„Die Fledermaus“ in Essen: Pläsier ohne Sprengsatz

Das Stubenmädchen Adele (Hulkar Sabirova, l.) und ihre Schwester Ida (Yara Hassan) vergnügen sich auf Orlofskys Party mit einem Tänzer (Foto: Iko Freese)

Welch rauschende Party! Für das Vergnügen seiner Gäste hat Prinz Orlofsky keine Mühen und Kosten gescheut. Da gibt es ein Live-Orchester, einen künstlichen Sternenhimmel, ein Riesen-Roulette, edlen Stuck, blitzende Spiegel, funkelnde Diskokugeln. Sogar ein Feuerwerk lässt der generöse Gastgeber zünden. Zu sehen ist dies alles auf der Bühne des Essener Aalto-Theaters, wo Gil Mehmert es in seiner neuen Inszenierung der Strauß-Operette „Die Fledermaus“ mächtig krachen lässt.

Der in Herten geborene Regisseur, der seit 2003 Professor im Studiengang Musical an der Essener Folkwang Universität ist und für die Eröffnungsshow der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 verantwortlich zeichnete, serviert das sprühende Meisterwerk als glanzvolles Spektakel, das vor allem unterhalten soll. Dies wohl auch auf Geheiß des Opernintendanten Stefan Soltesz, der sich im Programmheft für eine illustrierende, auf ein jüngeres Publikum zielende Fassung stark macht. Als Konsequenz wird aus der neuen Essener Fledermaus ein Tierchen ohne Biss: Sie ist leicht zu konsumieren, steht dem Varieté aber näher als der Spottlust à la Offenbach. Von den Nachwehen des Wiener Börsenkrachs im Jahr vor der Uraufführung, in dessen Folge sich manch Verzweifelter das Leben nahm, aber auch von der erschreckenden Brüchigkeit bürgerlicher Verhältnisse ist in Mehmerts Version nicht viel zu spüren.

Gesungen und gespielt wird aber auf einem Niveau, das dem guten Ruf des Aalto-Theaters entspricht. Mit Peter Bording als Gabriel von Eisenstein und Alexandra Reinprecht als Rosalinde verfügt die Produktion über zwei Hauptdarsteller, die nicht nur stimmlich eine glänzende Figur abgeben. Hulkar Sabirova mag als Stubenmädchen Adele zuweilen etwas überdreht agieren, zwitschert sich als „Unschuld vom Lande“ aber trefflich in die Herzen des Publikums. Andreas Hermann kostet als Alfred das Klischee vom selbstverliebten Tenor köstlich nervtötend aus. Für mehr als nur einen Schuss schillernder Dekadenz sorgt Countertenor Matthias Rexroth, der als Prinz Orlofsky wie ein Party-Gott aus der Stuckdecke geschwebt kommt. Tom Zahner als versoffener Gefängniswärter Frosch, Heiko Trinsinger als Dr. Falke und Michael Haag als Gefängnisdirektor Frank komplettieren das Bild dieser ebenso feierwütigen wie fragwürdigen Gesellschaft. Der spielfreudige, auch stimmlich gut aufgelegte Opernchor sowie die Essener Philharmoniker, die unter dem Dirigat von Stefan Soltesz voller Transparenz und Spannkraft spielen, machen die Produktion musikalisch zu einem Erfolg. Mag das Orchester in sehnsuchtsvoll ausgreifenden Melodien auch kühl und reserviert klingen, so begeistert es doch durch nadelfeine Akzente und sprühende Delikatesse.

Freundlich, aber ohne Überschwang nahm das Premierenpublikum die aufwändige, auf zweieinhalb Stunden gekürzte Neuproduktion auf. Als Silvesterstück dürfte die Essener Fledermaus funktionieren, zumal die elegante Bühne von Jens Kilian und die prachtvollen Kostüme von Dagmar Morell viel fürs Auge bieten. Wer aber auf den im Pläsier verborgenen Sprengsatz wartet, wird trotz des Feuerwerks enttäuscht.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: www.aalto-musiktheater.de/premieren/die-fledermaus.htm)




Hoffmanns Spukgestalten

Hoffmann (Thomas Piffka, im Rollstuhl) ist verliebt und bereits in den Fängen der Puppe Olympia (Rebecca Nelsen). Foto: Thilo Beu

Die Geliebte glänzt durch Abwesenheit. Vielleicht ist Stella nur ein Traumbild, in dem der Dichter Hoffmann seine Idealfrau erblickt. Die Sehnsucht nach ihr befeuert zwar seine Phantasie, erwärmt aber nicht sein Leben. Das fühlt sich kalt und unbewohnt an: Wie sehr, das lässt Regisseur Dietrich Hilsdorf uns jetzt im Essener Aalto-Theater spüren. Dort begegnet uns der Titelheld von Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ auf komplett leer geräumter Bühne.

Dunkel und trostlos ist es um den Poeten, der da allein an einem Tischchen sitzt und trinkt. Keine ausgelassenen Studenten, sondern schwarz gekleidete Theaterleute strömen herbei, um sich von der Ballade von Klein-Zack unterhalten zu lassen. Hoffmanns Einsamkeit mildert das nicht. Deshalb flüchtet er in eine andere Welt, in der er drei Frauenentwürfe schafft: den Gesangsautomaten Olympia, die der Kunst verfallene Sängerin Antonia und die berechnende Kurtisane Giulietta.

Mit dem Beginn der drei Binnen-Akte könnte die Regie trefflich auf eine andere Ebene abheben. Könnte die Leere mit Leben füllen, könnte dem Zug ins produktiv Phantastische folgen. Aber Hilsdorf wählt einen anderen Weg: Er will Schauergeschichten nach Art des „Gespenster-Hoffmann“ erzählen. Vor blutroten Vorhängen zeigt er uns Spukszenen: Aus Olympia wird eine larvenhaft weiße Puppe im Rollstuhl, Antonia tauscht mit ihrer im Sarg aufgebahrten Mutter den Platz. Und die teuflisch verführerische Giulietta macht aus einem unbescholtenen Mann einen Mörder.

So lastet weiter nächtliches Dunkel auf der Bühne. Glutvolle Schwärmerei oder quirliger Esprit sind in dieser Schattenwelt Mangelware, vielmehr färbt die Gespensterblässe auf Offenbachs Opern-Torso ab. Die eigens für das Aalto-Theater erstellte Dialogfassung nimmt zusätzlichen Schwung aus dem Stück heraus. Natürlich ist Hilsdorf Meister genug, um der tausendfach verkitschten „Barcarole“ neuen, ironisch gebrochenen Zauber zu geben. Auch hält er dem Publikum gelegentlich den Spiegel vor, wenn er das gesamte Theater zur Spielfläche erhebt. Aber wo sich sein „Fidelio“ einst zum umfassenden Opernfest rundete, mühen sich „Hoffmanns Erzählungen“ durch manche Ebene, bevor sie sich zum apotheotischen Finale aufschwingen.

Seltsam schräg zur intendierten Schauerromantik steht der eher beiläufige Operettenklang aus dem Orchestergraben. Unter der Leitung von Stefan Soltesz lassen die Essener Philharmoniker Offenbachs Musik schlank und flink, aber auch recht folgenlos parlieren. Vieles klingt eher nivelliert als ausgewogen: Die Partitur bleibt auch in ihren besten Momenten seltsam kraftlos. Das Gesangsensemble ist gut besetzt, ohne wirklich zu glänzen. Mehr leidende Künstlerseele denn kraftvoller Dionysiker ist Thomas Piffka in der Hauptrolle. Er führt seinen schlanken Tenor mit Eleganz, löst die bis dahin offenbar angezogene Handbremse aber erst im letzten Akt, um richtig Kraft und Schmelz zu entwickeln. Rebecca Nelsen ist als Olympia ein verlässlicher Gesangsautomat, dem menschliche Mühen in der koloraturgepanzerten Mechanik indes nicht fremd sind. Die Muse Niklausse (Michaela Selinger), die Sängerin Antonia (Olga Mykytenko) und die Kurtisane Giulietta (Ieva Prudnikovaite) bilden ein ausgewogenes Trio. Trotz allem überwiegt am Ende das Gefühl, der große Dichter und Phantast habe in Essen mehr Wasser getrunken als Wein.

Termine und Informationen: http://www.theater-essen.de

(Der Artikel ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen.)

 




Vom lautlosen Fall zum großen Crash

Kevin Spacey als Banker, der seine Leute zu Höchstleistungen anspornt (Copyright: Koch Media GmbH)

Die Krise naht unsichtbar, unerwartet, unaufhaltsam. Sie ist wie eine schwarze Sonne, die sich langsam über den Horizont unseres Verstehens schiebt. Ihre ersten Strahlen fallen in die Augen eines jungen Bankers, der ungläubig auf den Bildschirm seines Computers starrt.

Die Dateien auf dem USB-Stick, den sein Boss ihm bei seiner Entlassung noch rasch zustecken konnte, künden von der prekären Finanzlage seiner Bank: von Überschuldung in einer Größenordnung, die die gesamte Finanzwelt ins Wanken zu bringen droht. Je mehr der junge Mann begreift, was die Daten auf seinem Rechner bedeuten, desto dunkler und fiebriger beginnen seine Augen zu glühen. Es ist ein Moment, in dem Nietzsches Wort Wahrheit wird: Wer lange in einen Abgrund blickt, in den blickt der Abgrund zurück.

„Margin Call“ oder „Der große Crash“, wie der Film des amerikanischen Regisseurs J.C. Chandor auf deutsch heißt, erzählt von der Pleite einer New Yorker Investment-Bank. Indes fällt der Name Lehman Brothers, und das ist gewiss kein Zufall, während der gesamten 105 Minuten nicht ein einziges Mal. Jede andere Großbank im hochspekulativen Geschäft, so die unausgesprochene Botschaft, hätte den Crash ebenso auslösen können. Wir Kinobesucher, die wir auch im Leben nur staunende Zuschauer des virtuellen und zugleich erschreckend realen Dramas sind, sollen die Tragödie nun aus der Innenansicht erleben. J.C. Chandor führt uns mitten hinein in die Welt der dicken Teppichböden und Bonuszahlungen. Er macht uns zu Fischen in einem Aquarium, in dem man Geld atmet statt Luft.

Wer aber auf den Auftritt allzeit gieriger Finanzhaie und Anlage-Analysten wartet, auf Prototypen des bösen Bankers ohne Gemeinsinn und Gewissen, wird das Kino weitgehend enttäuscht verlassen. Stattdessen begegnen wir einem warmherzigen Abteilungsleiter (Stanley Tucci), der auf seine unerwartete Entlassung sichtlich geschockt reagiert. Wir sehen einen sympathischen Jung-Banker und seinen noch recht unreifen Kollegen (Zachary Quinto und Penn Badgley), die ihrer ersten Million hinterher jagen und doch ständig um ihre Stelle zittern. Wir erleben kompetente Chefs, die es zwischen den Pflichten gegenüber der Firma und ihrem Verantwortungsgefühl für die Mitarbeiter schier zerreißt (großartig: Kevin Spacey). Wir sehen eine knallharte weibliche Führungskraft, die unter der Last der Verantwortung tapfer die Schultern strafft (Demi Moore), aber auch skrupellose Mittvierziger (Simon Baker), denen es nur um das eigene Überleben geht. Monochrom gezeichnet ist einzig der Vorstandsvorsitzende John Tuld, dem Jeremy Irons die boshafte Aura eines vertrockneten Reptils verleiht.

Ein junger Banker (Zachary Quinto) entdeckt die Wahrheit (Copyright: Koch Media GmbH)

Die Namen all dieser Akteure prägen sich dabei nicht wirklich ein. Denn nach den Spielregeln des Kapitalismus sind sie alle ersetzbar, vom kleinen Angestellten bis zum großen Vorstandsvorsitzenden. Sie sind nur Schachfiguren in einem Spiel, das ihnen mehr und mehr entgleitet. „Der große Crash“ ist ein leises Kammerspiel, eine Studie darüber, wie Geld Menschen verändert. In seinen besten Momenten schwingt sich der Film zu Situationen voller Symbolkraft auf, die teils berückend schön sind, teils beklemmend absurd. Da stehen drei Jung-Banker zum Beispiel auf dem Dach ihres Firmengebäudes und blicken hinunter. Kein Laut ist zu hören. „Es muss ein langer Fall sein bis nach unten“, sagt einer der Männer schaudernd. Als hätte dieser Satz eine hypnotische Wirkung, klettert der Erfahrenste der drei plötzlich auf das Geländer. Zum Absturz kommt es schließlich nicht – oder besser gesagt „noch nicht“, wie einer der Banker flüstert.

Der Fortgang der Krise spiegelt sich in vielsagenden Blicken, langen Gesichtern, in großen Augen, in denen nur mehr Rat- und Orientierungslosigkeit steht. Eine weitere Stärke des Films liegt in der bewussten Ausblendung der Außenwelt. Keine Nachrichten, keine Politik, keine normalen Bürger, ja nicht einmal Kunden kommen im Imperium der Glitzerfassaden und Teppichböden vor. Und keiner der Banker, die da so selbstverständlich Überstunden schieben und bis tief in die Nacht arbeiten, scheint so etwas wie ein Privatleben zu besitzen.

Trotz allem zeigt der Film auch Menschen. Zum Beispiel den Abteilungsleiter, der seit 34 Jahren für die Bank arbeitet und durch die extremen Verwerfungen in der Firma seine persönliche Hölle durchlebt. Ein einziges Mal zeigt die Kamera ihn als Privatmann: geschieden, ausgebrannt, verzweifelt. Er ist Top-Verdiener, Entscheidungsträger, Mitglied des Establishments, x-facher Millionär. Und dabei komplett ruiniert.




Auftakt für den Duisburger Wunschkandidaten

Der Zwang zum Kollektiv fördert unter Orchestermusikern oft die tollsten Eigenwilligkeiten. Nicht selten feiern Cliquenbildung und Querulantentum fröhliche Urständ. Die Duisburger Philharmoniker aber scheint, wenn es darauf ankommt, ein glücklicherer Geist zu vereinen.

Auf der Suche nach einem neuen Chef, der den im Mai 2011 verabschiedeten Publikumsliebling Jonathan Darlington als Generalmusikdirektor beerben könnte, sprach sich das Orchester mit geschlossener Stimme für den 1965 in Rom geborenen Dirigenten Giordano Bellincampi aus. Von der Rheinoper mit der musikalischen Leitung von Giacomo Puccinis „La Bohème“ betraut, muss zwischen Dirigent und Orchester ein so positives Arbeitsklima entstanden sein, dass die Musiker den in Kopenhagen lebenden Römer einmütig zum Wunschkandidaten ernannten.

Glückliches Duisburg, wo der Wille des Orchesters nicht etwa von Macht- und kulturpolitischen Interessen übergangen wurde, sondern den Weg in die philharmonische Zukunft weisen darf. Als neuer Generalmusikdirektor der Stadt soll Bellincampi erst am 1. September 2012 antreten. Doch die aktuelle Interimsspielzeit durfte er jetzt bereits eröffnen: Fast genau ein Jahr vor seinem Amtsantritt.

Seinen Einstand in der Mercatorhalle gibt Bellincampi zunächst mit dem träumerischen „Prélude à l’après-midi d’un faune“ von Claude Debussy. Der Dirigent modelliert das von Licht und Klangfarben durchflutete Orchesterstück mit bloßen Händen, wie er überhaupt den ganzen Abend hindurch auf einen Taktstock verzichtet. Den in der Mittagshitze ruhenden Faun umgibt er mit einem orchestralen Waldweben, das Debussys bewusste Abkehr von der Tonsprache Richard Wagners auf den Punkt bringt. Nicht schwül-sinnliche, sondern silbrig-helle Farben flirren um diesen Faun: Hirte, Faun und Nymphen blicken uns wie aus einem zarten Aquarell entgegen.

Ungemein feinen Klangsinn beweist der Dirigent auch in den sechs Orchesterstücken opus 6 von Anton Webern. Zartgliedrigstes schwebt im Klang von Harfe und Celesta vorüber, Tremoli in den Streichern klingen wie fiebriger Geisterhauch. Aber Bellincampi kann bei aller Delikatesse auch unvermittelt zupacken und zuspitzen: Dann setzen die Blechbläser grelle Kontrapunkte, dann markiert ein dröhnendes Crescendo im Schlagwerk den Mittel- und Wendepunkt des Stücks.

Nicht alles gelingt den Interpreten im Violinkonzert des Amerikaners Samuel Barber. Zu stark unterteilt und daher kurzatmig klingen manche der weit ausgreifenden Melodien. Das tief melancholisch gefärbte Andante kann der unterschwellig hektischen Gestaltungsversuche wegen nicht frei strömen. Die rhythmische Vertracktheit des Finalsatzes legt offen, wo Dirigent und Orchester noch nicht ganz präzise interagieren. Aber Bellincampi bewährt sich als geschickter Begleiter, der dem Solisten flexibel folgt und sich darum kümmert, ihn nicht zu übertönen. Dies kommt Serge Zimmermann zugute. Der gerade einmal 20-jährige Sohn des berühmten Duisburger Geigers Frank Peter Zimmermann ist ein blendender Techniker mit feinem Violinton, der oft noch sehr gezügelt klingt. Ein Öffnen und Aufblühen dieses Klangs, ein packenderer Zugriff im Dramatischen mag sich aber entwickeln.

Mit einem Esprit, der Felix Mendelssohns „Italienischer Sinfonie“ alle Ehre gemacht hätte, fegen Bellincampi und die Duisburger Philharmoniker zum Abschluss durch Robert Schumanns 4. Sinfonie. Bellincampi befeuert die Philharmoniker mit quirligen Bewegungen, nimmt dem Werk durch sein Temperament viel von seiner strengen Ernsthaftigkeit. Es ist die Reaktion der Philharmoniker, die in der Tat schöne Hoffnungen auf die Zukunft weckt. Schäumende, fast überbordende Musizierlust bricht sich da Bahn: Und nicht das Geringste ist von den anstrengenden „Tristan“-Vorstellungen zu spüren, die das Orchester bereits vor diesem Saisonauftakt bei der Ruhrtriennale zu spielen hatte. Solche Leidenschaft reißt nicht nur mit. Sie macht die Musik zum Fest.

 




Reges Konzertleben in Bochum: Anton Bruckner als Urvater des Minimalismus

Steven Sloane, GMD der Bochumer Symphoniker

Stets sucht das Team um Bochums Generalmusikdirektor Steven Sloane nach kreativen Ideen, um die Jahreshefte der „BoSys“ auch optisch zu etwas Besonderem zu machen. Auf Überraschungen müssen Musikfreunde dabei immer gefasst sein: Die Programmübersicht kam in vergangenen Jahren schon im Gewand einer Kochrezept-Sammlung daher, in Einzelheften wie die Unterlagen zu einer Fernreise oder auch als Buch mit ehrwürdigem Leineneinband.

Die Nachricht vom Bau des Musikzentrums in der Innenstadt, am 9. März 2011 vom Rat der Stadt Bochum beschlossen, gab jetzt den Anstoß für ein Jahresprogramm in Form einer Zeitung. Zwischen graue Pappdeckel gefasst, informiert die 80-seitige „Bosy Times“ im ersten Teil über die Konzerte der Saison 2011/2012. Der zweite Teil zeichnet in einer „Sonderausgabe“ den langen Weg zum Musikzentrum nach. Was an der Victoriastraße entstehen soll, ist mehr als „nur“ eine längst verdiente Heimat für das renommierte Bochumer Orchester. In der Marienkirche wird ein Multifunktionssaal errichtet, der eine bauliche Einheit mit dem neuen Konzertsaal (mit rund 1000 Plätzen) bilden soll. Die Politik bezeichnet das als „KreativQuartier“, unter dessen Dach die freie Szene ebenso Platz finden soll wie Musikschul-Aktivitäten und musikalische Bildungsangebote für Kinder und Erwachsene.

Viele Musikfreunde, das zeigt diese Sonderausgabe, setzten sich kaum minder unermüdlich ein als Steven Sloane selbst: darunter der Förderkreis der Bochumer Symphoniker, die „Stiftung Bochumer Symphonie“ und namhafte Bürger der Stadt. Handschriftlich bekunden NRW-Kulturministerin Ute Schäfer, Bochums Kulturdezernent Michael Townsend und die Konzerthaus-Intendanten der Nachbarstädte Sympathie und Unterstützung. Im Umkehrschluss zeugt die Zeitung aber auch davon, dass noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten ist. So ungemein treu das Publikum der „BoSys“ auch zum Orchester steht, so groß scheint die Bevölkerungsgruppe jener, die Kunst und Kultur nicht als Notwendigkeit begreifen, sondern ihr mit dem Verweis auf bröckelnden Straßenbelag und verrottende Schulgebäude die verbale Keule übers Haupt ziehen.

In der „Bosy Times“ aber steht die Kunst an erster Stelle. Die kommende Konzertsaison der Bochumer Symphoniker stellt Anton Bruckner von einer überraschenden Seite vor, nämlich als „Urvater des Minimalismus“. In der Gegenüberstellung von Bruckner-Werken mit Kompositionen typischer Minimalisten wie Steve Reich, Philip Glass und John Tavener wollen Steven Sloane und sein Orchester verwandte Kompositionsschemata aufzeigen. Weil diesen Komponisten zudem ein starkes Interesse an Fragen geistlicher Natur gemein ist, trägt der Themenschwerpunkt der neuen „BoSy“-Saison den Namen „Spiritual Loops“: ein Begriff, der sich in dieser Kürze und Prägnanz nicht ins Deutsche übertragen lässt. Stehen „Loops“ in der Musikwelt doch für kleine, immer wiederkehrende Strukturen, die obsessiv um sich selbst zu kreisen scheinen. Der Sogkraft, die von den Wiederholungen ausgeht, spürt das Orchester unter anderem in nächtlichen Konzerten in einer Synagoge, einer Moschee und einer Kirche nach.

Prominentes Zugpferd für einen weiteren Themenschwerpunkt ist der Schauspieler und Moderator Harald Schmidt, den Steven Sloane für vier verschiedene Projekte gewinnen konnte. So kommt es im November zunächst zu einer „BosySchmidt Show“, in der das Orchester zur Big Band wird und der RuhrCongress zum Studio. Einer szenischen Einrichtung von Mozarts „Le nozze di Figaro“ im AudiMax der Ruhr Universität folgt im März 2012 eine Text-Musik-Collage zum Thema „Faust“. Und in einem Familienkonzert übernimmt Harald Schmidt Moderation und Klavierpart zu Benjamin Brittens berühmtem „Young Person’s Guide to the Orchestra“.

Bekannte Sänger und Solisten verleihen der Saison weiteren Glanz. Der Tenor Christoph Prégardien ist mit Orchesterliedern von Gustav Mahler zu erleben. Die Sopranistin Simone Kermes singt virtuose Arien von Vivaldi bis Bernstein, und in einem Gastspiel in der Philharmonie Essen begleiten die „BoSys“ im Oktober den derzeit stark gefragten Tenor Jonas Kaufmann durch einen Arienabend. Unter den Instrumentalisten ragen zum Beispiel die Pianisten Jonathan Gilad, Nikolai Tokarev und Alexander Lonquich hervor. John Adams’ Konzert „Dharma at Big Sur“ für elektrische Violine und Orchester wird Tracy Silverman interpretieren. Solist im Violinkonzert von Erich Wolfgang Korngold ist der in Moskau und der New Yorker Juilliard School ausgebildete Wahl-Amerikaner Philippe Quint. Kammerkonzerte und die an die Jugend gerichteten Angebote des „Ohrenkneifers“ vervollständigen das Angebot.

Wie sich das Musikzentrum auf die Arbeit der Bochumer Symphoniker und die oft beklagte Verödung der Bochumer Innenstadt auswirkt, wird noch zu beobachten sein. Steven Sloane, der seinen Wohnsitz in Bochum trotz seines Umzugs nach Berlin behalten hat, formuliert selbstbewusst: „Die Musik steht im Zentrum unseres Tuns – und bald auch im Zentrum unserer Stadt.“

(Informationen im Internet: www.bochumer-symphoniker.de, Kartenbestellung: 0234/ 33 33 55 55.)

 




Bildmächtiger Antikriegs-Appell

Der Erfolg des Britten-Zyklus’ am Musiktheater in Gelsenkirchen ist maßgeblich das Werk der Regisseurin Elisabeth Stöppler. Die in Hannover geborene 34-Jährige, die das Regiehandwerk unter anderem bei Götz Friedrich und Peter Konwitschny in Hamburg studierte und einst Assistentin von Johannes Schaaf und Stefan Herheim war, schilderte in „Peter Grimes“ die gnadenlose Hetzjagd auf einen Außenseiter und formte „Gloriana“ zu einer bildstarken und packenden Studie über die Auswirkungen der Macht.

Mit dem Versuch, Brittens „War Requiem“ für die Gelsenkirchener Oper in eine Bühnensprache zu übersetzen, geht Elisabeth Stöppler jetzt einen tollkühnen Schritt weiter. Fasziniert vom aufrüttelnden Antikriegs-Appell dieser Totenmesse, die Britten für die symbolträchtige Einweihung der wieder aufgebauten Kathedrale zu Coventry komponierte, versucht sie dem Werk eine Handlung abzulauschen und seine ohnehin eindringliche Botschaft weiter zu verstärken. Dabei greift sie die dialogische Anlage des Werks auf: So wie Britten den lateinischen Text der Messe mit Berichten des im 1. Weltkrieg gefallenen Frontsoldaten Wilfred Owen verschränkt, so spielen Szene und Videoprojektionen in ihrer Inszenierung ineinander. Die Gesangssolisten verkörpern Einzelschicksale, die Chöre eine anonyme Masse.

Sie alle geraten in einen absurden Kreislauf von Gewalt, als der Krieg über das Fernsehen in die Welt einer kleinen Familie bricht. Ein verletzter Soldat platzt durch den Wandschrank mitten ins Wohnzimmer, wo er vor aller Augen stirbt. Vater, Mutter und die Kinder reagieren darauf nachhaltig verstört. Der eben noch tote Soldat steht wieder auf und erschießt ein Kind. Das Kind steht wieder auf und erschießt seinen Bruder. Der Bruder steht wieder auf und droht seinerseits Amok zu laufen. So geht es fort und fort in der Welt, mit der die Regie uns konfrontiert. Die Opfer stehen auf, um ihrerseits zu Tätern werden.

Es liegt auch am gravitätischen Fluss der Musik, wenn dieser Kreislauf bald ermüdend wirkt. Die von Elisabeth Stöppler für dieses Experiment erfundene Handlung bleibt Stückwerk: Es kommt kein Erzählfluss auf, vielmehr ertrinkt das Bühnengeschehen zunehmend in einer Flut symbolträchtiger Bilder. Manche davon sind auf düstere Weise großartig. Vielfach und namenlos ist das Leid, das die Chöre verkörpern. Elisabeth Stöppler lässt sie auf düsterer Szene schwanken und fallen, als sei Hyperions Schicksalslied grässliche Realität geworden (Bühne und Kostüme: Kathrin-Susann Brose). Rauch steigt auf und weht über Körper. Ob per Video eingespielte Kunstblut-Orgien die Wucht des „Dies Irae“ noch verstärken ist indes eine Frage, zu der es verschiedene Meinungen geben kann. Aus dem grundlegenden Dilemma, dass der Regisseurin mehr nach dem Werk verlangte als das Werk nach einer Regie, gibt es offenkundig keinen Ausweg.

Sängerisch ragt Petra Schmidt aus einem mehr soliden denn glanzvollen Ensemble heraus. Opernchor, Extrachor und Kinderchor des MiR haben maßgeblichen Anteil am musikalischen Erfolg, für den Rasmus Baumann am Dirigentenpult der Neuen Philharmonie Westfalen verantwortlich zeichnet. Der wohlmeinende Versuch des Publikums, die Premiere zum nächsten Erfolg der Regisseurin hochzujubeln, geht indes an der Sache vorbei. Elisabeth Stöppler ist in Würde an einem Experiment gescheitert, das nicht gelingen konnte.

Das Programm des Musiktheater im Revier findet sich unter http://www.musiktheater-im-revier.de




Über dem Abgrund

Obwohl sie oft nur wenige Straßen voneinander entfernt wohnten, sind Franz Schubert und Ludwig van Beethoven sich wohl nur flüchtig begegnet. Zur Verehrung des 27 Jahre jüngeren Schubert für den großen Meister, der auf dem Höhepunkt seines Ruhmes stand, gesellten sich Respekt und Scheu bis hin zur Verzagtheit („Wer vermag nach Beethoven etwas zu machen?“).

Wie sehr er gleichwohl über Beethoven hinaus wollte, hinaus musste, klingt in seinen drei letzten Klaviersonaten an, geschrieben in den zwei Monaten vor seinem frühen Tod im November 1828. Schmerzlich schwanken diese Sonaten zwischen Dur und Moll, zwischen zarter Anmut und donnerndem Ausbruch. Ihre Melodien stocken, reißen oft gänzlich ab, lauschen ins Nichts hinein.

Die japanische Pianistin Mitsuko Uchida interpretiert Schuberts letzte Klaviersonaten im Konzerthaus Dortmund als Resümee einer lebenslangen Auseinandersetzung. Mit Schwung geht die Künstlerin die Sonate c-Moll D 958 an, verleiht ihr eine prasselnde Prägnanz, die Mozarts kristalline Klarheit mit Beethoven’schem Ingrimm vereint. Das entbehrt nicht einer gewissen Aggressivität, rückt den modernen Steinway-Klang indes auch an den des historischen Hammerklaviers. Uchidas Spiel klingt zupackend, aber auch nach Übungsfleiß und Exerzitien. Dass sie sich dabei überhastet, zieht leichte Fehlgriffe nach sich.

Im Kopfsatz der Sonate A-Dur D 959 wirkt diese Unruhe nach. Einigen duftig eingestreuten Skalen zum Trotz bleibt Uchidas Fingerfertigkeit überpräsent. Das Andantino bringt stille Melancholie ohne Weltschmerz. Aber im Schlusssatz gönnt die Pianistin uns eine jener Schubert-Melodien, die scheinbar leicht daher geschlendert kommen und sich doch ins Unendliche verströmen. Im Fluss dieses Legato-Spiels leuchtet das Genie des Komponisten auf, der einer ganzen Epoche mit kindlicher Unschuld den Todesstoß versetzt.

Von hier aus greift die Pianistin nach dem Höchsten. Schuberts Schwanengesang, die Sonate B-Dur D 960, breitet unter ihrem nun samtig unterfütterten Anschlag die Flügel aus. Uchida ist jetzt keine Pianistin mehr: Sie ist ein Mensch, der von Wehmut und Verzicht erzählt, von den Schmerzen unerreichten Glücks. Im Andante sostenuto öffnet sie mit jeder harmonischen Wendung neue Welten. Uchida erzählt vom Schweben über dem Abgrund, vom letzten, wehmütigen Blick zurück. Das Finale ist bei ihr die tastende Suche nach einem ungewissen Neubeginn. Das weist weit über das Klavier, weit über Schuberts Zeit, weit auch über diesen Konzertabend hinaus.

Programm des Konzerthauses: http://www.konzerthaus-dortmund.de