Seelenlandschaften entstehen lassen, sobald sie nur die Tasten berühren. Er ist einer jener wundersam diskreten Kulissenschieber, die jedem Kunstlied nahezu unbemerkt, aber äußerst wirkungsvoll die Szene bereiten.

Benjamin Appl war 2014 „New Generation Artist“ der BBC und erhielt 2016 den „Gramophone Award“ als „Artist of the Year“.(Foto: Uwe Arens)

Ein Lied von Hans Gál, einem Enkelschüler von Johannes Brahms, leitet über zur üppigen Romantik des nach Amerika emigrierten Österreichers Erich Wolfgang Korngold. Nun wird der Abend beinahe zu samtpfötig. Appls Bariton klingt schmeichlerisch sonor, aber zuweilen auch gleichförmig glatt. Der Dialog in „Der Knabe und das Veilchen“ erschließt sich dem Programmheftleser, aber nicht dem Hörer, weil Appl kaum die Stimmfarbe wechselt. Da fehlt es (noch) an charakteristischer Ausformung und Gestaltung.

Weit wirkungsvoller rühren Sänger und Pianist in Gustav Mahlers „Wunderhorn-Liedern“ die Kriegstrommel. Tieftraurig ist das Licht, das sie auf den einfachen Soldaten werfen, der Abschied nehmen muss von Heimat und Liebe. Das scheinbar fröhliche „Trallalei“, mit dem er dem Tod entgegen marschiert, schwillt bei Appl und Baillieu zu einem bitterbösen Schreckensgesang. Ferne Hornsignale, Verzweiflung, Trauermarsch. Erstaunlich, wie Appl es danach schafft, in den beinahe operettenhaften Plauderton des „Terezin Song“ zu wechseln.

Einen Stimmungswechsel bringt diese anonyme Komposition aber nicht: Sie leitet vielmehr über zu den erschütternden Theresienstadtliedern von Ilse Weber und Adolf Strauss. Mit diesen sentimentalen, zuweilen der Schnulze nahen Petitessen geht das Duo Appl/Baillieu bewundernswert feinfühlig und rücksichtsvoll um. So ist es nicht die Banalität mancher Melodie, die im Gedächtnis bleibt, sondern die Botschaft vom unermesslichen menschlichen Leid, das im Konzentrationslager Alltag war. Der Überlieferung nach soll Ilse Weber ihr berührendes Wiegenlied „Wiegala“ für die Kinder angestimmt haben, die gemeinsam mit ihr in die Gaskammer gingen.

Man wagt danach kaum weiter zu atmen. Indessen hält das Duo noch zwei Trostpflaster für sein Publikum bereit: Das „Urlicht“ von Gustav Mahler und, als Zugabe, „Morgen“ von Richard Strauss.

_________________________________

Der nächste Liederabend im Konzerthaus Dortmund gilt der ungewöhnlichen Konstellation von Stimme und Harfe: Gemeinsam mit Xavier de Maistre interpretiert die Sopranistin Diana Damrau am 14. Mai 2019 unter anderem Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy und Sergej Rachmaninow.

(Informationen: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/14-05-2019-diana-damrau-xavier-de-maistre-221783/)




Wagemutige Weiträumigkeit: Das London Symphony Orchestra unter Sir Simon Rattle in der Philharmonie Essen

Sir Simon Rattle dirigiert Anton Bruckners 6. Sinfonie (Foto: Hamza Saad)

Sir Simon Rattle dirigiert Anton Bruckners 6. Sinfonie. (Foto: Hamza Saad)

„This is Rattle“ hieß es im September 2017, als das London Symphony Orchestra (LSO) seinen neuen Musikdirektor mit einer zehntätigen Konzertreihe willkommen hieß. So begeistert der Einstand von Sir Simon Rattle einerseits gefeiert wurde, so kompliziert sind andererseits die Verhältnisse, denen sich der Ex-Chef der Berliner Philharmoniker bei seiner Rückkehr an die Themse stellen muss. Das Barbican Center, seit 1982 fester Spielort des Orchesters, hat eine so kleine Bühne, dass der Dirigent dort auf ein Fünftel seines Wunschrepertoires verzichten muss.

Ein Neubau ist nicht in Sicht. Stattdessen wirft der Brexit schwere Schatten voraus: Nach Rattles eigener Aussage bewerben sich deutlich weniger Musiker aus Europa beim LSO. Ein Jammer, auch mit Blick auf die glanzvolle Tradition des ersten unabhängigen und selbstverwalteten Orchesters von England. Edward Elgar gehörte einst zu seinen Chefdirigenten; ihm folgten viele große Künstlerpersönlichkeiten, zum Beispiel Arthur Nikisch, Pierre Monteux, Claudio Abbado, Sir Colin Davis und zuletzt Valery Gergiev.

Der Philharmonie Essen bescherte das Gastspiel der Londoner Symphoniker unter Sir Simon Rattle jetzt ein ausverkauftes Haus. Zu Beginn erklingt eines der bedeutendsten Werke von Béla Bartók: die „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“, in Auftrag gegeben vom Schweizer Mäzen Paul Sacher, berühmt für ihre formale Strenge und ihre enigmatische Tonsprache. Mit größter Disziplin formt das LSO den gesamten ersten Satz zu einem an- und abschwellenden Bogen. Aber diese Fuge ist hier mehr als die Studie einer staunenswerten klanglichen Verdichtung. Sie gibt einen Tonfall vor, der die Ohren öffnet und für hohe Konzentration im Publikum sorgt.

Die Gipfel erregen Staunen, aber keine Furcht

Mit Harfe, Celesta und einem Konzertflügel als Mittelachse, steigern sich die geteilten Streicher im zweiten Satz zu brennenden Klängen innerer Erregtheit. Das Schlagwerk, von Sir Simon links hinter dem Orchester postiert, schafft im dritten Satz eine entrückte Atmosphäre. Die Tonwiederholungen des Xylophons, die dumpfen Paukenglissandi, die verwischten Klänge der Celesta und des Klaviers machen dieses Adagio zu einem zauberischen Nachtstück. Durch das tänzerische Finale mit seinem so genannten „bulgarischen Rhythmus“ wirbeln die Musiker des LSO mit Temperament und virtuoser Sicherheit.

Sir Simon Rattle bedankt sich beim Konzertmeister des London Symphony Orchestra. (Foto. Hamza Saad)

Eine Phalanx von acht Kontrabässen schiebt das musikalische Geschehen nach der Pause von hinten an. Für die 6. Sinfonie von Anton Bruckner hat Simon Rattle sie an die Rückwand der Bühne postiert. Seine Deutung des Werks lässt erahnen, warum die Sechste in Anlehnung an Beethoven zuweilen „Bruckners Pastorale“ genannt wurde: So wenig monumental, so wenig martialisch oder auftrumpfend klingen Bruckners Sinfonien selten. Heitere Abgeklärtheit liegt über dem musikalischen Geschehen.

Die Höhepunkte, die Rattle mit dem LSO anstrebt, weisen den Menschen nicht ab. Die Gipfel erregen Staunen, aber keine Furcht. Alles ist Klang, der sich erst bildet, der zu wagemutiger Weiträumigkeit wächst. Unter der Leitung von Simon Rattle füllen sich diese Weiten mit sanglicher Wärme, ja mit einem Glücksleuchten, gegen das sich kein Dunkel hält.




Die Spitze eines grausamen Eisbergs: Der Japaner Tomo Sugao inszeniert Puccinis Oper „Turandot“ in Dortmund

Die eisumgürtete Prinzessin Turandot (Stéphanie Müther). (Foto: Björn Hickmann)

Die eisumgürtete Prinzessin Turandot (Stéphanie Müther). (Foto: Björn Hickmann)

Einem großen Dilemma musste Giacomo Puccini bei der Komposition seiner Oper „Turandot“ ins Auge sehen. Wie sollte er die Verwandlung einer Männer mordenden, unerbittlich grausamen Prinzessin in eine liebende Frau glaubhaft machen? Das Problem war ungelöst, als Puccini am 29. November 1924 starb. Seine „Märchenoper“ blieb Fragment und wurde auf Bitte des Dirigenten Arturo Toscanini von Franco Alfano zu einer Fassung ergänzt, die bis heute aufgeführt wird.

Von der Eiskalten angezogen wie die Motte von der Flamme, singt Prinz Calaf unentwegt von Liebe. Indessen glaubt ihm der japanische Regisseur Tomo Sugao kein Wort. Das zeigt seine Neuinszenierung am Theater Dortmund, in der Turandot dem Prinzen letztlich nicht mehr ist als der Schlüssel zur Macht. Aus Sicht der Regie geschieht es nicht zum ersten Mal, dass sie auf derart unmenschliche Weise benutzt wird. Vielmehr behauptet Sugao im 2. Akt, dass die drei Minister Ping, Pang und Pong die Prinzessin bereits im Kindes- und Jugendalter sexuell missbraucht haben. Turandots Traumatisierung erfolgt damit nicht auf dem Umweg über ihre Ahnin, sondern ganz direkt.

Wie allen Bewerbern, stellt Turandot (Stéphanie Müther) auch Calaf (Andrea Shin) drei Rätsel. (Foto: Björn Hickmann)

Um die angeblich aufblühende Liebe muss der Regisseur sich auf diese Weise nicht kümmern. Turandot und Calaf bleiben einander körperlich fern, auch im dritten Akt, der keine Annäherung zeigt und erst recht keinen Kuss – mag das Libretto auch anderes schildern.

Hier geht es um die Macht in einem Menschenfresser-Staat: Nicht zufällig sind die Chöre in dieser Produktion gekleidet wie zu Maos Zeiten. Trotz langer Geheimhaltung ist heute bekannt, wie Maos „Großer Sprung nach vorne“ manche Provinz so sehr in Hungersnöte trieb, dass tatsächlich Menschen gekocht und gegessen wurden.

Gewaltbereiter, aufgepeitschter Mob

Als wogende Masse sind Opernchor, Statisterie und Kinderstatisterie des Dortmunder Theaters an diesem Abend in ständiger Bewegung. Von drohenden Gesten leicht zu nackter Gewalt und animalischer Gier übergehend, bildet dieser aufgepeitschte Mob die bedrohliche Folie für Puccinis „Dramma lirico“. Turandot ist, so gesehen, nur die Spitze eines abstoßend antihumanen Eisbergs. Prinz Calaf, sein blinder Vater Timur und die Sklavin Liù stolpern wie Fremdkörper durch diesen chinesischen Albtraum. Dass die Personenführung der Hauptfiguren eher statisch ist, fällt bei diesem Gewusel nur wenig auf.

Pang, Ping und Pong (Fritz Steinbacher, Morgan Moody, Sunnyboy Dladla v.l.) versuchen Calaf (Andrea Shin, vorne) von seiner Bewerbung um Turandot abzubringen. (Foto: Björn Hickmann)

Pomp und Pracht gehören offenbar zu „Turandot“-Aufführungen wie das Feuerwerk zu chinesischen Festlichkeiten. Frank Philipp Schlößmann (Bühne) und Mechthild Seipel (Kostüme) enttäuschen die Erwartungen nicht: vom großen Glücksdrachen bis zur riesigen Mondscheibe, von prachtvollen Gewändern bis zum exotischen Kopfputz bekommt das Auge viel geboten.

Das große Podest als Spielfläche und die wuchtigen, zuweilen schräg gestellten Wand- und Deckenelemente taucht Ralph Jürgens stimmungsvoll in rotes und blaues Licht. Der von Fabio Mancini einstudierte Chor agiert vorzüglich und ist auch stimmlich gut disponiert, neigt am Premierenabend aber zuweilen zu exzessiver Lautstärke.

Blockhafte Wucht der Philharmoniker

Das liegt auch an den Dortmunder Philharmonikern, die unter der Leitung von GMD Gabriel Feltz exotisch kolorierte Tableaus entfalten, aber mehr Interesse an blockhafter Wucht zeigen als an Lautstärken, die sich vom Fortissimo aufwärts noch differenzieren ließen. Puccinis pentatonische Harmonien entfalten verlässlich ihre Wirkung, und das Xylophon setzt sich mit seinen trockenen Akzenten stets gut durch. Aber die Vielzahl der verschiedenen Gongs kommt kaum zur Geltung, und die markerschütternden Schläge auf das Tamtam, mit der Calaf seine Bewerbung um Turandot verkündet, gehen im Tutti nahezu unter – womöglich auch deshalb, weil das Instrument nicht auf der Bühne steht. Die Rhythmen im grotesken Masken-Terzett des 2. Akts, von Puccini bewusst holprig gestaltet, verrutschen in Dortmund nahezu ins Durcheinander. Am Ende bleibt mehr orchestraler Bombast im Ohr als Zauber.

Am Ziel seiner Wünsche: Calaf (Andrea Shin) hängt sich den Mantel des alten Kaisers um (Foto: Björn Hickmann)

Sängerisch kann diese Produktion mit einem Calaf punkten, der Strahlkraft und stimmliches Durchhaltevermögen vereint (Andrea Shin), und mit einer Turandot, die ihre eisigen Höhen bis zu einschüchternder Dramatik steigert (Stéphanie Müther). Als Liù wird Sae-Kyung Rim gefeiert. Sie erreicht mit ihrem harten Sopran große Lautstärken, ist damit aber kein glaubhafter Gegenpol zur Turandot. Vielmehr erhält die Eisumgürtete eine Stählerne an ihre Seite, der warme, mädchenhafte oder gar sehnsuchtsvolle Töne am Premierenabend gänzlich fehlen. Was Karl-Heinz Lehner aus der kurzen Szene des um Liù trauernden Timur macht, zeugt von beachtlicher stimmlicher und darstellerischer Kunst.

In der Schluss-Szene schleicht Turandot still davon, während Calaf sich den Kaisermantel des verstorbenen Altoum um die Schultern legt. In triumphaler Pose vor dem Chor verharrend, feiert er seinen Durchbruch zur Macht. So sehen sie wohl aus, die Sieger. Die Titelheldin hat uns mehr interessiert.

  • Termine und Informationen: https://www.theaterdo.de/detail/event/turandot/



Der Weg zur Synthese: Yuja Wang und Leonidas Kavakos mit einem Duoabend im Konzerthaus Dortmund

Im „Allegro brusco“ fallen die Fesseln. Brusco, das bedeutet auf deutsch barsch oder grob. Und so hämmert Yuja Wang dreimal den Ton C in den Konzertflügel, stanzt ihn kraftvoll ins Bassregister des Instruments. Leonidas Kavakos antwortet auf seiner Stradivari mit der gleichen, lustvoll aggressiven Energie. Schrubbt Akkorde in die Saiten, deren grelle Dissonanz einer Attacke auf Ohren und Nerven gleicht.

Sergej Prokofjews 1. Violinsonate, gewidmet dem legendären Geiger David Oistrach, scheint den beiden berühmten Interpreten Befreiung zu bringen. Die radikale, ja anarchische Kraft, mit der sich das Genie des Komponisten hier Bahn bricht, führt ihr Spiel im Konzerthaus Dortmund auf einen ersten Gipfel.

Kavakos dreht sich für das heroische Seitenthema stärker dem Publikum zu, die brennende Intensität seines Violintons zu voller Glut steigernd. Dieser Klang wirkt umso stärker, als der Geiger das einleitende Andante assai nur wenige Minuten zuvor mit eiskalt rieselnden Läufen beendet hatte: mit gespenstisch fahlen Tonleitern, die dem Willen des Komponisten nach einem Wind gleichen sollten, der über einen Friedhof streicht.

Grabesdunkel also, abgelöst von unirdisch weißem Licht. Träumerisch zarte Melodien und wild tobende Motorik. Derlei Kontraste fegen die vornehme Eleganz davon, mit der Wang und Kavakos zu Beginn die Sonate B-Dur 454 von Wolfgang Amadeus Mozart interpretieren. Gleichwohl kündet ihre Lesart nicht allein von heiter-verspieltem Rokoko, sondern auch von Abgründen, wie Mozart sie zum Beispiel in seinem „Don Giovanni“ aufriss. Als wollten die Künstler der beseelten Idylle des Andante nicht recht glauben, treiben sie die Musik mit unterschwelliger Nervosität voran. Der Violinton klingt zuweilen gläsern. So leichtfüßig Läufe und Triller auch dahin perlen mögen, streifen zuweilen doch Schatten vorüber.

Seit ihrer 2013 aufgenommenen Brahms-CD (siehe Cover-Abbildung) treten Leonidas Kavakos und Yuja Wang immer wieder zusammen auf. Sie deswegen ein Duo zu nennen, scheint gleichwohl gewagt ob des weltweiten Ruhms, den beide als Solisten genießen – und angesichts der Tatsache, dass Enrico Pace als Kavakos‘ langjähriger musikalischer Partner gilt.

Gleichwohl finden die glamouröse Chinesin und der stets mit einem Schuss reservierter Strenge auftretende Grieche nach der Pause zu bemerkenswerter musikalischer Einheit. In Béla Bartóks Rhapsodie für Violine und Klavier Nr. 1 steigern sie tänzerische Rhythmik und feurigen Volksliedton, bis alles nur noch wirbelnde, rauschhafte Virtuosität ist. Darf Kavakos hier nachgerade zigeunerisches Temperament ausspielen, so kommen die viel gerühmten „fliegenden Finger“ der Yuja Wang in der Violinsonate von Richard Strauss zum Zuge. Was der 23-jährige Komponist der Pianistin abverlangt, gleicht einem halben Klavierkonzert: rauschhafte Tonkaskaden und Arpeggien, kapriziöse Einsprengsel und plötzliche Beleuchtungswechsel in voller Fahrt.

Aber eine Yuja Wang hat dergleichen souverän im Griff. Wie im Gleitflug segelt sie durch den vertrackt schweren Part, trumpft grandios auf, ohne die Violine zu übertönen. Im Gegenteil blüht der Ton von Leonidas Kavakos noch einmal auf, dass es zum Staunen ist. Süffig und schwelgerisch tönt uns das Jugendwerk entgegen, dem Vorbild von Johannes Brahms noch nahe. Beide Künstler wirken nun vollkommen gelöst, finden in dieser Freiheit aber zur packenden, über jeden Zweifel erhabenen Synthese.




Die Abgründe der Durchschnittstypen: Tatjana Gürbaca inszeniert Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“

"Lebt denn kein Gott?" Max (Maximilian Schmitt) wird von der abergläubischen Dorfgemeinschaft mit Kreuzsymbolen behängt (Foto: Martin Kaufhold)

„Lebt denn kein Gott?“ Max (Maximilian Schmitt) wird von der abergläubischen Dorfgemeinschaft mit Kreuzsymbolen behängt. (Foto: Martin Kaufhold)

„Das Böse ist immer und überall“, sang einst eine Band österreichischer Blödelbarden mit dem schönen Namen Erste Allgemeine Verunsicherung. Das war zwar reichlich unernst gemeint, könnte unter Aussparung der Ironie aber das Motto gewesen sein, dem die Berliner Regisseurin Tatjana Gürbaca in ihrer Neufassung der Oper „Der Freischütz“ folgte. Das Schauerstück von Carl Maria von Weber, das jetzt im Essener Aalto-Theater Premiere hatte, spaltete das Publikum in Buh- und Bravo-Rufer.

Max (Maximilian Schmitt) wird von Ängsten geplagt. (Foto: Martin Kaufhold)

Gottesfern ist die von Ängsten und Aberglauben dominierte Welt nach dem Dreißigjährigen Krieg, in der Gürbaca und ihr Team die Handlung ansiedeln. Damit folgen sie den Vorstellungen des Komponisten und seines Librettisten Johann Friedrich Kind. Umstellt von schwarzen Häuschen mit spitzem Giebel (Bühne: Klaus Grünberg), kämpft der glücklose Jägersbursche Max um die Hand seiner geliebten Agathe, mit dem sinistren Freund Kaspar als zwielichtigem Helfer.

Aber die detailgenau gestalteten Kostüme von Silke Willrett lassen das Geschehen durch die Zeiten wandern. Zunächst klar die Mitte des 17. Jahrhunderts zitierend, rücken sie im Laufe des Abends immer näher an die Gegenwart heran. Am Ende stolpern Durchschnittstypen in Jogginghosen durch das, was vom deutschen Wald noch übrig ist: ein am Boden liegendes Gestrüpp, das allen Darstellern zur Fußangel wird.

Pardon wird nicht gegeben

Die inzwischen mehrfach ausgezeichnete 45-jährige Regisseurin, die ihr Handwerk unter anderem bei Ruth Berghaus und Peter Konwitschny lernte, spürt in der heimlichen deutschen Nationaloper Abgründen nach, die lange vor der berühmten Szene in der Wolfsschlucht wirkmächtig sind. Die Bewohner ihres archetypischen Dorfes sind der eigentliche Albtraum: Sie setzen Max unentwegt zu. Unerbittlicher Erfolgsdruck wird in dieser Gemeinschaft sekundiert von allzu rascher Bereitschaft zu Spott und Hohn. Da können kichernde Frauen in Kittelschürzen noch so hell von veilchenblauer Seide trällern: Der dörfliche Mikrokosmos ist ein finsteres Nest. Pardon wird in dieser Welt nicht gegeben.

Die komplett schwarze Bühne von Klaus Grünberg könnte auch als Kulisse für Otfried Preußlers „Krabat“ dienen. Mit Kreide sind magische Zeichen wie das Satorquadrat und ein Heptagramm an die Fassaden gekritzelt. Den okkulten Symbolen steht ein unvollendetes Kreuz mit der Aufschrift GOTT in Spiegelschrift gegenüber. Mitten auf dem Dorfplatz klafft ein Loch im Boden, aus dem in der Wolfsschluchtszene Düsteres an die Oberfläche steigt.

Blutiges Ritual: Kaspar (Heiko Trinsinger) beim „Gießen“ der Freikugeln. (Foto: Martin Kaufhold)

Dass dies psychologisch gemeint ist, Gürbaca mithin den Menschen selbst als Hort der Dämonen sieht, wird überdeutlich, wenn Kaspar die Freikugeln mit blutigen Händen aus Maxens Körper wühlt. Folgerichtig antwortet Samiel im Aalto-Theater nicht als unsichtbare Stimme aus dem Off. Es ist die Dorfgemeinschaft selbst, die mit dem Rücken zum Publikum die Zahl der Freikugeln mitzählt: seufzend zunächst, schauerlich flüsternd, dann zunehmend wüster und lauter.

Sinnlos gewordene Bräuche

Bis zum fatalen Probeschuss auf die weiße Taube erzählt die Regie stringent von alten Bräuchen und Machtstrukturen, die in einer vom Krieg komplett veränderten Welt schräg und sinnlos wirken. Den Rest der Oper gestaltet sie als Epilog, als eine Folge von Standbildern, die das Happy End durch den Eremiten verneint. Bewundernswert rasch und punktgenau wechseln die Choristen des Aalto-Theaters die Positionen, um diese symbolträchtigen Genrebilder entstehen zu lassen.

Gürbaca und ihr Team bieten so viel Futter für Auge und Hirn, dass es mancherorts gleich für drei Inszenierungen reichen würde. Ohne Schonung sezieren sie dabei Provinzialismus und Neid, kollektive Traumatisierungen, übersteigerte Traditionspflege und eine nachgerade gemütliche Spielart der Grausamkeit. Was „deutsch und echt“, interessiert sie weniger als gesellschaftliche Strukturen, die bis in unsere Zeit hineinwirken.

Kaspar (Heiko Trinsinger,l.) überredet Max (Maximilian Schmitt) zum nächtlichen Ausflug in die Wolfsschlucht. (Foto: Martin Kaufhold)

Das musikalische Niveau steht dem der Inszenierung kaum nach. Der aufstrebende Tenor Maximilian Schmitt ist ein Max, wie man ihn sich nur wünschen kann: mit lyrisch-leuchtendem Timbre, gleichwohl grundiert vom Unterton nagender Ängste. Ihm gelingt das vielseitige, spannende Porträt eines Gequälten, dem der Weg zur Liebe versperrt scheint. Ensemblemitglied Jessica Muirhead findet als Agathe aus dem Ton dunkler Vorahnungen zu den innig leuchtenden E-Dur-Klängen ihrer zentralen Arie („Und ob die Sonne“). Stark auch Heiko Trinsinger, der seinen Kaspar von rau-jovialen Tönen zu dämonischer Kraft steigert. Viel Applaus erntet Tamara Banjesevic für ihre Darstellung des Ännchens, dessen Fröhlichkeit bei ihr weniger naiv als beherzt wirkt.

Schauerromantik trotz Schönklang

Aus dem Orchestergraben steuern die Essener Philharmoniker unter ihrem Chef Tomas Netopil Glanzvolles und Gruseliges hinzu. Hörner und Holzbläser zaubern Waldesidylle herbei, die Streicher spielen mit wendigem Esprit. Gewiss wäre auch eine Lesart mit schärferen Kanten denkbar, aber die Schauerromantik kommt trotz Schönklang nicht zu kurz. Leise Tremoli ziehen auf wie gespenstischer Nebel. Dazu tönt dumpfer Paukenschlag, als stockte das Herz. Die Chöre, ebenfalls in erfreulicher Verfassung, zeigen viele Facetten. Als hohnlachende Dörfler, heitere Brautjungfern und gut gelaunte Jäger sind sie stimmlich präsent, aber auch als flüsternde und stöhnende Untote in der Wolfsschlucht.

Mit einer feierlich-stummen Kranzniederlegung beenden Gürbaca und ihr Team, was sie als „Requiem auf ein Dorf“ bezeichnen. Dazu zeigt eine Videoprojektion Bahngleise, die weiß Gott wohin führen mögen.

(Informationen und Termine: https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/der-freischuetz/)




Zwischen Kinderspiel und Abstraktion: Die Regisseurin Lotte de Beer wagt sich in Essen an „Carmen“ von Georges Bizet

Zwei Kinder-Toreros beobachten, wie sich das Drama von Don José (Luc Robert) und Carmen (Bettina Ranch) entfaltet (Foto: Matthias Jung).

Zwei Kinder-Toreros beobachten, wie sich das Drama von Don José (Luc Robert) und Carmen (Bettina Ranch) entfaltet (Foto: Matthias Jung).

Wenn die Beleuchtung auf Violett wechselt, haben zwei Kinder das Wort. Über die Tonanlage des Essener Aalto-Theaters legen sie Carmen, Don José und Escamillo die französische Sprache in den Mund, während die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne stumm dazu agieren. Mit dieser selbst erstellten Dialogfassung lösen Lotte de Beer und ihr Regieteam das Kuddelmuddel um die Oper „Carmen“, die in so vielen Versionen überliefert wurde, dass ihr späterer Welterfolg schier verwundern muss.

Wer hält hier wen gefangen? Carmen (Bettina Ranch) umgarnt Don José (Luc Robert. Foto: Matthias Jung)

Die womöglich populärste Oper aller Zeiten in Szene setzen zu müssen, dürfte eine Art Regie-Albtraum sein. Wie den Zigeunerklischees entkommen, dem Stierkampfbrimborium und den Geschlechterstereotypen? Das ist fürwahr kein Kinderspiel – oder vielleicht doch?

Die Niederländerin Lotte de Beer dreht den Spieß mutig um. Direkt nach der Ouvertüre springen zwei Mini-Toreros über die Bühne, prachtvoll ausstaffiert, aber vermutlich nicht älter als acht Jahre. Ihnen sehen wir in den folgenden vier Akten zu, wie sie „Carmen“ spielen. Georges Bizets vermeintlich totinszeniertes Meisterwerk erhält durch diesen Kniff eine Meta-Ebene, die das sattsam bekannte Stück wieder erträglich macht, ihm sogar eine neue Leichtigkeit verleiht.

Die Bühne ist dabei so leer, als habe Wieland Wagner diese „Carmen“ posthum entrümpelt. Keine Zigarettenfabrik, keine Schenke, keine Bergschlucht und keine Stierkampfarena, sondern lediglich eine kreisrunde Spielfläche, die zugleich öffentlicher Platz und Arena ist. Außer einem kleinen Zelt, das die Kinder während eines Zwischenakts aufbauen, gibt es keinerlei Requisiten.

Männlein wie Weiblein streifen sich in der Essener Neuproduktion den Rock über (Foto: Matthias Jung)

Als sei dieser hohe Abstraktionsgrad noch nicht genug, treten Choristen und Gesangssolisten nahezu einheitlich gekleidet auf. Rote Hosen, weiße Hemden und braune Westen bestimmen die Kostüme, die angenehm zurückhaltend und edel wirken (Clement & Sanôu). Mag Carmen ihren Rock auch ein wenig höher über das Knie lüften als ihre Kameradinnen, von bunten Tüchern, Goldschmuck und Flitter ist nichts an ihr zu sehen. Sie nimmt auch nicht an dem munteren Klamottentausch zwischen den Choristen und Choristinnen teil, mit dem die Regie die Geschlechterrollen in Frage stellt.

Die Personenführung ist stark aus der Musik heraus entwickelt. Chöre und Ensembles bewegen sich wie nach einer Choreographie: Sie greifen Schwung und Rhythmus von Bizets Partitur auf und treiben das Rad der Handlung unentwegt nach vorne. Zuweilen frieren die bewegten Tableaus aber auch zu Standbildern ein, die mit weißem Licht wie aus dem Dunkel der Aalto-Bühne heraus geschnitten scheinen. Überhaupt kommt der Ausleuchtung des Raums hier große atmosphärische Bedeutung zu (Licht: Alex Brok).

Wenn Carmen und José sich unterhalten, wechselt das Licht auf violett (Foto: Matthias Jung)

Schwächer gelingt die Charakterisierung der Figuren. Soll diese Carmen nun eine Femme fatale sein oder eine Femme fragile – oder weder noch? In Essen wirkt sie trotz roter Haarpracht beinahe wie eine unter vielen, was den Kontrast zu ihrer Gegenspielerin Micaëla schmälert, der frommen Bürgerstochter, die ebenfalls um Don Josés Liebe kämpft. Escamillo trägt den rotweißen Einheitsdress. Die Kinder-Toreros folgen ihm wie Schatten, zuweilen hebt er sie auf seine Schultern. Selbstgewissheit oder gar Machismo nimmt man diesem Mann nicht wirklich ab. Alles bleibt Behauptung.

Carmen (Bettina Ranch, r.) und die Schmuggler nehmen Leutnant Zuniga gefangen (Foto: Matthias Jung)

Die Stimmen klingen am Premierenabend oft ein wenig verloren auf der riesigen Bühnenfläche. Die Berlinerin Bettina Ranch, seit 2016/17 Ensemblemitglied der Essener Oper, bedient als Carmen gekonnt die Palette der schmeichlerischen bis schneidenden Töne.

Aber abseits von Habanera und Seguidilla besitzt ihr Mezzo gerade eben noch genug Volumen, um José einzuheizen. Da erntet Jessica Muirhead für die Felsenarie der Micaëla beinahe mehr Szenenapplaus. Dem steifen Bassbariton von Almas Svilpa (Escamillo) merkt man die vielen Auftritte als Wotan, Holländer und Jochanaan deutlich an. Der Kanadier Luc Robert gönnt uns als Don José einen feinen Spinto-Tenor und eine sensibel gestaltete Blumenarie.

Am Dirigentenpult setzt Saarbrückens GMD Sébastien Rouland die Partitur mit dem rechten Esprit unter Zug und Spannung. Unter seiner Leitung steigen die wunderbaren Girlanden des Zigarettenrauchs der Fabrikarbeiterinnen zart, aber ohne süßliches Parfüm in die Luft. Was Schmiss und Schwung braucht in den großen Chören und den Torero-Musiken, laden die Essener Philharmoniker zudem mit federnder Eleganz auf. Schade, dass der Absprung in das rasante Schmugglerquintett bei der Premiere komplett daneben geht. Erst nach vielen Takten finden Sänger und Orchester endlich wieder zueinander.

Die exzellent singenden und agierenden Chöre, der Kinderchor und die Statisterie des Aalto-Theaters verschmelzen zu einer eindrucksvoll wogenden Masse, aus der heraus sich das Drama entwickelt. Sie bilden die Kulisse, vor der die Natur des Don José kenntlich wird: ein Korken auf stürmischer See, wie planlos umhergetrieben. Dass dieser Mann am Ende mordet, was er liebt, scheint unausweichlich. José fällt wie in Hyperions Schicksalslied: wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, blindlings von einer Stunde zur anderen.

(Termine und Informationen: https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/carmen/)




Simultantheater in Lichtgeschwindigkeit: „Die Parallelwelt“ von Kay Voges hatte in Dortmund und Berlin zugleich Premiere

Zwei Welten, zwei Hochzeiten, viel Verwirrung: Szene aus "Die Parallelwelt" (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Zwei Welten, zwei Hochzeiten, viel Verwirrung: Szene aus „Die Parallelwelt“. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Freds Pullover ist furchtbar. Eine optische Beleidigung in Blau. Aber die gestrickte Scheußlichkeit mit den zwei auffallenden Querstreifen besitzt einen entscheidenden Vorteil: Sie ist leicht wiederzuerkennen. Und das ist wichtig in der „Parallelwelt“, denn in ihr ist Fred immer ein anderer, verkörpert durch ein halbes Dutzend Schauspieler und Schauspielerinnen.

Im neuen Stück des Dortmunder Intendanten Kay Voges und seines Teams erleben wir Fred in verschiedenen Phasen seines Lebens zugleich. Er ist jung und er ist alt, Familienvater und Pflegefall, frisch verliebt und verdrossene Hälfte einer gescheiterten Ehe.

Mehrere Terabyte an Daten werden an diesem Premierenabend in Lichtgeschwindigkeit durch ein Glasfaserkabel gejagt, welches das Schauspiel Dortmund mit dem Berliner Ensemble verbindet. Denn „Die Parallelwelt“ findet als Simultanaufführung in beiden Städten zugleich statt. Hier wie dort filmen Live-Kameras die Schauspieler auf Schritt und Tritt. Was sie aufnehmen, sehen wir als Doppelbild und als Übertragung auf Leinwänden, die den Guckkasten zu zwei Dritteln in ein Kino verwandeln.

Eine Geburt in Berlin, ein Tod in Dortmund: „Die Parallelwelt“ erzählt eine Lebensgeschichte von ihrem Beginn und ihrem Ende her. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Moderne Schöpfungsgeschichte

Voges greift Freds Lebensgeschichte an Anfang und Ende gleichzeitig auf. Uwe Schmieder, der uns in Dortmund die Agonie des Sterbenden vor Augen führt, geht dabei ähnlich unerschrocken an die Grenzen des Darstellbaren wie Stephanie Eidt, die in Berlin die Geburt des Babys spielt. Für schwache Nerven ist diese Introduktion nur bedingt geeignet. Aber an den scheinbar extremen Gegenpolen des Lebens findet sich seltsam Gleiches: die Sterilität der Zimmer, die Tracht der Krankenschwestern, der tröstende Zuspruch, schließlich die Waschung der Körper. Dazu erzählt Voges eine moderne Schöpfungsgeschichte, eine Genesis von einer Welt ohne Abstände, in der das Glasfaserkabel zum Räume und Zeiten verbindenden Wurmloch wird.

Was ist Original, was ist Kopie?

Die folgenden zweieinviertel Stunden gleichen einem bildgewaltigen, verrückten Spiegellabyrinth, in dem hinter jeder Biegung andere Fragen auf uns warten. Was ist Original und was Kopie? Was ist real, was virtuell? Ist die Welt mehr als Wille und Vorstellung? Gibt es überhaupt Materie, wenn am Ende womöglich alles nur Energie ist? Voges und seine Dramaturgen spielen ähnlich rasant mit diesen Themen wie die Techniker mit den Möglichkeiten von Bildregie (Voxi Bärenklau) und Videodesign (Mario Simon, Robi Voigt).

Ohne Live-Kameras läuft nichts in der „Parallelwelt“. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Das mag ernst klingen, wird aber höchst komisch und unterhaltsam, wenn der gegenläufig erzählte Abend seinem Zentrum zustrebt, also der Lebensmitte von Fred. Denn während seiner Hochzeit mit Stella, die in Berlin und Dortmund zugleich gefeiert wird, tut sich ein Riss in der Raumzeit auf. Die Festgesellschaften stehen plötzlich sich selbst gegenüber, woraus ein herrlich amüsantes Chaos entsteht. In den hitzig ausbrechenden Diskussionen darüber, welche Feier denn nun die wahre und echte sei, werden die Bräute hysterisch („Mein Kleid ist verdammt nochmal ein Unikat!“). Begriffe wie rechts und links verschwimmen, was plötzlich pikant politische Töne ins turbulente Spiel bringt. Selbst kalauernde Currywurst-Vergleiche werden nicht ausgelassen.

Aus der Komik zurück zum Ernst

Erstaunlich, wie die Macher der „Parallelwelt“ nach diesem Riesen-Hallo zur Ernsthaftigkeit zurückfinden. Immer wieder gibt es so genannte Loops, in denen sich bestimmte Szenen wiederholen. Manchmal verhalten sich die Darsteller dabei eine Winzigkeit anders als erwartet, was dann zu einem anderen Fortgang der Geschichte führt – oder auch nicht. Es ist, als spielte dieser Abend beständig mit dem Was-Wäre-Wenn, mit den schier unendlichen Möglichkeiten, zwischen denen jeder Mensch immerzu die Wahl hat.

Verdoppelung, Vervielfältigung und Fragmentierung der Bilder in „Die Parallelwelt“. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Jagd nach den Parallelen im vermeintlich Paradoxen gipfelt in eine flimmernde, sich im Tempo rasant steigernde Videosequenz, in der die Bilder wie eine entfesselte Flut vorbei rauschen: verdoppelt, vervielfacht, fragmentiert. Verwirrend und betörend zugleich, nicht zuletzt auch durch die Musik von T.D. Finck von Finckenstein. Mit diesem Feuerwerk hätte der Abend enden können, aber das Stück geht noch rund 20 Minuten weiter, obschon das meiste bereits gesagt scheint. Zu den sanften Klängen des Songs „Enjoy the silence“ von Depeche Mode plätschert „Die Parallelwelt“ beinahe ein wenig müde aus. In Erinnerung aber bleibt die überbordende Fantasie eines unbedingt sehenswerten Theaterabends, der von Entgrenzung und Neuzusammensetzung der Welt erzählt.

(Infos/Termine: https://www.theaterdo.de/detail/event/die-parallelwelt/)




Gewagter Dreiklang: Das Rotterdam Philharmonic Orchestra und Yannick Nézet-Séguin eröffnen die Konzertsaison in Essen

Yannick Nézet-Séguin (l.) und der Pianist Yefim Bronfman. (Foto: Sven Lorenz)

Bemerkenswert früh startet die Philharmonie Essen in die aktuelle Konzertsaison. Noch zeigt das Kalenderblatt nicht September, noch weilt ein Großteil der Mitarbeiter in den Spielzeitferien, da öffnet das Haus bereits seine Pforten, um mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra einen Klangkörper von internationaler Klasse zu präsentieren.

Der Herbst wird weitere illustre Gäste aus dem Ausland bringen: das Mariinsky Orchestra und die St. Petersburger Philharmoniker, das Orchestre des Champs-Elysées, das Mahler Chamber Orchestra, das City of Birmingham Symphony Orchestra und die Londoner Philharmoniker.

Im Jahr des 100. Geburtstags haben die eingangs erwähnten Musiker aus Rotterdam Grund zu feiern. Andererseits gilt es, Abschied zu nehmen. Das Essener Konzert ist eines der letzten unter Chefdirigent Yannick Nézet-Séguin, der das Orchester nach nunmehr zehn Jahren verlässt, um zur New Yorker Met zu wechseln. Sein Nachfolger, der 29-jährige Lahav Shani aus Tel Aviv, wird der bislang jüngste Leiter in der Geschichte des Orchesters.

Yannick Nézet-Séguin dirigiert das Rotterdam Philharmonic Orchestra. (Foto: Sven Lorenz)

Wie ein gewagter Dreiklang scheint die Essener Programmfolge auf den ersten Blick. Haydn, Liszt und Tschaikowsky – kann das denn gut gehen? Muss Joseph Haydns 49. Sinfonie (mit dem Beinamen „La Passione“) nicht erdrückt werden von orchestralen Schlachtrössern wie dem 2. Klavierkonzert von Franz Liszt und der 4. Sinfonie von Pjotr Tschaikowsky? Droht sie nicht zur bloßen Aufwärmübung zu verkommen, zum kleinen klassischen Pflichtstück vor der großen romantischen Kür?

Gründlich und mühelos beweisen die Gäste aus Rotterdam das Gegenteil. Mit höchster Sorgfalt wird hier musiziert, mit geistsprühender Vehemenz und so feiner Phrasierung, dass Haydns Musik unterhaltsamste rhetorische Qualitäten entfaltet. Der fahle, nahezu ohne Vibrato gestaltete Kopfsatz zeugt von der Kenntnis historischer Aufführungspraxis. Seufzermotive klingen edel, Tonrepetitionen bestechend präzise, das Menuett federnd elegant. Es ist ein Auftakt nach Maß: Mit dieser Haydn-Sinfonie präsentiert sich das Orchester in hervorragender Verfassung und glänzender Spiellaune.

Der Pianist Yefim Bronfman, 1958 in Tashkent geboren, ist heute US-Amerikaner. (Foto: Sven Lorenz)

Aus dem 2. Klavierkonzert von Franz Liszt tönt uns erfrischend wenig Theaterdonner entgegen. Dank Yannick Nézet-Séguin und der Kunst des vorzüglichen Pianisten Yefim Bronfman ist Franz Liszt endlich einmal in kompetenten Händen: Wir hören Opulenz statt Schwulst, Verfeinerung statt Kitsch, Triumphales statt Triviales. Wohl gönnt Bronfman uns donnernde Oktaven, dämonisch grollende Bässe und lichtes Geklingel im Diskant. Aber diese Effekte sind eingebunden in eine sinnstiftende Interpretation, die den oft unterschätzten Komponisten als ebenbürtigen Zeitgenossen von Richard Wagner zeigt. So grüßt aus manch zackig punktiertem Rhythmus, aus mancher schimmernd gebrochenen Akkordfolge die Walküre herüber.

Tschaikowskys 4. Sinfonie klingt unter der Leitung des Frankokanadiers eher französisch-elegant als russisch-rau. Machtvolle Fanfaren im Blech, glutvolle Melodik in den Streichern, fein schwebende Holzbläser-Soli zeigen noch einmal das bestechende Können des Orchesters, das Tschaikowskys Sinfonie frei strömen lässt, statt sie blockhaft darzubieten. Freilich klingt uns auch manch extremes Pianissimo, mancher Knalleffekt im Forte entgegen, während die Höhepunkte zwar sehr klangvoll gestaltet sind, jedoch ohne alarmierende oder bestürzende Dramatik. Aber im Allegro con fuoco gibt der sportlich agierende Nézet-Séguin noch einmal ordentlich Gas – und reißt das Publikum damit prompt von den Sitzen.

(Informationen zum Spielplan: https://www.theater-essen.de/philharmonie/spielplan/)




Im Konfettiregen: Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa verabschiedet sich nach 13 Jahren in Dortmund

Adieu Dortmund: Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa zieht gen Baden-Baden (Foto: Pascal Amos Rest)

Die Schulterblätter von Intendanten sind offenbar besonders robuster Natur. Innerhalb weniger Stunden stecken sie hundertfach Schläge mit der flachen Hand weg, kräftige Klapse männlich anerkennender Art, ausgeführt von Sponsoren, Künstlern, Kollegen, Politikern, Wegbegleitern, Freunden und Förderern.

Das muss echte Liebe sein, und mit solcher hat Dortmunds scheidender Konzerthausintendant und BVB-Fan Benedikt Stampa selbstredend Erfahrung. 13 Jahre als Chef der Philharmonie für Westfalen endeten jetzt mit einem Abschiedskonzert, das sich zum finalen Belastungstest für die Dreiecksknochen auswuchs, aber auch zu einem künstlerisch glanzvollen Ereignis mit dem Chamber Orchestra of Europe unter Dirigent Yannick Nézet-Séguin.

Konfetti zum großen Finale im Konzerthaus (Foto: Pascal Amos Rest)

Lob, Dank und Konfetti mit seinem eigenen Konterfei regnen an diesem Abend auf Stampa nieder, der nun zum Festspielhaus nach Baden-Baden wechselt.

Seinem Nachfolger Raphael von Hoensbroech, der nicht anwesend sein konnte, hinterlässt Benedikt Stampa eine Spielstätte in hervorragender Verfassung: mit unverwechselbarem Profil, mit guten Auslastungszahlen, einem trefflich eingespielten Team und hoher Wertschätzung in internationalen Musikerkreisen.

Oberbürgermeister Ullrich Sierau (l.) und Benedikt Stampa (Foto: Pascal Amos Rest)

Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau trägt dazu viele schöne Worte vor. Indessen scheint niemand an die vielleicht größte Leistung des Kulturmanagers erinnern zu wollen, der das Steuer 2005 zu einer Zeit ergriff, als das Zerwürfnis zwischen der Stadtspitze und Gründungsintendant Ulrich Andreas Vogt den Erfolg des Konzerthauses zu gefährden drohte. Eine gehörige Portion Skepsis schlug Vogts Nachfolger damals entgegen. Stampa jedoch gelang es, Vertrauen neu aufzubauen und den ins Schlingern geratenen Musiktanker mit ruhiger Hand und klarer Linie wieder auf Kurs zu bringen.

Yannick Nézet-Séguin ist dem Konzerthaus und Benedikt Stampa freundschaftlich verbunden (Foto: Pascal Amos Rest)

Yannick Nézet-Séguin gehört zu den Künstlern, die er bereits zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Karriere zu gewinnen verstand – ganz im Sinne der „Dortmunder Dramaturgie“, die auf eine langfristige Zusammenarbeit setzt. Mit sportlichem Überschwang dirigiert der neue Chef der New Yorker Met zunächst die Ouvertüre zu BedřichSmetanas Oper „Die verkaufte Braut“. Rasant flirren und wirbeln die Sechzehntelketten der Streicher, aber die Fortissimo-Passagen geraten unter seinem befeuernden Dirigat zu lärmig. Im Violinkonzert von Antonín Dovřák stellen sich Dirigent und Orchester dann besser auf die Konzerthaus-Akustik ein.

Veronika Ederle spielte das Violinkonzert von Antonin Dvorak (Foto: Pascal Amos Rest)

Das kommt dem feinen Violinspiel von Veronika Eberle zugute, die zu bemerkenswerter Souveränität gereift ist. Mit untadeliger Intonation und energisch akzentuiertem Portato-Strich gibt sie dem Kopfsatz Ernst und Tiefe, steigert virtuose Doppelgriffe und Kadenzen zu feierlicher Grandezza. Ein süffig-romantischer Klang auf der G-Saite mag ihre Sache nicht sein, aber die Künstlerin bleibt sich und ihren Fähigkeiten wunderbar treu. Ihr klarer Violinton ist von einer Energie erfüllt, die berührend fragil klingt und die weit gespannten Melodiebögen des Adagio zum Leuchten bringt. Nachgerade perfekt liegt ihr das tänzerische Finale, in dem sie alle virtuosen Trümpfe ausspielen kann: wendig, blitzschnell und mit dem hellen Klang jubelnder Lebensfreude.

Das Chamber Orchestra of Europe, das die die Solistin mit edlen Holzbläser-Soli, sonorem Blech und rhythmischer Präzision unterstützt, läuft in der 3. Sinfonie von Johannes Brahms endgültig zu großer Form auf. So episch strömt das Werk dahin, so bruchlos und ohne Pausen, dass man als Hörer von Takt 1 an gepackt und nicht wieder losgelassen wird. Denn wir erleben mitnichten eine rund geschliffene, glatt gebügelte Brahms-Deutung, sondern höchst spannende Modulationen eines Orchesterklangs, der keinen Vergleich zu scheuen braucht. Yannick Nézet-Séguin formt ihn wie eine Skulptur, fordert mal sonore Erhabenheit, mal samtige Transparenz, mal massige Schwere, die wie ein Vorausgriff auf Anton Bruckner klingt. Nichts klingt ruppig, gleichwohl können sich unversehens gewaltige Abgründe öffnen. Die Wehmut des Poco Allegretto entfaltet sich so diskret und verhalten, so fern jeder Sentimentalität, dass einen schiere Dankbarkeit erfüllt.

Dem Guten, Wahren und Schönen, nach dem zu suchen Benedikt Stampa sich verpflichtet fühlt, konnte er nach 1300 Konzerten in der Brückstraße noch einen letzten Mosaikstein hinzufügen. Es sind fürwahr keine kleinen Fußstapfen, in die Raphael von Hoensbroech nunmehr tritt. Wir sind gespannt.

(Der Bericht ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.
Informationen zum Konzerthaus Dortmund: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/)




Denn sie wissen genau, was sie tun: Am Theater Mülheim entwickelten Jugendliche ein Stück über Amokläufer

SAART. Auf diese deprimierend knappe Formel bringt das Mädchen mit den blonden Haaren den Ablauf eines ganzen Menschenlebens: Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod. Soll das denn wirklich alles sein? So fragt das Mädchen sich und uns, die wir nach Mülheim gekommen sind, um eine Produktion des Jungen Theaters an der Ruhr zu sehen.

Bitte lächeln: Dalia Othmann, Lisa Babies, Rosa Altmiks, Luca Engels, Helen Schmitt und David Czyborra (v.l.) in dem selbst entwickelten Stück „Wenn das die Zukunft ist“ (Foto: Mirko Polo)

Im renommierten Haus an der Akazienallee hat eine jugendliche Gruppe namens „Die Unruhestifter“ ein halbes Jahr gearbeitet, um ein Stück über ein Thema zu entwickeln, das längst nicht mehr als rein amerikanisches Problem abgetan werden kann. Es geht um Amokläufe an Schulen, wie sie in Winnenden, Erfurt und Emsdetten geschehen sind – und leider nicht nur dort.

Unter Anleitung der Theaterpädagogin Katja Fischer entstand eine etwa 90 Minuten lange Produktion mit dem vielsagenden Titel „Wenn das die Zukunft ist“. Es handelt sich dabei um eine lose Abfolge von Szenen, die Schlaglichter auf die Gründe, Begleiterscheinungen und Konsequenzen solcher Gewaltexzesse werfen. Zusammen gehalten werden sie von Zwischenspielen, in denen Musik von Marilyn Manson, Pete Doherty und vielen anderen in den Vordergrund tritt.

Für manche ist Schule die pure Langeweile. Für andere ist sie die Hölle. (Foto: Mirko Polo)

Naturgemäß steht der „Tatort Schule“ im Mittelpunkt. Es ist beklemmend, den 14- und 15-jährigen Darstellern dabei zuzusehen, wie sie Schüler ihres Alters spielen. Wie sie die Mechanismen von Macht und Ohnmacht im Klassenzimmer sichtbar machen. Wie sie die kleinen und großen Gemeinheiten auf dem Pausenhof nachstellen, wo manch derber Spaß unversehens in echte Grausamkeit umschlägt. Wo die Demütigung von Wehrlosen erst mit dem Handy gefilmt und dann über die so genannten „sozialen Medien“ verbreitet wird, einer virtuellen Meute zum Spektakel.

Die Stärke dieses Abends liegt darin, dass „Die Unruhestifter“ nicht nach einfachen Antworten suchen. Treffgenau stellen sie zunächst die Rituale bloß, die nach jedem Amoklauf unweigerlich einsetzen: das routinierte Berichten der Medien, die TV-Talkrunden mit eiligst herbei gerufenen Experten, der Ruf nach strengeren Gesetzen, das Verteufeln martialischer Computerspiele, das Ausfragen von Nachbarn und Verwandten, die am Tatort abgelegten Blumen. Darüber hinaus trifft ihr Finger in manche Wunde. Sie zeigen überforderte Lehrer, die kaum mehr gegen das respektlose Verhalten im Klassenzimmer ankommen. Sie spielen ein Elternpaar, das die Frage, ob ihr Sohn Freunde hatte, schlicht nicht beantworten kann. Vor allem aber zeigen sie eine (Schul-)Welt, in der kein Pardon gegeben wird. In der Rücksichtnahme und Mitgefühl Fremdwörter sind.

Trumps Traum? Lisa Babies spielt eine Lehrerin, die bewaffnet vor ihre Klasse tritt (Foto: Mirko Polo)

Dass fortlaufend erlittenes Unrecht Rachephantasien erzeugen kann, wissen wir spätestens seit der Seeräuber-Jenny aus Bert Brechts „Dreigroschenoper“. Wie groß oder klein aber ist der Schritt zur Tat? Das versuchen die sechs Jugendlichen in Mülheim zu ermessen. Symbol für die langsam wachsenden Hassgefühle ist eine Jacke in militärischen Tarnfarben. Jeder der Darsteller wird sie an diesem Abend mindestens einmal überstreifen und über das sprechen, was ihn (oder sie) so hoffnungslos und wütend macht.

Unter der erschreckenden Vielzahl von Gründen berühren einige besonders schmerzlich. Die tief verankerte Überzeugung von der eigenen Wert- und Chancenlosigkeit zum Beispiel und die zunehmend verzweifelten Versuche, einen authentischen Weg durch diese komplexe, häufig ungerechte Welt zu finden.

Es ist erstaunlich, wie glaubwürdig die jungen Darsteller dabei wirken: die zierlichen Mädchen Rosa Altmiks und Dalia Othmann ebenso wie die energisch wirkende Luca Engels, die hoch aufgeschossene Lisa Babies gleichermaßen wie die blonde, etwas kleinere Helen Schmitt. Heranwachsende, die sich in einem wilden, von Stroboskoplicht durchzuckten Zwischenspiel plötzlich in Posen der Wut und der Abwehr werfen, die ihre Lebenslust in einen Frust umschlagen lassen, den ihre Körper zu aggressiver Rockmusik in die Welt hinausschreien (Bühne und Licht: Bekim Aliji).

David Czyborra trägt Auszüge aus dem Tagebuch eines Täters vor. (Foto: Mirko Polo)

Und dann ist da noch der 14-Jährige David Czyborra, der dem Stück mit einem erschütternden Monolog eine Klammer gibt. Die Tarnjacke um die Schultern, ein (Plastik-) Gewehr auf den Knien, zitiert er zu Beginn und am Ende Passagen aus dem Tagebuch eines realen Amokläufers. Er spricht leise, sein Gesicht ist blass, als er vorträgt, wie der jugendliche Todesschütze sich schriftlich entschuldigt: bei seinen Eltern, bei seinen Geschwistern und bei allen, die „wenigstens einmal nett“ zu ihm waren. „Es tut mir leid, dass es so weit kommen musste. Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr.“

(Das Stück steht vorerst nicht mehr auf dem Spielplan, Schulvorstellungen können jedoch gebucht werden.

Kontakt: Katja.Fischer@theater-an-der-ruhr.de Tel. 0208 / 59901-34).




Lagerfron und „Soma“-Trip: Dominique Horwitz inszeniert Schostakowitsch-Operette in Gelsenkirchen

Die Arbeitsanzüge schweben von der Decke: Eröffnungsszene aus der Schostakowitsch-Operette „Moskau, Tscherjomuschki“ am MiR Gelsenkirchen (Foto: Bettina Stöß)

26 Jahre lang mochte Dmitri Schostakowitsch keine Oper mehr schreiben, nachdem Josef Stalin seine „Lady Macbeth von Mzensk“ öffentlich ächtete und der Komponist lange, schlaflose Nächte in Todesangst verbrachte. Erst in der Tauwetterperiode der Chruschtschow-Ära wandte er sich wieder dem Musiktheater zu.

Zum allgemeinen Erstaunen schrieb er 1958 eine Operette, die sogleich große Beliebtheit errang: „Moskau, Tscherjomuschki“ erzählt von Wohnungsnot und Korruption und vom Glücksstreben einfacher Leute, die sich in der gleichnamigen Trabantenstadt ein besseres Leben erhoffen.

Selten und eher als kleine Produktion auf Werkstattbühnen findet sich die musikalische Komödie heute auf den Spielplänen. Das Gelsenkirchener Musiktheater gönnt dem Dreiakter jetzt sein Haupthaus, vertraut die Inszenierung aber einem Regie-Novizen an, dem prominenten Sänger und Schauspieler Dominique Horwitz. Eine Fehlentscheidung, wie sich leider bald heraus stellt.

Horwitz glaubt nicht daran, dass die Geschichte vom Kampf dreier Paare um das kleine Glück und um den heiß begehrten Wohnungsberechtigungsschein heute noch trägt. Das Werk dient ihm lediglich als Folie, um Systemkritik nach Ost wie West zu üben.

Der Opernchor des MiR in Reih und Glied (Foto: Bettina Stöß)

Bühnenbild und Kostüme von Pascal Seibicke zeigen uns eine Lager-Tristesse, als seien wir versehentlich doch in die „Lady Macbeth“ geraten. Das Aufsichtspersonal trägt Komsomolzen-Grau, die Arbeiter tragen Anzüge in Guantanamo-Orange. Die Ausgabe von Glückspillen hat Horwitz dem dystopischen Roman „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley entlehnt. Dort heißt der Stoff „Soma“ und macht die ach so wundervolle Moderne erst so richtig schön. Das organisierte Fähnchenschwenken zielt auf den Sozialismus, die Beschwörung der Arbeit als allein seligmachender Lebensinhalt auf den Kapitalismus, die rhythmische Sportgymnastik im Rudel auf den Faschismus.

Die Frau als Opfer bleigrau gekleideter Komsomolzen (Foto: Bettina Stöß)

Dergestalt rührt Horwitz allerhand zusammen, ohne dass eine Inszenierung daraus entstünde. Im kollektiven Aktionismus auf der Bühne, der das ausgiebige Rampensingen nicht zu kaschieren vermag, gewinnt keine einzige Figur an Kontur. Welcher Sänger welche Rolle verkörpert, ist in dieser als Paradies besungenen Hölle auch egal. Wiederholt enden Szenen so spannungslos, dass wir uns beklommen fragen, wie es denn nun weitergehen soll. Die Regie weiß darauf sichtlich auch keine Antwort, denn sie lässt in solchen Momenten den Vorhang fallen.

Die eigentliche Handlung wird als Hörspiel aus dem Off angedeutet und ist für Nicht-Eingeweihte kaum zu verstehen. Aus der Fron in der Spielzeug-Fabrik entlassen, streifen sich die Arbeiter Ritter- und Feenkostüme über, fechten Holzschwert-Kämpfe aus und kreischen vor Vergnügen. Wir geraten vom Lagerkoller und einer – übrigens gänzlich unmotivierten – Vergewaltigungsszene geradewegs in einen Kindergeburtstag. Ratlosigkeit macht sich breit.

Ritterspiele: Wenn die Akkordarbeit beendet ist, bricht Kindergeburtstagsstimmung aus (Foto: Bettina Stöß)

So wird die Chance vertan, Schostakowitschs ebenso ungewöhnliches wie unterhaltsames Bühnenwerk einmal so recht ins Rampenlicht zu rücken. Unter dem Dirigat von Stefan Malzew gibt sich die Neue Philharmonie Westfalen durchaus mit Erfolg Mühe, den schmachtend-sentimentalen Walzern und feurigen Galopps russisches Temperament einzuhauchen.

Auch die Tänzer des MiR-Balletts, der Opernchor und das Gesangsensemble sind engagiert und klangvoll dabei, aber eine zündende Party kann es in diesem Tscherjomuschki-Albtraum nicht geben. Sängerinnen und Sänger wie Almuth Herbst, Piotr Prochera, Bele Kumberger, Petra Schmidt und Anke Sieloff können wesentlich mehr, als sie hier zeigen dürfen.

„Und täglich grüßt das Murmeltier“ will Horwitz uns vermutlich sagen, wenn er die Eingangsszene zum Abschluss wiederholen lässt. Zu diesem Zeitpunkt ist es beinahe wie im Film: Es ist doch erleichternd, wenn der Spuk vorbei ist.

Termine und Infos:
https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2017-18/moskau-tscherjomuschki/

(Der Text ist in ähnlicher Form im Westfälischen Anzeiger erschienen)




Verlöschensklänge: Das Orchestre de Paris kombiniert in Dortmund Werke von Jörg Widmann und Gustav Mahler

Solist Antoine Tamestit war von Beginn an eng in den Entstehungsprozess des Bratschenkonzerts von Jörg Widmann eingebunden. (Foto: Pascal Amos Rest)

Daniel Harding und Antoine Tamestit waren sich einig. Wenn überhaupt ein Werk vor der 9. Sinfonie von Gustav Mahler gespielt werden könne, dann das Konzert für Viola und Orchester von Jörg Widmann, meinten der Dirigent und der Bratschist.

Im schmerzlich-innigen Ausklang des Stücks, das 2015 im Auftrag des Orchestre de Paris entstand, sehen beide den perfekten Brückenschlag zu Mahlers letzter vollendeter Sinfonie. Wenn Widmann in den letzten Takten die Spätromantik samt ihrer Brüchigkeit, Fragmentierung und Überdehnung beschwört, dann scheint Mahlers Neunte um die Ecke zu lugen: eine Sinfonie, die sich auflöst in ihre Bestandteile, die nach rund 80 Minuten zögernd und langsam erstirbt. Eine Musik des Verlöschens.

Wie angemessen, ja nachgerade natürlich diese Werkfolge klingen kann, bewiesen Harding, Tamestit und das Orchestre de Paris jetzt im Konzerthaus Dortmund. Widmanns Bratschenkonzert gleicht einer klanglich reizvollen Reise, in der Chinesisches, Arabisches und Jüdisches mitschwingt. Zu Beginn schlägt Widmungsträger Antoine Tamestit viele Minuten lang Pizzicato-Kaskaden aus seinem Instrument, als habe er das Ziel, berühmten spanischen Gitarristen Konkurrenz zu machen. Dann beginnt er, zwischen den Orchestergruppen umher zu wandern: sucht Anschluss an die Bassflöte, erschrickt vor den rülpsenden Einwürfen der Tuba, wirft sich in einen virtuosen Wettstreit mit der Pauke und animiert die Streicher zu flirrenden Glissandi.

Antoine Tamestit wandert während des Spiels zwischen den Instrumentengruppen des Orchesters umher (Foto: Pascal Amos Rest).

Aber es sind weder musiktheatralische Effekte à la Kagel noch Geräuschhaftigkeiten à la Lachenmann, die uns packen und nicht mehr loslassen. Vielmehr wird hier mit höchster Überzeugung und bestechendem Können musiziert. Wer Neue Musik für spröde und verkopft hält, erlebt bei diesem sinnlichen Klangpanorama sein blaues Wunder. Den Ausklang gestalten Tamestit und das Orchester als intensive Klage.

Was für Teufelsmusiker es sind, die Daniel Harding nur noch bis Sommer dieses Jahres als Chefdirigent leiten wird, zeigt sich dann auch in Mahlers 9. Sinfonie. Nicht genug damit, dass sich Bläsereinsätze wie aus dem absoluten Nichts im Raum kristallisieren. Sie sind so subtil, dass es fassungslose Sekunden braucht, um die Klangquelle überhaupt benennen zu können. Oboe und Flöte, Klarinetten und Hörner, Piccoloflöte und erste Geigen verschmelzen in perfekter Intonation zu unvergleichlichen Farben. Daniel Harding gestaltet das „Andante comodo“ zu einer riesigen Sehnsuchtsmusik. Alles ist Drängen in diesem ersten Satz: Aber das Schlachtgetümmel der früheren Sinfonien, die triumphalen Apotheosen hat diese Neunte weit hinter sich gelassen.

Daniel Harding und das Orchestre de Paris (Foto: Pascal Amos Rest)

Harding versteht sich bestens auf die Elemente von Mahlers Tonsprache: auf das bauernhaft Grobe, das Einfältige und Banale, das höhnisch Meckernde, das Feierliche und das Schönheitstrunkene. Er hält das Orchester unter Spannung, dabei übergroße Lautstärken vermeidend. Noch einmal beschwört er im letzten Satz „die allmächtige Liebe“, wie sie der Pater Profundus in Mahlers 8. Sinfonie besingt. Schließlich erblasst das abschließende Adagio, wird jenseitig fahl, ja brüchig. Harding hält diese morbide Textur mit feinem Fingerspitzengefühl, scheint zuzusehen, wie die Fäden sich auflösen, lauscht voraus in die Stille, in die diese Musik unweigerlich einmünden muss. Das versteht auch das Konzerthaus-Publikum, das die Sinfonie zuvor schon zweimal durch Applaus unterbrechen wollte. Lange rührt sich nach dem letzten Ton keine Hand. Dann bricht der Jubel los.

Antoine Tamestit wird am 19. und 20. April erneut im Konzerthaus Dortmund zu erleben sein: mit einem öffentlichen Meisterkurs sowie einem Liederabend mit Christiane Karg.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: http://www.konzerthaus-dortmund.de, Ticket-Hotline 0231/ 696 200.)




Musik aus den Nachkriegsjahren: Sir Simon Rattle und das London Symphony Orchestra im Konzerthaus Dortmund

Sir Simon Rattle ist seit der Saison 2017/18 Music Director des London Symphonic Orchestra (Foto: Pascal Amos Rest)

Tiefer Zweifel und innere Heimatlosigkeit klingen aus mancher Musik, die kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand. Richard Strauss, verstrickt mit dem nationalsozialistischen Regime, komponierte seine „Metamorphosen“ 1945 in der Schweiz. Seine Heimatstadt München, sein geliebtes Wien, sein verehrtes Dresden lagen da bereits in Schutt und Asche.

Im Sommer 1947 las Leonard Bernstein ein Gedicht von Wystan Hugh Auden, das seiner 2. Sinfonie Inhalt und Titel gab: „The Age of Anxiety“, das Zeitalter der Angst, nahm Gestalt an.

Im Konzerthaus Dortmund spielt das London Symphony Orchestra unter seinem neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle zudem Auszüge aus Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“. Brennende, aber unerlöste Sehnsucht, umrahmt vom grüblerischen Pessimismus der beiden Nachkriegswerke: So rundet sich ein intelligent durchdachtes Programm, das der inflationären Flut weihnachtlicher Barock-Konzerte einen wuchtigen Akzent entgegen setzt.

Wehmut ohne jede Süße

Im Stehen spielen die Geiger und Bratscher der Londoner Symphoniker die Strauss-Metamorphosen. Sir Simon dirigiert inmitten der 23 Solo-Streicher, ohne Podest und ohne Taktstock, formt die Musik mit bloßen Händen. Mit den ersten, weltabgewandten Takten der Celli beginnt die Musik zu strömen, transparent und fragil bis zur Brüchigkeit. Uns tönt eine morbide Textur entgegen, eine Wehmut ohne jede Süße, denn die verweigern Simon Rattle und seine Musiker mit bitterer Konsequenz. Aus ist es mit dem Arabella-Schmelz, vorbei jede Rosenkavaliers-Süße. Das alles hat diese Musik weit hinter sich gelassen.

Sir Simon Rattle bei seinem Auftritt im Konzerthaus Dortmund (Foto: Pascal Amos Rest)

Dann leuchtet der Tristan-Akkord auf, schwebt rätselhaft und unerlöst im Raum, jede Bindung an die Tonalität abweisend. Das Orchester, jetzt in großer Besetzung, erfüllt Wagners mystische Nachtmusik mit dunklem, sattem Streicherklang, den die Holzbläser zuweilen durch ein silbernes Leuchten krönen.

Nicht alle Musiker scheinen sofort mitzukommen, als Simon Rattle dieses Drängen und Schmachten mit furios angezogenem Tempo zum nachgerade manischen Höhepunkt treibt. Aber wen kümmert das angesichts dieser schier endlosen Brandung, die schließlich in eine harfenumrauschte Verklärungsmusik mündet, in den Liebestod der Isolde.

Glückssuche in Krisenzeiten

Indes hört die Menschheit auch in Krisenzeiten nicht auf, nach ein wenig Glück und Glaubensgewissheit zu suchen. Davon erzählt Leonard Bernstein in seiner 2. Sinfonie, die sich an diesem Abend als unterschätztes, viel zu selten gespieltes Meisterwerk entpuppt.

Krystian Zimerman spielte im Konzerthaus Dortmund den Klavierpart in Leonard Bernsteins 2. Sinfonie mit dem Titel „The Age of Anxiety“ (Foto: Felix Broede/DG)

Punktgenau und intensiv zeichnet das London Symphony Orchestra ein Psychogramm von vier Personen, die sich während des Krieges in einer New Yorker Bar kennen lernen und versuchen, den miserablen Zeiten zu trotzen. Mäuschenstill wird es im Saal, wenn die Musik in die Abgründe der Seele steigt, wenn wenige Töne genügen für einen großen Trauergesang. Aber es gibt auch kraftvolle Ausbrüche mit Pauken und Blech und Tamtam, eine faszinierende Palette von Klangfarben, die von den Musikern virtuos bedient wird.

Krystian Zimerman, der an diesem Abend den Klavierpart übernimmt, will erkennbar nicht als Solist glänzen. Der polnische Pianist, der das Werk bereits 1986 unter der Leitung von Leonard Bernstein spielte, hat die Partitur ohne Zweifel vollkommen verinnerlicht. Bestechend die tiefe Wahrhaftigkeit seines Ausdrucks, Ehrfurcht gebietend die Grandezza, mit der er Akkorde aufrauschen lässt, hinreißend die fingerfertige Nonchalance, mit dem er durch das jazzige Finale tänzelt. Zimerman, der Purist, der Perfektionist, der Klangfarbenzauberer, sucht den Dialog mit dem Orchester, stellt sich ganz in den Dienst der Sache. Mit einer Zugabe lächelnd an Leonard Bernstein erinnernd, verneigt er sich als Großer vor einem Künstler, der unvergessen bleiben wird.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen).

Informationen zum Programm des Konzerthauses Dortmund unter https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/konzertkalender/




Wenn der Hass triumphiert: Giuseppe Verdis „Troubadour“ als Bürgerkriegsstück im Essener Aalto-Theater

Manrico (Gaston Rivera, r.) zielt auf den Grafen Luna (Nikoloz Lagvilava. Foto: Matthias Jung)

Optimistische Sichtweisen sind Mangelware, wenn es um die Zukunft der Menschheit geht. So viele Endzeit-Szenarien haben Bücher und Kinofilme bereits durchgespielt, dass etwas anderes als der Untergang kaum noch denkbar scheint. Im Essener Aalto-Theater schnuppert jetzt Giuseppe Verdis „Troubadour“ an der Apokalypse.

Das französisch-niederländische Regieteam Patrice Caurier und Moshe Leiser deutet den von Verdi vertonten Bruderzwist als Bürgerkrieg und zitiert, dazu passend, aus dem Song „The Future“ von Leonard Cohen: „Ich habe die Zukunft gesehen, Bruder: Sie ist Mord.“

Vom Krieg traumatisierte: Azucena (Carmen Topciu) und ihr Sohn Manrico (Gaston Rivera. Foto: Matthias Jung)

Über den gesichtslosen Wartesaal oder Transit-Raum, in den die flüchtlingsgleich gewandeten Zigeuner stolpern, kommt das Geschehen lange nicht hinaus. Dort warten schon die fiesen Anzugträger rund um den Grafen Luna, um die Neuankömmlinge zu peinigen und zu erschießen. Azucena, eine vom Krieg traumatisierte Frau, wird im Bett liegend in die Szene geschoben. Statt auf den Amboss hämmert der sie umgebende Zigeunerchor auf das eiserne Bettgestell. Auf diese Weise umgeht die Regie die Folklore, aber der öde Amtsgeruch haftet der Inszenierung lange an.

Dann der Knalleffekt: Hubschrauber-Lärm, Suchscheinwerfer, das Heulen von Geschossen. Der Krieg bricht im Wortsinne herein, sprengt die Wände des Wartesaals auf. Die Bühne (Christian Fenouillat) verwandelt sich in ein Schlachtfeld voller Gerümpel und Stacheldraht. Die Mannen von Graf Luna sind nun verrohte Soldaten, die Bier saufen und sich mit der Vergewaltigung einer Gummipuppe vergnügen.

Leonora (Aurelia Florian) sucht in der vom Krieg verwüsteten Gegend nach ihrem Manrico (Foto: Matthias Jung)

Zwischen Leichen und Trümmern irrt Leonora herum, auf der Suche nach ihrem Manrico, dessen Tod bereits besiegelt ist. Die menschliche Seite der Tragödie droht vom drastischen Kriegsszenario freilich erdrückt zu werden. Immerhin sind es nicht einfach verfeindete Warlords, die gegeneinander kämpfen, sondern zwei Männer, die bis zum bitteren Ende nicht ahnen, dass sie Brüder sind.

Gottlob triumphiert an diesem Abend nicht nur der Hass, sondern auch Verdis Musik. Das Aalto-Theater bietet ein starkes Gesangsquartett auf, das in den zahlreichen Duetten und Terzetten bemerkenswert ausgewogen klingt.

Leonora (Aurelia Florian) fleht den Grafen Luna (Nikoloz Lagvilava) um Gnade für Manrico an (Foto: Matthias Jung)

Der Rumänin Aurelia Florian gelingt als Leonora ein eindrucksvolles Rollendebüt. Ihr klarer Sopran besitzt Geläufigkeit und Wärme, greift zunehmend schwärmerisch aus, findet Schmerzensklänge der Verzweiflung und schließlich auch himmelwärts gewandte, wie von weißem Licht erhellte Töne der Weltabkehr.

Ihr zur Seite steht der als Manrico allseits herum gereichte Gaston Rivera, dessen Tenor hell und kraftvoll strahlt, ohne zu protzen. Es ist eine Wohltat, wie Rivera die Eleganz wahrt: auch in der von Rachegelüsten durchbebten Bravourarie „Di quella pira“, die ihm kaum Probleme bereitet.

Azucena (Carmen Topciu), hier bedrängt vom Grafen Luna (Nikoloz Lagvilava, rechts) und dessen Hauptmann Ferrando (Baurzhan Anderzhanov. Foto: Matthias Jung)

Eine weitere Rumänin triumphiert in der Rolle der Azucena. Carmen Topciu leiht der von traumatischen Erinnerungen gequälten Frau die vibrierende Energie ihres Mezzosoprans, der mal in düstere Tiefen hinab steigt, mal beschwörend in die Höhe steigt, mit vehementer Attacke, zuweilen nicht ohne Schärfe.

Als neues Ensemblemitglied muss Nikoloz Lagvilava aus Georgien sich mühen, den Grafen Luna nicht monochrom zu zeichnen. Gleichwohl kennt sein Bariton neben galligen, hassverzerrten Töne auch balsamisches Strömen, wo er die Liebe zu Leonora besingt.

Tod im Stacheldraht: Für Leonora (Aurelia Florian) und Manrico (Gaston Rivera) gibt es keine Zukunft mehr (Foto: Matthias Jung)

Wann immer im Libretto Flammen erwähnt werden, lassen die Essener Philharmoniker diese musikalisch aus dem Graben lodern, dass es eine Pracht ist. Unter der Leitung des Italieners Giacomo Sagripanti, der mit dem „Troubadour“ 2018 an der Deutschen Oper Berlin debütieren wird, präsentieren sich die Musiker in großartiger Spiellaune. Sie unterstützen die Sänger mit größter Flexibilität und entwickeln in vielen Szenen mitreißenden rhythmischen Drive. Opern- und Extrachor des Aalto-Theaters stehen dem nicht nach: statt Brüllorgien anzustimmen, wahren die Chöre bei allem Schmiss die Leichtigkeit, oft auch nachgerade tänzerischen Schwung.

Buhs und Bravos am Ende für das Regieteam, das die eigentlich ins Mittelalter weisende Handlung in eine nahe Zukunft versetzt. Vom neuen „Troubadour“ am Aalto zeigt das Premierenpublikum sich hörbar polarisiert.

Informationen und Termine unter http://www.aalto-musiktheater.de/vorschau/premieren/der-troubadour-il-trovatore.htm).

(Dieser Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Musizierfreudiger Dialog statt Duell der Diven: Cecilia Bartoli und Sol Gabetta in der Philharmonie Essen

Die Römerin und die Argentinierin: Cecilia Bartoli (l.) und die Cellistin Sol Gabetta bei ihrem Auftritt mit der Capella Gabetta in der Philharmonie Essen (Foto: Sven Lorenz)

Welch wohltuend stiller Auftritt! Das Licht auf der Bühne verlischt, sobald der Schlussakkord der Ouvertüre verklingt. Im Dunkeln tritt von rechts eine schlanke Frauengestalt auf. Sol Gabetta, die wohl bekannteste Cellistin unserer Tage, setzt sich mit ihrem Instrument bescheiden auf eines der Bühnenpodeste, als sei sie eine Randfigur. Als bräuchte sie den Solistenplatz nicht, der in der Mitte auf sie wartet.

In großer Ruhe stimmt die Cellistin eine Melodie von Antonio Caldara an, dessen Arie „Fortuna e speranza“ aus „Nitroci“ jetzt edle Melancholie in der Philharmonie Essen verströmt. Zögernd bewegt sich Gabetta schließlich doch zum Solistenpodest, während von links eine zweite Frau herein schreitet: Cecilia Bartoli, die derzeit wohl berühmteste Sängerin der Welt.

Das leise Rencontre gibt den Ton vor für einen Barock-Abend, der wenig von einem marktschreierischen „Gipfeltreffen der Stars“ an sich hat. Den Werberummel um die am 10. November veröffentlichte CD mit dem Titel „Dolce Duello“, die im Dezember zu weiteren Konzerten in Berlin und München führt, macht dieser Abend aufs Schönste vergessen. Diese beiden Künstlerinnen führen kein Duell, sondern wundersame Dialoge: Sie singen und spielen einander zu, befeuern sich gegenseitig, verbünden sich in ihrem Bemühen, alle Ausdruckskraft in den Dienst der Musik zu stellen. Im vermeintlichen Primadonnen-Projekt behält die Kunst das Primat.

Gleichwohl erhält das Publikum Gelegenheit, seine Lieblinge zu feiern. Zum Beispiel, wenn die Bartoli in einer Arie aus Hermann Raupachs „Siroe, re di Persia“ temperamentvoll losstürmt, Lebensfreude mit vitaler Attacke verbindet und wie nebenbei ihre virtuose Stimmbeherrschung demonstriert. Sie reiht rasende Läufe zu Girlanden, entwickelt Koketterie im Wechselspiel mit Konzertmeister Andrés Gabetta und lässt ihren Mezzo so lange spielerisch auf einem Ton an- und abschwellen, bis sie sich selbst darüber zu vergessen scheint. Händels berühmte Arie „Lascia la spina“ schwebt bei ihr weltentrückt durch den Raum.

Trio beim Schlussapplaus: Andrés Gabetta, Cecilia Bartoli, Sol Gabetta (von links, Foto: Sven Lorenz)

Als Meisterin der flinken Finger und des fliegenden Bogens triumphiert Sol Gabetta im Cellokonzert Nr. 10 D-Dur von Luigi Boccherini. Ob in höchster Daumenlage oder in weit ausgreifenden Kadenzen: Die Argentinierin spielt einerseits federleicht und flockig, drängt andererseits aber stets mit Verve zum Kern. In den ruhigen Momenten des geschickt zusammen gestellten Programms erfreut ihr Celloton, der in der Höhe gläsern zart sein kann und in der Tiefe herrlich reich und sonor.

Seine ganz eigene Farbe erhält der Abend aber doch durch das Zusammenspiel. Innige Musizierfreude eint Sol Gabetta und Cecilia Bartoli in schönster Selbstverständlichkeit. Funken der Inspiration fliegen von der einen zur anderen. Der Höhepunkt ist mit Luigi Bocccherinis Arie „Se d’un amor tiranno“ erreicht, in dem die Virtuosinnen wechselseitig Vollgas geben, bis sie in schönster Terz-Seligkeit zueinander finden.

Die „Capella Gabetta“ macht das Erlebnis unter der Leitung von Sols Bruder Andrés rund. Wer hätte gedacht, dass der „Tanz der Furien“ aus Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“ wie eine Vorausahnung von Mendelssohns stürmischer Hebridenouvertüre klingen könnte? Dann wieder funkeln die Klänge der Laute und des Cembalos so zart durch die Klage der Inomenia aus Domenico Gabriellis „San Sigismondo, re di Borgogna“, dass im Saal gebannte Stille herrscht. Vier Zugaben, frenetischer Jubel.

(Der Text ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen).

Weitere Termine der Reihe „Alte Musik bei Kerzenschein“ in der Philharmonie Essen unter http://www.philharmonie-essen.de/abonnements/abo-8-alte-musik.htm) 




Händels Heldinnen: Die Mezzosopranistin Magdalena Kožená und das Venice Baroque Orchestra in der Philharmonie Essen

Aus Brünn (Brno) stammt die Mezzosopranistin Magdalena Kožená (Foto: Mathias Bothor/DG)

Die Gemeinde ist versammelt. Parkett und erster Rang der Philharmonie Essen sind gut gefüllt mit den Liebhabern der Barockmusik, die gekommen sind, um in der Reihe „Alte Musik bei Kerzenschein“ Arien von Georg Friedrich Händel zu hören. Gehustet wird wenig. Im gedämpften Licht regiert feierliche Andacht.

Wie viele Zuhörer mögen während des eröffnenden Orchesterstücks heimlich auf den „Star des Abends“ warten, auf die Mezzosopranistin Magdalena Kožená? Dabei haben die Musiker doch einen ebenbürtigen Anteil an diesem Konzert, das im Wechsel von Arien, Ouvertüren und Concerti Grossi seinen Lauf nimmt. Das Venice Baroque Orchestra unter dem Dirigenten und Cembalisten Andrea Marcon ist ein vielfach ausgezeichnetes Spezialensemble und begleitet auf authentischen Instrumenten immer wieder berühmte Solisten.

Bis Ende November sind die Italiener mit der 1973 in Brünn geborenen Sängerin auf Tour. Essen erlebt das erste von fünf Konzerten, die noch in Bordeaux, Berlin und zweimal in Bratislava stattfinden werden. Auszüge aus den Opern „Agrippina“, „Rinaldo“, „Giulio Cesare in Egitto“, „Ariodante“ und „Alcina“ stehen auf dem Programm, im sorgsam bedachten Wechsel der so genannten Affekte, mithin der Gemütsbewegungen und Leidenschaften von Händels Heldinnen.

Das Glück ist nur ein Zaungast

Verletzter Stolz also, Rachefuror, Sehnsucht, Klage. Das Glück scheint ein Zaungast an diesem Abend, der überwiegend der tönenden Ausstellung seelischer Schmerzen gilt. Diese malt die Kožená mit virtuosen Läufen aus, die nicht der Attacke entbehren. Ihre Mittellage ist warm und wohlklingend, und wenn sie von dort in die tiefsten Register ihrer Stimme rauscht, in der rasenden Fahrt der Sechzehntel-Ketten, mag ihr Mezzo zwar an Durchschlagskraft verlieren, nicht aber an emotionalem Ausdruck. Die Höhen flammen bei ihr hell, aber die innige Bitte der Agrippina („Ogni vento“) nimmt sie in äußerstes Pianissimo zurück, durchwirkt von den mild funkelnden Klängen des Cembalos.

Natürlich dürfen virtuoser Prunk und kunstvolle Auszierungen bei solchem Händel-Fest nicht fehlen. Wer darüber hinaus hören möchte, entdeckt mehr: zum Beispiel die fahlen, vibratolos angesetzten Töne, die Magdalena Kožená anschwellen, ja aufblühen lässt. Die beinahe schon gestöhnten Laute des Leidens, mit denen sie als „Agrippina“ ihre quälenden Gedanken beklagt, und die packende Theatralik, mit der sie diese Szene gestaltet: nahezu losgelöst von Metrum oder Takt, wie nach Gutdünken (ad libitum) über dem Geschehen schwebend.

Das Venice Baroque Orchestra gibt der Sängerin Bühne und Kulisse, oft auch rhythmischen Drive. Nur gelegentlich wirkt das charakteristische Wetteifern der Instrumentengruppen in den Concerti Grossi zu routiniert.

Welche Exzellenz da am Werke ist, wird gleichwohl spürbar, wenn die Solo-Violinen sich wechselseitig in barocken Esprit spielen, die Oboen-Soli elegische Wehmut verströmen und ausgerechnet das oft so schwerfällig klingende Fagott der Sopranistin wieselflink in Koloraturketten folgt. Andrea Marcon, der dirigiert und zugleich im Stehen Cembalo spielt, ist Impulsgeber, Strippenzieher und Spiritus Rector dieses Abends.

Die offizielle Website der Künstlerin findet sich hier: http://www.kozena.cz/en. Weitere Konzerttermine der Reihe „Alte Musik bei Kerzenschein“ sind hier aufgelistet: http://www.philharmonie-essen.de/abonnements/abo-8-alte-musik.htm




Die Kunst in Zeiten des Konflikts: Das Musiktheater in Gelsenkirchen zeigt „Mathis, der Maler“ von Paul Hindemith

Zwei Frauen und ein Maler: Yamina Maamar als Ursula, Bele Kumberger als Regina und Urban Malmberg als Mathis (von links). (Foto: Karl + Monika Forster)

Bücherverbrennung. Verfolgung. Willkür und Gewalt. Mittendrin der genial begabte Renaissance-Maler Matthias Grünewald, der sich gezwungen sieht, im Strudel der Ereignisse Position zu beziehen. In seiner Oper „Mathis, der Maler“ nutzte der von den Nationalsozialisten verfemte Komponist Paul Hindemith die historische Folie lutherischer Glaubenskriege, um seine eigene Situation zu spiegeln.

Die Frage nach der Verantwortung des Künstlers in Zeiten politischer Umbrüche steht in Zentrum dieser Oper, mit der Hindemith auf seine eigene Gegenwart verweist. Im Gelsenkirchener Musiktheater versucht Hausherr Michael Schulz nun, eine ähnliche Position zu beziehen, indem er auf die politischen Konflikte unserer Tage deutet.

Gespaltene Gesellschaft: Kardinal Albrecht kehrt nach Mainz zurück (Foto: Karl + Monika Forster)

Mit bissiger Schärfe zeichnet er eine Gesellschaft, die über jeden vernünftigen Diskurs hinaus zerstritten scheint. Warum es unter „Wir sind das Volk“-Transparenten zu einer kleinen Tortenschlacht kommt, muss der Besucher freilich im Programmheft nachlesen: Es handelt sich um eine Anspielung auf die Eat-Art des Schweizer Künstlers Daniel Spoerri.

Gleichwohl ist der Produktion anzumerken, mit wie viel Herzblut Michael Schulz und Generalmusikdirektor Rasmus Baumann sich für das Stück einsetzen, das trotz seiner Vollendung im Jahr 1934 in Deutschland erst 1946 aufgeführt werden konnte. Zwischen den verschiebbaren Steinwänden einer Kapelle (Bühne: Heike Scheele) werfen Intendant und Dirigent eindrucksvolle Schlaglichter auf die Zweifel und Konflikte, die nicht nur Mathis zusetzen.

Der Tenor Martin Homrich als Kardinal Albrecht (Foto: Pedro Malinowski)

Da ist der Kardinal Albrecht, getrieben von Geldsorgen und widerstreitenden politischen Interessen. Da ist Ursula, die eigentlich Mathis liebt, aber gezwungen wird, sich für Luthers Sache zu opfern. Da ist der Bauernführer Hans Schwalb, dessen Kampf für mehr Gerechtigkeit Raub und Mord nach sich zieht.

Die Kostüme von Renée Listerdal setzen moderne Eleganz und angedeutete Renaissance-Pracht gegen die armselige Kleidung der kämpfenden Bauern. Was Bürgerkrieg bedeutet, spitzt Schulz in einer Szene zu, in der die junge Regina von den Schergen des Regimes gezwungen wird, den eigenen Vater zu erschießen.

Ist die Handlung bis hierhin stringent erzählt, löst sich ab dem sechsten Bild alles in einer religiös geprägten Bilderflut auf. Die Vision des Mathis formiert sich zum Altar: oben die Engel, eine Pietà-Formation, in der Mitte eine Gerichtsszene und zuunterst ein Höllen-Chor, der Mathis in den Wahnsinn zu treiben droht. Alles gleitet ins Allegorische, bis ein Schlagbaum die Hauptfiguren endgültig voneinander trennt. Was dahinter liegt, wohin sie gehen, bleibt schmerzlich dunkel.

Was aus dem Orchestergraben klingt, ist das eigentliche Ereignis dieses Premierenabends. Es ist keine Überraschung, dass Rasmus Baumann und die Neue Philharmonie Westfalen den größten Beifall ernten. Zwischen silberfeiner Transparenz und erratischen Ausbrüchen erschließen sich die Reichtümer dieser Partitur aufs Schönste: der heilige Ernst der Choral-Anklänge, der rasselnde Militarismus, die barocke Polyphonie und Hindemiths eigenwüchsige, sehr gestische Tonsprache.

Auf der Flucht: Bauernführer Hans Schwalb (Tobias Haaks) und seine Tochter Regina (Bele Kumberger. Foto: Karl + Monika Forster)

Die Sängerleistungen können die ehrgeizigen Ambitionen nicht ganz erfüllen. Urban Malmberg legt die Titelpartie zwischen warmherzigem Humanismus und grüblerischer Selbstanklage an, neigt zuweilen aber zu verformten Vokalen und monochromer Galligkeit. Als Albrecht von Brandenburg zeigt Martin Homrichs Tenor im ersten Teil ein unstetes Flackern, das sich erst nach der Pause zugunsten einer weit präziseren Tonfokussierung legt.

Yamina Maamar beweist als Ursula erneut die Durchschlagskraft ihres hochdramatischen Soprans, dessen Vibrato zumeist weit ausgreift. Eindruck machen Tobias Haaks als Bauernführer Hans Schwalb, stimmlich fürwahr „ein’ feste Burg“, und Bele Kumberger, die als seine Tochter Regina von mädchenhaft heller Unschuld in einen Ton intensiver Verstörung kippt.

Auch Hindemiths Libretto hat das Zeug dazu, lange nachzuklingen. Es gibt darin Sätze, die wie mit Fingern auf uns zeigen. Mancher Appell von damals hat bis heute nichts von seiner Dringlichkeit verloren.

Weitere Informationen und Aufführungstermine: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2017-18/mathis-der-maler/

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen)




Erstmals Intendant: Raphael von Hoensbroech wechselt im September 2018 vom Berliner Konzerthaus nach Dortmund

Dr. Raphael von Hoensbroech (Mitte) mit Kulturdezernent Jörg Stüdemann und Bürgermeisterin Birgit Jörder, Vorsitzende des Aufsichtsrats des Konzerthauses Dortmund. (Foto: Anja Kador/Dortmund Agentur)

Ein Schächtelchen Schokolade gab es als Willkommensgeschenk. „Das BVB-Trikot haben wir ihm ersparen wollen“, witzelte Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann, als er im Hanse-Saal des Rathauses den Mann begrüßte, der vom 15. September 2018 an neuer Intendant und Geschäftsführer des Konzerthaus’ Dortmund wird: Dr. Raphael von Hoensbroech, 40 Jahre alt, promovierter Musikwissenschaftler, Unternehmensberater und derzeit noch Geschäftsführender Direktor des imposanten, von Karl Friedrich Schinkel gebauten Berliner Konzerthauses am Gendarmenmarkt. Vor versammelter Presse unterzeichnete der Musik-Enthusiast mit den zwei Dehnungsvokalen im Namen einen Sechs-Jahres-Vertrag, der ihm erstmals die Position eines Intendanten sichert.

Warm, aber inhaltlich wolkig blieben die Worte, mit denen Dr. von Hoensbroech seinen Blick auf Dortmund und seine kommende Tätigkeit richtete. Noch ist es zu früh für Konzepte, für eine eigene Handschrift gar, zumal die Spielzeit 2018/19 noch komplett von seinem Vorgänger Benedikt Stampa geplant wurde, der als Intendant an das Festspielhaus Baden-Baden wechselt.

So viel immerhin wird deutlich: Der 1977 in Tokio geborene, in Köln und Arnsberg aufgewachsene Kulturmanager ist keiner, der das Rad mit Gewalt neu erfinden will. Er formuliert den (wenig überraschenden) Anspruch, das Publikum emotional bewegen zu wollen, das Haus gut zu vermarkten, es mit allen Partnern, Sponsoren und Kooperationspartnern gut zu vernetzen und stets kreativ nach vorne zu denken. Am eingespielten Team der Mitarbeiter will er festhalten.

Konkrete Aussagen zu Inhalten und Konzertformaten trifft der Neue vorerst nicht. Immerhin bejaht er auf Nachfrage, am bisher gepflegten Geist der Kooperation mit der Philharmonie Essen festhalten zu wollen, der im Februar dieses Jahres mit der „Ruhr Residenz“ der Berliner Philharmoniker einen glanzvollen Höhepunkt erreichte. Auch möchte er weiterhin konzertante Opernaufführungen im Konzerthaus realisieren.

Raphael Graf von und zu Hoensbroech, Spross einer alten limburgischen und später niederrheinischen Adelsfamilie, spricht verhalten im Ton und in der Sache. Er wirkt wie einer, der lieber zu wenig sagt als zu viel. Erst, als er über Musik spricht, beleben sich Gestik und Tonfall. Er, der bereits mit drei Jahren Geige lernte und auf dem besten Wege war, professioneller Dirigent zu werden, entschied auch aus familiären Gründen, in die Welt der Wirtschaft abzubiegen. Vier Söhne und eine Tochter hat er mit Ehefrau Christina, die an diesem Tag der Vertragsunterzeichnung ebenfalls nach Dortmund gekommen ist. Der Umzug von Berlin nach Dortmund ist bereits beschlossene Sache.

Das Konzerthaus Berlin hat mit 1.420 Plätzen im großen Saal eine ähnliche Größe wie das Dortmund Konzerthaus mit seinen rund 1.500 Plätzen. Ein eigenes Orchester wie in Berlin besitzt die Philharmonie für Westfalen freilich nicht. Von Hoensbroech wirkt am lebhaftesten, wenn er von magischen Momenten im Konzertsaal spricht: von knisternder Live-Atmosphäre, von der Spannung nach dem letzten Ton, in die niemand hinein applaudieren sollte. Solche Momente will er ermöglichen, will dafür die richtigen Künstler und die richtige Programmatik auswählen. Wir sind gespannt.




In Wagners Welt: Marek Janowski dirigiert eine sensationelle „Rheingold“-Aufführung im Konzerthaus Dortmund

Götter unter sich: Loge (Daniel Behle), Donner (Markus Eiche), Froh (Lothar Odinius) und Wotan (Michael Volle, v.l.. Foto: Pascal Amos Rest)

So ist es wohl häufig im Leben: Große Momente pflegen sich nicht lautstark anzukündigen. Längst war bekannt, dass Dirigent Thomas Hengelbrock die Leitung der konzertanten Aufführung von Richard Wagners „Rheingold“ mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester aus Krankheitsgründen abgeben musste.

Im Voraus konnten sich womöglich enttäuschte Hengelbrock-Fans damit trösten, dass statt seiner Marek Janowski am Pult stehen würde, ein Opernmann durch und durch, in Sachen Richard Wagner so erfahren wie gefeiert. Auch hatte der Blick auf die Sängerbesetzung verraten, dass mit Michael Volle als Wotan und mit Johannes Martin Kränzle als Alberich Exzellentes zu erwarten sei.

Was sich dann aber abspielt im Konzerthaus Dortmund, der zweiten Station der bald in Baden-Baden endenden Aufführungsserie, gleicht einem Märchen. Denn in den folgenden zweieinhalb Stunden hören wir nicht einfach Musik. Vielmehr baden wir in goldgrünen Fluten, fliegen hinauf zu den Göttern, rasen in höllischer Fahrt hinab in Unterwelten und werden Teil eines phantastischen Spiels, in dem es um Alles geht, um Untergang oder Fortbestand der Welt. Wir sind nicht dabei, wir sind mittendrin.

Ein Opernmann durch und durch: Marek Janowski übernahm die Aufführungsserie für Thomas Henbelbrock. (Foto: Pascal Amos Rest)

Marek Janowski, das Elbphilharmonie Orchester und ein unglaublich stark besetztes Sänger-Ensemble haben uns komplett im Griff. So bestechend dicht ist diese Aufführung, so über die Maßen plastisch und bildhaft im Klang, dass sie filmische Qualitäten erreicht. Da wogen die Wellen, da lodern die Flammen, und 18 Ambosse auf der Chorempore hämmern uns – live! – den Sound von Nibelheim ins Ohr. Das Orchester klingt unter Janowskis Leitung wie ein Naturereignis: wogend und sausend, flirrend und brausend, gleichwohl niemals lärmend.

Johannes Martin Kränzle sorgt als Alberich für Gänsehaut-Momente. (Foto: Pascal Amos Rest)

Nicht von dieser Welt scheint auch, was Michael Volle als Wotan und Johannes Martin Kränzle als Alberich vollbringen. Einen Göttervater mit solch überragender stimmlicher Autorität findet man kaum noch einmal. Das Volumen dieses Sängers lehrt das Staunen: Sein Wort, seine Stimme sind Gesetz. Johannes Martin Kränzle scheint als Alberich in die Fußstapfen des legendären Gustav Neidlinger treten zu wollen. So dämonische Züge er dem Schwarzalben einerseits gibt, so zeigt er ihn andererseits auch als bedauernswerten, stets verachteten Tropf. Seine warme, höchst facettenreiche Interpretation ist ein Lehrstück, wie aus Verbitterung allmählich Bosheit wird.

Triumph für ein großartiges Sänger-Ensemble (Foto: Pascal Amos Rest)

Welcher Hörgenuss auch vom Rest des Ensembles! Zum Beispiel von einer Fricka, die lyrisch-dramatisch singt statt hysterisch zu keifen (Katarina Karnéus), von einer Erda, die Wotan mit herrlich warm timbrierter Altstimme warnt (Nadine Weissmann), von zwei wunderbar stimmstarken Riesen (Christof Fischesser und Lars Woldt) und von drei Rheintöchtern, die Jubel und Übermut trefflich in Angstgeschrei und Klage umschlagen lassen (Mirella Hagen, Julia Rutigliano, Simone Schröder). Niemand stemmt, niemand forciert, niemand verfällt ins Deklamieren, auch nicht Donner und Froh, die ihre Kraft stets hell und leuchtend ins Spiel bringen (Markus Eiche und Lothar Odinius). Was macht es da schon, dass Elmar Gilbertsson als Mime ein wenig zur Überzeichnung neigt. Das letzte Wort behält Loge, der unstete Halbgott des Feuers. Daniel Behle gibt ihm wendige Eleganz, herrlich zwielichtigen Charme und die leisen Untertöne eines Zynikers, der sich stets ein Hintertürchen offen hält.

Ein laut jaulender Aufschrei der Begeisterung zerreißt die Stille nach dem Schlussakkord. Eine Männerstimme? Oder eine Frau? Wer weiß. Einen Wimpernschlag später toben auch die anderen los. Marek Janowski, in den Jahren 1975 bis 1979 GMD am Theater Dortmund, kehrt im größtmöglichen Triumph zurück.




Belcanto-Feuerwerk: Das Dortmunder Festival „Klangvokal“ beginnt mit Gioacchino Rossinis Oper „Le Comte Ory“

Der Graf Ory (Lawrence Brownlee, Mitte) und sein Page Isolier (Jana Kurucová, l.) buhlen um die Gunst der Gräfin Adèle (Jessica Pratt,r.) Foto: B. Kirschbaum

Wie ein französischer Don Juan stürmt der Graf Ory durch die gleichnamige Oper von Gioacchino Rossini. Er hat es auf die Gräfin Adèle abgesehen, die mit ihren Damen jedoch ein Keuschheitsgelübde abgelegt hat. So lange der Schlossherr und seine Ritter Kriegsdienst leisten, verwehren sie jedem männlichen Wesen den Zutritt zum Schloss.

Die amüsante kleine Mittelalter-Parodie, in der Rossini viel musikalisches Material aus seiner Oper „Die Reise nach Reims“ wiederverwendet hat, war am vergangenen Sonntag zur Eröffnung des Dortmunder Festivals „Klangvokal“ zu erleben. Eine Starbesetzung mit Belcanto-Spezialisten der Mailänder Scala und der MET in New York hatte Intendant Torsten Mosgraber im Vorfeld angekündigt. Dass er damit nicht zuviel versprochen hat, bewies die nicht-szenische Aufführung im Konzerthaus Dortmund. Die achtköpfige Solisten-Riege, die zum Festival-Auftakt vokalen Glanz verströmte, hätte kaum stärker und homogener besetzt sein können.

Er heckt immer wieder neue Streiche aus: Lawrence Brownlee (r.) als Comte Ory und Gheorghe Vlad als Coryphée (Foto: B. Kirschbaum)

Es ist das pure Vergnügen, den amerikanischen Tenor Lawrence Brownlee und die australische Sopranistin Jessica Pratt in den Hauptrollen zu hören. Brownlees betörend helles und elegantes Timbre beantwortet unmittelbar, warum er jüngst bei den International Opera Awards neben Anna Netrebko als „Bester Sänger des Jahres“ ausgezeichnet wurde. Seine umwerfend strahlkräftigen Spitzentöne wirken nie aufgesetzt, sondern entströmen organisch dem melodischen Fluss: ohne Krampf, aus purer Lust, fast übermütig hingezaubert.

Als wahre Belcanto-Königin triumphiert an seiner Seite Jessica Pratt, zu deren Paraderollen Donizettis „Lucia di Lammermoor“ zählt. Ihr äußerst beweglicher Sopran, mädchenhaft leuchtend und doch voller Kraft, klingt bis in die Spitzen durchgeformt und edel. Wie im Blindflug manövriert diese grandiose Sängerin durch alle tückischen Kurven des virtuosen Ziergesangs. Ihre kurz angestoßenen Staccato-Töne sind zum Niederknien, federleicht und unfehlbar treffsicher. Rossinis Meisterschaft findet in ihr eine ideale Interpretin.

Jana Kurucová in der Hosenrolle des Pagen Isolier (l.) und Jessica Pratt als Gräfin Adèle (Foto: B. Kirschbaum)

Stark sind die übrigen Solisten, die nicht verblassen neben diesem überragenden Duo. In der Hosenrolle als Page ist die Mezzosopranistin Jana Kurucová dem Grafen Ory ein ernst zu nehmender Rivale: durchaus in der Lage, dem Casanova dann und wann die Schau zu stehlen. Wunderbar auch Stella Grigorian als Ragonde, Monika Rydz als Alice, Roberto de Candia als Raimbaud, Oleg Tsybulko als Gouverneur und Gheorghe Vlad als Coryphée.

Das WDR Funkhausorchester Köln, überwiegend im Bereich der Unterhaltungsmusik zu Hause, fällt gegenüber dieser Sänger-Riege künstlerisch ab. Trotz des präzisen, Vitalität verbreitenden Dirigats von Giacomo Sagripanti reichen die Musiker nicht an das Niveau und den Esprit der Sänger heran. Freilich macht die Konzerthaus-Akustik es ihnen zusätzlich schwer, denn da das Orchester auf der Bühne sitzt, statt im Operngraben zu verschwinden, führen die Nachhallzeiten zu einem teilweise verwaschenen Klangbild. Gut gelingt aber die Gewittermusik im zweiten Akt, die viel Farbe und Stimmung liefert, ohne die Sänger zu übertönen. Auch der WDR Rundfunkchor ist engagiert bei der Sache (Einstudierung: Robert Blank).

Rossinis vorletzte Oper endet unvermittelt, ja abrupt. Die Kreuzritter kehren vom Krieg zurück, der Graf Ory muss fliehen. Beinahe scheint es, als habe Rossini keine Lust gehabt, das Stück fortzuführen. Das Programm von „Klangvokal“ aber erstreckt sich noch bis 25. Juni, unter anderem mit Edward Elgars Oratorium „The Dream of Gerontius“ und Henry Purcells „King Arthur“.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)
Informationen http://www.klangvokal-dortmund.de, Ticket-Hotline 01806/57 00 70)




Rauschhaftes aus Rom: Das Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter Antonio Pappano in Essen

Sir Antonio Pappano wurde 1959 als Sohn italienischer Eltern in London geboren. (Foto: ©Musacchio & Ianniello)

Boshaft gesprochen, gleichen die Tondichtungen des Italieners Ottorino Respighi einem musikalischen „Malen nach Zahlen“. Wenn dieser Komponist die Brunnen oder die Pinien von Rom in Musik setzt, geht der bildhafte Realismus bis in die genaue Beschreibung von Einzelheiten. Jeder Wassertropfen, jeder Sonnenstrahl, jedes Blätterrauschen und Vogelgezwitscher ist mit solcher Kunst instrumentiert, dass der Hörer der Illusion erliegt, an Ort und Stelle zu sein: mitten in der ewigen, der glorreichen Stadt.

Zum herablassenden Lächeln über derlei Programm-Musik besteht in der Philharmonie Essen indes kein Anlass. Hier zeigt uns ein Orchester aus Rom, welch rauschhaften Sog Respighis grandiose Instrumentationskunst entfalten kann, die er einst in St. Petersburg von Nikolai Rimski-Korsakow lernte. Wie fulminant er die Feinheit des französischen Impressionismus mit der Farbenglut des Südens verschmolz, demonstriert das Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, das diese Werke schon unter Herbert von Karajan einspielte. Respighi selbst war einst Direktor am Conservatorium di Santa Cecilia.

In der virtuosen Handhabung orchestraler Klangfarben steht dieser Komponist niemandem nach, nicht einmal dem Großmeister Richard Strauss. Unter der Leitung des in London geborenen Italieners Antonio Pappano lassen die Musiker den Brunnen im Giulia-Tal zunächst verschlafen in der Morgendämmerung murmeln. Sie breiten ein funkelndes Gespinst samt Celesta, Harfen, Triangel und Glockenspiel aus, bevor sie sich zum imperialen Pomp des Trevi-Brunnens am Mittag aufschwingen.

Absolut staunenswert, wie üppig dieses Orchester klingen kann, ohne je zu dick aufzutragen. Noch im überschäumendsten Tanz der mythologischen Wasserwesen bleibt alles transparent und sprühend. In ruhevoller Abendstimmung klingt die Tondichtung aus. Ein letzter Glockenschlag verhallt.

Starke Kontraste faszinieren in „Pinien von Rom“. Das strahlend helle Allegro vivace bietet zum Auftakt nicht nur interessante Effekte durch den Einsatz von Becken und Holzratsche, sondern auch durch harmonische Querstände der Trompeten. Das Lento führt dann hinab in düstere Katakomben. Wir hören nachtschwarze, archaische Wucht, dann wieder zarte Vogelstimmen und Klarinetten-Soli, wie sie delikater und samtiger gar nicht klingen könnten.

Mit dem Triumphmarsch auf der Via Appia erreichen Pappano und das Orchester schließlich den Gipfel. Gespenstisch dumpfer Marschtritt schwillt allmählich zu einer Überwältigungsmusik an, die den gesamten Raum erobert. Klug hat Antonio Pappano einzelne Blechbläser auf den Rängen der Philharmonie postiert. Mit dem Gespür eines wahren Maestro moduliert er den Orchesterklang, zieht ihn förmlich auf die Spitze, ohne je in grobe Lautstärke-Exzesse zu verfallen.

Alles bleibt durchgeformt, kultiviert und rund. Es ist eine Meisterleistung, die das Publikum in frenetischen Jubel ausbrechen lässt. Befremdlich nur, dass der Konzertmeister des Orchesters durch Fußstampfen und Bewegungen mit seinem Geigenbogen zum Klatschmarsch animiert. In den fällt das Publikum dann auch freudig ein. So führt die Via Appia unverhofft in die Manege.

Die chinesische Pianistin Yuja Wang und Antonio Pappano. (Foto: ©Musacchio & Ianniello)

Zu diesem Zeitpunkt ist die Pianistin Yuja Wang beinahe vergessen. Dabei hat die gerne glamourös auftretende Chinesin alles getan, um ihre technische Perfektion in Szene zu setzen und uns über das Wunder ihrer fliegenden Finger staunen zu lassen. Die donnernden Oktavläufe und ausgedehnten Kadenzen in Peter Tschaikowskys 1. Klavierkonzert sind dafür wie geschaffen. Die bombastisch vollgriffigen Akkorde nach der einleitenden Horn-Fanfare spielt Yuja Wang freilich etwas leiser und arpeggiert: mithin in der Variante, wie Tschaikowsky sie ursprünglich notiert haben soll.

Das Schlachtross des Repertoires voll im Griff zu haben, bereitet der technisch überragenden Künstlerin keine Probleme. Als Interpretin wirkt Yuja Wang an diesem Abend aber oft ratlos vor dem Koloss, der von so vielen Pianisten so häufig aufgeführt und aufgenommen wurde, dass neue Lesarten des Werks kaum noch möglich scheinen.

Gleichwohl sucht sie tapfer einen eigenen Zugang. Sie bringt einerseits dramatische Zuspitzungen, lässt sich andererseits auch auf Träumerisches und Verspieltes ein. Probleme bekommt sie, sobald die Musik beginnt, von Einsamkeit oder Schmerz zu erzählen. Dann überhastet sie, als wolle sie eine unangenehme Situation eilends hinter sich lassen. Das macht ihren Zugriff blass, stellenweise auch gefühlsarm.

Die Zugaben unterstreichen den Eindruck, dass es die supervirtuosen Parforce-Ritte sind, die Yuja Wang am meisten liegen. Die mit Extra-Schwierigkeiten aufgedonnerten Volodos-Versionen von Mozarts berühmtem „Rondo alla turca“ und der „Carmen“-Suite von George Bizet reißen das Publikum erwartungsgemäß von den Sitzen.

Über die nächsten Konzerte in der Philharmonie Essen informiert die Homepage: http://www.philharmonie-essen.de




Wilde Träume des bürgerlichen Unterbewusstseins: Ben Baur inszeniert Mozarts Oper „Don Giovanni“ in Gelsenkirchen

Zerlina (Bele Kumberger) wird schwach angesichts der Avancen von Don Giovanni (Piotr Prochera). (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Was hat Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ mit der Oper „Don Giovanni“ von Wolfgang Amadeus Mozart zu tun? Im Gelsenkirchener Musiktheater derzeit eine ganze Menge. Der aus dem südhessischen Reinheim stammende Bühnen- und Kostümbildner Ben Baur, der sich zunehmend dem Regiefach zuwendet, deutet den nimmersatten Frauenhelden jetzt als finsteres Alter Ego seines Dieners Leporello, als morbide nächtliche Fantasie eines bürgerlichen Unterbewusstseins.

Viele Rezitative zwischen Don Giovanni und Leporello fallen dieser Sichtweise zum Opfer. Einige Arien schneidet Ben Baur heraus, um sie an anderer Stelle zu positionieren. Das ist durchaus machbar, ohne das Stück zu zerstören: Als Ausgangs- und Knotenpunkte der Handlung funktionieren die Arien dieser Oper eigentlich immer. Zudem hat sich Mozarts ebenso geniales wie mehrdeutiges „Dramma giocoso“ von Beginn an wenig um Opernkonventionen und Gattungsgrenzen geschert.

Das Geschehen auf der Bühne zu verstehen, dürfte freilich erhebliche Probleme bereiten, wenn im Vorfeld die Lektüre des Programmhefts unterbleibt. Schon während der Ouvertüre findet auf der Szene ein so munteres „Bäumchen wechsel Dich“-Spiel statt, dass man bald nicht mehr begreift, wer da alles wem und warum um den Hals fällt. Die komische Seite des Spiels bleibt wenig belichtet. Selbst Zerlina und Masetto, das naiv-burleske Bauernpaar, ringt um ein vertrauensvolles Leben zu zweit.

Don Giovanni (Piotr Prochera, li.) mit Zerlina (Bele Kumberger) und Masetto (Michael Dahmen). (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Die mit Totenmasken ausgestattete Statisterie soll vermitteln, dass diese Nacht mit dem Totentanz des Titelhelden endet, bevor es endlich Tag wird und der Spuk ein Ende hat. Warum aber muss Don Giovanni vor seinem Ende in das Brautkleid der Donna Elvira steigen? Ein seltsames Totenhemd für einen Super-Macho.

Baurs Lesart, wiewohl weit hergeholt, entfaltet gleichwohl Reize für den, der sich auf sie einlässt. Als magische Traumgestalt oder Ausgeburt einer überhitzten Fantasie lässt sich die mythische Titelgestalt, an deren rätselhafter Anziehungskraft sich Dichter, Denker und Philosophen abgearbeitet haben, vielleicht noch am ehesten begreifen. Elegant sind die Bühnenbilder, für die ebenfalls Ben Baur verantwortlich zeichnet.

Alles beginnt in einem mit Stuckaturen verzierten Salon mit eingezogenem Theatervorhang. Wenn diese Kulisse schließlich komplett Richtung Schnürboden gezogen wird, bleibt ein feierliches, von Kerzenleuchtern und Blumengestecken geschmücktes Spielfeld der Liebe und des Todes.

Das quirlige Ensemble des Musiktheaters (MiR) eilt dem Orchester zuweilen bedenklich davon, aber die teils erheblichen Unstimmigkeiten zwischen Graben und Bühne mögen auch dem Premierenfieber geschuldet sein. Piotr Prochera, von Statur und Stimmvolumen nicht der Größte, meistert die Titelpartie auf intelligente Weise. Er gibt „seinem“ Don Giovanni strizzihaften Charme und samtige Eleganz, die er bei passender Gelegenheit ins Forcierte und Brutale umschlagen lässt. Stimmlich überzeugend zeichnet er das Porträt eines Edelmanns mit sadistischen Zügen.

Der schwedische Bariton Urban Malmberg muss als Leporello eine Bass-Partie bewältigen, weshalb er sich im tiefen Register dementsprechend müht. Gleichwohl findet er passend gallige Töne für einen Diener, der seinen Herrn satt hat bis zum Überdruss.

Nacht und Kerzenschein: In Ben Baurs Lesart von „Don Giovanni“ ringen die Figuren um das Leben zu zweit. (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

 

Wunderbar besetzt sind die beiden Sopran-Partien: Alfia Kamalova bringt als Donna Anna lyrischen Schmelz und edle Dramatik zum leuchten, und Bele Kumberger ist eine Zerlina, die herrlich zwischen mädchenhafter Scheu und gewitzter Koketterie schwankt. Petra Schmidt gibt der Donna Elvira gehörigen Rache-Furor, in den sich zuweilen auch spitze oder verhärmte Töne mischen.

Die Partie des Masetto scheint Michael Dahmen perfekt zu liegen: Bei ihm verschmelzen stimmliche und schauspielerische Darstellung zu genau der Einheit, die Mozarts Figuren so ungeheuer lebendig macht. Dong-Won Seo gibt dem Komtur nachtschwarz drohende Wucht. Ibrahim Yesilay entwickelt als Don Ottavio tenoralen Schmelz, hat bei der Premiere aber das Pech, einmal fast komplett den Anschluss zum Orchester zu verlieren.

Die metaphysische Wucht des d-Moll, die im „Don Giovanni“ den Einbruch einer rächenden Instanz aus dem Jenseits markiert, will sich im Orchestergraben zunächst nicht recht einstellen. Die Neue Philharmonie Westfalen braucht eine ganze Weile Anlauf, bis sie sich in den rechten Esprit für Mozarts ebenso transparente wie anspruchsvolle Partitur hinein spielt. Nach der „Zauberflöte“ im Jahr 2009 hatte sich Chefdirigent Rasmus Baumann eben eher auf Riesenrösser des Repertoires konzentrierte – man denke nur an „Lady Macbeth von Mzensk“, „Die Frau ohne Schatten“ oder „Tristan und Isolde“. Der Offenbarungseid, dem Mozarts Werke für Sänger und Musiker gleich kommen, fällt in Gelsenkirchen vielleicht nicht immer brillant, aber doch vielversprechend aus.

(Folgetermine im Mai, Juni und Juli 2017. Informationen: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2016-17/don-giovanni/)




Chopin mit Handbremse: Eine Wiederbegegnung mit dem Pianisten Alexej Gorlatch

Alexej Gorlatch am Konzertflügel (Foto: Gregor Willmes/ C. Bechstein)

Sein vielleicht spektakulärster Wettbewerbserfolg lag gerade ein Jahr hinter ihm, als Alexej Gorlatch seinen Einstand beim Klavier-Festival Ruhr gab. Der 1988 in Kiew geborene und seit 1991 in Deutschland lebende Pianist hatte beim ARD-Wettbewerb in München nicht nur den Ersten Preis, sondern auch den Publikumspreis und mehrere Sonderpreise gewonnen. Beim Klavier-Festival standen am 9. Juni 2012 im Harenberg City Center Dortmund Balladen von Johannes Brahms, Préludes von Claude Debussy und Etüden von Frédéric Chopin auf seinem Programm.

Anfang dieses Monats fiel Gorlatch die Ehre zu, eine Klavierabend-Serie im Konzerthaus Berlin zu eröffnen. Obgleich die Reihe nicht neu war, handelte es sich bei diesem Abend doch um eine Premiere. Denn die kleine, aber feine Veranstaltungsreihe der traditionsreichen Klavierbaufirma C. Bechstein musste überraschend umziehen, nachdem im Verkaufszentrum im Stilwerk an der Kantstraße plötzlich kein Platz mehr für sie war. Indes könnte sich das neue Domizil am Gendarmenmarkt als Glücksfall erweisen. Mitten in der Stadt gelegen und ohnehin ein starker Magnet für Musikfreunde, dürfen die Bechstein-Abende mit jungen Meisterpianisten nun im Kleinen Saal des Hauses Strahlkraft entfalten.

Gorlatch, seit dem Wintersemester 2016/17 Professor für Klavier an der Hochschule für Musik und Tanz in Frankfurt a.M., hatte für diese Gelegenheit ein reines Chopin-Programm gewählt. Er eröffnete den Abend mit der Polonaise-Fantaisie op. 61, deren freie Form ihm einige Probleme zu bereiten schien. Obgleich Gorlatch seinen lyrisch-schönen Klang aufscheinen ließ, verzettelte er sich im Geflecht der Mittelstimmen und schien Mühe zu haben, die Komposition auf einen Zielpunkt hin zu spielen.

Zwei Blöcke von jeweils 4 Mazurkas (op. 67 und op. 68) kamen dem Künstler an diesem Abend mehr entgegen. Hier konnte er einen warmen Erzählton entfalten, seine Spiellust in eine kleinere, überschaubarere Form fließen lassen. Warum der wechselnde Charakter dieser tänzerischen Kleinodien an diesem Abend eher kontrastarm blieb, warum Gorlatch häufig unfrei und steif wirkte, kann nicht schlussendlich erklärt werden. Fühlte der Künstler sich durch die aufzeichnenden Mikrofone gehemmt? Auf seinen ersten CDs hatte der Pianist sich als vorzüglicher Chopin-Interpret empfohlen.

Alexej Gorlatch ist Professor für Klavier in Frankfurt a.M. (Foto: Monika Lawrenz)

Es dauerte bis zum berühmten Trauermarsch der Sonate Nr. 2 b-Moll, bis die Musikalität des einstigen Kämmerling-Schülers allmählich frei wurde. Mit dunkel brodelnden Bässen ging Gorlatch die Sonate an, löste sich nun auch allmählich von der bis dahin viel zu einheitlichen Dynamik. Der atemlose, quasi knochenlose Finalsatz jagte trefflich verwischt und verschwommen am Ohr vorbei. Wunderbar gefühlvoll gelang im Anschluss die Berceuse Des-Dur op. 57. Im sanften Wiegen-Rhythmus ließ der Pianist seine viel gerühmte Nuancierungskunst aufscheinen. Vor allem die Spieluhr-Lieblichkeit im Diskant ließ aufhorchen.

Das Scherzo Nr. 2 b-Moll glich im Anschluss mehr einem Brillier- als einem Nachtstück. Gorlatchs pianistisches Vermögen steht dabei außer Zweifel: Gewiss kann man dieses Stück auch von berühmteren Pianisten mit viel mehr falschen Tönen hören. Vielleicht war aber genau dies das Problem. Der Künstler schien kein Risiko eingehen zu wollen, zumindest nicht an diesem Abend in Berlin.

Wer sich in NRW ein Bild vom Spiel des Pianisten machen möchte, hat dazu übrigens bald Gelegenheit. Von Mitte Juni an wird der Künstler wieder in NRW gastieren: zum Beispiel im Teo Otto Theater in Remscheid (15. Juni 2017), im Theater und Konzerthaus von Solingen (16. Juni), im Theater Marl (17. Juni) und im Beethoven-Haus Bonn (1. August).

(Weitere Informationen auf der Website des Künstlers: http://alexej-gorlatch.com/aktuell/)




Blumiges im Übermaß: Die New Yorker Philharmoniker spielen Werke von Béla Bartók und Gustav Mahler in Essen

Alan Gilbert, Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker, beim Konzert in der Philharmonie Essen. (Foto: Sven Lorenz).

Die Qual der Wahl ist zuweilen nicht gering für Musikfreunde im Revier. Zu berichten ist von einem Sonntag, an dem die Wiener Philharmoniker im Konzerthaus Dortmund gastierten, während das New York Philharmonic Orchestra in Essen spielte. Zugleich brachte das Theater Dortmund eine  Neu-Inszenierung von Giuseppe Verdis „Otello“ heraus. Und das Essener Aalto-Theater zeigte Richard Wagners „Lohengrin“.

Die New Yorker, zuletzt im Mai 2013 in der Philharmonie Essen zu Gast, eröffneten den Abend mit einem der bedeutendsten Werke des Ungarn Béla Bartók. Die „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ aus dem Jahr 1936 erreicht eine hohe psychologische Dichte, bleibt aber zugleich abgründig und rätselhaft. Die Instrumentengruppen samt Klavier, Celesta und Schlagwerk musizieren auf ausgesprochen kammermusikalische Weise miteinander. Das ist kein Zufall, entstand das Werk doch im Auftrag des Schweizer Mäzens Paul Sacher, dessen Basler Kammerorchester das Stück auch zur Uraufführung brachte.

Unter der Leitung von Chefdirigent Alan Gilbert, dem ersten gebürtigen New Yorker auf dieser Position, entfalten die Musiker das eröffnende Andante tranquillo wie ein feines Gespinst. Im leisen Pianissimo-Gemurmel der Streicher tauchen verblüffende Farbmischungen auf, die uns den Einsatz einer Flöte oder einer Oboe vorgaukeln, obschon kein einziger Bläser auf dem Podium sitzt.

Die New Yorker glänzen auch in den folgenden drei Sätzen durch Fingerspitzengefühl: Sei es im rhythmisch durchpulsten Allegro, das Momente brodelnder Intensität erreicht, oder im ausgelassenen Finalsatz mit seinen bulgarischen Tanz-Rhythmen, durch den die Streicher so famos surren wie ein Schwarm zorniger Hornissen. Zum exquisiten Hör-Erlebnis gerät das Adagio, das mit seinen Paukenglissandi und Celesta-Klängen eine sonderbar verschwommene Atmosphäre schafft. Hin und wieder tropft ein Xylophon-Ton in diese traumgleiche Wolkigkeit hinein, prallt hart an unser Ohr, ohne die Nebel zu zerreißen.

Alan Gilbert, die Sopranistin Christina Landshamer und die New Yorker Philharmoniker. (Foto: Sven Lorenz)

Wie zwiespältig die „himmlischen Freuden“ sind, von denen Gustav Mahler in seiner vierten und vermeintlich lyrischsten Sinfonie kündet, erfassen Alan Gilbert und die New Yorker Philharmoniker indes nicht. Sie zeichnen ein nahezu ungebrochenes Idyll, das zwar feine kammermusikalische Differenzierung und scharfe Akzente kennt, aber wenig von den schwarzen Abgründen erzählt, an denen diese Musik auf gefährlich schmalem Grat entlang wandert. Stattdessen jede Menge Blumenwiese, oft mit so unbefangener Direktheit ausgemalt wie ein klangprächtiger Walzer von Tschaikowsky.

So ländlert und walzert Mahlers Vierte wunderbar schön, aber recht harmlos vor sich hin. Gilberts Entscheidung, den Bläsern keine Podeste zu geben, hatte zudem unglückliche Folgen für die Klangbalance. In dem Bemühen, gegen den Streicherapparat anzukommen, übertrieben die Hörner, bis ihre Soli überpräsent tönten. Trompeten und Posaunen wirkten hingegen wie entfernt. Der Sopran von Christina Landshamer gefiel durch mädchenhaft leuchtende Farben, war aber auch leise und wenig textverständlich.

Gustav Mahler persönlich stand diesem Orchester von 1909 bis 1911 als Chefdirigent vor. Unvergessen auch, mit welcher Emphase sich Leonard Bernstein an der Spitze der New Yorker Philharmoniker für Mahlers Sinfonien einsetzte. Der jüngste Abend in Essen wirft die Frage auf, was aus diesem Erbe geworden ist.

(Der Bericht ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen).

Informationen zum Spielplan der Philharmonie Essen: http://www.philharmonie-essen.de/konzerte/2017-4.htm)