Garantie auf Gänsehaut: Das Gesangsoktett VOCES8 sprengte beim Düsseldorf Festival das Kartenangebot

Die „Königin der hohen Töne“ tritt zurück: Andrea Haines, Sopranistin des weltberühmten Vokalensembles VOCES8, wird in diesen Tagen von der Texanerin Savannah Porter abgelöst. Haines wirkte beinahe am längsten an der nunmehr 20-jährigen Erfolgsgeschichte der Formation mit, übertroffen nur von Gründungsmitglied Barnaby Smith. Beim Düsseldorf Festival ergab sich jetzt die wohl letzte Gelegenheit in Deutschland, sie live zu erleben.

Lange Schlangen bildeten sich vor der derzeit eingerüsteten Johanneskirche in der Altstadt, eine der Stationen der aktuellen Europatournee von VOCES8 (sprich: ˈvo:tʃes eɪt). Die Kartennachfrage war so stark, dass die Organisatoren des Festivals das Ensemble baten, sein Konzert zweimal hintereinander zu geben (17 Uhr und 20 Uhr).

Festival-Intendantin Christiane Oxenfort begrüßt das Publikum in der Johanneskirche. (Foto: Albrecht Korff).

Hocherfreut berichtete die Festival-Intendantin Christiane Oxenfort in ihrer Anmoderation von der Zusage. Verständlich, denn wenn diese acht Sängerinnen und Sänger ihre Stimmen zu einem einzigen Instrument verschmelzen lassen, ist Gänsehaut garantiert. Sie haben die Kunst des A-cappella-Gesangs, also der Chormusik ohne instrumentale Begleitung, in neue Sphären gehoben. Das ist wörtlich zu verstehen, denn die Strahlkraft von VOCES8 scheint oft nicht mehr von dieser Welt. Ob ein- oder mehrstimmig, ob leise oder laut: Der Klang ist kristallklar, die Intonation lupenrein, die Sogwirkung unwiderstehlich.

Nachtstücke von der Renaissance bis in die Gegenwart haben die Briten für ihr Programm „Draw on sweet night“ zusammengestellt, benannt nach einem englischen Madrigal von John Wilbye. Die Veranstalter übersetzen das mit „Zieh herauf, süße Nacht“. Gedanklich nahe liegt aber auch das „Verweile doch“ aus Goethes „Faust“, das die Ewigkeit des Augenblicks ersehnt. Die Werkauswahl hat kontemplativen Charakter: Gebete, Nachtlieder, Renaissance-Hymnen und Jazzstandards erklingen in ruhiger Folge.

Die „Queen of high notes“, Andrea Haines (Mitte), in perfektem Zusammenklang mit der Stockholmerin Eleonora Poignant (l.) und Katie Jeffries-Harris. (Foto: Albrecht Korff).

Bewusst – und auch ihrer Tradition folgend – verschränken VOCES8 dabei alt und neu. Thomas Tallis‘ Hymnus „Te lucis ante terminum“ aus dem 16. Jahrhundert lassen sie nahtlos in ein „Nachtgebet“ von Alec Roth aus dem Jahr 2017 übergehen. Schon hier erreicht die Formation den schwebenden Klang einer Glasharmonika. Die Silben des abschließenden „Amen“ setzen sie so samtpfötig voneinander ab, dass man sich nichts sehnlicher als absolute Stille wünschte. Doch der Wochenend-Wahnsinn in der Düsseldorfer Altstadt schickt wummernde Bässe durch die Kirchenwände. Während das Publikum konzentriert lauscht, tobt draußen eine Welt, die kaum mehr Hemmungen kennt.

Im „Nachtlied“ von Max Reger zeigen VOCES8, dass sie sich vor der deutschen Diktion nicht fürchten müssen. Die Textverständlichkeit ist hoch. Melodielinien ohne jeden Bruch zieht die Formation in „Morningstar“ von Arvo Pärt. Dann folgen erste Ausflüge in Jazz-Gefilde. „April in Paris“ von Vernon Duke und Yip Harburg schlendert in der Version des VOCES8-Arrangeurs Jim Clements charmant um die Ecke, samt lautmalerischer Imitation des Schlagzeug-Rührbesens.

In der Weite des Kirchenraums: Das Oktett VOCES8 zeigte sich von der akustischen Situation in der Johanneskirche sehr angetan. (Foto: Albrecht Korff).

An Vincent van Gogh dachte Don McLean bei seinem Stück „Vincent“, dessen Text sich in direkter Rede an den Maler richtet und wehmütig über eine verständnislose Welt nachsinnt. Von Jim Clements als Quintett arrangiert, singt der Tenor Blake Morgan ein Solo wie Samt und Seide, umschmeichelt von den Vokalisen seiner Kolleginnen und Kollegen. Alles ist bittersüße Melancholie, traurig und trostvoll zugleich.

Und damit nicht genug der Wunder. Im „Nunc dimittis“ von Gustav Holst setzen die Stimmen nacheinander ein: Der Gesang wogt wie eine Welle vom Bass-Solo hinauf zum Sopran. Die Frauen und Männerstimmen singen zunächst im Wechsel, steigern sich dann vereint zu einem Fortissimo, das einer Orgel an Durchschlagskraft kaum nachsteht. Dann wieder Streicheinheiten für die Seele, mit „The long day closes“ von Arthur Sullivan und dem ätherischen „Draw on sweet night“ von John Wilbye.

Barnaby Smith (l.) ist Gründungsmitglied und künstlerischer Leiter der berühmten Vokalformation. Seine Kollegen Christopher Moore und Dominic Carver (v.l.) sind für das Bariton- und Bassfundament zuständig. (Foto: Albrecht Korff).

VOCES8 ist nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil die Gruppe sich dem Publikum stark zuwendet. Die Sängerinnen und Sänger moderieren ihr Programm mit einem Schuss charmanter britischer Selbstironie, erklären und vermitteln die Stücke, die sie singen. Dass sie auch Entertainer-Qualitäten besitzen, zeigen sie zum Schluss mit zwei Collagen. Zunächst huldigen sie James Bond, indem sie die Titelsongs „You only live twice“ und „For your eyes only” vermischen. Danach verbinden sie „I get a kick out of you” und „New York, New York” zu einem Potpourri. Applaus und Bravorufe überschütten das Ensemble.

Ein weiterer Höhepunkt des Düsseldorf Festivals findet ebenfalls in der Johanneskirche statt: Vom 8. November an steht die monumentale Messe von Leonard Bernstein auf dem Programm, die als visionäre Reflexion über Glauben und Zweifel gilt. Zum Einsatz kommen drei Chöre, ein Solisten-Ensemble, Orchester und eine Rockband.

(Informationen zum Festival: www.duesseldorf-festival.de)




Kliffhänger mit einem Schuss Sakralkitsch: Ruhrtriennale zeigt die Performance „Falaise“

Weiß auf Schwarz: Mit „Falaise“ (Klippe) hat das Kollektiv Baro d’evel ein Gegenstück zu seiner Produktion „Là“ geschaffen. (Foto: François Passerini/Ruhrtriennale)

Sie sind immer kurz vor dem Absturz. Krallen sich mit den Fingerkuppen fest, an Vorsprüngen in der senkrechten Wand. Kraxeln weiter, zwängen sich durch Löcher, die sie zuvor mit den Füßen durch Wände gestoßen haben. Denn auf dieser Bühne sind die Kulissen aus Gips. Was nach Felsen aussieht, bröckelt, bröselt, gerät als Geröll ins Rutschen. Wo ist da noch Halt? „Falaise“ (Klippe), eine Performance des französisch-katalanischen Kollektivs Baro d’evel, zeigt eine Welt kurz vor dem Kollaps – und acht Menschen, die sich durchhangeln.

Die Ruhrtriennale, die das Stück in der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks als Deutsche Erstaufführung zeigt, hat damit eine Produktion eingekauft, die sich in keine Schublade stecken lässt. Was Camille Decourtye, Blaï Mateu Trias und ihr Ensemble geschaffen haben, passt zu den genreübergreifenden „Kreationen“, die seit Gründungsintendant Gerard Mortier ein Markenzeichen des Festivals sind.

Wer aufsteigt, kann auch fallen: Szene aus der Produktion „Falaise“ (Foto: Caroline Seidel/Ruhrtriennale)

In „Falaise“ trifft das moderne Tanztheater auf den Zirkus, denn ein Pferd und ein Taubenschwarm spielen ebenfalls mit. Ein paar Szenen liebäugeln mit der Barockoper. Das achtköpfige Ensemble singt und tanzt, zeigt Slapstick-Komik und eine Artistik, bei der die Gefahr von Knochenbrüchen durchaus einkalkuliert scheint. Waghalsig stürzt es sich von meterhohen Bühnenwänden herab, hangelt an Gerüsten, schlägt Salti, bildet ein Knäuel aus Leibern, das sich krakengleich über den Boden bewegt.

Eine Handlung gibt es nicht: In einem dystopischen Raum zeigt die teils improvisierte Performance Variationen von Aufstieg und Fall, Chaos und Anmut, Zerfall und Erneuerung. Was gesprochen wird, oft in hektischer Suada und hoher Fistel, ist – wie bei einer Clownsnummer – nicht so wichtig. Baro d’evel lädt Szenen mit Bedeutung auf, bis sie zur Metapher werden.

Zuweilen ist das plakativ. Wie erstarrt wirken beispielsweise ein Mann und eine Frau in Gipskleidung, die nach und nach von ihren Körpern abplatzt, je mehr sie sich für Bewegung entscheiden. Danach stehen sie – Achtung, Symbolik! – in einem Scherbenhaufen. Die schwarzen Wände bemalen die Ensemblemitglieder nach und nach mit Zeichen in weißer Farbe. Immer wieder lassen sie sich aus erheblicher Höhe fallen, als wollten sie Verse von Hölderlin nachspielen: „Es schwinden, es fallen die leidenden Menschen, wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, Jahr lang ins Ungewisse hinab“, schrieb der Dichter in „Hyperions Schicksalslied“.

Die Interaktion zwischen Mensch und Tier fasziniert in der Performance „Falaise“ (Foto: Caroline Seidel/Ruhrtriennale)

Für poetische Bilder sorgen das weiße Pferd und die weißen Tauben. Sie bilden den Lichtblick auf der düsteren Bühne, den Gegenpol zum menschlichen Aktionismus. Wenn dazu noch Barockmusik eingespielt wird, ist die Grenze zum Sakralkitsch erreicht. Das muss dem Kollektiv wohl selbst aufgefallen sein, denn es versucht, solche Momente ironisch zu brechen. Wenn einer der Performer eine Barockarie eher jault und kräht als singt, ist es mit der Pseudoreligiosität natürlich schnell vorbei.

Kichern und Glucksen ist im Publikum nicht nur an dieser Stelle zu vernehmen. In „Falaise“ trifft der Weltuntergang auf Buster-Keaton-Komik und anarchische Fröhlichkeit. Zugleich weiß natürlich jeder im Saal, was die Stunde geschlagen hat. „Hier sind überall Löcher!“, ruft eine der Tänzerinnen gegen Ende. Bevor das Pferd alleine auf der Bühne zurückbleibt und der Vorhang fällt, fragt eine andere: „Und was machen wir morgen?“

(Karten und Informationen: https://www.ruhrtriennale.de/de/programm/falaise/187)




Kreisende Lichtgewitter: Die Uraufführung von „Oracle“ bei der Ruhrtriennale erweist sich als prozessverliebtes Spektakel

Oben und unten, damals und heute: Szenenfoto aus der Uraufführung von „Oracle“ bei der Ruhrtriennale (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Vielleicht ist es eine Folge omnipräsenten Konsums: Bei einer aufwendigen, bombastischen Verpackung stört es viele Menschen nicht mehr, wenn der Inhalt nicht einmal die Hälfte des Volumens füllt. Als solch vorgebliche Wundertüte entpuppt sich die Uraufführung der Multimediashow „Oracle“ bei der Ruhrtriennale, mit der Regisseur Łukasz Twarkowski seine Wissenschafts-Trilogie fortsetzt.

In der Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord berauscht sich das Publikum an einem gut vierstündigen Spektakel mit Lichtgewittern, Livekameras und dröhnenden Beats, das sich um Fragen der Künstlichen Intelligenz dreht. Das ist im Wortsinn zu verstehen, denn die Bühne – und mit ihr die Produktion – kreist stundenlang um sich selbst. Die Gemeinschaftsarbeit mit dem Dailes Theatre (Riga) wird auf Lettisch gezeigt, mit deutschen und englischen Untertiteln. Interessant wird sie aber erst im Abspann. Der liefert in mehreren Textblöcken nach, welche Personen am Spiel um den britischen Mathematiker Alan Turing mitgewirkt haben – und warum.

Im britischen Zentrum für Kryptoanalyse im Zweiten Weltkrieg spielt der erste Teil von „Oracle“. Der Darsteller von Alan Turing lehnt an der Wand: Wie er heißt, verrät leider weder der Programmzettel noch die Website der Triennale. (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Von Leben und Werk des genial begabten Turing, Urvater der Algorithmen und Pionier der Computerentwicklung, wird nur eine Episode näher beleuchtet: die Erfindung der sogenannten „Bombe“, ein elektromechanisches Gerät, das den als unknackbaren geltenden Enigma-Code der Nazis entschlüsseln konnte und so den Zweiten Weltkrieg um einige Jahre verkürzt hat. Den Weg zu diesem Durchbruch zeigt Twarkowski in fragmentierter Form, aufgeteilt auf Videowände (für die Bilder der Live-Kameras) und auf Innenräume in verschiebbaren Würfeln, die teils transparent, teils durch Jalousien geschützt sind. Bletchley Park, das britische Zentrum für Kryptoanalyse im Zweiten Weltkrieg, erinnert im Bühnendesign von Fabien Lédé an ein Hauptquartier aus amerikanischen TV-Krimiserien.

Die Verschachtelung der Ebenen und Erzählstränge, das Nebeneinander der Zeitfenster ist gewollt. Es gibt Risse und Sprünge, zum Beispiel vom Großbritannien der Kriegsjahre zu einer fiktiven Fernsehshow im Jahr 2023, in der ein gewisser Blake darauf beharrt, dass die Künstliche Intelligenz ein Bewusstsein hat, statt es nur zu simulieren. Dass es sich dabei um Blake Lemoine handelt, einen Google-Ingenieur, verrät erst der Abspann.

Der Darsteller von Alan Turing und die Hedy Lamarr verkörpernde Schauspielerin (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Auch andere Figuren bleiben lange rätselhaft. Die Frau mit dem Sternenkranz auf den Schultern ist der Hollywood-Star Hedy Lamarr, die einst als „schönste Frau der Welt“ galt, zugleich aber mit dem Komponisten George Antheil das Frequenzsprungverfahren entwickelte, das Torpedos steuern half und zur Grundlage von Technologien wie Bluetooth, WLAN und GPS wurde. Aber wer genau sind Helen, Thommy, Joan? Ist mit Werner vielleicht Werner Heisenberg gemeint? Spielt Ada auf die englische Mathematikerin Ada Lovelace an, Tochter des Dichter Lord Byron? Soll der Chinese, der gelegentlich auftaucht, die technische Bedrohung aus dem Reich der Mitte symbolisieren? Fragen über Fragen. Nicht einmal der Programmzettel macht sich die Mühe, die Rollen aufzuführen, die das Ensemble verkörpert.

Den Text für „Oracle“ hat Anka Herbut während der Proben geschrieben, als Reaktion auf die Darstellenden. Vieles ist aus Improvisationen entstanden. Das fehlende Skript merkt man der Produktion deutlich an. Zu erleben ist eine ebenso ambitionierte wie misslungene Stückentwicklung: ausufernd, mit oft banalen Dialogen, die sich vor der Folie der Kriegsereignisse bedeutungsschwer geben.

Wo es um Muster („Patterns“) geht, um die Struktur von Zahlenfolgen, liegt das Spiel mit Wiederholungsschleifen („Loops“) natürlich nahe. In dieser Uraufführung wirken sie jedoch nicht sinnfällig, sondern redundant. Anderes ist dafür bis zur Unverständlichkeit elliptisch: Wer nicht weiß, dass Turing vermutlich Selbstmord beging, indem er in einen vergifteten Apfel biss, wird kaum begreifen, warum Schneewittchen durch die Szene geistert (deren Gesicht Walt Disney nach dem Vorbild von Hedy Lamarr schuf).

Fehlfarbener Wahn: Dem vierstündigen Stück hätte eine Kürzung um die Hälfte nicht geschadet. (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Das Schauspielensemble macht seine Sache großartig, ist aber nicht zu beneiden. Denn nach der Pause trudelt die Produktion vollends ins Haltlose. Weil Alan Turing homosexuell war und der frühe Tod seines Jugendfreunds Christopher Morcom ihn anregte, sich intensiv mit Fragen des Bewusstseins und mit der Möglichkeit „denkender“ Maschinen zu beschäftigen, inszeniert Twarkowski eine Séance. Die Kameraleute filmen, wie sich die Darstellerriege um einen Tisch versammelt und Ada zum Medium auserkoren wird. Der Rest gleicht einem exorzistischen Exzess. Gebrüll, zuckende Lichter, wummernde Musik, verzerrte und fehlfarbene Figuren auf Videoleinwänden. Wer sich das zumuten möchte, sollte besser nicht herzkrank sein.

Desillusioniert blickt die Darstellerin der Hedy Lamarr am Ende in den Spiegel. Sie wolle lieber für ihre Erfindungen in Erinnerung bleiben, sagt sie, als für ihr schönes Gesicht, für den oberflächlichen Reiz eines Glamour-Girls. Nach diesem Abend möchte man ihr zurufen: „Vielleicht sollten Sie sich das abschminken, Mylady.“

(Karten und Informationen: https://www.ruhrtriennale.de/de/programm/oracle/176)




Theatertiere, tragikomisch: Das Berliner Ensemble gastiert mit „Warten auf Godot“ bei den Ruhrfestspielen

Sie können nicht mit und nicht ohne einander: Estragon (Matthias Brandt, mit Brille) und Wladimir (Paul Herwig). (Foto: Jörg Brüggemann)

Die Gräuel des Zweiten Weltkriegs waren noch allgegenwärtig, als der Ire Samuel Beckett 1948 das Schauspiel „Warten auf Godot“ schrieb: jenes Endzeitstück um zwei tragikomische Landstreicher, die an einem undefinierten Ort zu unbestimmter Zeit auf einen Herrn warten, den sie gar nicht richtig kennen. Godot aber bleibt fern, seine Existenz bloße Behauptung, ein mythenumwobenes Hörensagen. Er könnte auch der Messias sein oder der Herrscher aus Franz Kafkas Roman „Das Schloss“. Oder ein Sinnbild für die immerwährende Hoffnung auf ein besseres Morgen.

Die Ruhrfestspiele Recklinghausen zeigen diesen Klassiker des absurden Theaters jetzt in einer Version, die der belgische Regisseur Luk Perceval mit dem Berliner Ensemble (BE) erarbeitet hat. Die exzellente Darstellerriege aus der Hauptstadt wird um den prominenten Namen eines festen Gastes ergänzt: Matthias Brandt, jüngster Sohn des Alt-Bundeskanzlers, spielt Estragon, den grantig-depressiven Weggefährten von Wladimir, den Paul Herwig mit hoffnungstoller Virtuosität verkörpert.

Die Bühne ist angemessen leer und düster. Statt unter einem Baum zu warten, tappen die beiden Clochards hilflos in einem Wald aus Scheinwerfern umher. Auf dieser Bühne (Katrin Brack) wird keine Natur mehr angedeutet, sondern von vorneherein Theater gespielt. Die Souffleuse, für alle sichtbar auf der Seitenbühne platziert, spricht Regieanweisungen ein. Wladimir und Estragon schauen sie dann so irritiert an, als widerstrebte es ihnen zu gehorchen. Dabei haben sie längst kein eigenes Leben mehr. Sie sind im Vakuum des Wartens erstarrt, in der Ausweglosigkeit des Nicht-anders-Könnens, zur Zweisamkeit verdammt.

Wie Yin und Yang: Der aktive, ums Überleben bemühte Wladimir (Paul Herwig r.) und der depressive, todessehnsüchtige Estragon (Matthias Brandt, l. Foto: Jan Brüggemann)

Groß wird dieser Theaterabend nicht durch die berühmten Namen, sondern weil Luk Perceval und das Ensemble Becketts Dystopie zu einem schillernden Ozean von Bedeutungen weiten. Unter der Oberfläche lakonischer Sätze tut sich ungeahntes Leben auf. Tiefer und tiefer führt diese Reise in die Widersprüche menschlicher Existenz. Todtrauriges vermischt sich mit Groteskem. Wladimir und Estragon, der Lebensmutige und der Todessehnsüchtige, verhalten sich wie ein altes Ehepaar, das laut über eine Trennung nachdenkt, den Worten aber nie Taten folgen lässt. Mit ihren Erinnerungslücken und dem ständigen An- und Ausziehen von Kleidungsstücken könnten sie aber auch leicht demente Insassen eines Altersheims sein.

Matthias Brandt (Estragon) zeichnet mit rauer Stimme einen Zyniker, der vom Leben gleichermaßen gequält wirkt wie von seinen ständig schmerzenden Füßen. Von ihm geht eine dauerdepressive Stimmung aus, die immer wieder in Wut umschlägt. Dann beschimpft er Wladimir, lässt aber selbst in seinem Gebrüll noch Nuancen der Anhänglichkeit mitschwingen.

Noch differenzierter spielt der großartige Paul Herwig (Wladimir). Als optimistischerer Gegenpart setzt er Brandts Urgewalt eine vibrierende Nervosität entgegen, die viele feine Nuancen kennt. Beständig mit dem Kopf zitternd, tapst und wankt und tänzelt er über die Bühne, als suchte er nach einem Ausweg aus der Sinnleere. Es grenzt an ein Wunder, dass er sich bei seinen umständlichen An- und Ausziehmanövern nicht den Hals bricht.

Als der Herrenmensch Pozzo auftaucht, Lucky wie ein Tier am Strick führend und immer wieder auspeitschend, ist es Wladimir, der sich über diese Unmenschlichkeit empört. Oliver Kraushaar spielt Pozzo so aasig aufgeräumt, dass sich leichte Übelkeit regt. Da gibt sich Brutalität den Anstrich von Rechtschaffenheit: Es ist zum Fürchten, wie bekannt einem das vorkommt.

Der Herrenmensch Pozzo (Oliver Kraushaar, 2. v.l.) und der von ihm geknechtete Lucky (Jannik Mühlenweg, 3. v.l. Foto: Jörg Brüggemann)

Jannik Mühlenweg wird als Lucky zu einer beängstigend animalischen Kreatur, die mit einem blinden weißen Auge in die Welt starrt. Einmal von der Leine gelassen, pflügt er während seines langen Monologs wie ein Berserker durch die Sitzreihen. Es gibt Szenenapplaus für diese brachiale Suada, mit der er das Haus vom Parkett bis zu den Rängen aufmischt.

Das Geschehen wird von Live-Musik von Philipp Haagen untermalt, der auf der Tuba und dem präparierten Klavier fremdartige Klänge durch den Raum schickt. Luk Perceval stellt die Brillanz des Ensembles vollkommen in den Dienst der Sache. Der Hintersinn von Becketts Dialogen wirkt so prägnant, dass mancher Satz sich wie ein Pfeil ins Gedächtnis bohrt. Vermutlich wird jeder sich an anderer Stelle getroffen fühlen von dieser großen Etüde der Vergeblichkeit, dieser zeitlos gültigen Studie über Macht und Ohnmacht. „Es ist eine Schande, aber es ist so“, sagt Pozzo. Und Estragon erwidert: „Man kann es nicht ändern.“

(Informationen und Karten: www.ruhrfestspiele.de)




Ein Fest für alle soll es werden: Ruhrtriennale zielt 2025 auf Besucherrekorde

Was verbindet uns? Wie wollen wir morgen leben? Das fragt die Ruhrtriennale 2025. Hier ein Szenenfoto aus der Oper „We are the lucky ones“ des britisch-deutschen Komponisten Philip Venables. (Foto: Koen Broos)

Vorweg kommen die Loblieder, das ist wenig überraschend. Bei der öffentlichen Vorstellung des neuen Programms der Ruhrtriennale preist NRW-Kulturministerin Ina Brandes die im Vorjahr erreichten Resultate. Von 70.000 Besuchern und von einem „gigantischen Erfolg“ für das erste Jahr der Intendanz von Ivo Van Hove spricht sie. Wie praktisch, dass der Glanz zugleich auf den Initiator und größten Geldgeber ausstrahlen dürfte, mithin auf das Land NRW.

Die „Sehnsucht nach Morgen“ (Longing for Tomorrow) ist weiterhin Motto des Festivals. Es soll diesmal um die Frage gehen, wie wir morgen leben wollen und wie wir Verbindungen zueinander herstellen können. Vom 21. August bis 21. September präsentiert die Ruhrtriennale 35 Produktionen und Projekte in vier Städten (Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck). Erneut will sie zeigen, wie sich Kreativität an den Schnittstellen der Künste entzündet. Diesmal turnt sie munter zwischen Theater, Tanz, Performance, Oper, Konzert, Zirkus und Multimediaspektakel. Fünf Uraufführungen, eine europäische Erstaufführung und neun Deutsche Erstaufführungen finden sich im Spielplan, 45.000 Tickets gingen direkt nach der Pressekonferenz (2. April 2025) in den Verkauf.

Ein Fest soll die Ruhrtriennale nach dem Willen des Intendanten werden, und zwar für möglichst viele Menschen. An der Eröffnungsproduktion lässt sich gut ablesen, wie Ivo Van Hove den Erfolg fortschreiben will. Das Strickmuster gleicht demjenigen aus dem Vorjahr auffallend: Ließ der Triennale-Chef damals Sandra Hüller Songs von PJ Harvey singen, konnte er diesmal den phänomenalen Schauspieler Lars Eidinger sowie die Grimme-Preisträgerin Larissa Sirah Herden gewinnen.

Larissa Sirah Herden und Lars Eidinger sind die Stars der von Ivo Van Hove inszenierten Eröffnungsproduktion „I did it my way“. (Fotos: Max Sonnenschein/Ingo Pertramer)

Mit ihnen inszeniert er den Abend „I did it my way“ zur Musik von Frank Sinatra und Nina Simone. Ein kleines Tanzensemble und eine Band sind auch wieder dabei. Ob dieser Abend tatsächlich eine Geschichte von (weißen) Beharrungskräften und (schwarzer) Befreiung erzählt, statt einfach eine Abfolge von Songs zu bebildern, bleibt abzuwarten. Angekündigt ist diese Koproduktion mit der Staatsoper Stuttgart als „interdisziplinäres Musiktheater“.

In die Kategorie Musiktheater fällt auch die Deutsche Erstaufführung einer Oper des britisch-deutschen Komponisten Philip Venables. „We are the lucky ones“, eine Koproduktion mit der Dutch National Opera, zeichnet ein klingendes Porträt der Generation der Babyboomer. Basierend auf Interviews, entwickelten die Dramatikerin Nina Segal und der Regisseur Ted Huffman ein Mosaik, zu dem Venables – laut Programmheft – „überwältigende Orchesterklänge und intime Arien“ komponierte. Die Bochumer Symphoniker spielen unter der Leitung des polnisch-libanesischen Dirigenten Bassem Akiki.

Weißes Pferd und Taubenschwarm: In „Falaise“ (deutsch: Klippe) erzählt die französisch-katalanische Truppe Baro d’evel poetisch von Untergang und Wiedergeburt der Menschheit. (Foto: François Passerini)

Von den großen Schauspiel-Produktionen sind zwei multimedial: Mit „Oracle“, einem Stück von Anka Herbut über das tragische Leben des Computer-Pioniers Alan Turing, kehrt Lukasz Twarkowski zur Ruhrtriennale zurück. Es geht darin um die dunkle Seite der Technik und eine von der KI geprägte Zukunft. Ganz ohne Worte kommt die Bühnenproduktion „Guernica Guernica“ aus, für die das Theaterkollektiv FC Bergman 2023 auf der Biennale von Venedig den Silbernen Löwen erhielt. Inspiriert von Picassos gleichnamigen Gemälde, reflektiert es die Unmöglichkeit, Krieg darzustellen, indem es die Bühne mit zwei Tribünen umrahmt und neben 80 Statistinnen und Statisten auch das Publikum einbezieht. Ein Hauch von Zirkusluft dürfte mit der Deutschen Erstaufführung von „Falaise“ (zu deutsch: Klippe) einziehen. Acht Darstellende, ein weißes Pferd und ein Taubenschwarm werden Bestandteil eines lebendigen Freskos in Schwarz-Weiß. „Falaise“ erzählt poetisch und akrobatisch von Untergang und Wiedergeburt der Menschheit, soll aber auch für Familien mit Kindern ab 10 Jahren geeignet sein.

Für den Tanz hat die Triennale die Zusammenarbeit mit Stefan Hilterhaus gesucht. Der Künstlerische Leiter von PACT Zollverein spricht über die Uraufführung von „Delay the Sadness“, mit dem die S-E-D Dance Company und die vielfach ausgezeichnete Choreographin Sharon Eyal gastieren. Von der Kraft indigenen Wissens und südamerikanischen Mythen erzählt „Último Helecho“, das Nina Laisné gemeinsam mit François Chaignaud und Nadia Larcher in Deutscher Erstaufführung präsentiert.

Um südamerikanische Mythen und die Kraft indigenen Wissens geht es im Tanzabend „Último Helecho“ auf PACT Zollverein. (Foto. Nina Laisné)

Als Choreographie-Rebellin gilt Roby Orlin aus Südafrika: Ihre Show „… how in salts desert is it possible to blossom…“ wird als farbensprühende Performance über die Auswirkungen der Kolonialisierung angekündigt. Und dann ist da noch der als „Upside Down Man“ bekannte belgisch-tunesische Choreograph und Tänzer Mohamed Toukabri, der sich in einem Solo auf die Suche nach seinen eigenen tänzerischen Wurzeln begibt und so zum Archäologen seines eigenen Körpers wird.

Die Konzerte haben mit klassischer Musik fast nichts zu tun. Immerhin wird der 150. Geburtstag von Maurice Ravel mit einer „Rave-L Party“ gewürdigt. Das französische Kollektiv „Les Apaches!“ sorgt dafür, dass sein berühmter „Bolero“ in die Gefilde des Jazz und schließlich des Techno hinübergleitet und die Zeche Zweckel in Gladbeck zum Dancefloor wird. Chorwerk Ruhr feiert sein 25-jähriges Bestehen gemeinsam mit dem New Yorker Instrumentalensemble „Bang on Can All-Stars“. Gemeinsam bringen sie „before and after nature“ von David Lang zur Deutschen Erstaufführung.

Pablo Picasso mit der Make des Minotaurus. Das Theaterkollektiv FC Bergman ließ sich von seinem berühmten Anti-Kriegsgemälde zu dem Abend „Guernica Guernica“ inspirieren. (Foto: Gjon Mili_The LIFE Picture Collection)

Der Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood hat mit „124 Years of Reverb” ein achtstündiges Werk für Orgel komponiert, das Eliza McCarthy und James McVinnie im Essener Bergmannsdom aufführen werden. Das Publikum darf diese Musikmeditation entweder ganz oder in zweistündigen Zeitabschnitten genießen. Eine Pionierin der elektronischen Musik war die Grammy-Gewinnerin Wendy Carlos, die in der Reihe „Erased Music“ gewürdigt wird. Kunstlieder über Themen, die die Realität vieler Schwarzer Menschen in den USA widerspiegeln, schreibt Tyshawn Sorey, der in der Neuen Musik ebenso zu Hause ist wie im Jazz. Er und sein Trio werden in der Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle auftreten.

Post-Punk und Rock aus Anatolien vermischt die feministische Sängerin und Gitarristin Gaye Su Akyol, die als eine der aufregendsten Stimmen des Bosporus angekündigt wird. Aus Island kommt die Oscar-prämierte Komponistin und Cellistin Hildur Gudnadóttir, die Dubstep und indonesischen Ethno-Punkt in einer Lichtshow mit dem Namen „OSMIUM“ zusammenbringt. Ein wenig Händel darf es schließlich auch noch sein, vielleicht auch deshalb, weil der venezolanische Sopranist Samuel Mariño sich nicht nur stimmlich einer Frau anverwandelt. Begleitet wird der Künstler vom Originalklangensemble Capella Cracoviensis unter der Leitung von Jan Tomasz Adamus.

Natürlich gibt es noch weit mehr zu entdecken: den internationalen Festivalcampus, das „Wunderland-Wochenende“, die Literaturreihe „Brave new Voices“, die öffentlichen Künstlergespräche mit dem Intendanten (immer dienstags), die Verleihung des Mortier Awards 2025 (am 21. September in der Jahrhunderthalle), das umfangreiche Programm der „Jungen Triennale“, das jungen Menschen vom 3. Lebensjahr bis zum Studienalter viele attraktive Angebote macht. Wer weiter stöbern möchte, schaue einfach nach unter www.ruhrtriennale.de




Ohrwürmer im Tongebirge: Bochums Jugendsinfonieorchester spielt ein Benefizkonzert für sich selbst

Die Schwestern Naomi und Mika Cichon (v.l.) waren im Anneliese Brost Musikforum Ruhr die Solistinnen in Mozarts „Sinfonia Concertante“ für Violine, Viola und Orchester. (Foto: Claudia Jaquet)

Die Notenpulte hätten sich an diesem Konzertabend eigentlich biegen müssen. Schwere Brocken des Repertoires landeten darauf, Orchesterwerke in massiver Besetzung, halbe Tongebirge spätromantisch-impressionistischer Natur. Von ihnen eingerahmt, fand sich das heitere Hochplateau von Mozarts „Sinfonia Concertante“ (KV 364), die vor Ideenreichtum schier überquillt.

Vielleicht wollte das Jugendsinfonieorchester (JSO) der Musikschule Bochum ja zeigen, warum es alle Unterstützung wert ist, die ihm aus dem Erlös dieses Abends im Anneliese Brost Musikforum zugutekommt. Unter der Leitung seines langjährigen Dirigenten Norbert Koop spielte es bereits zum 13. Mal ein vom Lions Club Bochum-Hellweg organisiertes Benefizkonzert, gewissermaßen für sich selbst. Das Geld soll Orchesterfahrten und Auslandsreisen ermöglichen, die Anschaffung neuer Noten und die Erneuerung und Verbesserung des Instrumentenbestands. Es soll aber auch die Kinder und Jugendlichen weniger gut betuchter Familien unterstützen, damit das JSO für alle zugänglich bleibt.

Zum Auftakt gibt es spanisches Kolorit: Die Suite Nr. 2 aus Manuel de Fallas Ballettmusik „Der Dreispitz“. Nach etwas zögerlichem Beginn entwickelt der „Tanz der Nachbarn“ Anmut. Ornamente von Flöte und Piccoloflöte schimmern silbrig. Im Tutti rauscht der Orchesterklang, als würde eine große Gitarre geschlagen. Ein kraftvolles Horn-Signal weist für den „Tanz des Müllers“ den Weg: Der stampft vorwärts, mit archaischer Wucht. Der Schlusstanz, eine so genannte Jota, gerät zur ausgelassenen Fiesta. Die Holzbläser schwirren, die Blechbläser trumpfen auf, Becken und Kastagnetten machen die Schlusstakte vollends explosiv.

Zwei JSO-Mitglieder treten an diesem Abend solistisch hervor. Die Schwestern Mika Cichon (Violine) und Naomi Cichon (Viola) müssen den Gleichklang in Mozarts „Sinfonia Concertante” nicht erst suchen. Von Beginn an ist zu hören, wie tief ihre innere Verbindung reicht und wie einig sich die beiden in der Auffassung des Werks sind. Auch ihre Gestaltungsgabe ist ähnlich hoch ausgeprägt: Beide phrasieren natürlich und mit feiner Tongebung.

Blumen für die jungen Künstlerinnen: Naomi und Mika Cichon (v.l.) bei ihrem Auftritt mit dem Jugendsinfonieorchester Bochum. (Foto: Dirk Cichon)

Da wird das Zuhören zum Vergnügen. Die Oktavparallelen beim ersten Einsatz: blitzsauber intoniert. Die Dialoge zwischen Bratsche und Geige: stets beredt und munter. Die Bogentechnik: ausgefeilt und variantenreich. Wer sich von der Optik nicht beeinflussen lassen will und die Augen schließt, hört Anmut und Spielfreude. Das Presto gerät wunderbar grazil und spritzig.

Die große Nagelprobe für die Musikalität ist natürlich der langsame Satz. Die Schwestern gestalten das Andante im ruhigen Fluss, ohne Anzeichen von Nervosität. Den sonoren Ton der Bratsche umspielt die Geigerin in den hohen Lagen der Violine mit delikaten Girlanden. Die Enkelinnen des Bratschisten Teisuke Shiraga (Bochumer Symphoniker) und Nichten der zu früh verstorbenen Pianistin Fumiko Shiraga tragen das musikalische Erbe der Familie eindrucksvoll fort.

Nach der Pause stemmt das JSO einen tönenden Monolithen mit Ohrwurm-Qualitäten: Die Sinfonie d-Moll des Franzosen César Franck, ein zentrales Werk der Spätromantik, das mit seiner Mischung aus französischem Parfüm und deutscher Strenge zu den Favoriten des Konzertpublikums zählt. Die eigenwilligen harmonischen Wendungen des Werks stellen das Orchester vor Herausforderungen. Francks Mäandern durch die Tonarten, sein zuweilen enervierendes chromatisches Geschiebe führt da schon mal zu schwerem Fortissimo-Gewühl. Zugleich wird das Publikum Zeuge eines imponierenden Kraftakts, eines Sturmlaufs voller Dramatik und hymnischer Höhepunkte. Ob die Spendengelder wohl sinnvolle Verwendung finden ist eine Frage, die nach diesem Abend niemand mehr stellen dürfte.

(https://musikschule-bochum.de/ensemble/jugendsinfonieorchester/)




Kleine, große Lichtgestalt: Die Deutsche Oper am Rhein zeigt erstmals „Der Kreidekreis“ von Alexander Zemlinsky

Beide Frauen wollen das Kind: Lavinia Dames (l.) als Tschang-Haitang und Sarah Ferede als Yü-Pei, eifersüchtige Erstfrau des Herrn Ma. (Foto: Sandra Then)

Die Federn fallen, fallen wie von weit, als kämen sie aus einer fernen Sphäre. Sanft schweben sie von den Vogelkäfigen nieder, in denen die Frauen eingesperrt sind, die für den Teehausbesitzer Tong arbeiten: gefallene Engel, verkaufte Kreaturen. Weiß sind ihre Gewänder, weiß die Federn. Weiß leuchtet hier alles, was noch gut und recht sein kann in einer düsteren Welt.

Es waren finstere Zeiten, in denen der 62-jährige Alexander Zemlinksy 1933 seine letzte vollendete Oper „Der Kreidekreis“ schrieb. Im alten Textgewand eines chinesischen Märchens steckend, ist sie eine typische Zeitoper der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Nach der Machtübernahme der Nazis verfiel sie – wie auch ihr jüdischer Komponist – der Verfemung. Regisseur David Bösch hat sie nun für die Rheinoper Düsseldorf in Szene gesetzt, zum ersten Mal in der Geschichte des Hauses.

Für sein Düsseldorfer Debüt greift Bösch gewissermaßen selbst zur Kreide. Mit liebevollem Strich zeichnet er den Lebensweg des Mädchens Tschang-Haitang nach, auf einer dunklen Spielfläche vor schwarzem Hintergrund. Von der Mutter verkauft, vom Teehausbesitzer weiterverschachert, als Nebenfrau eines Mandarins von dessen Erstfrau bekämpft und schließlich des Mordes bezichtigt, wird diese Figur bei ihm zu einer Lichtgestalt der bescheidenen Art: keine große Heldin und schon gar keine Rebellin, eher eine chinesische Butterfly.

Tschang-Haitang (Lavinia Dames) wird verkauft und wie ein Vogel in einen Käfig gesperrt. (Foto: Sandra Then)

Wie sie sich den Verhältnissen beugt, wie sie trotz aller Demütigungen ihre Würde bewahrt, wie sie in einer Welt voller Unrecht und Lüge aufrecht und wahrhaftig bleibt, steht mächtig – und durchaus irritierend – quer zum Kampf für Frauenrechte. Mit empathischem Blick arbeitet Bösch heraus, dass Tschang-Haitang nicht einfach unterwürfig ist, sondern sich auf ihre Weise behauptet, im märchenhaften Happy End sogar in eine Position der Stärke gelangt. Dass sie Prinz Pao glatt eine Vergewaltigung verzeiht, ist nur die halbe Wahrheit: Sie nutzt sein Geständnis für einen Deal, der ihr und ihrem Kind Sicherheit gewährt. Dann legt sie sich stolz seinen Königsmantel um. Böschs Inszenierung ist von dem Credo geprägt, dass selbst der Kleinste den großen Weltenlauf zu ändern vermag.

Die Regie fordert für dieses Märchen unseren kindlichen Blick. Strichmännchen aus Kreide, auf die Vorhänge zwischen den Akten projiziert, raffen die folgende Handlung zusammen. Das Kind, um das Tschang-Haitang mit der Erstfrau des Mandarins streitet, ist ein übermenschlich großes Riesenbaby mit einem Pappmaché-Kopf, wie Bert Brechts Meisterschüler Achim Freyer ihn seinen Bühnenfiguren zu geben pflegte. Gleich zu Beginn nimmt es auf der Bühne Platz und zieht den Kreidekreis um sich, aus dem beide Frauen das Kind herauszuziehen versuchen. Der salomonische Richterspruch ist auch aus der Bibel und aus Brechts Drama bekannt.

Im Elend: Tschang-Haitang (Lavinia Dames) wird zu Unrecht als Mörderin verurteilt. (Foto: Sandra Then)

Bühne und Videos (Patrick Bannwart) tragen uns aus dem Alltag fort. „Eine bessere Welt ist möglich!“ raunt nahezu alles, was wir sehen. Der Flügelschlag der Möwen, die als heller Schattenriss über den Bühnenhintergrund schweben. Die zarten Lampions in Blütenform, die auf der dunklen Bühne blühen. Die Kreideskizzen an den Wänden, die Kindheitstage heraufbeschwören. Und während das durch und durch korrupte Gerichtspersonal Papierfahnen entrollt, die Kindsraub, Vergiftung und Terror propagieren, schweben chinesische Schriftzeichen von der Decke, die hohe Ideale formulieren: Freiheit, Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit. Die Kostüme (Falko Herold) fügen sich perfekt in diese poetische Bühnensprache ein.

Die Fabel vom Kreidekreis entstand im 13. Jahrhundert in China, sie wird dem Chinesen Li Xingdao zugeschrieben. Klabund griff sie 1925 auf, Zemlinsky 1933, Bertolt Brecht 1944.
(Foto: Sandra Then)

Das zwischen Schauspiel und Oper changierende Zwitterwerk zusammenzuhalten, ist keine leichte Aufgabe. Der Stilmix ist unerhört: Es gibt freie und rhythmisch gebundene Sprache, Gesang Brecht-Weill’scher Prägung, Jazzelemente, fernöstliches Kolorit, schwelgerisch romantische Orchesterfarben und Klänge einer neuen Sachlichkeit. Die Nahtstellen zwischen Text und Musik sind kritisch, das Timing ist für die Sängerinnen und Sänger folglich heikel. Aber die Quadratur des Kreises gelingt: Die Düsseldorfer Symphoniker und das Gesangsensemble der Deutschen Oper am Rhein ziehen die Linie bemerkenswert geschlossen durch.

Unter der kundigen Leitung des Dirigenten Hendrik Vestmann fügt sich die stilistische Vielfalt zu einem faszinierenden Abenteuer für die Ohren. Was fließt da nicht alles ineinander: Jazzelemente und fernöstliche Pentatonik, romantische Schwärmerei und lakonische Sachlichkeit, Drohendes und Intimes und Groteskes, Turandot-Wucht und Butterfly-Zartheit. Das differenzierte und expressive Spiel der Düsseldorfer Symphoniker gereicht Zemlinsky zur Ehre.

Durch Leitmotiv-Techniken wird das Orchester an diesem Abend zum Erzähler, zum unentbehrlichen Kommentator. Es gleicht einer tönenden Karikatur, wie es den korrupten Richter Tschu-Tschu ankündigt, der nach durchzechter Nacht die Szene betritt. So verkatert, wie das Fagott hier in höchster Lage wimmert, und so unstet, wie die Takte hier ins Taumeln geraten, ist bereits alles gesagt, bevor dieser höchst fragwürdige Amtsträger auch nur den Mund aufmacht.

Das Gericht ist weder hoch, noch spricht es Recht: Tschang-Haitang (Lavinia Dames, am Boden), Richter Tschu-Tschu (Werner Wölbern, im roter Robe) und die Statisterie der Deutschen Oper am Rhein. (Foto: Sandra Then)

Der Schauspieler Werner Wölbern verkörpert ihn nach allen Regeln der Kunst als anmaßenden, schlecht gelaunten Gierlappen, der keinen Funken Interesse am Schicksal derer hat, über die er zu Gericht sitzt. Der Prozess führt zu einer mächtigen Steigerung im Orchester, die sich drohend aufbäumt, und einem Verzweiflungsausbruch von Tschang-Haitang, die Lavinia Dames uns mit ihrem Sopran nahebringt. Wie die Sängerin eine stille Traurigkeit in ihre hellen Farben mischt, wie sie sich stimmlich biegsam zeigt, ohne in den dramatischen Höhepunkten zu brechen, gleicht einer vokalen Studie des Phänomens, das heute Resilienz genannt wird. Für diese anrührende Charakterstudie wird die Sängerin vom Publikum begeistert gefeiert.

Dames ist von einem Ensemble umgeben, das seine Figuren nicht weniger genau zeichnet. Die Frauenstimmen ergänzen ihre Farbpalette: Katarzyna Kuncio als Tschang-Haitangs Mutter mit entsprechender Wärme, Sarah Ferede als intrigante Erstfrau Yü-Pei mit hochfahrender Dramatik. Im Baritonfach glänzen Richard Šveda, der dem Bruder der Hauptfigur wütende und rebellische Töne gibt, und Joachim Goltz, der den Mandarin Ma auch stimmlich von starrer Autorität in einen weicheren, liebenderen Mann verwandelt. Hinzu kommen Matthias Koziorowski (als Prinz Pao mit teils heldischen Farben), Jorge Espino (als Gerichtssekretär Tschao mit abgerundet sonorem Volumen), sowie einige hübsch gestaltete Mini-Rollen.

„Es ist Zemlinksy-Zeit“, heißt es im Programmheft der Rheinoper: Eine Behauptung, die durch diese starke Premiere beglaubigt wird. „Der Kreidekreis“ verdient unsere Aufmerksamkeit. Es ist Zeit für dieses Klangabenteuer, für dieses Werk, in dem die Schwachen die Starken sind und die Menschlichkeit gegen Gewalt und Lüge gewinnt.

(Karten und Termine: www.operamrhein.de)




Auf dem K2 der Liedkunst: Konstantin Krimmel und Daniel Heide mit einem Schubert-Mahler-Programm in Hamm

Konstantin Krimmel (31), Bariton deutsch-rumänischer Abstammung, zählt zu den besten Liedsängern unserer Zeit (Foto: Daniela Reske)

Vor dieser Stimme möchte man kapitulieren. Die professionelle Kritiker-Distanz einfach mal aufgeben. Nicht länger leugnen, was sich hartnäckig in die Gedanken drängt, wohl wissend, dass Künstler so wenig miteinander verglichen werden sollten wie Äpfel mit Birnen. Konstantin Krimmel durchbricht unsere Gegenwehr. Der Bariton deutsch-rumänischer Abstammung singt so mühelos und klar, dass uns Fritz Wunderlich durch den Kopf spukt, obwohl der als Tenor eine andere Stimmlage hatte (und sowieso einzigartig war).

Mit einem Liederabend im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm zwingt Krimmel uns zum Offenbarungseid: Vor der Natürlichkeit, dem Fluss und Farbenreichtum dieser erlesenen Baritonstimme strecken wir die Waffen. In einem Atemzug mit ihm muss der nicht minder exquisite Liedpianist Daniel Heide genannt werden, unter dessen Fingern sublime Stimmungsbilder, aber auch Dramen und Schauergeschichten entstehen, sobald er die Tastatur nur anrührt.

Reichlich Weltschmerz tönt durch die Lieder von Franz Schubert und Gustav Mahler, die Krimmel und Heide für dieses Programm ausgewählt haben. Wanderschaft und Mondnächte und unglückliche Liebe, mithin tief romantische Leitmotive spiegeln sich in Versen von Goethe und Schiller, Hölty und Seidl und natürlich Schmidt von Lübeck. Letzterer wäre heute womöglich vergessen, hätte Schubert aus seinem Gedicht „Der Wanderer“ nicht ein Lied von ikonischer Bedeutung geformt.

Im Duo kaum zu übertreffen: Konstantin Krimmel und Liedpianist Daniel Heide (Foto: Guido Werner)

Mit den Worten „Ich komme vom Gebirge her“, setzt Krimmel ein, leise, nachdenklich, traumverloren, während der Klavierpart dunkle Täler eröffnet. Im Subtext schwingt ein halbes Dutzend unausgesprochener Fragen mit: „Wo bin ich? Was tue ich hier? Wie bin ich hierhergekommen?“ Man könnte sich ganze Romane dazu ausdenken, aber Krimmel singt mit größter Schlichtheit, mit nachgerade kindlichem Staunen und einer zart-tenoralen Farbe, die nach Unschuld klingt.

Damit ist der Ton gesetzt. Wir sind im Reich des Kunstlieds, wo jede Empfindung, jede noch so feine Regung des Herzens Widerhall findet. Wir sind bei Franz Schubert und Gustav Mahler, die Schmerz in ewige Schönheit transformierten. Und wir sind bei Konstantin Krimmel und Daniel Heide, die an diesem Abend höchste Erwartungen übertreffen, die uns mitnehmen auf die erhabenen Gipfel der Kunst, auf den K2 des Liedgesangs.

Unmöglich zu sagen, in welchem Register Krimmels lyrisch-bewegte, technisch phantastische Stimme am stärksten ist. Warm, sonor, beseelt klingt seine Mittellage, die Höhe ist klar und fragil, beinahe knabenhaft rein. Die Melancholie von „Wanderer an den Mond“ erhält einen trostvollen Schmelz, „Schäfers Klagelied“ schwelgt in den Farben von Sehnsucht und Resignation. Es gibt derzeit kaum ein anderes Lied-Duo, das aus der Reduktion solchen Reichtum gewinnt, das aus der Nussschale ein Universum steigen lässt. Wenige Noten genügen, um „Wanderers Nachtlied“ in die Weite des Himmels entschweben zu lassen.

Konstantin Krimmel ist Ensemblemitglied an der Bayerischen Staatsoper in München, wo er derzeit etliche Mozart-Partien singt (Foto: Florian Huber)

Schärfere Expressivität und einen größeren Tonumfang verlangen Gustav Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“. Aber Krimmel, Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper, hat damit keinerlei Schwierigkeiten. Mühelos füllt seine Stimme den Raum. Mit Ironie, ja einem Hauch von Sarkasmus unterläuft er den volksliedhaften Ton von „Ging heut morgen übers Feld“. Dieser Sänger und dieser Pianist sind zu klug, um den Schmerzensklang von „Ich hab‘ ein glühend Messer“ künstlich zu dramatisieren oder theatralisch aufzuladen. Das Lied bleibt authentischer Ausdruck tiefer Qual.

Nach der Pause gerät „Die Bürgschaft“ von Friedrich Schiller zu einer rund 17minütigen Ballade mit schaurigen Zwischentönen. Daniel Heide und Konstantin Krimmel gönnen uns Sturm und Drang vom Feinsten. Bildstark, fast wie ein Film läuft Schillers Geschichte von freundschaftlicher Liebe und Treue vor uns ab. Trotz vieler Tempowechsel wirkt alles wie aus einem Guss. Krimmels Stimme reicht jetzt in Bassregionen hinab, erreicht spukhafte Schwärze und hinreißendes Volumen.

Zwei Tage vor dem Tag, an dem Donald Trump möglicherweise zum zweiten Mal zum Präsidenten der USA gewählt wird, klingt der Überdruss von „Totengräbers Heimweh“ leider allzu vertraut. „Oh Menschheit! Oh Leben! Was soll’s! Oh was soll’s!“ singt Konstantin Krimmel, wie von Ingrimm und Abscheu geschüttelt. Empörung gegen die Unbarmherzigkeit der Götter formuliert er in Goethes „Prometheus“: anklagend, rebellisch, mit der Bitterkeit des Enttäuschten. Da macht einer die Faust in der Tasche.

Doch auf solchem Schlusston soll die Sternstunde nicht enden. Krimmel und Heide gönnen ihrem Publikum zwei Zugaben: zunächst Schuberts Vertonung von Goethes „Willkommen und Abschied“, dann seine „Litanei auf das Fest Allerseelen“ (D 343), die uns zum Abschluss in eine warme Decke hüllt: schimmernd, trostvoll, in sanften langen Bögen.

(Informationen: www.konstantinkrimmel.com)




Klangsammler mit feiner Feder: Das Konzerthaus Dortmund würdigte Beat Furrer zum 70. Geburtstag mit einer „Zeitinsel“

Der Komponist Beat Furrer deutet auf die schroffen Kalkgipfel im Gesäuse, einer Gebirgsgruppe in der Steiermark, die größtenteils zum Nationalpark erklärt wurde. (Foto: Konzerthaus Dortmund)

Er wehrt sich gegen das Bild des versponnenen Elfenbeinturm-Bewohners. Obwohl der Komponist Beat Furrer, gebürtiger Schweizer, in einem abgeschiedenen Forsthaus in den österreichischen Bergen arbeitet, beteuert er im Podiumsgespräch mit dem Konzerthaus-Intendanten Raphael von Hoensbroech: „Ich möchte mich nicht zurückziehen. Ich lebe in dieser Welt und nehme Anteil an ihr.“ Das Konzerthaus Dortmund würdigte Beat Furrer aus Anlass seines 70. Geburtstags mit einem fünftägigen „Zeitinsel“-Festival.

Nachdem die „Zeitinseln“ der vergangenen Jahre Sofia Gubaidulina und Arvo Pärt porträtierten, entwickelte das Konzerthaus-Team die aktuelle Ausgabe in enger, persönlicher Zusammenarbeit mit dem Komponisten. Wie hoch die Musikwelt Furrers Werke schätzt, lässt sich an seiner Vita ablesen: Er ist Träger des Ernst von Siemens Musikpreises, des großen österreichischen Staatspreises für Musik und des goldenen Löwen der Biennale von Venedig, zudem Gründer des Klangforum Wien. In diesem Sommer war er Residenzkünstler beim Lucerne Festival.

Beat Furrer wurde am 6. Dezember 1954 in Schaffhausen geboren. (Foto: Manu Theobald)

Furrer ist ein Künstler, der seine Worte abwägt. Der gründlich nachdenkt, bevor er sich über sein Werk äußert. Statt ihm ungeduldig ins Wort zu fallen, gesteht der Konzerthaus-Intendant ihm im Podiumsgespräch die Zeit zu, seine Gedanken zu sortieren. So erfahren die Besucher Interessantes über diesen Klangsammler, der im steirischen Nationalpark, dem so genannten Gesäuse, oft den leisen Stimmen der Natur nachlauscht: dem Glucksen von Wasser, dem Flüstern des Windes, den nachts aus dem Wald tretenden Tieren. Er bezeichnet das nicht als Idylle, sondern als Ort der Konzentration.

Als „Komponist des Leisen“ ist er schon bezeichnet worden, aber in derlei Schubladen mag er nicht gesteckt werden. Furrer mag keine Verkürzungen, keine Klischees. Tatsächlich spielt das Laute, der Schrei, in seiner Musik eine nicht minder wichtige Rolle. Wenn er in Wien sei, verschließe der Lärm der Stadt ihm aber die Ohren: „Das sind Geräusche ohne Raum.“ Auch die Sprache spielt in Furrers Schaffen eine wesentliche Rolle, weil die Musik sich immer nah an der Stimme entwickelt hat.

Vergleiche sind heikel, aber womöglich sind Salvatore Sciarrino und Helmut Lachenmann zumindest Geistesverwandte dieses Komponisten, weil auch sie stille, oft geräuschhafte „Hörmusiken“ schaffen, die die Wahrnehmung schärfen. Luigi Nono hat ihn in jungen Jahren stark beeinflusst. Das Hören, sagt Furrer, sei „ein Weg zum anderen“. Er findet es bedenklich, wie sehr es in unserer Zeit abhandenzukommen droht.

Dirigent Zoltán Pad und das Chorwerk Ruhr gestalteten den ersten Abend der Furrer-„Zeitinsel“ im Konzerthaus Dortmund. (Foto: Oliver Hitzegrad)

Blickt man auf die feine Notenschrift in Furrers Partituren, bekommt man eine Ahnung davon, wie dieser Klangsammler sein Material sortiert und strukturiert. Qualität und Schlüssigkeit sind ihm wichtig, kein Ton darf zu viel sein. Das zeigt sich deutlich in seinem siebenteiligen „Enigma“-Zyklus. Es handelt sich dabei um A-cappella-Chorwerke auf Texte von Leonardo da Vinci, die das Chorwerk Ruhr zum Auftakt der Zeitinsel mit Gesängen aus der Renaissance verschränkt.

Furrers tönende Rätsel nehmen das Ohr sofort gefangen. In „Enigma I“ säuseln und sirren die Frauenstimmen, wogen hin und her wie ein fortwährendes Echo. Die Männerstimmen treten geheimnisvoll und leise hinzu, bis sich die Musik zum Aufschrei steigert. Viel Mysteriöses ist auch im weiteren Verlauf zu hören: Von Atemgeräuschen erfüllte Pianissimogefilde, isolierte Vokale, raunender Sprechgesang. Zu den Worten „Aus dunklen Höhlen wird etwas hervorkommen“ pirscht sich in „Enigma VI“ ein düster-diffuser Klang heran, leise und bedrohlich.

Das Chorwerk Ruhr versteht sich glänzend auf Furrers klangliche Aggregatzustände, auf seinen komplexen Reichtum von Klanglichkeiten. Unter der Leitung von Dirigent Zoltán Pad kontrastieren sie seinen Zyklus mit liturgischen Gesängen von Orlando di Lasso, Giovanni Gabrieli und Antonio Lotti. Da tritt dem Dunklen und Geheimnisvollen strahlende Glaubensgewissheit gegenüber.

(www.konzerthaus-dortmund.de)




Franz Schubert als Fixstern: Das Alinde Quartett verbindet kristalline Transparenz mit unbändiger Spielfreude

Beinahe eine italienische Familienangelegenheit: die vier aktuellen Mitglieder des Alinde Quartetts (v.l. Eugenia Ottaviano, Guglielmo Dandolo Marchesi, Gregor Hrabar, Bartolomeo Dandolo Marchesi. (Foto: Davide Cerati)

Die Sehnsucht nach dem großen Glück nimmt im Gedicht „Alinde“ von Friedrich Rochlitz die Gestalt einer jungen Frau an. Der lyrische Ich-Erzähler, der lang und bang auf seine Liebste wartet, ruft ungeduldig ihren Namen: „Alinde, Alinde!“ Franz Schubert, der die Verse 1827 als Strophenlied vertonte, lässt die Ersehnte wie ein Echo antworten: „Du suchtest so treu: nun finde!“

Das ist, in aphoristischer Kürze, ein Versprechen auf Erfüllung. Und nicht weniger als ein Omen für die vier Streicher, die sich 2011 als Alinde Quartett zusammenschlossen. Die Namenswahl gleicht einem Statement. Franz Schubert ist der Fixstern ihres Repertoires, das von der Renaissancemusik bis zu zeitgenössischen Werken reicht. Die geben sie auch gerne mal in Auftrag: als „treue Sucher“, die Schuberts Musik gerne in den Kontext anderer Epochen stellen, um sie auf diese Weise neu zu erkunden. Auf historischen Instrumenten spielen sie nicht weniger kompetent als auf modernen.

Was sie in den Partituren entdecken, versuchen sie für das Publikum möglichst transparent zu machen. „Es ist unmöglich, vier Stimmen mit der gleichen Aufmerksamkeit zu folgen. Wir müssen die Hörer führen, Klarheit schaffen, im Probenprozess immer wieder entscheiden, was wann wichtig ist“, sagt die aus dem italienischen Terni stammende Geigerin Eugenia Ottaviano, Gründungsmitglied und einst Schülerin des legendären Violinvirtuosen Salvatore Accardo.

Nicht nur die Musiker, sondern auch die Instrumente müssen im Streichquartett zueinander passen. (Foto: Davide Cerati)

Das in Köln ansässige Quartett ist beinahe eine italienische Familienangelegenheit. Eugenia Ottaviano ist die Ehefrau des zweiten Geigers Guglielmo Dandolo Marchesi, dessen Bruder Bartolomeo die Cellostimme spielt. Nach mehreren Wechseln kam 2017 der slowenische Bratschist Gregor Hrabar zu der Formation: „Er rutschte eher zufällig hinein, passte aber sofort perfekt zu uns. Das ist nicht selbstverständlich, das Quatuor Ebène zum Beispiel hat ewig nach einem neuen Cellisten gesucht“, erzählt Eugenia Ottaviano.

Lebhaft und offen erzählt die Geigerin, dass sie lange damit haderte, keinen großen Wettbewerb mit dem Quartett gewonnen zu haben. Aber auch ohne „Türöffner“ dieser Art weist die Karrierekurve für die Vier nach oben. Auftritte in der Hamburger Elbphilharmonie, im Konzerthaus Berlin, beim Verbier Festival und beim Schleswig-Holstein Musik Festival sind nur einige Wegmarken auf den zunehmend internationalen Pfaden. Prominente Mentoren gaben ihnen Schub: zum Beispiel Günther Pichler vom Alban Berg Quartett, Rainer Schmidt vom Hagen Quartett sowie der „Streichquartett-Guru“ Eberhard Feltz in Berlin.

Dem ehrgeizigen Projekt einer Gesamtaufnahme der Schubert-Streichquartette widmen sie sich seit 2019 in Koproduktion mit dem Label Hänssler Classic und dem Deutschlandfunk. Sie soll im Jahr 2028 zum Abschluss kommen, wenn sich der Todestag des Komponisten zum 200. Mal jährt. Jede CD wird durch eine Auftragskomposition ergänzt, die von Schuberts Tonsprache und seinem musikalischen Erbe inspiriert ist.

Unterstützung erfährt das Alinde Quartett durch die Althafen Foundation, aktuell aber auch stark durch die Kölner Philharmonie. Intendant Louwrens Langevoort widmet den vier Streichern einen Porträt-Zyklus von insgesamt sechs Konzerten, in denen sie ihre Kreativität auf sehr unterschiedliche Weise ausleben dürfen: mit dem Barockensemble „Verità Baroque“, im Klavierquintett (mit dem Pianisten Dmitry Ablogin), im Kinderkonzert (mit dem Schauspieler Alexander Wanat), mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter der Leitung von Duncan Ward und mit der berühmten Organistin Iveta Apkalna.

Auch zeitgenössische Kompositionen gibt das Alinde Quartett für seine Schubert-Gesamtaufnahme in Auftrag. (Foto: Davide Cerati)

Pur, also ohne Gäste oder Partner, war das Quartett im zweiten Konzert dieser Reihe zu erleben. Es nutzt die Gelegenheit für ein Programm mit Signatur-Charakter. Mit voller Absicht schalten sie dem berühmten „Rosamunde“-Quartett von Franz Schubert (D 804) einen kurzen Renaissance-Gesang von Josquin des Prez voran. Ohne Unterbrechung spielen sie die ätherisch reinen Harmonien des etwa zweiminütigen Stücks in Schuberts wehmütig gefärbtes Anfangsthema hinein. Der Übergang funktioniert nahtlos und wirkt stimmig, weil der kristalline Klang des Alinde Quartetts beide Stücke verbindet.

Nicht romantisch voluminös spielt dieses Quartett, sondern mit beseelter Präzision, einer Klarheit ohne Kälte. Die Tongebung vereint Schönheit mit Zerbrechlichkeit, mit feinem Sinn für das sublime Wechselspiel von Licht und Schatten. Das Quartett versteht sich präzise auf das, was sich hinter Schuberts melancholischen Stimmungen verbirgt. Wenn Eugenia Ottaviano das Hauptthema klingen lässt wie einen langen, schweren Seufzer, beginnen die Stimmen unterhalb der Melodie zu beben, dass es zum Schaudern ist.

Beim Konzert in der Kölner Philharmonie: das Alinde Quartett. (Foto: Thomas Brill)

Statt in einer kuscheligen Komfortzone zu verharren, wird der Kopfsatz zu einer Wanderung am Abgrund. Zuweilen reißen die Melodien abrupt ab, laufen gewissermaßen vor eine Wand aus Akkorden. Das klingt beim Alinde Quartett angemessen radikal, obwohl es im Trio des dritten Satzes und im Finalsatz zeigt, dass es sich auch auf fröhlichere, silberne Akzente versteht und punktierte Rhythmen ins Schweben bringen kann.

Kühn spielt der katalanische Komponist Marc Migó in seinem Streichquartett Nr. 2 („Sardana – Quodlibet“) mit Schubert-Zitaten. Das Alinde Quartett macht aus dem Auftragswerk einen musikalischen Spaß vom Feinsten. Es umspielt Zitate aus „Der Tod und das Mädchen“ mit fiependen Flageolett-Tönen, setzt durch Fußstampfen Akzente, turnt mit Lust am Schabernack und erheblicher Artistik durch die Partitur. Dass dann auch noch der zweite Satz aus Beethovens 7. Sinfonie anklingt, ist eine absurd-amüsante Pointe. Komponist und Interpreten erhielten danach Riesenbeifall.

Nach der Pause verlangt Beethovens 2. Rasumowsky-Quartett (e-Moll op. 59/2) eine andere, vehementere Energie. Das Alinde Quartett findet auch dafür den rechten Tonfall: energisch klopfende Achtel im eröffnenden Allegro und eine ruhevoll-abgeklärte Stimmung für das Molto Adagio, dessen Puls schließlich zu stocken scheint. Danach herrscht im Publikum absolute Stille. Das „russische Thema“ im dritten Satz steigert das Quartett vom Rustikalen ins Grandiose. Aus dem Presto-Finale tönt jauchzender Übermut. Beinahe verschwörerisch stecken die Musiker kurz vor Schluss die Köpfe zusammen. Dann preschen sie über die Ziellinie, mit ungezügeltem Temperament. Bravorufe, Ovationen.

(Informationen: www.alindequartett.com)




Wenn Monteverdi auf persische Mystik trifft: Musikschule Bochum feiert die kulturelle Vielfalt

Drei Mitglieder vom Ensemble Barbad: die Sängerin Maryam Akhondy (links), Sara Hasti (persische Kniegeige) und Ali Salami (persische Langhalslaute). (Foto: Bernd G. Schmitz)

Es gehört zum Leitbild der Musikschule Bochum, allen Altersgruppen und allen Einwohnern mit internationalen Wurzeln offen zu stehen. Zu ihnen zählt der 1937 in Karatschi (Pakistan) geborene Pervez Mirza, der mehr als 30 Jahre lang Klavier und Musiktheorie an der Musikschule unterrichtet hat. Er organisierte jetzt ein Konzert im Museum Bochum, das so unverbindlich bunt ausfiel, dass es gut zu einer Kasseler „documenta“ gepasst hätte.

Experimentelle Klänge und Videotheater tragen zu diesem Eindruck bei, denn Mirzas eigene Kompositionen, die das Programm wie ein roter Faden durchziehen, spielen häufig mit solchen Elementen. Exemplarisch dafür steht seine Komposition „Der Fremde bin ich selbst“, geschrieben für Sprecher, Video und elektronische Klänge. Während Schauspieler Dirk Pattberg einen Monolog über Nähe und Entfremdung hält, taucht auf einer Leinwand neben ihm ein Video-Doppelgänger auf, der seinen Text allmählich übernimmt und den lebenden Menschen schließlich komplett überblendet. Akustisch verfremdet, wird der Text zu einer Klangcollage, so unverständlich und seltsam, als sei es eine Botschaft von einem anderen Planeten.

Als „typisches Beispiel Mirza’schen Schaffens“ kündigt Rainer Maria Klaas dieses Werk an. Der vielseitige Pianist, der das Konzert mit einigen „Kinderszenen“ von Robert Schumann eröffnet und diesen jeweils ein zeitgenössisches Gegenstück von Pervez Mirza gegenüberstellt, führt als kundiger Moderator durch den Abend. Das ist ein Glücksfall, weil das Programm leicht zu einer etwas ungeordneten Rumpelkammer der Stile und Epochen hätte werden können, gewissermaßen zu einem Sammelsurium zwischen Monteverdi und Mirza.

Die Kölner Vokalsolisten, hier in der Trinitatis Kirche Köln. (Foto: Christoph Papsch)

Für Renaissance-Gesänge von Claudio Monteverdi machen sich die Kölner Vokalsolisten stark. Die sechs Sängerinnen und Sänger müssen in „Anima mia perdona“ aus dem Jahr 1603 erst einige Intonationsprobleme überwinden, zeigen in „Anrede“ von Pervez Mirza aber eindrucksvoll, warum sie mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurden. Mit Stimmgabeln ausgerüstet, halten sie lange Töne trotz disharmonischer Reibungen mühelos durch. Auf diese Weise laden sie den Text des gleichnamigen Gedichts von Ernst Stadler mit großer Suggestivität auf. In Monteverdis „Volgea l’anima mia“ findet das Sextett dann zu einem dichten, reinen Gesamtklang.

Deutlich in Mauricio Kagels Tradition, Musikaufführungen möglichst theatralisch zu gestalten, steht das Stück „Le corps à corps“ (frei übersetzt: Nahkampf) von Georges Aperghis. Dieses Solo für einen Schlagzeuger, das der Grieche 1978 schrieb, verlangt Michael Pattmann höchste Konzentration ab. Es ist, als würde er ein Wettrennen mit sich selbst veranstalten: In einem irren Schnell-Französisch, manchmal auch im lautmalerischen Scat, versucht er rasende Trommel-Rhythmen mittels der Sprache zu überholen. Pattmann meistert das virtuos, durchaus auch mit einem Sinn für Komik, der das Publikum zum Kichern bringt. Aperghis Stück wirkt indes auch anstrengend, weil der Komponist sich schwer damit tut, einen Schlusspunkt zu setzen.

Auszug aus der Partitur des Klavierstücks „Reminesque“ von Pervez Mirza (Foto: Pervez Mirza)

Weltläufigkeit und Farbe gewinnt der Konzertabend durch das iranische Ensemble Barbad, benannt nach einem persischen Musiker aus dem 7. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung. Das 1989 von der Sängerin Maryam Akhondy in Köln gegründete Orchester tritt in unterschiedlichen Besetzungen bei Konzerten und Festivals in vielen Ländern Europas auf. Exotisch klingen die persischen Instrumente für Ohren, die an europäische Klassik gewohnt sind: das Näseln der Kniegeige (Kamanche), das schillernde Sirren der Langhalslaute (Tar), die vielen dumpfen und scharfen Rhythmen, die auf der Becher- und Rahmentrommel produziert werden.

Indessen steht diese Musik der europäischen Klassik nicht an feierlichem Ernst und Bedeutungstiefe nach. Das Ensemble Barbad macht diese mystische Ebene sofort spürbar. Selbstvergessen singt Maryam Akhondy Lieder zu Texten persischer Dichter. Sie verziert melodische Linien mit Ornamenten, bis sie hypnotische Kraft entwickeln. Zuweilen bewegt sie sich an der Grenze zu einem expressiven Stimmumschlag, der an das Jodeln erinnert. Sara Hasti lässt die Kniegeige dazu sehnsuchtsvoll näseln, greift manche melodische Wendung wie ein Echo auf. Ali Salami streut auf der Langhalslaute das eine oder andere fingerfertige Solo ein.

Alle ernten großen Applaus. Der steigert sich zu Jubel, als Syavash Rastani zum großen Solo auf der Rahmentrommel (Daf) ansetzt. Was der Künstler mit flinken Fingern aus diesem scheinbar einfachen Instrument holt, ist so vielfältig, dass es auch für drei oder vier verschiedene Schlaginstrumente reichen dürfte. Von einem sanften Scharren ausgehend, mit den Fingernägeln auf der Membran des Instruments erzeugt, steigert er sich in eine Rhythmik hinein, die so lange an Tempo zunimmt, bis die Trommel zwischen seinen Händen zu fliegen beginnt. Ein rasantes, mitreißendes Erlebnis.

(Weitere Veranstaltungen: www.musikschule-bochum.de/termine)




Der doppelte Herbert: Fritsch und Grönemeyer mit dem schrillen Spaß „Pferd frisst Hut“ bei der Ruhrtriennale

Eine glückliche Braut sieht anders aus: Cécilia Roumi (als Hélène) und Christopher Nell (als Fadinard) im Slapstick-Operetten-Musical „Pferd frisst Hut“ (Foto: Thomas Aurin)

Da weiß einer nicht, was er will. Der Strohhut aus Florenz, dem Fadinard am Tag seiner Hochzeit wie verrückt hinterherjagt – das Original wurde nämlich von seinem Droschkenpferd gefressen – ist lediglich ein Symbol dafür, dass der Mann am liebsten Reißaus nehmen möchte: vor der Braut, der Verwandtschaft, der Hochzeitsgesellschaft, womöglich sogar vor sich selbst. Denn er scheint noch nicht einmal sicher zu sein, zu welchem Geschlecht er sich hingezogen fühlt.

In der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks zeigt die Ruhrtriennale jetzt eine neue Version von „Der Florentiner Hut“, einer Verwechslungskomödie von Eugène Labiche aus dem Jahr 1851. Das Stück hat diverse Spuren in den Künsten hinterlassen: Es gibt eine gleichnamige Oper von Nino Rota (der die Filmmusik zu „Der Pate“ schrieb), einen deutschen Film mit Heinz Rühmann (Regie: Wolfgang Liebeneiner), dazu noch zwei französische Filme.

Als Slapstick-Operetten-Musical präsentiert die Ruhrtriennale die deutsche Erstaufführung von „Pferd frisst Hut“, eine Produktion des Theaters Basel in Koproduktion mit der Komischen Oper Berlin. Federführend sind zwei Männer, deren unverwechselbar Stil hier eigenwillig aufeinander prallt.

Herbert Fritsch, Propagandist des choreographischen Rauschs. (Foto: Christian Knörr)

Das ist zum einen der Regisseur Herbert Fritsch, dafür bekannt, seine Figuren auf der Bühne in einen hyperaktiven Irrsinn zu treiben: in ein kindliches, zugleich bis in die kleinste Geste hinein choreographiertes Herumtoben. Manche mögen sich erinnern, welchen Kultstatus seine Produktion „Murmel, Murmel“ an der Berliner Volksbühne erreichte, bevor er 2018 am Bochumer Schauspielhaus mit der „Philosophie im Boudoir“ von Marquis de Sade ein Skandälchen lostrat.

Für Zugkraft beim Publikum sorgt die Musik von Herbert Grönemeyer, der in seinen Jugendjahren musikalischer Leiter am Bochumer Schauspielhaus war, bevor er 1981 durch „Das Boot“ bekannt wurde und 1984 mit seinem Studioalbum „Bochum“ die Hitparaden stürmte. Aus seinen Melodien, Rhythmen und Texten hat Thomas Meadowcroft eine Partitur für Chor und Sinfonieorchester gemacht: geschickt instrumentiert, fröhlich zwischen Broadway-Musical, Rossini-Oper und Disney-Soundtrack irrlichternd. Die Bochumer Symphoniker und der Chor des Theaters Basel, die unter der Leitung des amerikanischen Dirigenten Thomas Wise Stimmung machen, streuen Glamour über diese unterhaltsame Mischung.

Herbert Grönemeyer war bei der Premiere in Duisburg persönlich anwesend. (Foto: Victor Pattyn)

Was aus der Zusammenarbeit der beiden Herberts entstand, ist so schräg und bunt, wie es die Bühne von Herbert Fritsch (unter Mitarbeit von Oscar Mateo Grunert) gleich zu Beginn erahnen lässt. Das temporeiche Tür-auf-Tür-zu-Spektakel kommt durch acht Zugänge in den Seitenwänden und ein Drehportal vor Kopf in Schwung. Selten war eine Handlung so sehr Nebensache: Hier geht es um eine Typenparade, um die große Orientierungslosigkeit, in der die Figuren haltlos herumstolpern.

So grell und banal das auf den ersten Blick scheint, so hintergründig ist es auf den zweiten, denn nichts und niemand ist in diesem Absurdistan ernst zu nehmen. Wir erleben leere Witzfiguren, die Sprechblasen absondern wie in einem Comic: „S’isch alles aus!“, jault der Schwiegervater bei jedem Auftritt in weinerlichem Dialekt, während der Bürgermeister bei jeder Gelegenheit stöhnt, wie heiß ihm doch sei. Das Gestotter und Gestammel der Hauptfigur Fadinard steckt voll absichtsvoller Versprecher. Wenn er mit Glottisschlag von den Baron*innen spricht, schiebt er stets das Wort „drinnen“ hinterher, wie um den Genderwahnsinn auf die Spitze zu treiben.

Die gesamte Hochzeitsgesellschaft gerät durch einen Strohhut in Turbulenzen. (Foto: Thomas Aurin)

Dazu zeigen die Schauspielerinnen und Schauspieler ein akrobatisches Bewegungstalent, als wollten sie sich für den Zirkus bewerben. Sie rutschen ganz beiläufig in den Spagat, hechten die von der Drehtür herabführenden Treppenstufen herunter, landen auf dem Bauch, überschlagen sich in der Luft. Es ist rasant, es ist sagenhaft. Fritsch hat jede Verrenkung durchgeformt, bis ins Detail, ja sogar bis in den Schlussapplaus hinein.

Der Grönemeyer-Sound ist der Musik bei allen Musical-Anleihen deutlich anzuhören: Vieles klingt in Duisburg irgendwie nach „Bochum“. Die Emotionalität der Songs steht oft seltsam quer zu der alles und alle umfassenden Ironie, die Fritschs rasantes Anarcho-Theater so vergnüglich macht. Aber es gibt Chornummern, die gut zünden, sogar zum Mitklatschen anregen. Der Chor des Theaters Basel zieht in den farbenfrohen Kostümen von Geraldine Arnold eine echte Show ab.

In Erinnerung bleibt ein schriller Spaß, der bei weitem nicht so flach ist, wie er zu sein vorgibt. Um es mit den Worten von Herbert Fritsch zu sagen: „Wir sind alle irre, wir kriegen nix gebacken, und wir kriegen gar nix hin.“ Wer wollte ihm in diesen Zeiten widersprechen?

(www.ruhrtriennale.de)




Das Schlucken des Buckelwals: Das Chorwerk Ruhr präsentiert sich bei der Ruhrtriennale künstlerisch überragend

Florian Helgath leitet das Chorwerk Ruhr bei dem Konzert mit dem Titel „Rechants“ bei der Ruhrtriennale in Bochum. (Foto: Christian Palm)

Das wurde aber auch Zeit. Nachdem das Chorwerk Ruhr in der Triennale-Produktion „Abendzauber“ lediglich Teil einer Installation war, eines Happenings, das Stücke von Bruckner und Björk auf die Rolle eines Soundtracks reduzierte, durfte das weithin gerühmte Vokalensemble nun ein echtes Konzert geben. In der Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle Bochum gab es tatsächlich „nur Musik“ (um den ebenso erstaunten wie unerfahrenen Konzertbesucher aus Loriots berühmtem Sketch zu zitieren).

Warum das aktuelle Programm des Chorwerks „Rechants“ heißt und was es mit dem gleichnamigen Werk von Olivier Messiaen auf sich hat, darf das zahlende Publikum selbst herausfinden. Kein Wort dazu in dem bedruckten Faltblatt, das gratis ausgehändigt wird. Hätte Florian Helgath, der langjährige Leiter des Chorwerks, dem Dramaturgie-Team des Festivals nicht ein erhellendes Interview gegeben, wären die Besucher den hoch komplexen Kompositionen ohne jeden Beistand begegnet.

Das Wechselspiel von Strophe und Refrain ist gemeint, wenn der 1992 verstorbene Franzose sein im Dezember 1948 vollendetes Vokalwerk „Cinq rechants“ nennt. Er spielt damit auf ein Werk des Renaissancekomponisten Claude Le Jeune an und setzt sich zugleich mit dem Tristan-Stoff auseinander, gewissermaßen im Nachklang seiner großen Turangalîla-Sinfonie, die als eines seiner Hauptwerke für Orchester gilt.

Kristalline Reinheit: Das Chorwerk Ruhr singt eine Motette des erst kürzlich wiederentdeckten portugiesischen Renaissance-Komponisten Vicente Lusitano. (Foto: Christian Palm)

Um Liebeslieder handelt es sich bei den „Rechants“ nach Messiaens eigener Aussage. Zwölf solistische Stimmen braucht es für die fünf Gesänge, die indes nicht unmittelbar poetisch wirken, sondern gewissermaßen erst beim zweiten Hinhören, durch ihre vielfältig schillernde Farbigkeit. Im Vordergrund stehen rhythmisch markante Lautmalereien. Messiaen hat zusätzlich zum französischen Grundtext ein eigenes Idiom geschaffen. Lautfolgen wie „suka rava kâli vâli“ oder „mano nadja lâma krîta makrîta“ wirken wie dadaistisches Sanskrit.

Um diesen Gipfel der Vokalkunst zu erklimmen, braucht es verteufelt trittsichere, gewissermaßen schwindelfreie Sängerinnen und Sänger. Das Chorwerk Ruhr besitzt sie: Unter der kompetenten Leitung von Florian Helgath und dem diskreten Einsatz ihrer Stimmgabeln wandeln sie scheinbar mühelos über alle Klippen der Harmonik (für die Experten: Es gibt Ganzton- und Tritonus-Parallelen!) sowie der Kontrapunktik.

Da werden Sechzehntelketten zu magischen Beschwörungsformeln (roma tama tama tama), Konsonantenfolgen (t – k – t – k – t) zu perkussiven Ereignissen. Jede Stimme fügt sich so passgenau ins große Ganze wie ein Steinchen in ein kunstvolles Mosaik. Es gibt bundesweit nicht viele Chöre, die das auf diesem Niveau hinbekommen.

Selbst für Florian Helgath war die Musik des Renaissance-Komponisten Vicente Lusitano, die nach 450 Jahren jetzt allmählich wieder dem Vergessen entrissen wird, eine Entdeckung. Der Portugiese gilt als der erste schwarze Komponist der europäischen Musikgeschichte, dessen Werke publiziert wurden. Seine Motette mit dem Titel „Inviolata, integra et casta es“, erschienen vermutlich um das Jahr 1519, huldigt der Reinheit und Keuschheit der Gottesmutter Maria.

Das Chorwerk Ruhr feierte in der Turbinenhalle bei der Ruhrtriennale einen großen Erfolg. (Foto: Christian Palm)

Das Chorwerk singt das geistliche Werk mit acht Frauen- und zehn Männerstimmen. Mit der linken Hand formt Florian Helgath die langen Linien des Gesangs, der jetzt den Raum flutet: ein pausenloses, herrlich rein intoniertes Strömen, in dem die sonoren Männer- die Frauenstimmen wie auf einem Tablett emportragen. Der Schlussakkord schwebt so körperlos im Raum, als wäre er nicht mehr von dieser Welt.

Zeitgenössisches gibt es zum Abschluss: Die „Partita für 8 Stimmen“ der 1982 geborenen Amerikanerin Caroline Shaw lotet die Möglichkeiten der menschlichen Stimme höchst effektvoll aus. Mit Einverständnis der Komponistin entschied Florian Helgath sich für eine Besetzung mit 18 Stimmen. Die funktioniert für das Chorwerk Ruhr perfekt: Die vier Sätze werden zu einer Abenteuerreise für die Ohren, die in immer neue Welten entführt. Da gibt es Kehlkopfgesänge, flötengleiche Obertöne, rituelle Chants und ein virtuoses Sprach-Fugato. Aus den Tiefen des Ozeans scheint ein wellenförmiges Glissando aufzusteigen, das der Chor mit geschlossenen Lippen auf dem Laut „Hmmmm“ formt: Es klingt, als höre man einem Buckelwal beim Schlucken zu.

Ein Extra-Zückerchen hat das Chorwerk Ruhr auch eingebaut: Der gesummte Mittelteil der Courante ist unschwer als das Steigerlied zu erkennen. Es mündet in ein rasantes Beatbox-Finale. „Was können die Sängerinnen und Sänger des Chorwerks eigentlich nicht?“, mag mancher sich am Ende perplex fragen. Nach diesem Abend steht zu vermuten: wahrscheinlich nichts.

(www.ruhrtriennale.de)




Mit vokalem Volldampf durch Georgien: Der Trinity Cathedral Choir aus Tiflis bei der Ruhrtriennale

 

Der Georgian State Chamber Choir (oder Trinity Cathedral Choir) trat bei der Ruhrtriennale in der Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle Bochum auf (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker)

Fraglos erwartet man Außergewöhnliches von einem Chor, der zur Ruhrtriennale eingeladen wird, zumal das Festival mit dem Chorwerk Ruhr einen bewährten Partner mit glänzendem Ruf an seiner Seite hat. Aber die vokale Wucht und die Vielseitigkeit des Georgian State Chamber Choir sprengt dann doch die Vorstellungskraft. Für ihr Konzert in der Turbinenhalle der Jahrhunderthalle Bochum wurden die Gäste aus Tiflis stürmisch gefeiert.

Das Programm konzentrierte sich im ersten Teil auf moderne georgische Chormusik, nach der Pause auf traditionelle polyphone Gesänge. Zwei Dirigenten teilten sich den Abend: Svimon (Jiki) Jangulashvili nahm sich der Moderne an, Giorgi Donadze leitete durch die oft archaisch klingenden Tonfolgen, die nur unzureichend verschriftlicht wurden und daher vom Vergessen bedroht sind. Seit 2001 zählen sie daher zum immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO.

Gegründet wurde der Chor 1998 nach dem Neubau der Dreifaltigkeitskirche in Tiflis, die nach dem Zerfall der Sowjetunion errichtet wurde, als Symbol georgischen Kulturbewusstseins. 2001 wurde er in den Rang des „Staatlichen georgischen Kammerchors“ erhoben. Die Pflege der traditionellen georgischen Musikkultur liegt ihm besonders am Herzen.

Georgi Donadze dirigierte die zweite Konzerthälfte, in der die traditionelle georgische Polyphonie im Mittelpunkt stand (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker)

Wer gerne mehr über solche Zusammenhänge erfahren hätte, mehr vor allem auch über die Komponisten, die als wahre Schöpfer im Zentrum jedes ernst zu nehmenden Konzerts stehen sollten, den lässt die Triennale im Regen stehen. Der Flyer, den es statt eines Programmhefts gibt, ist zwar kostenfrei, aber um welchen Preis? Er hätte kaum dürftiger ausfallen können: eine karge Auflistung von Namen und Stücktiteln, schlecht redigiert obendrein, die Umschrift der georgischen Namen ist verwirrend uneinheitlich (Zviad oder Swiat? Kechakmadze oder Kedtschakmadse?). Für die alten Gesänge fällt gerade einmal ein Satz als Inhaltsangabe ab.

Dabei ist es doch die Musik der georgischen Tonschöpfer, die im Mittelpunkt stehen sollte. Sie transportiert uns an diesem Abend in faszinierende Welten. Dirigent Svimon Jangulashvili ist sich dessen bewusst: Als Reaktion auf den begeisterten Beifall hebt er mehrfach die Partituren der Werke hoch über seinen Kopf, um mit dieser Geste auszudrücken, dass die Ehre zuerst den Komponisten gebührt, nicht den Interpreten.

Wie der Chor sich aber für die Musik seines Landes einsetzt, welche Bandbreite des Ausdrucks diese Männerstimmen erreichen, ist – man kann es nicht anders sagen – ein Ereignis. Zu Beginn lässt sich das noch nicht erahnen, denn es dominiert ein sakraler, hymnischer Charakter. Der Poesie der Kompositionen von Zviad Bolkvadze spürt der Chor mit äußerst fein abgestufter Lautstärke nach: singend, mystisch summend, meditativ auf Dauertönen verharrend.

In „Oh, die Kirschblüten“, entstanden nach einem japanischen Volksgedicht, stellt Bolkvadze dem Chor ein Vibraphon an die Seite, dessen Metallplatten auch mit einem Bogen gestrichen werden. Das tönt zart, zuweilen auch ein wenig süßlich. Wer sich davon eingelullt fühlt, wird jäh von einem Schwall knatternder Silbenfolgen geweckt: Ioseb Kechakmadze hat aus Yetim Gurgis Gedicht ein sehr rhythmisches Stück gemacht, das vorwärtsstürmt wie ein Pferd in gestrecktem Galopp. Der Chor schärft seinen Klang jetzt aggressiv, die Akzente sind wie eine Attacke mit dem Florett, gelegentlich vom Aufstampfen mit dem Fuß unterstrichen.

In Kechakmadzes „Übung“ bohren sich die Sänger so lange in die Vokale A, E, I, O, U hinein, bis Obertöne mitschwingen. Das Gesangssolo seines Stücks „Die Welt“ übernimmt der Komponist Zviad Bolkvadze höchstselbst. Er entfaltet dabei Autorität und Modulationsfähigkeit eines Gebetsrufers.

Einige wenige Instrumente kamen bei dem Chorkonzert ebenfalls zum Einsatz (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker)

Was nach der Pause geschieht, gleicht einer aufregenden Reise in eine ferne Kultur. Archaisch klingen Quart- und Quintparallelen in einem vorchristlichen Ritualgesang aus Westgeorgien. Immer wieder treten Vorsänger aus dem Chor: Die Wechselgesänge, die dann angestimmt werden, sind viel körperlicher und erdiger als alles, was europäische Ohren sonst gewohnt sind. Zu bewundern gibt es viel, zum Beispiel eine dem Jodeln ähnliche Gesangstechnik, die fragile Schönheit eines ostgeorgischen Liebeslieds und einen Trinkspruch aus der Region Kachetien, aus dem uns die Weite des Landes anweht.

So reaktionsschnell die Sänger noch auf den kleinsten Fingerzeig von Svimon Jangulashvili reagieren, so bedingungslos vertrauen sie sich der Autorität von Giorgi Donadze an. Unter seiner Leitung gewinnen die Stimmen ein nachgerade triumphales Volumen. Es scheint ein regelrechter Sängerwettstreit auszubrechen, samt einer erregten Diskussion unter Dorfbewohnern. Gerne hätten wir mehr über die Hintergründe erfahren. In Erinnerung bleiben wird auch ein Arbeitslied, das die Fahrt mit einer Dampflokomotive lautmalerisch nachzeichnet. Zischende Laute, maschinenhafte Rhythmik, begleitet von heulend langgezogenen „Au“-Signalen: Es war das pure Hörvergnügen.

(www.ruhrtriennale.de)




Personenkult um einen deutschen Star: „I want absolute beauty“ wird durch Sandra Hüller zum Renner der Ruhrtriennale

Die Schauspielerin als Rockstar: Sandra Hüller in der Triennale-Produktion „I want absolute beauty“ in der Jahrhunderthalle Bochum (Foto: Jan Versweyveld)

Sandra Hüller. Muss hier wirklich noch mehr gesagt werden? Jawohl, unbedingt, sofern man nicht einfach sein Gehirn ausschalten und ein geliebtes Idol feiern möchte wie auf einem Rock-Konzert.

Nichts anderes ist die Triennale-Produktion „I want absolute beauty“ in der Jahrhunderthalle Bochum: eine lautstark wummernde, von Lichtgewittern durchzuckte Show um einen Star, ein auf Taschenformat eingedampfter Stadionkracher samt Videoleinwand und einem Tanzkollektiv, das schon an Madonnas „Celebration“-Tour mitgewirkt hat („La Horde“ aus Marseille).

Intendant Ivo van Hove und die britische Singer-Songwriterin PJ Harvey, die höchstpersönlich zur Premiere nach Bochum kam (Foto: Jan Versweyveld)

Aus seiner Liebe zur Musik von PJ Harvey und der Bekanntschaft mit der fabelhaften Schauspielerin, die nur knapp am Oscargewinn vorbei geschrammt ist, hat Regisseur Ivo van Hove ein Event geschmiedet, das starken Publikumszulauf nahezu garantiert – was ihm zum Einstand als neuer Intendant der Ruhrtriennale nicht ungelegen kommen dürfte. Er hat sich intensiv durch alle Alben der britischen Sängerin und Songwriterin gehört und versucht, ihre Songs in eine Reihenfolge zu bringen, die eine Geschichte erzählt.

Die „Hauptrolle“, die er schließlich Sandra Hüller gab, ist keine im herkömmlichen Sinne. „I want absolute beauty“ hat keinen Text und keine Handlung, sondern ist eine Abfolge von Songs, die van Hove in thematische Gruppen sortiert hat. Wer daraus Erkenntnis gewinnen möchte, muss in die Songtexte einsteigen, die bei der Ruhrtriennale als Übertitel eingeblendet werden, sowohl im englischen Original als auch in deutscher Übersetzung. PJ Harvey befasst sich darin, wie sollte es anders sein, mit allgemein menschlichen Themen: mit der Liebe und ihren Enttäuschungen, mit Einsamkeit und Rebellion und Prozessen der Selbstfindung, die ja keineswegs nur die Jugend betreffen.

Jede Menge Dynamik: Das Tanzkollektiv von „La Horde“ aus Marseille (Foto: Jan Versweyveld)

Das hat durchaus Gedankentiefe: Ivo van Hove hat recht, wenn er sagt, dass nicht nur die klassische Musik Sinn und Werte vermittelt. Ein Stück im Sinne einer stringenten Erzählung, einer geschlossenen dramaturgischen Form, wird daraus trotzdem nicht. Es bleibt bei einer guten Show mit Independent Punk-Rock, bei der man vor allem Sandra Hüller bewundert: wie wandlungsfähig sie ihre Stimme einsetzt, wie sie ihre blonde Löwenmähne wirft (es handelt sich dabei natürlich um eine Perücke), wie sie sich mit jedem Kostümwechsel zu einer anderen Figur häutet, wie frei und souverän sie sich mit den hoch professionellen Tänzern bewegt. Wenn sie zu Lichtexplosionen ins Mikrophon röhrt wie eine echte Rock-Lady, mutet es fast seltsam an, dass sie nicht für eine tobende Menschenmasse singt, sondern für ein andächtig stillsitzendes Festival-Publikum.

Wer Hunger nach Schönheit verspürt, wie ihn der Titel dieser Produktion formuliert, wird an der Ästhetik der Szene Nahrung finden. Das mit rötlicher Erde bedeckte Bühnengeviert, seitlich gerahmt von jungen Bäumen, wird durch die Spuren des Tanzes mehr und mehr schraffiert (Bühnenbild: Jan Versweyveld). Die Compagnie wirbelt – im Wortsinne – Staub auf, schlittert, rennt und rollt über diesen Boden, bis die durchtrainierten Körper regelrecht paniert sind. In stillen Momenten breitet sich eine Decke aus Bühnennebel darüber aus, in zauberhaft gemächlichem Fluss.

Gewohnt wandlungsfähig: Sandra Hüller macht sogar als Rockstar eine überzeugende Figur (Foto: Jan Versweyveld)

Videodesigner Christopher Ash hat sich erkennbar von den Plattencovern PJ Harveys inspirieren lassen. Seine Bilder entwickeln hypnotische Sogkraft, zeigen Stadt- und Naturimpressionen, aber auch Bilder einer Live-Kamera, mit der die Darsteller sich gegenseitig aufnehmen. Die Band, weit hinten auf der Bühne sitzend, gibt dem Abend unter der musikalischen Leitung von Liesa van der Aa einen Sound, der mächtig Stimmung schafft. Er mag anders klingt als der, den die Fans von PJ Harvey von ihren Alben kennen, funktioniert für die Show aber perfekt, zumal es Übergänge von einem Song zum nächsten braucht.

Es ist natürlich nicht verwerflich, wenn der Abend auf der Erfolgswelle mit surft, die Sandra Hüller derzeit weiter und weiter trägt. Eine kritische Frage sei gleichwohl erlaubt. Müssen wirklich Landesmittel in Formen der Unterhaltung fließen, die ohnehin schon jeden Winkel in nahezu jedem Lebensbereich durchdrungen haben? Deren Übermacht sich nichts und niemand mehr entgegenstellt, schon gar nicht quotenhypnotisierte Medien? Sollte nicht das gefördert werden, was es schwer hat? Es waren Produktionen wie „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann oder „Saint François d’Assise“ von Olivier Messiaen, die auch Skeptikern verdeutlichten, dass die Ruhrtriennale leisten kann, wozu anderen Bühnen die Ressourcen fehlen. Und weshalb wir sie wirklich, wirklich brauchen.

(www.ruhrtriennale.de)




Start mit hoher Schlagzahl: Ivo van Hove verdichtet die Ruhrtriennale 2024 auf viereinhalb Wochen und drei Städte

Jüdische Prinzessin liebt römischen Kaiser: Isabelle Huppert spielt bei der Ruhrtriennale in der Deutschen Erstaufführung von Jean Racines Tragödie „Bérénice“ (Foto: Jean Michel Blasco)

Konzentration, Verdichtung, Schlagkraft: Unter diesen Vorzeichen legt die Ruhrtriennale 2024 am 16. August los. In seinem ersten Jahr als Intendant will der Belgier Ivo van Hove das Kunstereignis intensivieren, indem er es zeitlich und räumlich begrenzt.

Das Programmangebot ist gewohnt umfangreich, aber das Festival wird nur noch viereinhalb Wochen dauern. Von den Spielorten sind lediglich drei Städte geblieben: Bochum, Essen und Duisburg. Selbst beliebte Aufführungsorte wie die Zeche Zweckel in Gladbeck und die Zeche Zollern in Dortmund sind diesmal nicht dabei.

Ein Festival solle „wie ein Feuerwerk in Zeitlupe explodieren“, sagt der Intendant, der sich bei der Auftakt-Pressekonferenz noch ein wenig an einem Manuskript festhält, obwohl er exzellent deutsch spricht. Bereits am Eröffnungs-Wochenende bringt die Ruhrtriennale vier Premieren in Folge und will bis zum Abschluss am 15. September so kraftvoll durchziehen, dass die Besucher in einen Sog geraten, von einer Veranstaltung zur nächsten.

Sandra Hüller, Isabelle Huppert

Ivo van Hove wirkte bereits unter Gründungsintendant Gerard Mortier bei der Ruhrtriennale mit. Nun startet er in sein erstes Jahr als Festival-Intendant. (Foto: Thomas Berns/Ruhrtriennale)

Van Hoves Startposition sieht gut aus. Drei Viertel von insgesamt 41.000 Karten sind „bereits vergeben“, wie es offiziell heißt, in eleganter Umgehung des Worts „verkauft“. Etliche Produktionen sind ohne Zweifel stark gefragt, allen voran die Eröffnungspremiere mit der Beinahe-Oscarpreisträgerin Sandra Hüller, die in der zwischen Musiktheater und Ballett changierenden Produktion „I want absolute beauty“ in der Regie von Ivo van Hove Songs von PJ Harvey singt.

Ein weiterer weiblicher Gast-Star kommt aus Frankreich: Isabelle Huppert spielt in einer Deutschen Erstaufführung Romeo Castelluccis freie Adaption von Jean Racines „Bérénice“, der Tragödie um die jüdische Prinzessin, die sich in den römischen Kaiser Titus verliebt. Die Uraufführung des Tanzstücks „Y“ von Anne Teresa de Keersmaeker ist bereits an so vielen Tagen ausverkauft gemeldet, dass kaum noch ein Fuß dazwischen passen dürfte.

Wildes Leben in freier Kommune: Szenenfoto aus der Produktion „The Faggots and their friends between Revolutions“, basierend auf dem Kultroman aus den späten 1970er Jahren (Foto: Tristram Kenton)

Etwas skurril sind die Verrenkungen, die das Triennale-Team bei der Ankündigung der Produktion „The Faggots and their friends between Revolutions“ unternimmt. Es ist ein Musikspektakel, das Ted Huffman und Philip Venables nach einem Kultroman von Larry Mitchell geschaffen haben. Weil der Titel ein Schimpfwort für schwule Männer benutzt, veröffentlicht die Triennale vorauseilende Erklärungen und Entschuldigungen (faggot bedeutet so viel wie Schwuchtel, das englische Wort für das Musikinstrument Fagott lautet bassoon). So weit, so verständlich. Aber dass die Produktion als „entschlossenes Musiktheater“ beworben wird, als gäbe es auch ein unentschlossenes oder gar zweifelndes, wirkt, mit Verlaub, ziemlich durchgedreht.

Die neue Nachhaltigkeit

Szenenfoto aus dem Operetten-Slapstick-Musical „Pferd frisst Hut“ mit Musik von Herbert Grönemeyer. (Foto: Thomas Aurin)

Weil jeder selbst durch das Programm blättern oder scrollen kann, sei Weiteres hier nur stichpunktartig skizziert. Schräg und komisch verspricht das Slapstick-Operetten-Musical „Pferd frisst Hut“ von Herbert Grönemeyer in der Regie von Herbert Fritsch zu werden. Edvard Griegs einziger Liederzyklus „Haugtussa“ inspirierte die Regisseurin Eline Arbo zu einer szenischen Fassung. Kirill Serebrennikov setzt dem im Westen kaum bekannten Filmregisseur Sergey Paradjanov in „Legende“ ein Denkmal. Es handelt sich dabei um eine Koproduktion mit dem Thalia Theater und der Kirill & Friends Company. An diesem Beispiel lässt sich eine weitere Neuerung ablesen: Ivo van Hove legt Wert auf Nachhaltigkeit. Alle Produktionen, die bei der Triennale zur Premiere gelangen, werden danach in die Häuser von Kooperationspartnern im In- und Ausland wechseln.

Meldestellen und Vertrauenspersonen

Es könnte alles so schön sein, stünden da nicht die Vorwürfe einer intendantentypischen Willkür im Raum, zu denen van Hove bei der Pressekonferenz natürlich auch befragt wird. Beschuldigungen, es habe am Internationalen Theater Amsterdam unter seiner Leitung Einschüchterung, Machtmissbrauch und verbale Gewalt gegeben, wurden von einer Kommission untersucht, die Ende Juli ihre Ergebnisse veröffentlichte. Van Hove, der die Vorfälle bereits öffentlich bedauert hat und versicherte, an einer Aufklärung mitarbeiten zu wollen, antwortet diesmal beherrscht und knapp, beinahe ein wenig schmallippig. Bei der Ruhrtriennale seien bewährte Strukturen vorhanden, an denen er „nicht rütteln“ wolle, sagt er mit Blick auf Meldestellen und Vertrauenspersonen.

„Lasset die Spiele beginnen!“

„Longing for tomorrow“ ist das Motto der diesjährigen Festival-Ausgabe, womit die Sehnsucht nach einem neuen Morgen gemeint ist. Es soll daran erinnern, dass dem Menschen stets die Kraft zur Neuerfindung, zu Wandel und Verbesserung innewohnt. Mit Blick auf die Kunst gibt es in den kommenden Wochen genug zu entdecken: eine Literaturreihe mit dem Titel „Brave new voices“, außergewöhnliche Konzerte mit dem Chorwerk Ruhr, das zum Beispiel Musik von Björk und Bruckner kombiniert, sowie den Komponisten Julius Eastman, den die Triennale aus dem Schatten seiner berühmten Kollgen Philip Glass und Steve Reich holt. Dazu begehbare Installationen (teils kostenfrei) und Workshops, Vermittlungsangebote, einen Festivalcampus von zehn Hochschulen, Publikumsgespräche und mehr. Nach dem Erlöschen des olympischen Feuers in Paris kann es im Ruhrgebiet erneut heißen: Let the games begin!

www.ruhrtriennale.de




Ein Grundklang für Generationen: Bochums Jugendsinfonieorchester feiert sein 50-jähriges Bestehen

Norbert Koop leitet das Jugendsinfonieorchester der Stadt Bochum seit 1999. Seit 2019 ist er zudem Leiter der Musikschule. Er hat einen Lehrauftrag an der Folkwang Universität der Künste und arbeitet als Dozent für Orchesterdirigieren an der Bundesakademie in Trossingen. (Foto: privat)

Lassen wir die Festtags-Floskeln. Verzichten wir einfach mal auf die Rede von der talentierten Jugend, auf das Lob der Nachwuchsförderung, auf das Wortgeklingel von der kulturellen Bildung und vom städtischen Musikleben. Erst hinter solchen Phrasen zeigt sich, weshalb das nunmehr 50 Jahre alte Jugendsinfonieorchester der Stadt Bochum die Kinder so vieler Familien geprägt hat – und das über Generationen. Weshalb die Ehemaligen, die der aktuelle Dirigent Norbert Koop zum gemeinsamen Jubiläumskonzert im Anneliese Brost Musikforum eingeladen hatte, 30 und 40 Jahre später noch von einer Zeit schwärmen, die sie unvergesslich nennen.

Erinnerungen an Auslandsreisen in die Partnerstädte werden wach, an die alljährliche Orchesterwoche in den Herbstferien, die willig geopfert wurden, um acht Stunden am Tag zu proben. In einem kleinen Nest im Sauerland nahmen Ouvertüren, Sinfonien und Solokonzerte langsam Gestalt an. Sie wurden erarbeitet, teils regelrecht erkämpft unter der Leitung des charismatischen Orchestergründers Guido van den Bosch. Der Geiger und Dirigent konnte erschreckend streng sein, ließ heikle Stellen pultweise, ja sogar einzeln vorspielen. War diese Bloßstellung für den Einzelnen beschämend, ging es dem Kollektiv manchmal nicht besser. Wenn van den Bosch fand, dass nicht genug geübt worden sei, konnte es geschehen, dass er Proben rigoros abbrach und das gesamte Orchester nach Hause schickte.

Orchestergründer Guido van den Bosch wirkte nicht nur am Dirigentenpult prägend. Viele Lebensläufe wurden durch seine Arbeit beeinflusst. (Foto: privat)

Gleichwohl kannten nahezu alle Kinder und Jugendlichen, die in Bochum ein Instrument lernten, nur ein Ziel: Mitglied im JSO zu werden, endlich mitspielen zu dürfen in diesem verrückten Haufen, in dem van den Boschs Meisterschülerin Clarissa Forster mit dem Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy brillierte und Jugendliche von unterschiedlicher Begabung zu einer verschworenen Gemeinschaft wuchsen. Unermüdlich unterrichtend und dirigierend, weckte van den Bosch mehr Verständnis für das Genie großer Komponisten, als jeder Schulunterricht vermocht hätte. Wie Chaos sich unter seiner Stabführung zur Kunst fügte, war schiere Magie.

Schon immer war das JSO das „Flaggschiff“ der Musikschule. Seine Leistungsfähigkeit ist bis heute erstaunlich konstant geblieben. Viermal hintereinander konnte das JSO seit 2007 beim Landesorchesterwettbewerb NRW 1. Preise erringen und sich damit jeweils für den Deutschen Orchesterwettbewerb qualifizieren. Auch auf der Bundesebene des alle vier Jahre stattfindenden Wettbewerbs erzielte es sehr gute Ergebnisse.

Manches ist heute aber auch anders als zu Beginn der 1970er Jahre. Bei den Proben der aktuellen JSO-Besetzung geht es deutlich ruhiger zu: Wenn der Dirigent unterbricht, greifen die meisten zum Handy, statt mit dem Pultnachbarn zu schwatzen. Selbstredend hat sich auch die Pädagogik verändert. Appelle zum Üben mag es noch geben, aber Bloßstellung vor dem Rest der Gruppe ist ausgeschlossen. Die aktuellen Mitglieder treten ihrem Dirigenten Norbert Koop nicht respektlos gegenüber, zeigen aber manchmal Selbstbewusstsein. Auch im Repertoire ist ein leichter Wandel zu verzeichnen: Filmmusiken wie „Jurassic Park“ von John Williams hätten es damals vielleicht nicht ins Programm geschafft.

Erst 1994 komponiert wurde der Tanz Nr. 2 („Danzón“) aus der Feder des mexikanischen Komponisten Arturo Marquéz, bekannt geworden durch die Europatourneen des Simón Bolívar Jugendsinfonieorchesters aus Venezuela. Dieses Stück bildet den gut gelaunten Auftakt für das Jubiläumskonzert im Anneliese Brost Musikforum, das an diesem Abend eintrittsfrei zugänglich ist. Das JSO zeigt sich in guter Spiellaune: Das Schlagzeug zaubert mit Klanghölzern und Ratsche karibisches Flair, ein Klaviersolo bringt Anklänge von Barmusik. Blechbläser und Streicher laden die lateinamerikanischen Rhythmen mit Energie und Lebensfreude auf. Die Trompeten schmettern, die Posaunen leisten sich ein übermütiges Glissando.

Benjamin Völkel, einst Schüler an der Musikschule Bochum, hat heute die Soloposition für Englischhorn beim NDR Elbphilharmonie Orchester (Foto: privat)

Mit dem Oboenkonzert des Ungarn Frigyes Hidas tritt der Bochumer Benjamin Völkel auf. Einst Schüler der städtischen Musikschule, konnte er sich 2022 eine Solistenstelle beim NDR Elbphilharmonie Orchester erspielen (Englischhorn). Eine tolle Erfolgsgeschichte, die niemanden wundern kann, der an diesem Abend zuhört. Völkels Oboenton ist schlank und elegant, biegsam und farbenreich. Wie sehr er das Instrument technisch beherrscht, zeigt sich in den Ecksätzen, die er höchst beredt und beweglich gestaltet. Im Andante scheint ein Verwandter von Debussys berühmtem „Faun“ herüber zu grüßen. Zum Flirren der Streicher öffnet sich eine akustische Landschaft, in der Völkel in aller Ruhe Melodien nachsinnt. Sommerlich träge und entspannt klingt das, beinahe wie ein Schattenplatz in der Mittagshitze.

Nach der Pause wird es eng auf der Bühne. Vereint mit etwa 40 Ehemaligen wächst das Kollektiv auf 120 Köpfe. Jetzt ähnelt die Besetzung einem Fall von Größenwahn: neun Klarinetten, zehn Hörner, elf Bratschen, 15 Celli, 38 Geigen. Viele Blicke richten sich an diesem Abend auf die junge Bratschistin Naomi Cichon, die ihre Instrumentengruppe mit dem gleichen Elan anführt, wie es ihr Großvater Teisuke Shiraga lange Jahre bei den Bochumer Symphonikern tat. Ihre Mutter Kazuko sitzt in den zweiten Geigen, Tochter Mika spielt in der ersten Violine mit. Mancher Gedanke geht an diesem Abend auch an Kazukos Schwester Fumiko, der leidenschaftlichen Pianistin, die einst Mozart-und Beethoven-Konzerte mit dem JSO spielte und leider viel zu früh verstarb.

Probenarbeit im Vorfeld des Jubiläumskonzerts. (Foto: privat)

Einige Paradestücke des „alten“ JSO stehen nun auf dem Programm: die Meistersinger-Ouvertüre von Richard Wagner, die „Ungarischen Tänze“ Nr. 1 und 6 von Johannes Brahms liegen manchen Ehemaligen noch in den Fingern. Jetzt spielen 50- und 60-Jährige an einem Pult mit 17- und 18-Jährigen. Die Generationen ziehen am gleichen Strang, die Freude springt auf das Publikum über. Mit Edward Elgars berühmtem „Pomp and circumstance“-Marsch als Zugabe erreicht die Feststimmung stolze Höhen.

Blumen und „Merci“-Schokolade erhält Nobert Koop als Dank vom Orchester. Ihm und seinen nicht minder engagierten Kolleginnen und Kollegen an der Musikschule Bochum – viele von ihnen ehemalige JSOler – ist es zu verdanken, dass es noch immer genug Jugendliche gibt, die in ihrer Freizeit Orchester spielen statt World of Warcraft oder Grand Theft Auto. Um die musikalische Bildung im Land, die durchaus Anlass zur Sorge gibt, wäre es ohne sie noch weit schlimmer bestellt.

https://musikschule-bochum.de/termin/50-jahre-jugendsinfonieorchester/




Sphärische Strahlkraft: Das Londoner Oktett VOCES8 erobert das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm mit Gesang

A-cappella-Gesang vom Feinsten: VOCES8 wurde im Jahr 2003 gegründet und 2005 von den Brüdern Paul und Barnaby Smith neu gruppiert, die schon als Knaben im Chor von Westminster Abbey sangen. (Foto: Markus Liesegang)

Ob es wohl süchtig macht, so singen zu können? Acht Stimmen zu einem einzigen Instrument verschmelzen zu lassen, kristallklar, lupenrein, homogen, mit sphärischer Strahlkraft?

Hunderttausendfach werden die Musikvideos des 2003 in London gegründeten Oktetts VOCES8 (sprich: ˈvo:tʃes eɪt) im Internet aufgerufen, die Alben millionenfach gehört. Wo das Oktett auch auftritt, zeigt es sich trotz hoher Gesangskunst nahbar. Es wendet sich seinem Publikum zu, sei es in London oder Tokio, in Amsterdam oder Peking.

Das Kulturbüro der Stadt Hamm konnte VOCES8 jetzt für zwei Konzerte gewinnen. Zuerst trat die Vokalformation im Gustav-Lübcke-Museum auf, mit ihrem Programm „London by night“, das unbeschwert durch 500 Jahre Musikgeschichte hopst. Ganz so kreuz und quer, wie sich das auf den ersten Blick liest, geht es dann aber doch nicht zu, denn der erste Teil des Abends bleibt „strictly british“.

Hier versammeln sich Werke aus dem goldenen Zeitalter der englischen Musik, von Thomas Tallis, William Byrd und Orlando Gibbons. Die Ergänzung durch Benjamin Britten, den „Orpheus britannicus“, und Arthur Sullivan, bekannt als die komponierende Hälfte des Opernduos Gilbert and Sullivan, wirkt nicht als Stilbruch, weil VOCES8 alles gleichermaßen transparent und lebhaft gestaltet: seien es nun komplexe Renaissance-Motetten oder Brittens ausdrucksstarke „Choral Dances“ aus seiner Oper „Gloriana“, samt Glockengeläut und Fischergesängen.

Obschon ein Flickenteppich aus lauter kurzen Stücken, verhindert das Oktett durch geschickte Moderation, dass Zwischenapplaus das Programm in seine Einzelteile zerlegt. So können Spannungsbögen entstehen, ruhevolle Momente wie in „O Nata Lux“ von Thomas Tallis, das in langen Legatobögen ausschwingen darf, und Arthur Sullivans melancholisches „The Long Day Closes“, das sich hier in noble Wehmut hüllt.

VOCES8 ist ein leuchtendes Beispiel für die englische Chortradition. Sie reicht bis ins 15. und 16. Jahrhundert zurück, als berühmte Chöre wie King’s College Cambridge und Christ Church Cathedral Oxford gegründet wurden. (Foto: Markus Liesegang)

Wenn die fünf Sänger und drei Sängerinnen die Notenpulte nach der Pause beiseitestellen, hat das eine Signalwirkung. Jetzt ist ein Hauch Showtime angesagt, in dezenter Dosis und mit britischem Understatement, denn nun driftet das Programm in Richtung Jazz und Musical. Es schlägt die Stunde der Arrangements. Johann Sebastian Bachs Bourrée II aus den „Englischen Suiten“, eigentlich ein Klavierstück, kommt als Folge launiger La-la-la und Dü-dü-dü-Laute daher, jazzig swingend. Sogar den Beat des Schlagzeugbesens auf dem Hi-Hat-Becken imitiert ein Sänger täuschend echt, leise durch die Zähne zischend.

Immer wieder entfalten diese Stimmen einen magischen Sog, fächern sich manchmal auch orgelgleich auf, zum Beispiel in Carroll Coates „London by night“ (Bearbeitung: Gene Puerling). Die Soli in Van Morrisons „Moondance“ werfen ein Schlaglicht auf die Exzellenz der einzelnen Mitglieder. Wer solch klangschönen, wohlgeformten, makellosen Gesang hören möchte, wird nur in der internationalen Spitzenklasse fündig.

Die ultimative Charme-Offensive starten VOCES8, wenn sie „Come fly with me“ von Sammy Cahn mit „Fly me to the moon“ von Bart Howard verschränken. Da sind sie wie nebenbei ihre eigene Schlagzeug-Combo. Am längsten klingen vielleicht die leisen Stücke nach. „Underneath the stars“ von Kate Rusby und „Timshel” von Mumford & Sons künden von einer Hoffnung, die Tod und Trauer überwindet. VOCES8 singen von diesem bittersüßen Trost, als wollten sie alle Erdenschwere hinter sich lassen: „Death will steal your innocence, but you are not alone in this, you are not alone.”




Märchenwelten: Das Musiktheater im Revier vereint Kurzopern von Tschaikowsky und Strawinsky zum reizvollen Doppel

Ein Garten wie eine Insel: Jolanthe (Heejin Kim) ist blind und lebt abgeschieden von der Welt. Doch Ritter Vaudémont naht (Khanyiso Gwenxhane. Foto: Pedro Malinowski)

Die Liebe lehrt sie sehen: Jolanthe, blinde Titelheldin von Tschaikowskys letzter Oper, gleicht einer Dornröschenfigur, die erwacht – und dadurch erwachsen wird. Von ihrem Vater streng behütet, erfährt sie erst durch einen fremden Ritter, dass es jenseits ihres abgeschiedenen Gartens eine sichtbare Welt voller Farben und Formen gibt.

Märchenhafte Züge trägt auch Igor Strawinskys Oper „Le rossignol“ (Die Nachtigall), ein Auftragswerk nach einer Vorlage von Hans Christian Andersen. Weil beide Werke nicht abendfüllend sind, erlebt man sie selten auf der Bühne. Das Gelsenkirchener Musiktheater (MiR) bindet sie jetzt zu einem reizvollen Doppel zusammen.

Das ist eine hübsche Alternative für alle, die dem engen Repertoire von Spielplänen entkommen möchten, die allseits bekannte Evergreens immer wieder neu auflegen. „Carmen“, „Die Zauberflöte“ und „Rigoletto“ bringen eben gute Publikumszahlen, und wer oder was würde heutzutage nicht an der Quote gemessen? Dabei gäbe es so viel gute Musik zu entdecken. Der neue Doppelabend in Gelsenkirchen ist dafür ein schöner Beweis.

Jolanthe (Heejin Kim) wird von ihren Dienerinnen eingekleidet (Foto: Pedro Malinowski)

Weil beide Kurzopern eine fantasievolle, optisch ästhetische Umsetzung erfahren, verzeiht sich manche Unbeholfenheit der Regie. Zu deren Verteidigung muss auch gesagt werden, dass Tschaikowskys „Jolanthe“ nach stimmungsvollem Beginn ins Sentimentale abrutscht. Das versucht Tanyel Sahika Bakir zu verhindern, indem sie das „Erwachen“ der Titelheldin nicht in allgemeines Gotteslob münden lässt, sondern Jolanthe von ihrer Insel der Seligen holt. Ihr Gartenrondell schwimmt wie eine Seerose in einem tristen Bühnenhalbrund, in dem schwer bewaffnete Männer die Herrschaft ihres Vaters durchsetzen (Bühne: Julia Schnittger).

Ihn, den König René, erkennt sie erst nach der Heilung durch den Arzt Ibn-Hakia als Despoten. Aber das erschließt sich erst nach der Lektüre des Programmhefts. Um zu diesem Ende hinzuführen genügt es nicht, eine gesichtslose Soldateska ausgiebig mit Gewehren herumfuchteln zu lassen. Eine Duell-Konstellation zwischen dem Ritter Vaudémont, der Jolanthe liebt, und König René, der die Tochter weiter unter Kontrolle halten will, wird nicht deutlich. Stattdessen scheint plötzlich jeder auf jeden zu zielen. Das hinterlässt Fragezeichen.

Mit Waffengewalt wird Jolanthes Welt beschützt (Foto: Pedro Malinowski)

Alles Weitere fügt sich in der Produktion so ineinander, dass dieser Jolanthe ein angemessener Liebreiz zuwächst: eben nicht süßlich, sondern lyrisch und licht. Dafür sorgen an erster Stelle das Gesangsensemble und die Neue Philharmonie Westfalen unter der Leitung von Rasmus Baumann, die Tschaikowskys Partitur mehr und mehr in Fluss bringen.

Aus dem kammermusikalischen Beginn – nur Holzbläser und Hörner gestalten das Vorspiel – entwickelt sich ein grandioses Melos, das in die Seele der Hauptfiguren hineinleuchtet. Dazu gibt es lautmalerische Effekte, wenn die Ankunft des Königs mit Hörner- und Trompetenschall zelebriert wird, wenn Bratschen und Celli das Getrappel der Pferde nachahmen oder wenn der Arzt Ibn-Hakia sein Therapiekonzept mit orientalischen Melismen ausschmückt.

Heejin Kim versteht sich darauf, ihren Sopran aus innigem, beinahe schüchternem Piano aufblühen zu lassen. Auch wenn die große Entdeckung, die Jolanthe durch den Ritter Vaudémont macht, immer höhere Wogen schlägt, behält die Sängerin diesen hellen Schimmer bei, nimmt sie uns mit auf einen Wellenritt der Emotionen. Für ekstatische Höhepunkte hat sie genug Durchschlagskraft, setzt diese aber mit eleganter Zurückhaltung ein. Khanyiso Gwenxhane zeigt sich als Ritter Vaudémont auch stimmlich glänzend gerüstet: Sein Tenor vereint Geschmeidigkeit mit hellen Farben. Dem setzt Philipp Kranjc (König René) als sein Gegenspieler einen markigen Bass entgegen. Benedict Nelson mischt als Arzt Ibn-Hakia zweifelnde Töne in seinen warmen, empathisch klingenden Bariton.

Unterstützt werden die musikalischen Leistungen durch die Kostüme von Hedi Mohr, die unaufdringlich ein Aufeinandertreffen von Islam und Christentum andeuten, und die Beleuchtung von Patrick Fuchs, die das künstliche Rondell aus dem Dunkel herausschneidet, als sei es das verlorene Paradies.

Ja wo ist sie denn? Der Hofstaat sucht nach der Nachtigall, denn sie wird vom Kaiser von China erwartet. (Foto: Pedro Malinowski)

Deutlich bunter, ja beinahe comichaft geht es in Strawinskys „Le rossignol“ zu, in der sich die Regie von Kristina Franz sehr wirkungsvoll mit dem Puppentheater ergänzt. Das Märchen von der chinesischen Nachtigall, die in der kaiserlichen Gefangenschaft zunehmend versagt und leichtfertig durch einen Automaten ersetzt wird, deutet die Regie als Kampf zwischen Natur und Künstlichkeit, letztlich auch zwischen Leben und Tod. Auch dies erschließt sich eher im Programmheft als auf der Bühne, aber die szenische Umsetzung ist so hübsch anzusehen und Strawinskys Musik so originell, dass sich darüber hinwegsehen lässt.

Im Wesentlichen ist „Le Rossignol“ ein stimmlicher, mit Koloraturen und Spitzentönen gespickter Hochseilakt. Den meistert die belgische Sopranistin Lisa Mostin bewundernswert schwindelfrei; die Spezialisierung auf dieses Fach ist ihr anzuhören. Frei bewegt sie sich aber nicht nur stimmlich: Sie stellt auch in ihren Bewegungen ein Naturwesen dar, in einem unscheinbaren braunen Kleid, das sich von der farbenfroh gewandeten Hofgesellschaft absetzt (Kostüme: Hedi Mohr).

Eine Schachfigur erwacht zum Leben: Gloria Iberl-Thieme, Daniel Jeroma und Maximilian Teschemacher führen eine Puppe von Jonathan Gentilhomme (Foto: Pedro Malinowski)

Der zweite große Clou dieser Inszenierung sind die Puppen von Jonathan Gentilhomme, der einer kleinen weißen Schachfigur zunächst einen kleinen Kobold entsteigen lässt, der allmählich zum Riesen wächst (und laut Programmheft den Tod darstellen soll). Gloria Iberl-Thieme, Daniel Jeroma und Maximilian Teschemacher bewegen diese Figuren so kunstvoll, dass sie ein staunenswertes Leben gewinnen.

Vokaler Höhenflug: die belgische Sopranistin Lisa Mostin als Nachtigall (Foto: Pedro Malinowski)

Im Orchestergraben gelingt es Rasmus Baumann und der Neuen Philharmonie Westfalen, der Musik über den Bruch hinweg zu helfen, der sich durch die zwischenzeitliche Uraufführung von „Le Sacre du Printemps“ im Kompositionsprozess ergab. Klingt im ersten Akt noch Impressionistisches à la Claude Debussy durch, wird es im weiteren Verlauf deutlich moderner, ragt das Werk hörbar ins 20. Jahrhundert hinein. Dass „Le Rossignol“ sich auf der Opernbühne nie so recht durchsetzen konnte, ist nicht allein der Musik wegen schade. Kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs entstanden, besitzt die Fabel einen zeitlos aktuellen Kern: Mensch, Natur und Seele stehen auf der einen Seite, der kalte Mechanismus der Maschine auf der anderen.

(Karten und Termine: www.musiktheater-im-revier.de)




Eleganz und Feuer: Stipendiaten brillieren bei der Matinee der Mozart Gesellschaft im Konzerthaus Dortmund

Der niederländisch-amerikanische Geiger Stephen Waarts muss sich für die Blumenübergabe klein machen. (Foto: Stephan Lucka)

Das kleine Blumenmädchen reicht ihm kaum bis zum Knie. Es wirkt beinahe skurril, wie tief sich der nahezu zwei Meter große Geiger Stephen Waarts bücken muss, um den Strauß entgegenzunehmen, den das Kind ihm zum Dank für seinen Auftritt im Konzerthaus Dortmund reicht.

Die Bratschistin Emma Wernig, die mit ihm gemeinsam das Doppelkonzert e-Moll op. 88 von Max Bruch aufgeführt hat, erhält ebenfalls Blumen. Sie ist aktuell Stipendiatin der traditionsreichen Mozart Gesellschaft Dortmund, die auch Stephen Waarts über Jahre gefördert hat. Mehr als 150 junge Musikerinnen und Musiker hat der gemeinnützige Verein seit 1961 auf dem harten Weg in den Musikbetrieb unterstützt.

Bei der jüngsten Mozart Matinee, die sechsmal pro Saison im Konzerthaus stattfindet, gelingt es Waarts und Wernig, selbst verwöhnte Vielhörer für sich einzunehmen. Technik und Tongebung verraten schon nach wenigen Takten, zu welcher Meisterschaft sie es auf ihren Instrumenten gebracht haben.

Mit Blick auf die Wettbewerbserfolge des niederländisch-amerikanischen Geigers, Absolvent des berühmten Curtis Institute of Music in Philadelphia, und auf die Auszeichnungen der deutsch-österreichischen Bratschistin, die seit 2021 bei Tabea Zimmermann an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin studiert, kann das nicht überraschen. Gleichwohl nimmt die Verblüffung über das Spiel der beiden zu, wenn sie sich vom rhapsodischen Beginn des Bruch-Doppelkonzerts immer weiter freispielen. Ihr Ton ist reich und intensiv, ihr Legato wunderbar dicht, die Intonation treffsicher. Beider Musikalität steht völlig außer Frage.

Sich gegen das Orchester zu behaupten, gelingt ihnen ohne zu forcieren. Vorzüglich, wie filigran und quecksilbrig sie Läufe und Aufschwünge vor der Folie spätromantischer Opulenz zum Leuchten bringen. Dazu trägt auch die Begleitung durch das Württembergische Philharmonie Reutlingen bei, die die Solisten unter der Leitung von Ariane Matiakh einfühlsam unterstützt.

Stephen Waarts und Emma Wernig spielten bei der Mozart-Matinee das Doppelkonzert für Violine und Viola e-Moll op. 88 von Max Bruch. (Foto: Stephan Lucka)

Dass Waarts Violinton lange im Ohr bleibt, liegt an einer fabelhaften Mischung aus Feuer und luftiger, atmender Eleganz, die Vergleiche mit den berühmtesten Geigern unserer Zeit heraufbeschwört. Nach dem zupackenden Finale erhalten er und Emma Wernig Riesenbeifall.

Die Württembergische Philharmonie Reutlingen, bereits zum dritten Mal bei einer Matinee der Mozart Gesellschaft Dortmund zu Gast, hatte ihr Programm ganz auf den Anlass zugeschnitten. Sie legt mit der „Symphonie classique“ von Sergej Prokofjew los – und beweist in dieser respektlos-genialen Jonglage mit klassischen Formen erstaunliches Geschick.

Ariane Matiakh wählt für den Kopfsatz ein moderates Tempo, setzt mit klarer, unprätentiöser Zeichengebung Impulse, die das Orchester aufmerksam umsetzt. Alles ist delikat und luzide, silbrig im Klang. Im Finale (Molto vivace) gibt Matiakh dann Vollgas: Nun fliegen die Funken, die Geigen schlagen schier Kapriolen, die Holzbläser jagen im Affentempo durch Tonwiederholungen. Das schnurrt ab wie der geölte Blitz.

Jacques Ibers originelle „Hommage à Mozart“, ein 1955 komponiertes kurzes Stück in Rondo-Form, bereitet nach der Pause Hörvergnügen. Einerseits feierlich, andererseits verspielt, droht dieser Balanceakt auf dem Drahtseil der Wiener Klassik immer wieder aus der Tonart zu kippen. Das Orchester macht das fürs Ohr transparent und nachvollziehbar.

Die französische Dirigentin Ariane Matiakh (Foto: Stephan Lucka)

Den Schlusspunkt bildet Mozarts „Jupiter“-Sinfonie. Deren Beginn lässt Ariane Matiakh weniger demonstrativ aufstampfen, als man es sonst oft hört. Sie setzt auf einen eher sanglichen Tonfall, auf feine Triller in den Geigen, auf die delikate Zurücknahme des Klangs ins Pianissimo. Das „Andante cantabile“ strömt in jenen himmlischen Dur-Gefilden dahin, wie sie nur Mozart zu öffnen verstand. Dass das Tempo im anschließenden Menuett nicht sofort steht, bleibt eine Randnotiz.

Durch den Finalsatz fegt die Württembergische Philharmonie Reutlingen noch einmal mit hoher Konzentration und Spielfreude. Die Motivsplitter, die in der äußerst kühnen Durchführung umeinander wirbeln, und die sprühende Freude, die Mozart in strahlendem C-Dur durch Raum und Zeit schickt, wurden wohl erst durch Beethovens Götterfunken abermals übertroffen.




Violinspiel wie von einem anderen Stern: Eine Woche mit der Geigerin Hilary Hahn im Konzerthaus Dortmund

Hilary Hahn durfte als „Curating Artist“ ihr eigenes Festival im Konzerthaus Dortmund gestalten. Eine Woche lang trat sie dort täglich auf, mit wechselndem Programm. (Foto: Petra Coddington)

Sie ist zweifache Mutter, dreifache Grammy-Preisträgerin, 43 Jahre alt und fraglos eine der besten Geigerinnen unserer Zeit. Die Amerikanerin Hilary Hahn erreicht in ihrem Violinspiel eine Perfektion wie von einem anderen Stern. Zugleich ist sie das Gegenteil einer hochglanzpolierten Künstlerin: Sie präsentiert sich nahbar und erstaunlich ungeschminkt. So auch im Konzerthaus Dortmund, wo sie als „Curating artist“ ihr eigenes Festival gestalten durfte: „Hilary Hahn & friends“.

Den Freibrief, den das Konzerthaus ihr für diese Woche ausstellte, nimmt sie als Gelegenheit, um mit Freunden zu musizieren und Neues auszuprobieren. Auch eine öffentliche Meisterklasse ist Teil des Programms. Bezeichnend, dass sie dafür nicht die besten Studierenden der umliegenden Musikhochschulen herausgepickt hat, sondern ganz normale Geigenschülerinnen- und -schüler aus Dortmund und Umgebung unterrichtet.

Der Weg ist das Ziel, sagt Hilary Hahn, und Wahrhaftigkeit wichtiger als Makellosigkeit. Mit voller Absicht präsentiert sie Stücke auf Instagram in unfertigem Zustand, zeigt sich selbst beim Üben, manchmal unfrisiert oder gar im Schlafanzug. Gerade Frauen sollten sich öfter trauen, weniger perfekt in der Öffentlichkeit aufzutreten, sagt sie beim eröffnenden Podiumsgespräch mit Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech – und erntet dafür spontanen Beifall.

Den eigentlichen Auftakt gestaltet sie einen Tag später, gemeinsam mit dem hr-Sinfonieorchester unter Leitung von Andrés Orozco-Estrada. Tschaikowskys Violinkonzert wirkt unter ihren Händen wie mit klarem Wasser gereinigt. Wie nebenbei befreit Hilary Hahn das nahezu totgespielte Repertoirestück von angeberischen Gebärden, von süßlicher Gefühlsseligkeit und all den Schlieren des schlechten Geschmacks, mit denen man es häufig hört. Bei ihr erhält das Werk einen tänzerisch-biegsamen Charakter, grüßt zu Tschaikowskys großen Ballettmusiken hinüber.

Ihr Violinton ist nie aufgedonnert, suhlt sich nie in der Saite. Er bleibt stets fein, kann bestürzend verletzlich klingen, aber auch durchdringend kristallin. Das ist keinesfalls mädchenhaft, denn Hahn ist zugleich eine überragende Virtuosin, die Höchstschwierigkeiten mit voller Attacke in die Saiten meißelt. Die große Solo-Kadenz im Kopfsatz steht exemplarisch für ihre Deutung. Statt eine Bravourshow abzuziehen, wandelt sie auf dem schmalen Grat zwischen Verlorenheit und Rebellion.

Hilary Hahn bedankt sich beim hr-Sinfonieorchester. (Foto: Petra Coddington)

Auf die Beifallsstürme antwortet Hilary Hahn mit zwei Solo-Stücken von Bach. Das Andante aus der a-Moll-Sonate wird zu einer Sternstunde: in dieser Ruhe, in dieser Reinheit, in dieser Überlegenheit macht ihr das niemand nach.

Die seltene, aber klanglich reizvolle Kombination von Geige und Orgel probiert sie gemeinsam mit Iveta Apkalna aus. Grundpfeiler dieses Programms ist die berühmte Ciaconna aus der d-Moll-Partita für Solovioline von Johann Johann Sebastian Bach. Das Stück dreht sich um Tod und Auferstehung: Es besteht aus freien Variationen über einem Thema in der Bass-Stimme, das ununterbrochen wiederholt wird. Ein ständig um sich selbst kreisender Gedanke, den Bach 32 Mal variiert. Hilary Hahn durchmisst dieses Planetensystem zunächst allein, im traumwandlerischen Gleitflug. Danach lässt Iveta Apkalna die Majestät der mehr als 3565 Pfeifen der Konzerthausorgel aus dem Hause Klais erstrahlen.

Er war der „Joker“ von Hilary Hahn: Abel Selaocoe und das Bantu Ensemble. (Foto: Petra Coddington)

Wie unerschrocken Hilary Hahn über den Tellerrand schaut, zeigt das „Joker“-Konzert mit dem südafrikanischen Cellisten Abel Selaocoe und dem Bantu Ensemble als Überraschungsgästen. Sie wagt es, ein paar Töne zum Spiel dieser experimentell angehauchten Improvisationskünstler beizutragen, überlässt ihnen schließlich aber doch die Bühne.

Was folgt, gleicht einer Klangreise nach Afrika. Abel Selaocoe ist ein Künstler mit riesiger Bandbreite: Sprache, Gesang, Cellospiel, Schnalz- und Zungenlaute gehen bei ihm nahtlos ineinander über. Mit überbordender Energie animiert er das Publikum zum Mitmachen, heizt die Temperatur im Saal so lange an, bis alle stehen, tanzen, feiern. Schlagzeuger Dudù Kouaté zaubert mit afrikanischen Instrumenten die schönsten Stimmungen in den Saal.

Mit dem Kaleidoscope Chamber Collective, das der Londoner Wigmore Hall eng verbunden ist, unternimmt Hilary Hahn einen Streifzug durch die amerikanische Musik des 20. Jahrhunderts. Der Abend wird vom Publikum zu Recht gefeiert: Zu erleben ist spannende Kammermusik auf allerhöchstem Niveau. Jennifer Higdons „Dark Wood“ für Fagott, Violine, Violoncello und Klavier enthält köstlich groteske Elemente. Samuel Barbers Streichquartett op. 11, von dem fast alle nur den 2. Satz als „Adagio for strings“ kennen, erfährt endlich einmal eine Gesamtaufführung. Aaron Coplands „Appalachian spring“ Suite gleicht einem faszinierenden Kaleidoskop: Farben und Formen gruppieren sich immer neu, mit leuchtender Transparenz.

Das Kaleidoscope Chamber Collective und Hilary Hahn. (Foto: Petra Coddington)

Auch vor Live-Elektronik scheut Hilary Hahn nicht zurück. In Dortmund tritt sie als „Special Guest“ mit dem Cellisten Seth Parker Woods auf, der sein multimediales, halb-biographisches Programm „Difficult Grace“ hier in einer Variation präsentiert. Verschränkt mit einigen Solostücken von Bach kommt hier das späte 20. und frühe 21. Jahrhundert zum Klingen: Werke von Coleridge-Taylor Perkinson, Giacinto Scelsi, Nathalie Joachim, Monty Adkins, Conrad Beck, Carlos Simon und Chinary Ung, natürlich auch das titelgebende Stück von Fredrick Gifford, in dem der Cellist zugleich Erzähler, Schauspieler und Sänger ist.

Zum Abschluss fegt ein Wirbelsturm aus Kolumbien durchs Haus. Dirigent Andrés Orozco-Estrada, mit dem Hilary Hahn besonders gerne musiziert, kehrt mit der Jungen Philharmonie seines Heimatlandes zurück, die Musikerinnen und Musiker zwischen 16 und 24 Jahren vereint. Gefördert von einer Stiftung, ist sie nicht nur ein wichtiges Bildungs- und Sozialprojekt, sondern ein künstlerisches Kollektiv, das durch Können und Kreativität besticht.

Das Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy, das unter Hilary Hahns Händen funkelt und blitzt, kommt ihrem kristallinen Ton ganz besonders entgegen. Aber was die jungen Kolumbianer in Igor Strawinskys Musik zum Ballett „Petruschka“ treiben, ist abenteuerlich. Der Handlung des Balletts entsprechend, machen sie die Bühne zum Jahrmarkt: treten in fröhlich lärmenden Gruppen auf, spielen die Szenen nach wie Schauspieler, oft gleichzeitig musizierend.

Halbszenische Aufführung: Die Musikerinnen und Musiker der Jungen Philharmonie Kolumbiens spielen die Ballettmusik „Petruschka“ mit Masken und agieren wie Schauspieler. (Foto: Petra Coddington)

Es bekommt der Kunst bekanntlich nicht immer gut, wenn der Konzertsaal zum Zirkus wird. Aber diese Performance ist von Martin Buczko auf den Punkt genau durchchoreographiert. Sie wird musikalisch und darstellerisch so überzeugend präsentiert, dass jede Skepsis dem Hör- und Sehvergnügen weicht.

Da werden Geiger zu Marionetten und Hornisten zu Hanswursten, die sich den Trichter ihrer Instrumente auf den Kopf setzen, als seien es komische Hüte. Die Posaunisten heben ihre Instrumente in die Höhe, als wollten sie Ausrufezeichen setzen, und die Geiger schwenken ihre Bögen durch die Luft, als wollten sie nach etwas angeln. Am Kontrafagottisten ist glatt ein Pantomime verloren gegangen. Bunte Masken erheben die farbenreiche Musik vollends zum Fest.

Nach dem Schlusston herrscht Partystimmung, auf der Bühne und abseits davon. Sie setzt sich im Foyer fort: Einige Blechbläser und Schlagzeuger des Orchesters finden kein Ende, feiern zu den Klängen und Rhythmen Kolumbiens weiter. Und während einige noch an der Garderobe anstehen, tanzen andere schon ausgelassen mit.




Klangreise in die Unterwelt: Das Orchester „Les essences“ spielt ein Konzeptkonzert im Essener Katakomben-Theater

Das Kammerorchester „Les essences“ wird vom Kulturministerium des Landes NRW gefördert (Foto: eyedoit)

Wir steigen hinab, Stufe um Stufe, Stockwerk um Stockwerk. Aus der Hitze, der blendenden Helligkeit eines Spätsommertags in die dunklen Räume des Essener Katakomben-Theaters, die uns verschlucken wie ein Höhlensystem: eine fensterlose Gegenwelt mit schwarzen Wänden und verwinkelten Verbindungsgängen.

Schon bevor der erste Ton erklingt, sind wir mitten im Spiel des Kammerorchesters „Les essences“, das diesen Ort sehr bewusst für ein Konzeptkonzert zu den Themen Trauer und Tod ausgewählt hat. Wie Klang und Raum zusammenwirken, wird bei den Konzerten dieses jungen, international besetzten Orchesters besonders deutlich. Sein Gründer und Leiter, der deutsch-türkische Geiger Önder Baloglu, legt hohen Wert darauf, die Musik mit den Orten zu verbinden, für die sie ursprünglich geschrieben wurde. So spielt „Les essences“ Serenaden unter freiem Himmel, geistliche Werke in der Kirche und Kammermusik gerne mal im Salon.

Die Räumlichkeiten im Katakomben-Theater nutzt das Orchester für eine Art Wandelkonzert. Durch eine geöffnete Seitentür spielt es in den fast vollständig abgedunkelten Saal hinein, dessen Bühne lange leer bleibt. Nur für ein paar Streichquartettstücke wechseln vier Musikerinnen und Musiker vom Nebenraum auf die Hauptbühne, wo sie nahezu ohne Beleuchtung spielen. Die weißen Oberhemden der Musikerinnen und Musiker schimmern matt im Schein der iPads, die auf den Notenpulten stehen.

Für das Publikum gibt es fast nichts zu sehen, dafür aber viel zu hören. Wie der Klang der Streicher in den Zuschauerraum hinein sickert, sich dort flächig ausbreitet und Atmosphäre schafft, hat meditative Qualitäten. Zwischenapplaus gibt es nicht, denn alle Stücke werden nahtlos durch den Obertongesang des Bratschisten Gareth Lubbe verbunden, der singend und spielend durch die Räume schreitet, als sei er ein Wiedergänger des Orpheus aus der griechischen Sage.

Durch seine Zwischenspiele verschmilzt die Programmfolge zu einer Einheit, verbunden durch das kristallklare Flöten der Obertöne, die Gareth Lubbe mit großer Beherrschung aus seinem Kehlkopf zaubert. Selbst Triller sind ihm keine Unmöglichkeit. Exotisch und zugleich vertraut wirken die diversen „Om“-Laute und Vokale, die er anstimmt. Manchmal erinnern sie auch an den Klang des australischen Didgeridoos. Die Bratsche, dem Klang der menschlichen Stimme ebenfalls nahe, ergänzt dieses Spektrum passgenau.

Önder Baloglu ist Gründer und Leiter des Kammerorchesters „Les essences“ (Foto: Ulrike von Loeper)

Das Orchester schaut seinerseits über den Gartenzaun der Genregrenzen. Türkische Klage- und Volkslieder wie „Ich bin auf einem langen, schmalen Weg“ (Uzun ince bir yoldayim) von Asik Veysel stehen gleichberechtigt neben der Trauermusik von Paul Hindemith, Benjamin Brittens „Lachrymae“ und einem Stück des im Libanon geborenen Armeniers Tigran Mansurian, der seine Komposition „Testament“ zu einem Zeitpunkt schrieb, als seine Frau sehr krank war.

Einem so dicht konzipierten und durchdachten Programm tut es kaum Schaden an, wenn live nicht alles gelingt. Es bleibt eine Randnotiz, dass die Intonation der Geigen im Variationssatz von Franz Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ hörbar auf die Probe gestellt wird. Dafür blühen Puccinis „Chrysanthemen“ in einer Luft auf, in der ein Hauch von Salon liegt: fein parfümiert, ohne übergroße Süße.

Samuel Barbers berühmtes „Adagio for Strings“ in einem einzigen, bruchlosen Crescendo zum Höhepunkt zu steigern, ist in der Kammermusikbesetzung weit schwerer als mit einem großen Sinfonieorchester. Aber die Musikerinnen und Musiker von „Les essences“ treffen die richtige Stimmung: Der resignierte Tonfall legt sich wie Mehltau über die weit geschwungenen Melodiebögen. Hätte dieses Programm im Rahmen der Ruhrtriennale stattgefunden, zu der es übrigens nahezu perfekt gepasst hätte, wäre es gewiss gefeiert worden.

Damit der Abend nicht gar zu morbid endet, gibt es zum Ausklang einen Rembetiko: die Musik des griechischen Undergrounds, entstanden aus den Liedern rebellischer Außenseiter. Das Publikum regt sich, verlässt den Saal zu lebensfrohen Klängen. Draußen scheint die Sonne noch immer.

(Transparenzhinweis: Die Autorin ist freie Musikjournalistin, unterstützt das Orchester aber gelegentlich bei der Pressearbeit. Weitere Informationen zu „Les essences“ unter https://lesessences.net/)




Durch die virtuelle Brille: Ein Opernbesuch mit Spitzentechnologie auf dem Nasenrücken

Kein Sonnenschutz: Die Besucher der Rheinoper tragen eine so genannte AR-Brille, die virtuelle Informationen zum Stück und zu den Interpreten einspielt (Foto: Lukas Voss)

Heute mal ein kleines Experiment: Wir lassen uns darauf ein, eine Opernpremiere durch eine virtuelle Brille zu sehen. Korrekter gesagt, durch eine AR-Brille. AR steht für Augmented Reality, zu deutsch eine erweiterte Wirklichkeit, für die es natürlich Computer braucht. Die Brille kann während der Vorstellung Untertitel einblenden, aber auch diverse Informationen zum Stück und zu den Interpreten liefern.

Zudem ist sie mit drei Live-Kameras im Orchestergraben verbunden, die es ermöglichen sollen, dem Dirigenten sowie den Musikerinnen und Musikern aus nächster Nähe zuzuschauen. Lässt so viel Ablenkung es noch zu, sich auf das Stück zu konzentrieren? Die Aufführung tief zu genießen? Diese Fragen schweben über dem Pilotprojekt, für das sich die Rheinoper Düsseldorf mit dem ebenfalls in Düsseldorf ansässigen Unternehmen Vodafone zusammengeschlossen hat.

Beide Seiten versprechen sich Vorteile von der Kooperation. Die Rheinoper versucht neue, technikbegeisterte Publikumsschichten zu gewinnen, will auch Trendsetterin sein, die Erfahrungen an andere Häuser weitergeben kann. Vodafone ist daran interessiert, den hochmodernen Prototypen in möglichst vielen Sphären auszuprobieren. Nach Ausflügen in die Welt des Fußballs (VfL Wolfsburg), in die Küche von Steffen Henssler und in die Neurochirurgie von Universitätskliniken deshalb jetzt die Zusammenarbeit mit der Oper.

Die AR-Brille ist mit einem Handy und mit einem zusätzlichen Akku gekoppelt. (Foto: Lukas Voss)

Nun aber rasch hinauf in den 2. Rang, wo insgesamt 30 teure AR-Brillen an die Gäste der Premiere von Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ ausgegeben werden. Zum Etui, das ziemlich groß ist, gibt es ein zusätzliches Handy, mit dem die Brille per Kabel verbunden werden muss. Zudem einen Extra-Akku, weil das Handy sonst während der knapp dreistündigen Premiere schlappmachen würde. Damit hat man beide Hände ziemlich voll, und es hilft nur wenig, dass sich alles mit einer kurzen Schlaufe um den Hals hängen lässt. Denn so ist es kaum möglich, die Geräte zu bedienen.

Es gibt eine kurze, nicht allzu kompliziert klingende Einführung durch einen Vodafone-Mitarbeiter. Dann nehmen alle Brillenträger ihre Plätze im 2. Rang ein, wo sie en bloc sitzen. Nur an dieser Stelle im Haus ist der 5G-Empfang problemlos möglich, der für den schnellen Austausch großer Datenmengen nötig ist. Die Tickets für diese Plätze kosten aber nicht mehr als sonst üblich.

Displays leuchten auf, als das Licht im Saal herunter gedimmt wird und Dirigent Axel Kober zum Pult strebt. Die meisten scheinen zunächst leichte Schwierigkeiten zu haben, das Gerät zu starten. Jeder von uns blickt aus einem etwas anderen Winkel auf die Bühne: Daher muss zunächst das Sichtfeld ausgerichtet werden. Den Rahmen des entsprechenden Rechtecks mit der Maus zu „packen“ und in die richtige Position zu ziehen, kostet etliche Versuche, weil das nur über die Bewegungen des Kopfes und der Augen geht.

Nur im 2. Rang ist der 5G-Empfang gut genug, um die AR-Brille mit Gewinn tragen zu können. (Foto: Lukas Voss)

Dann ist es geschafft. Jetzt laufen die Untertitel nicht mehr mitten durch die Szene, sondern so weit unten, dass die Sicht nicht behindert wird. Aber sie ist stärker abgedunkelt als gedacht. Über den eigentlich kräftigen Farben der Kostüme und der Beleuchtung der Szene scheint ein graubrauner Schleier zu liegen. Die Distanz zur Bühne wächst gefühlt; sie rückt in noch größere Ferne. Weil unten im Sichtfeld vier Icons aufleuchten, die man mit dem Blick ansteuern und öffnen kann, ist es beinahe, als würde man zugleich am heimischen Computer und im Opernhaus sitzen. Es ist ein gefiltertes Erleben, wie aus zweiter Hand.

Wer das Buch-Symbol anwählt, kann die Handlung des jeweiligen Aktes nachlesen. Unter dem Personen-Symbol verbergen sich Informationen zu denjenigen Sängerinnen und Sängern, die aktuell auf der Bühne agieren: keine langen Biographien, sondern lediglich zwei oder drei Sätze. Auch über die Düsseldorfer Symphoniker und den Dirigenten Axel Kober lässt sich hier mehr erfahren. Wer sich ein wenig auskennt, braucht das eigentlich nicht.

Das Icon „Live“, dargestellt durch eine Art Brille, steht für die drei Webkameras im Orchestergraben, die sich hier anwählen lassen. Deren Bilder entpuppen sich als enttäuschend unscharf und ruckhaft. Die Bewegungen der Streicher sehen so abgehackt aus, als seien Roboter am Werke. Noch störender wirkt sich die Zeitverzögerung aus: Was das Auge sieht, hat das Ohr zwei Sekunden zuvor bereits gehört. Das ist eher unbefriedigend, lenkt auch vom Bühnengeschehen ab, weil es überblendet wird.

Weit sinnvoller sind kleine Informationshäppchen zum Stück und zur Regie, die an ausgewählten Stellen der Oper automatisch eingeblendet werden. Sie helfen zu verstehen, was auf der Bühne geschieht und welchen Ansatz die Regie verfolgt. Und doch verrät erst der Blick ins Programmheft, warum so viele Puppen im Spiel sind. Der Witwer Paul, der sich in der „toten Stadt“ Brügge ganz in die Trauer um seine verstorbene Frau Marie vergraben hat, ist in der Inszenierung von Daniel Kramer ein Puppenmacher. Als solcher versucht er, den Verlustschmerz abzumildern, indem er ein möglichst originalgetreues Abbild seiner Frau schafft.

Der Witwer Paul (Corby Welch), in der Düsseldorfer Inszenierung von „Die tote Stadt“ ein Puppenmacher, trauert um seine verstorbene Frau Marie. (Foto: Sandra Then)

Als Paul der Tänzerin Marietta begegnet, die seiner verstorbenen Frau ähnlich sieht, kommt die an Hitchcocks „Vertigo“ erinnernde Handlung in Gang. Hin und her gerissen zwischen der Verlockung einer lebenden Frau und der Treue zu einer Toten, gerät Paul in einen zunehmend wirren Alptraum. Erst am Schluss der Oper erwacht er mit der Erkenntnis, dass er sich lösen und nach vorne gehen muss, einer ungewissen Zukunft entgegen.

Gerne hätten wir die AR-Brille zwischendurch abgesetzt, um das Opernerlebnis wie gewohnt zu genießen: live, ungeschnitten, ungefiltert. Das ist zwar möglich, aber dafür muss die Brille vom Handy entkoppelt werden. Mit der Folge, dass beim erneuten Aufsetzen alle Einstellungen neu vorgenommen werden müssen. Das ist lästig und lenkt erheblich ab. Vielleicht ist das der Grund, weshalb so viele die Brille die meiste Zeit aufbehalten?

Fleißig schreibt jemand neben uns während der Vorstellung Textnachrichten. Sollte er sich mehr für sein Handy interessieren als für die Oper? Falsch geraten: Der Sitznachbar entpuppt sich als Mitarbeiter von Vodafone, der Rückmeldungen an seine Kolleginnen und Kollegen gibt. Man stehe mit dieser Technik noch ganz am Anfang, gibt er im Gespräch zu. Es gebe an diesem Zusatzangebot, das rein freiwillig sei, noch viel Verbesserungsbedarf. Dem können wir nur zustimmen.

(Informationen und Termine, auch zu „Das digitale Opernglas“, unter https://www.operamrhein.de.)




Frühling für Hitler: Musical „The Producers“ nach Mel Brooks als rasanter Spaß in Hagen

Einmal eine große Nummer im Showbiz sein: Davon träumt der Buchhalter Leo Bloom (Alexander von Hugo) im Musical „The Producers“ nach einem Film von Mel Brooks. (Foto: Björn Hickmann)

Achtung, bitte anschnallen, fasten seat belts. Hier geht die Post ab, hier geht’s um Geld und Glamour und die Grenzen des guten Geschmacks. Das Theater Hagen startet mit dem Musical „The Producers“ durch, als wolle es einen Rekord für das schnellste Bühnenspektakel der kommenden fünf Spielzeiten aufstellen. Diesen überdrehten Spaß wird so schnell niemand überholen.

„Frühling für Hitler“ war der deutsche Titel der Vorlage, eine Filmkomödie von Mel Brooks aus dem Jahr 1968. Das Musical erzählt die Geschichte vom Broadway-Produzenten Max Bialystock , den der Erfolg verlassen hat. Sein Buchhalter Leo Bloom bringt ihn auf eine Idee, wie er durch Betrug wieder zu Geld kommen kann. Gemeinsam wollen sie das schlechteste Musical aller Zeiten auf die Bühne bringen, um danach mit den Investorengeldern nach Rio de Janeiro durchzubrennen.

Vom Glück verlassen: Max Bialystock (Ansgar Schäfer), ehemals König des Broadway, hat keinen Erfolg mehr. (Foto: Björn Hickmann)

Das passende Stück dafür kommt von dem Alt-Nazi Franz Liebkind, der nicht ahnt, dass sein geliebter Führer auf der Bühne zur Witzfigur wird. Aber auch die Produzenten dieser gezielten Geschmacklosigkeit werden überrascht. Denn der vermeintlich sichere Flop wird für Satire gehalten und löst Begeisterungsstürme aus.

Max Bialystock (Ansgar Schäfer, l.) und Leo Bloom (Alexander von Hugo) wollen sich mit Investorengeldern vom Acker machen. (Foto: Björn Hickmann)

Regisseur Thomas Weber-Schallauer inszeniert das als Achterbahnfahrt, bei der man kaum zu Atem kommt. Das temporeiche Spiel, das Timing der schlagfertigen Dialoge, die beinahe comichafte Zeichnung der Figuren und die vor nichts Halt machende Persiflage sind köstlich ungeniert und von hoher handwerklicher Perfektion. Die Veralberung des Dritten Reichs kitzelt das Zwerchfell zu hysterischem Lachen. Der Alt-Nazi Franz Liebkind mit seinem verschissenen Taubenschlag voll national gestimmter Vögel ist einfach unerträglich gut (Richard van Gemert quatscht sich im breiten Bayerisch um Kopf und Kragen).

Alle Abteilungen des Hauses unterstützen die Regie wie geschmiert. Ein Rädchen greift da ins andere: die schwungvolle und charmante Choreographie von Riccardo De Nigris, die das Jahr 1959 zitierenden Kostüme von Yvonne Forster, die Beleuchtung von Hans-Joachim Köster, die den Glamour des Showbiz ebenso sichtbar macht wie den grauen Alltag. Fantastisch gut gelingen die Szenenwechsel, die so fließend zwischen Traum und Wirklichkeit changieren, dass man sich manches Mal die Augen reibt.

Chor, Ballett und Ensemble hätten für ihren Einsatz glatt eine Verdoppelung der Gage verdient. Ansgar Schäfer (Max Bialystock) und Alexander von Hugo (Leo Bloom) werfen sich ins Getümmel, dass die Verletzungsgefahr nicht fern scheint. Schäfer gibt den Broadway-König als alternden, aber machtbewussten Macho. Alexander von Hugo hängt sich bei ihm ein: ein Hänfling der endlich auch einmal groß rauskommen möchte.

Die schöne Ulla (Emma Kate Nelson) will unbedingt die Hauptrolle spielen. (Foto: Björn Hickmann)

Die schwule Entourage des Regisseurs setzt herrlich arrogante Kontrapunkte (Florian Soyka als Roger de Bris und Matthias Knaab als Carmen Ghia). Und dann ist da noch die blonde Schwedin Ulla, die auf die Hauptrolle scharf ist. An dem Pseudo-Schwedisch, mit dem Emma Kate Nelson sich durch den Abend radebrecht, würde mancher sich gewiss die Zunge verstauchen. Das Philharmonische Orchester Hagen stimmt unter der Leitung von Steffen Müller-Gabriel großstädtischen Big-Band-Sound an und setzt mit Zitaten von Richard Wagner und Anklängen an die Nationalhymne satirische Akzente.

Am Ende strebt niemand vorzeitig zur Garderobe. Alle stehen, jubeln, feiern die Produktion mit Klatschmärschen. Die fiktiven Kritiken, die Max Bialystock mit wachsender Verzweiflung vorliest, treffen letztlich ins Schwarze: „Es war hanebüchen, es war anstößig, es war beleidigend, und wir haben jede Minute genossen“.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen unter www.theaterhagen.de, Karten: Tel 02331/207-3218.)




Sonnengesang: Das Konzerthaus Dortmund ehrt die Komponistin Sofia Gubaidulina mit einem „Zeitinsel“-Festival

Gütig, offen, neugierig und engagiert: So wird die Komponistin Sofia Gubaidulina von denen beschrieben, die sie kennen. (Foto: Jan Northoff)

Für einen Moment kommen ihr fast die Tränen. „Sie müsste doch jetzt hier sein!“, sagt Elsbeth Moser mit zittriger Stimme, als sie auf der Bühne im Konzerthaus Dortmund über ihre langjährige Freundin spricht: über die 91-jährige Komponistin Sofia Gubaidulina, die hier eine große Ehrung erfährt, inzwischen aber zu krank ist, um das ihr gewidmete „Zeitinsel“-Festival mitzuerleben.

Vier Tage lang traten in Dortmund Menschen auf, die der im tatarischen Tschistopol geborenen Russin und ihrem Werk besonders nahestehen. Musikerinnen wie Elsbeth Moser, eine Virtuosin auf dem „Bajan“ genannten Knopfakkordeon aus Osteuropa, für die Gubaidulina viele Werke geschrieben hat. Wegbegleiter wie Hans-Ulrich Duffek, ehemals Direktor des Hamburger Musikverlags Sikorski, der ihre Werke im Westen verbreitet hat. Künstler wie der Bratschist Antoine Tamestit, der ihr half, die Solostimme ihres Bratschenkonzerts noch einmal zu überarbeiten, und der Cellist Narek Hakhnazaryan, Zögling des von ihr verehrten Mstislaw Rostropowitsch.

Sofia Gubaidulina im Gespräch mit dem Konzerthaus-Intendanten Raphael von Hoensbroech. (Foto: Jan Northoff)

So gewinnt das Porträt einer außergewöhnlichen Frau Konturen, die in der Sowjetunion staatliche Repression erlitt und sich trotzdem nicht beugte. Die von Dmitri Schostakowitsch auf ihrem Weg bestärkt wurde. Deren Violinkonzerte durch die Widmungsträger Gidon Kremer und Anne-Sophie Mutter in aller Welt erklangen. Die seit 1992 in der Nähe von Hamburg lebt und es wie kaum eine andere schafft, das Publikum mit zeitgenössischer Musik zu berühren. Es gibt einen sehr persönlichen Ton in ihren Werken, einen intensiven und sinnlichen Ausdruckswillen.

Der nimmt in ihrem Bratschenkonzert nahezu gestische Qualität an. Antoine Tamestit schickt die ersten Töne in den Raum wie einen Hauch, führt auf seinem Instrument ein einsames Selbstgespräch, das sich verdichtet. Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien setzt unter Dirigent Duncan Ward erst spät ein, als gewollt düsterer, schwerfällig seufzender Gegenspieler. Wie Tamestit dagegen ackert und wühlt, wie Orchester und Solist dann zueinander finden, um sich erneut in der Isolation zu verlieren, ist ein Erlebnis.

Für die spirituelle Dimension der tief gläubigen, russisch-orthodoxen Komponistin steht ihr „Sonnengesang“ nach dem gleichnamigen Gebet des Franz von Assisi. Es ist eine Musik am Rande der Stille, erfüllt von Klosteratmosphäre, vom mystischen Sprechgesang tiefer Männerstimmen. Im Dauerklingen von Wassergläsern gerät manches silbrig ins Schweben.

Elbeth Moser spielt das „Bajan“ genannte osteuropäische Knopfakkordeon, Gewicht: 13 Kilogramm. (Foto: Petra Coddington)

Das ist bei Gubaidulina kein Anbiedern an esoterische Moden, sondern ähnelt eher den Klanggespinsten eines Anton Webern. Dieser asketische Ernst wird von den Interpreten unterstrichen. Das Chorwerk Ruhr, der Cellist Narek Hakhnazaryan und zwei Schlagzeuger entfalten unter Dirigent Michael Alber großartige Kompetenz. Die Uraufführung des für die gleiche Besetzung geschriebenen Auftragswerks „Lo frate sole“ von Martin Wistinghausen wird so ebenfalls zum Erfolg.

Querverbindungen zu Johann Sebastian Bach dürfen bei diesem Festival nicht fehlen. Elsbeth Moser (Bajan), Kathrin Rabus (Violine) und Narek Hakhnazaryan (Cello) verschränken die Werke „Silenzio“, „In croce“ und „De profundis“ mit Auszügen aus Bachs Suiten für Violoncello solo. Sie alle ruhen auf einem unsichtbaren Gerüst von Zahlen, schaffen innere Ordnung, sprechen von nicht erklärbaren Gewissheiten. Auch dies vielleicht ein Grund für die Anziehungskraft von Gubaidulinas Musik: Sie gibt Halt in den Wirren der Zeit, einen festen Punkt außerhalb der Erde, der es vermag, die Welt aus den Angeln zu heben.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Die hohe Kunst der Heuchelei: Das Opernstudio NRW zeigt seine Abschlussarbeit in Gelsenkirchen

Der Wundertheaterdirektor (Christopher Hochstuhl) und seine Gefährtin (Rina Hirayama). (Foto: Sascha Kreklau / Musiktheater im Revier)

Die Komponistenfreundschaft zwischen Karl Amadeus Hartmann und Hans Werner Henze verband zwei ungleiche Charaktere. Hartmann, gebürtiger Münchner, war bodenständig und familienbezogen, gewann aus seiner gesellschaftlichen Position Sicherheit im Auftreten. Henze, früh auf der Flucht aus dem westfälischen und kleinbürgerlichen Milieu, fühlte sich eher als Außenseiter, versteckte sich gerne hinter Luxus und Masken.

Wie gut beide trotzdem harmonieren können, zeigt die Abschlussproduktion des Opernstudios NRW, die auf der kleinen Bühne des Musiktheaters Gelsenkirchen Premiere hatte. Unterstützt durch Gäste, verbinden die acht Mitglieder des aktuellen Jahrgangs Henzes Kurzoper „Das Wundertheater“ mit Hartmanns fünfteiligem „Wachsfigurenkabinett“, das erst durch Henzes Ergänzungen vollständige Form annahm.

Hinter der vermeintlich kleinen Produktion verbirgt sich ein großer Aufwand. Es braucht ein äußerst variables Bühnenbild, minutiöse Arbeit mit dem Orchester und jede Menge Kostüme, um die Miniaturen zur Bühnenreife zu bringen. Obwohl Dirigent Gregor Rot kurzfristig einspringen musste und die Probenarbeit durch Corona-Ausfälle immer wieder torpediert wurde, ist das Ergebnis erstaunlich gelungen. Das junge Gesangsensemble findet einen sorgsam präparierten Boden vor, auf dem es seine Stärken ausspielen kann.

Der ukrainische Bassist Yevhen Rakhmanin als Gobernadór. (Foto: Sascha Kreklau / Musiktheater im Revier)

In der turbulenten, aber nie nervig überdrehten Regie der Budapesterin Zsófia Geréb zeigen die Sängerinnen und Sänger hingebungsvolle Lust an der Farce. Die Kunst, sich selbst und andere zu belügen, feiert dabei fröhliche Urständ: zunächst in Henzes „Wundertheater“, das angeblich nur von jenen Zuschauern gesehen werden kann, die in einer rechtmäßigen und christlichen Ehe gezeugt wurden.

Im Bühnenbild von Ivan Ivanov, einer doppelseitigen Showtreppe mit mittig eingebautem Theatervorhang, wird bald geheuchelt, dass sich die Balken biegen. Die Rokoko-Kostüme (ebenfalls von Ivanov) unterstreichen die aufgeblasene Moral der Figuren. Auch das Orchester setzt Ausrufungszeichen: Paukenschläge, Trompeten-Signale und affektiert gedrechselte Instrumentalsoli machen die Ironie des Spiels zum Vergnügen. Die Neue Philharmonie Westfalen ist unter Gregor Rots Dirigat herrlich punktgenau.

In Hartmanns „Wachsfigurenkabinett“ setzt sich dieser Esprit fort. Wanderprediger, Trunkenbolde, eine allzu rasch trostbereite Witwe und amerikanische Idole wie Charlie Chaplin und Henry Ford paradieren vorbei. Mögen Orte und Szenen auch gleitend wechseln, der Opportunismus, der hier satirisch aufgespießt wird, bleibt eine Konstante. Für die guten Gesangsleistungen seien einige exemplarisch genannt: der elegante und doch kraftvolle Bariton des Ukrainers Oleh Lebedyev, der durchschlagskräftige Sopran der Südkoreanerin Heejin Kim und der lyrische Tenor des Amerikaners Christopher Hochstuhl.

In einem Bogen führt die Regie den Ausgang des Spiels zum Anfang zurück. „Jetzt schnell ein Liebesduett und dann ins Bett“, hatte Hartmanns „Witwe von Ephesus“ kurz zuvor noch gewitzelt. Dass das nicht so platt ankommt, wie es beim Lesen klingt, sagt einiges über den fein gemachten Abend.




Wir sind Helden: Das Theater Hagen inszeniert ein Rock-Konzert zum Mitfeiern

Trio infernale: Vanessa Henning, Patrick Sühl und Hannes Staffler heizten die Stimmung im Theater Hagen mächtig an. (Foto: Matthias Jung)

Zum Finale lässt das Theater Hagen es noch einmal richtig krachen. Bringt die große Show auf die kleine Bühne. Feuert kurz vor Spielzeitende am 12. Juni alles heraus, was seine Abteilungen zu bieten haben, inklusive Bühnentechnik, Kostümabteilung, Beleuchtungsmeister, Tänzer, Sänger, Musiker und Sound-Designer. „Heroes“ heißt dieses theatralische Rock-Konzert zum Mitfeiern, in Anlehnung an den gleichnamigen Hit von David Bowie.

Thilo Borowczak, Disponent und Oberspielleiter des stets von Unterfinanzierung bedrohten Theaters, setzt damit ein Erfolgsformat fort. Schon die von ihm inszenierte Undergroundparty „Take a Walk on the Wild Side“ sorgt seit der Premiere im Jahr 2018 für ausverkaufte Vorstellungen. Mit „Heroes“ folgt jetzt eine Neuauflage, in der die Besucher ein Stück ihrer eigenen musikalischen Sozialisation wiederfinden: von den Rolling Stones bis zu Adele, von The Doors bis Pink.

Was dabei herauskommt, ist mehr als eine Hitparade, mehr auch als eine Ranschmeiß-Orgie an das Publikum. Das liegt an der durchdachten Abfolge der Songs, die oft gesellschaftskritisch sind, aber auch von den individuellen Nöten der Jugend erzählen. Es geht um Sehnsucht, Sex, Liebeskummer und Einsamkeit, manchmal auch um schieren Hedonismus, wie ihn Robbie Williams‘ Ohrwurm „Let me entertain you“ prototypisch zelebriert.

Hannes Staffler als „Englishman in New York“ von Sting. (Foto: Matthias Jung)

Selbstredend surft der Abend auf der Erfolgswelle berühmter Songs. Aber die fließenden Übergänge schmieden aus einzelnen Titeln ein größeres Ganzes. Dabei helfen die Drehbühne und Videobilder, die für Stings „Englishman in New York“ die passende Skyline herbeizaubern, aber auch Zeitgeschichte Revue passieren lassen. Das ist nicht immer ungefährlich. Wenn die Regie zu John Lennons „Imagine“ einen Drohnenflug über zerstörte ukrainische Städte einblendet und im direkten Anschluss Freddy Mercurys pathetisches „The Show must go on“ folgen lässt, bleibt die Botschaft irritierend unklar.

Die Bühnenshow ist aber sondergleichen. Hans-Joachim Köster entfesselt ein verschwenderisches Spektakel aus Scheinwerfer-Effekten, Kunstnebel, Pyrotechnik und Glitzer-Konfetti. Lena Brexendorff ergänzt das durch einen Kostümrausch, der immer neue Überraschungen bietet. Bis zur Erschöpfung verausgaben sich neben den Tänzern drei Sänger, die authentisch bleiben, obwohl sie in die Fußstapfen von Superstars treten.

Bühnenspektakel: Die Show „Heroes“ lädt zum Mitfeiern ein. (Foto: Matthias Jung)

Vanessa Henning, Hannes Staffler und Patrick Sühl rocken im Wortsinne das Haus. Ihre stimmliche Flexibilität reicht für phonstarke Exzesse von Nirvana, aber auch für den erotischen Blues von Amy Whinehouse und den Gentleman-Sound von Sting. Unter der musikalischen Leitung von Andres Reukauf heizen sie die Temperatur im Saal kontinuierlich auf. Im Parkett und auf den Rängen feiern die jung Gebliebenen, die sich gerne an die Revolten von einst erinnern, mit Kissenschlacht und Klatschmärschen.

(Weitere Termine: 16. Juni, 31. August, 25. September, 30. Oktober, 26. November. Karten unter Tel 02331/207-3218 oder unter www.theaterhagen.de)




Neustart nach der Zwangspause: Das Konzerthaus Dortmund stellt das Programm der Spielzeit 2021/22 vor

Die Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla verabschiedet sich am 2. Juli 2022 in Dortmund mit einem Mitsing-Konzert. (Foto: Ben Ealovega)

Vom Glauben, es ließe sich alles im Leben zu einem späteren Zeitpunkt nachholen, hat mancher im langen Lockdown schmerzlich Abschied nehmen müssen. Großem Engagement zum Trotz konnte auch das Team vom Konzerthaus Dortmund nicht verhindern, dass die Pandemie ein ganzes Jahr von der sorgsam geplanten Residenz der Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla gestohlen hat.

Die quirlige Maestra aus Litauen ist international derart gefragt, ihr Terminplan auf Jahre hinaus so gefüllt, dass viele der mit Herzblut geplanten Projekte unwiederbringlich verloren sind. So heißt es beim Mitsingkonzert am 2. Juli 2022 Abschied nehmen von der energiegeladenen Exklusivkünstlerin, die in ihrem dritten und letzten Jahr in Dortmund – wenn das Coronavirus es zulässt – eine konzertante Aufführung von Leoš Janáčeks Oper „Das schlaue Füchslein“ dirigieren wird (21. November 2021). Im März steht außerdem ihr Lieblingskomponist Komponist Mieczysław Weinberg im Fokus, dessen 3. und 4. Sinfonie die Dirigentin am 26. und 27. März mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra aufführt.

Der Pianist András Schiff wird als „Curating Artist“ sein eigenes kleinen Festival innerhalb der neuen Saison konzipieren. (Foto: Priska Ketterer)

Wer das gewohnt umfang- und inhaltsreiche Saisonbuch durchblättert, wird unschwer selbst seine Favoriten herauspicken oder auch Entdeckungen machen. Die bewährten Reihen wurden beibehalten: die Zeitinsel (sie gilt diesmal dem 1979 in Prag geborenen Ondřej Adámek), Musik für Freaks, Neuland, das Pop-Abo, die Meisterkonzerte mit internationalen Spitzenorchestern, die Orgelkonzerte, Lieder- und Chansonabende. Zudem gibt es eine Meisterklasse mit dem Pianisten András Schiff, der als „Curating Artist“ Freunde einladen und sein eigenes kleines Festival innerhalb der Saison gestalten darf.

Zur festlichen Saisoneröffnung im Herbst (4. September) spielt das Orchestre Philharmonique de Radio France unter der Leitung seines Chefdirigenten Mikko Franck. Auf dem Programm stehen Tschaikowskys berühmte 6. Sinfonie (Pathétique) und das 2. Cellokonzert von Dmitri Schostakowitsch, gespielt von der Argentinierin Sol Gabetta.

Sol Gabetta spielt im Eröffnungskonzert das 2. Cellokonzert von Dmitri Schostakowitsch mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France. (Foto: Julia Wesely)

Sein Versprechen, Musiker mit Ausfall-Zahlungen zu unterstützen, hat Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech gehalten: Das bestätigt er auf Nachfrage. Die November- und Dezemberhilfen der Ministerien hätten dem Konzerthaus geholfen, die finanzielle Lücke durch den Wegfall der Ticketverkäufe auszugleichen. „In der nächsten Saison hängt viel davon ab, ob es einen Wirtschaftlichkeits-Fond geben wird oder nicht“, sagt der Intendant, der sich bei der Pressekonferenz nicht nur für die ungebrochene Treue der Sponsoren und Förderer bedankt, sondern auch beim Publikum, das bereits gekaufte Tickets großzügig in Spenden umgewandelt hat. Dieser Verzicht auf Rückerstattungen hat dem Haus rund 250.000 Euro eingebracht.

Die Nachwuchs-Reihe „Junge Wilde“ hebt von Hoensbroech auch deshalb so hervor, weil sie das Pech hatte, gleich dreimal von den zahlreichen Konzertabsagen betroffen zu sein. Vom 1. Oktober 2021 an sollen sie die Nachwuchs-Musikerinnen und -Musiker endlich wieder an den Start dürfen: Christina Gansch (Sopran), Jean Rondeau (Hammerklavier), Isata Kanneh-Mason (Klavier), Christina Gómez Godoy (Oboe), Noa Wildschut (Violine) und Vivi Vassileva (Percussion) stehen für eine neue Generation auf ihrem Weg ins internationale Konzertgeschehen.

Erwähnt sei ein Konzerthaus-Debüt, das die Fans großer Gesangsstimmen aufhorchen lassen dürfte: Die Sopranistin Marlis Petersen wird am 12. November 2021 einen Liederabend mit Werken von Johannes Brahms, Franz Liszt, Gabriel Fauré, Hugo Wolf und anderen geben. Ob die konzertante Aufführung von Richard Wagners „Rheingold“ (28. April 2022) an den überragenden Abend im Mai 2017 unter dem Dirigat von Marek Janowski herankommt, wird sich noch erweisen müssen. Die Voraussetzungen stehen keinesfalls schlecht: Das Rotterdam Philharmonic Orchestra und Dirigent Yannick Nézet-Séguin reisen mit prominenter Sänger-Riege an, darunter abermals Michael Volle (Wotan), Samuel Youn (Alberich), Gerhard Siegel (Loge) und Christiane Karg (Freia).

Sir Simon Rattle wird mit dem London Symphony Orchestra Mahlers 10. und Bruckners 4. Sinfonie aufführen. Auch François-Xavier Roth wird das Orchester am 4. April 2022 dirigieren. (Foto: Pascal Amos Rest)

Ein Wort noch zur Dortmunder Residenz des London Symphony Orchestra, die wegen der Pandemie ohne Auftakt ins zweite Jahr gehen muss. Am 24. und 25. September 2021 sind die Londoner mit ihrem Chefdirigenten Sir Simon Rattle zu erleben – noch, muss man hinzufügen. Denn der Maestro mit dem silbernen Lockenschopf wird in der Saison 2023/24 Nachfolger von Mariss Jansons beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Der Brexit, so heißt es, habe den Briten ebenso nach München getrieben wie die schwindende Aussicht auf einen neuen Konzertsaal, der einer Metropole wie London angemessen wäre.

(Das neue Saisonbuch kann hier heruntergeladen werden: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/erleben/publikationen/. Ticket-Hotline 0231 – 22 696 200. Die Tageskasse im Foyer ist bis auf Weiteres geschlossen.)




Ovationen vor dem Verstummen: Das Konzerthaus Dortmund ging mit einem Beethoven-Marathon in den erneuten Lockdown

Die Musiker des Belcea Quartetts: Krzysztof Chorzelski (Viola), Axel Schacher (Violine), Antoine Lederlin (Cello) und Corina Belcea (v.l. Foto: Marco Borggreve)

Beethoven hat das letzte Wort. Am Tag vor dem erneuten Lockdown, der auch die Kultur- und Veranstaltungsbranche zum Erliegen bringt, zeigen zwei führende Streichquartette unserer Zeit im Konzerthaus Dortmund, welchen Gipfel- und Endpunkt die Gattung durch den Jahresjubilar erreichte.

Das Belcea Quartet und das französische Quatuor Ébène wechseln sich bei einem musikalischen Marathon ab, der durch acht der insgesamt 16 Werke führt, die Beethoven zu dieser Königsdisziplin der Komponisten beitrug.

Gleichwohl mag Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech die Schließung des Betriebs nicht unkommentiert lassen. Er greift vor Beginn zum Mikrophon, um sich gegen das „undifferenzierte Vorgehen“ der Politik zu wehren: „Wir werden die Pandemie nicht durch die Schließung der Kultur in den Griff bekommen. Die Theater und Philharmonien sind keine Infektionsorte!“ Dass er Eigeninteressen vertritt, verhehlt er keineswegs („Ich bin vom Intendanten zum Lobbyisten geworden“). Stimmungsmache kann man ihm indessen nicht vorwerfen. Er erinnert an die Not der Solo-Selbständigen und verkündet, den Musikern Ausfall-Zahlungen leisten zu wollen.

Damit sind wir entlassen in den Kosmos der Beethoven-Streichquartette, der die Widrigkeiten dieser Welt auf Zwergenmaß schrumpfen lässt. Das Programm umfasst drei Beispiele aus der frühen Werkgruppe Opus 18, drei Stücke aus der mittleren Schaffensperiode und zwei Spätwerke. So lässt sich nachverfolgen, wie Beethoven sich mit zunehmend kühner Experimentierlust über alles hinaus schrieb, was seinen Zeitgenossen verständlich war.

Wie souverän er sich schon früh vom Vorbild Haydns und Mozarts absetzt, zeigt das Belcea Quartet zu Beginn mit Opus 18 Nr. 3 (aus dem Jahr 1799). Die helle, freundliche Grazie des Tonfalls findet eine wunderbare Entsprechung in den silbrig schimmernden Höhen von Corina Belceas Violinklang. Aber in den Ecksätzen künden Akzente bereits von einer typischen, robusten Energie. Auch das zunächst friedvolle Andante con moto hat es in sich: Es erreicht mit seinen Einzeltönen und Pausen einen erstaunlich modern wirkenden Minimalismus.

Im 1808 komponierten Opus 59 Nr. 1 hat diese Handschrift deutlich an Ausdruckskraft gewonnen. Mit einer Mischung aus Disziplin und Spielfreude fächert das Belcea Quartet eine Palette auf, die vom nahezu rhapsodischen Anfangsthema im Cello zu Tonwiederholungen führt, die mal ruppig klopfen, mal elfengleich trippeln wie in Mendelssohns Sommernachtstraum. Die langen Bögen des Adagio geraten seidig fein ins Schweben, wie von milder Melancholie durchleuchtet.

Das Quatuor Ébène: von links Raphaël Merlin (Cello), Pierre Colombet (Violine), Gabriel Le Magadure (Violine), Marie Chilemme (Bratsche. Foto: Julien Mignot)

Es erscheint nahezu unwirklich, wie locker das Quatuor Ébène diese hohe Interpretationskunst noch übertrifft. Die Franzosen musizieren mit entwaffnender Natürlichkeit und einem bezwingenden Willen zum Wesentlichen. Wie sehr sie sich auf Beethovens Rhetorik verstehen, zeigen nicht allein die raffinierten Gegenakzente im Trio von Opus 18 Nr. 5. Bestechend synchron artikulierend, rücken sie das Andante in die Nähe der „Szene am Bach“ aus der 6. Sinfonie („Pastorale“), erreichen gar einen rustikalen Vorgriff auf Schubert’sche Forellen-Munterkeit. Sie beherrschen ein Pianissimo mit Fernklang-Effekt, leuchten Abgründiges mit dunklem Feuer aus, bevor sie weiche, schneehelle Gefilde vor uns entfalten.

Das späte Streichquartett op. 131 aus Beethovens vorletztem Lebensjahr spielen die Franzosen vollends aus Zeit und Raum heraus. Was hier zusammentrifft, gleicht einer Quadratur des Kreises: abgeklärt und überhastet, grüblerisch und übermütig, bizarr und wild und witzig in einem. Wenn das Cello das letzte Adagio mit einer grimmigen Floskel beiseite fegt, ist der Gipfel der Kompromisslosigkeit erreicht. Das Quatuor Ébène feuert uns Pizzicati um die Ohren und spielt mit dem Bogen so nahe am Steg, dass sich ein eisiger Schauer in die Raserei mischt. Das Publikum spendet Ovationen, bevor es sich in den November des Verstummens zerstreut. Das letzte Wort aber hat Beethoven.




Vom Glück des Vergessens: Die Sächsische Staatskapelle Dresden gastiert mit ihrem Geburtstagsprogramm in Köln

Myung-Whun Chung ist Erster Gastdirigent der traditionsreichen Sächsischen Staatskapelle Dresden. (Foto: Jean-François Leclercq)

Vor Konzertbeginn gibt es einen kleinen Werbeblock. Louwrens Langevoort, seit nunmehr 20 Jahren Intendant der Kölner Philharmonie und Geschäftsführer der KölnMusik GmbH, geht angesichts der Kritik am Hygienekonzept des Hauses in die Offensive.

Der Mund-Nasenschutz, der in Köln während der gesamten Veranstaltung getragen werden muss, schmälere das Musikerleben nicht: „Ich habe das an mir selbst festgestellt. Sie werden sich daran gewöhnen, die Musik wird Sie die Maske vergessen lassen“, beteuert der Intendant dem halb vermummten Publikum. Wärmstens, ja beinahe flehentlich empfiehlt er dann den Erwerb von Abonnements. Das ist kein Zufall, denn der Besucherrückgang ist offenbar dramatisch. Selbst Pressesprecher Sebastian Loelgen hat die Auslastung der ortsansässigen Zeitung gegenüber „katastrophal“ genannt.

Der Vertrag von Louwrens Langevoort, Intendant der Kölner Philharmonie, wurde bereits im Dezember 2018 bis 2025 verlängert. (Foto: Matthias Baus)

Geduldig warten die Gäste während Langevoorts Ansprache auf den eigentlichen Beginn. Die Sächsische Staatskapelle Dresden, 1548 durch Kurfürst Moritz von Sachsen ins Leben gerufen, ist mit dem gleichen Programm nach Köln gereist, mit dem sie einen Tag zuvor in der Heimatstadt ihren 472. Gründungstag gefeiert hat. Nicht Chefdirigent Christian Thielemann, sondern der dem Orchester seit langem verbundene Koreaner Myung-Whun Chung übernimmt dabei die Leitung. Ihm voran betritt der Pianist András Schiff die Bühne: Der Ungar eröffnet den Abend mit dem 1. Klavierkonzert von Johannes Brahms.

Ein Feingeist wie András Schiff und ein pianistisches Schlachtross wie dieses Erstlingswerk, das der noch junge Brahms sich über Jahre hinweg mühevoll abrang? Das ist eine Kombination, über die Kenner sich wundern mögen. Indessen bezwingt András Schiff den etwa 50-minütigen, sinfonisch geprägten Koloss auch ohne Kraftmeierei. Innig und lyrisch setzt er mit dem Nebenthema ein, mit einem sanglichen Klang voller Wärme und Tiefe. Statt die Oktaven mit Virtuosenpranke heraus zu donnern, bleibt sein Spiel stets sorgfältig artikuliert, beinahe analytisch. Schiffs Zugriff wirkt zuweilen eher akademisch als heroisch. So bleibt er sich selbst treu, ohne dass es dieser wuchtigen Musik zum Nachteil gereichte.

Sir András Schiff ist der Säsischen Staatskapelle Dresden in der Saison 2020/21 als „Capell-Virtuos“ verbunden. (Foto: Nicolas Brodard)

Im Adagio erreicht András Schiff die ganze Höhe seiner Kunst. Er gestaltet es zu einem inwendig leuchtenden Lied ohne Worte, grüblerisch und weltverloren. Das Orchester begleitet ihn mit so samtig-feinem Pianissimo, dass man den Atem anhalten möchte. Der Pianist nimmt abschließende Rondo eher spielerisch als dramatisch, muss ob der zu bewältigenden Notenmasse aber doch einmal durchschnaufen. Das Intermezzo op. 118/2 von Johannes Brahms, mit dem er sich für den begeisterten Applaus bedankt, fließt in schönster Poesie und mit einem Hauch von Wehmut dahin.

Ohne Pause folgt die 7. Sinfonie von Antonín Dvořák, in der die Sächsische Staatskapelle höchste Erwartungen an künstlerische Exzellenz erfüllt. Naturlaute tönen uns aus dem ersten Satz entgegen, feines Waldweben der Streicher und silbern sprudelnde Klänge der Holzbläser. Bruchlos wandern die Motive von einer Instrumentengruppe zur anderen: Die Verblendung des Gesamtklangs ist umwerfend edel. Wer jetzt ganz Ohr ist, vergisst die Gesichtsmaske darüber gründlich.

Im Pianissimo, das zarte Transparenz mit romantischem Schimmer verbindet, kommt pure Magie auf. Dieses Orchester lässt keine Wünsche offen: Es hat Feuer und Eleganz, größte Geschmeidigkeit in den Übergängen von einer Lautstärke zur anderen und Holzbläser, die das Wort Intonationsproblem nicht einmal vom Hörensagen zu kennen scheinen.

Im Scherzo entzückt der Wechsel von tänzerischer Beschwingtheit und explosiver Energie. Myung-Whun Chung, der den gesamten Abend auswendig dirigiert, zögert die Rückkehr des Hauptthemas um eine nonchalante Prise heraus. Die Staatskapelle folgt ihm voller Flexibilität und Grazie. Ob die Wiener Philharmoniker das wohl noch charmanter hinbekämen? Das Finale erinnert mit seinem Jubelklang an die Arie der Elisabeth aus Richard Wagners Tannhäuser. „Dich, teure Halle, grüß‘ ich wieder“: nach der langen Corona-Zwangspause dürfte dieser Anklang in vielen Konzertbesuchern ein Echo finden.

(Informationen zum Programm der Philharmonie Köln: https://www.koelner-philharmonie.de/de/ )




Minizyklus ohne Mundschutz: Krystian Zimerman spielt in Dortmund die Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven

Krystian Zimerman gibt nicht mehr als 50 Konzerte im Jahr. Er reist fast immer mit seinem eigenen Instrument an und führt auf Tourneen mehrere Klaviaturen mit. (Foto: Bartek-Barczyk)

Als ungebetener Gast hat das Corona-Virus die Feierlichkeiten zu Ludwig van Beethovens 250. Geburtstag arg durcheinandergebracht. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr 2020 musste das Bonner Beethovenfest auf das nächste Jahr verschoben werden: Es soll nun vom 20. August bis 10.September 2021 über die Bühne gehen.

Weil ein Großteil der geplanten Veranstaltungen vorerst nicht stattfinden kann, verlängert die eigens gegründete Beethoven Jubiläums GmbH (BTHVN2020) ihr Programm ebenfalls bis September 2021. An Aufführungen des größten Chorwerks des Komponisten, der wuchtigen „Missa solemnis“, ist wegen der nicht ausreichend geklärten Gefahr durch Aerosole kaum zu denken.

Vor der Sommerpause nahezu komplett ins Internet gezwungen, nimmt das öffentliche Konzertleben nun allmählich wieder Fahrt auf: Wenn auch mit angezogener Handbremse. Viele Veranstalter haben ihre Programme gekürzt, bieten 70-minütige Konzerte ohne Pause und ohne gastronomisches Angebot an. Die Säle sind lückenhaft gefüllt, weil die Besucher, die bis zum Konzertbeginn Masken tragen und Hygieneregeln beachten müssen, nur mit entsprechenden Abständen Platz nehmen dürfen. An den Anblick von Dirigenten und Solisten, die das Podium mit Maske betreten und sich per Ellenbogen begrüßen, wird man sich womöglich gewöhnen müssen.

Der Pianist Krystian Zimerman indessen trägt bei seinem jüngsten Auftritt im Konzerthaus Dortmund keinen Mund-Nasen-Schutz. Gemeinsam mit dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg und dem Dirigenten Gustavo Gimeno zollt er dem Beethovenjahr mit einer Gesamtaufführung der Klavierkonzerte Tribut, verteilt auf drei Termine und verknüpft mit Schlüsselwerken der Zweiten Wiener Schule. Für diese sind jeweils die Streicher des Orchesters zuständig.

Beim Auftakt spielen sie die Fünf Sätze op. 5 von Anton Webern: flüchtige Miniaturen von insgesamt kaum mehr als zwölf Minuten Länge, im Jahr 1909 ursprünglich für Streichquartett komponiert. Die Musiker aus Luxemburg entfalten die fragilen Tonschöpfungen mit viel Fingerspitzengefühl, sind in den schnellen Sätzen aber durchaus fähig zu ruppigen Fortissimo-Ausbrüchen. Trotz der Kürze der Sätze beweisen sie einen ausgeprägten Sinn für deren jeweilige Atmosphäre. Grüblerisch grundiert klingt der zweite Satz, wolkig und diffus der vierte, beide mit der Tempobezeichnung „Sehr langsam“. Der lebhafte dritte Satz endet mit einer nachgerade hektisch auffahrenden Unisono-Floskel. Diffus und dünn, sogar morbide dann der Schluss, in dem die Töne wie kraftlos niedersinken, bevor sie sich ins Nichts verlieren.

Krystian Zimerman tritt zuweilen auch als Dirigent auf. Zu Chopins 150. Todestag gründete er 1999 das Polish Festival Orchestra (Foto: Bartek-Barczyk)

Der weitaus größere Teil des Abends aber gehört Beethovens Klavierkonzerten Nr. 2 (B-Dur) und Nr. 1 (C-Dur), in denen Krystian Zimerman sich als der Grandseigneur am Flügel erweist, als den ihn die Musikwelt kennt und schätzt. Einen Hauch von Exzentrik erlaubt er sich, wenn er im B-Dur-Konzert nachgerade säuselnd einsetzt, wenn er dessen Mozart’schen Figurationen und Verspieltheiten zuweilen mehr Nebel als Prägnanz verleiht. Dabei wirkt die Klangbalance mit dem Orchester nicht immer glücklich. Mancher Lauf im Klavier geht beinahe unter, und manches Tutti trumpft arg mit Lautstärke auf.

Indessen ist Zimerman keiner, der unbedingt brillieren muss. Er kann sich mit der Gelassenheit des Meisters zurücknehmen, mit dem Orchester dialogisieren, im Adagio ein paar hingetupften Tönen edle Ausdruckstiefe und marmorgleiche Schönheit verleihen. Robuster greift er im abschließenden Rondo zu, das dann auch gleich mehr nach Beethoven als nach Mozart klingt. Obschon Zimerman die Moll-Wendungen weit weniger vehement spielt als andere, spricht aus den Vorschlägen sprühende Spielfreude, ebenso wie aus den leuchtenden Trillern im Diskant.

Diese Eindrücke bestätigen sich nach der Pause im C-Dur-Konzert. Vieles klingt kernig, manches aber auch unerklärlich verwaschen. Ein Hauch von Exzentrik fehlt ebenfalls nicht: den Abwärtslauf vor der Reprise spielt Zimerman als Glissando. Hernach blickt er nachdenklich auf seine strapazierten Fingerkuppen. Aber wie er im Adagio kaum mehr Klavier spielt, sondern tönende Gedanken schweifen lässt, wie er auf der friedvollen Klangfläche inwendig singende Schnörkel zieht, ist einfach und groß. Mitreißend im Rondo seine Freude am rhythmischen Drive, am brillanten Furor dieses Finales. Mehrfach lockt ihn das Publikum nach den Schlusstakten durch begeisterten Applaus hervor. Beim letzten Mal hat Zimerman schließlich doch eine Maske in der Hand.

Die Künstler setzen die Gesamtaufführung der Klavierkonzerte am 3. Oktober (Nr. 3) und am 25. Oktober (Nr. 4 und 5) fort. Tickets und Informationen:

https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/287/?saison=202021




Märchenhaft und phantastisch: Eine konzertante Aufführung der Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ in Dortmund

Der Frankokanadier Yannick Nézét-Séguin und das Rotterdam Philharmonic Orchestra sind einander durch zehn Jahre der Zusammenarbeit verbunden. (Foto: Petra Coddington)

Ein grässlicher Schrei entringt sich der Kehle der Amme. Ihr tückisches Spiel ist aus: Von der Kaiserin verstoßen, vom Boten des Geisterkönigs Keikobad verbannt, muss sie die Bühne verlassen, auf der an diesem Abend die Oper „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss gegeben wird. Mit ihrem Abgang ist im Konzerthaus Dortmund der Weg frei für das große Happy End, für den ekstatischen Schlussjubel, der vom Publikum mit tobender Begeisterung erwidert wird.

Über das gewöhnliche Maß gehen diese Bravostürme weit hinaus. Sie sind einerseits Reaktion auf die kolossalen Klangeruptionen dieses Zaubermärchens, das von der Menschwerdung der aus dem Geisterreich stammenden Kaiserin erzählt. Durch den selbstlosen Verzicht auf eigene Kinder – symbolisiert durch den Schatten – wächst diese Frau zu unerwarteter Größe. Andererseits zollt das Publikum einer Interpretenriege Dank, die diese konzertante Opernaufführung zu einem überwältigenden Strauss-Fest erhebt.

Wo anfangen bei so viel Exzellenz? Bleiben wir zunächst bei der Amme, deren mephistophelische Natur durch Michaela Schuster packende Präsenz annimmt. Die Mezzosopranistin, als Sängerdarstellerin ein regelrechtes Bühnentier, gibt diesem Zwischenwesen die lauernde Gespanntheit einer Elektra, die auffahrende Herrschsucht einer Klytämnestra und die schmeichlerischen Zwischentöne einer Schlange.

Die aus Südafrika stammende Sopranistin Elza van den Heever sang die Partie der Kaiserin. An ihrer Seite war der Amerikaner Stephan Gould als Kaiser zu erleben. (Foto: Petra Coddington)

Ihr Gegenpol ist die feenhafte Kaiserin, die Dank Elza van den Heever tatsächlich einer anderen Welt entstiegen scheint. Ihr gläsern leuchtender Sopran bringt es auch nach kraftvollen Flügen durch stratosphärische Höhen fertig, in ein mädchenhaft-zartes Piano zurückzufinden. An ihrer Seite ist Stephan Gould ein Kaiser mit heldischem Tenor, der sich unbedingt Bahn bricht, sei es zuweilen auch mit Überdruck.

Bombenstark bei Stimme ist auch das Menschenpaar. Michael Volle singt den herzensguten Färber Barak, dem die abweisende Kälte seiner Frau arg zusetzt, mit einer vollklingend-sonoren Wärme zum Dahinschmelzen. Lise Lindstrom erhebt die Färberin zur heimlichen Hauptfigur. Unfassbar, mit welchem Volumen sie sich in immer neue Spitzen trotzigen Zorns hineinsteigert, mit welch glühender, zuweilen auch schneidender Leidenschaft sie noch im äußersten Fortissimo-Getümmel triumphiert. Zugleich lässt sie uns die Verzweiflung einer Frau spüren, die sich nicht gesehen und nicht verstanden fühlt.

Eine Ehe voller Spannungen führen der Färber Barak (Michael Volle) und seine Frau (Lise Lindstrom. Foto: Petra Coddington)

Die Nebenfiguren, der Rotterdam Symphony Chorus und der von Zeljo Davutović einstudierte WDR Kinderchor Dortmund tragen sämtlich ihren Teil zum Ausnahmerang dieses Abends bei.

Indessen muss nun endlich vom Rotterdam Philharmonic Orchestra die Rede sein, das unter seinem ehemaligen Chefdirigenten Yannick Nézét-Séguin die überbordende Phantastik und die raffinierte Instrumentationskunst der Partitur auskostet, dass einem schier die Ohren übergehen. Das Orchester nimmt uns mit auf eine Reise, die im rasenden Galopp durch drei Welten führt, die uns durch finsterste Abgründe bis in silberhelle Sphären der Verklärung begleitet. Es ist ein Rausch, eine prunkvolle, exotisch gefärbte Orgie des Klangs, transparent gehalten bis in die kammermusikalischen Details. Die Musik ist aus, aber ihr ätherisches Glücksleuchten bleibt.

(Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Formstrenge hüben wie drüben: Pierre-Laurent Aimard verschränkt in Dortmund Musik von Kurtág und Bach

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard hat mit vielen Komponisten unserer Zeit eng zusammengearbeitet. (Foto: Marco Borggreve)

Pierre-Laurent Aimard ist ein großer Meister darin, bekannte Musik in neuem Licht erscheinen zu lassen. Unvergessen ist sein Klavierabend im Liszt-Jahr 2011, bei dem er eine frische Sicht auf die grandiose h-Moll-Sonate des Komponisten ermöglichte.

Indem er sie in den Kontext der „Schwarzen Messe“ von Alexander Skrjabin und der Klaviersonate Opus 1 von Alban Berg stellte, schenkte er dem viel geschundenen Stück seine eminente Bedeutung auf dem Weg zur musikalischen Moderne zurück.

Wie viel Gedankenarbeit der Franzose in seine Programme steckt, war jetzt auch bei der Kurtág-Zeitinsel im Konzerthaus Dortmund zu erleben. Kurze Klavierstücke des Ungarn, entnommen der noch immer anwachsenden Sammlung „Játékok“ (Spiele), verschränkte er mit Musik von Johann Sebastian Bach, vornehmlich mit den Präludien und Fugen aus dem „Wohltemperierten Klavier“.

Pierre-Laurent Aimard wurde 2007 mit dem renommierten Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet. (Foto: Marco Borggreve)

Diese Idee ist zwar nicht gänzlich neu: Bereits auf einer 1997 erschienen CD kombinierten Kurtág und seine Frau Márta vierhändige „Játékok“-Stücke mit Bach-Transkriptionen. Gleichwohl verrät die von Aimard getroffene Werkauswahl unendlich viel Sorgfalt. Denn wie sich Spielfreude und Formstrenge bei beiden Komponisten vereinen, zeigt sich oftmals in den Übergängen. Kurtágs Klavierstück für Dóra Antals Geburtstag schließt so passgenau an Bachs leuchtende Fuge Nr. 17 As-Dur (BWV 862) an, als handle es sich um ein zeitgenössisches Echo.

Bei Aimard reiht sich ein erhellender Augenblick an den nächsten. Wenn Bach in Präludium und Fuge Nr. 16 g-moll (BWV 861) mit allmählich schneller werdenden Trillern experimentiert, folgt gleich darauf eine Kurtág-Miniatur, die vom Wechselspiel zwischen zwei Noten lebt. Die gläsernen Spieluhr-Klänge des Präludiums Nr. 23 H-Dur (BWV 868) finden in Kurtágs „Spiel mit dem Unendlichen“ eine direkte Entsprechung.

Wer den Konzeptkonzerten von Pierre-Laurent Aimard folgt, gerät unweigerlich ins Nachdenken. Warum sind die meisten von uns bereit, einer mit mathematischer Akribie konstruierten Bach-Fuge zu folgen, während wir gegen zeitgenössische Musik nur allzu leicht den Vorwurf erheben, sie klinge verkopft und wie auf dem Reißbrett entworfen? Weckt ein komplizierter Kontrapunkt aus Bachs „Kunst der Fuge“ wirklich mehr Emotionen als Kurtágs vielfarbig oszillierendes Stück „In memoriam András Myhály“?

Der Höhepunkt ist erreicht, wenn Aimard das Stück „In memoriam György Szoltsányi“ beinahe ohne Pause in die Fuge Nr. 12 f-moll (BWV 857) übergehen lässt. Man möchte sich die Ohren reiben: Haben die Töne, die der Pianist mit der linken Hand spielt, überhaupt noch einen harmonischen Bezug? Ist das jetzt noch Kurtág oder doch schon Bach? Erst als die Nebenstimmen hinzukommen, erkennen wir den Thomaskantor wieder.

Von Aimards unbedingtem Ausdruckswillen, der zuweilen auch heftiges Schnaufen und Brummen zur Folge hat, von seiner Konzentrationsfähigkeit und vom wunderbaren Farbenreichtum seines Spiels war bis hierher noch nicht einmal die Rede. Indessen ist dies auch als Kompliment zu verstehen. Aimards sensationell kluge Programme lassen alles pianistische Handwerk in den Hintergrund treten.




Herzstück mit Hölderlin: Der Bariton Benjamin Appl bereichert die Kurtág-Zeitinsel in Dortmund mit zwei Uraufführungen

Der Bariton Benjamin Appl reiste nach Budapest, um mit dem Komponisten György Kurtág dessen Hölderlin-Lieder einzustudieren. (Foto: Petra Coddington)

Drei Stunden Probe für einen einzigen Takt Musik. Sechs Tage Arbeit an einem Liedzyklus von lediglich zwölf Minuten Dauer. Wie viel Beharrlichkeit und Einsatzbereitschaft mag der Bariton Benjamin Appl wohl in seinen Koffer gepackt haben, bevor er nach Budapest reiste, um dem legendären Komponisten György Kurtág zu begegnen? Im Vorfeld des aktuellen Zeitinsel-Festivals im Konzerthaus Dortmund hatte er sich darum beworben, die Hölderlin-Lieder des nunmehr 93-Jährigen einzustudieren.

Von einem Filmteam und vom Intendanten Raphael von Hoensbroech begleitet, ließ Benjamin Appl sich auf das Wagnis ein. Kollegen hatten ihn gewarnt vor der minutiösen Genauigkeit des Komponisten, vor seiner zuweilen unerbittlichen Jagd nach feinsten Nuancen des Ausdrucks. Aber der junge Interpret und der hoch betagte Tonschöpfer fanden zu intensiver künstlerischer Verständigung. Das zeigte ein Werkstatt-Abend, der vom Konzerthaus als das Herzstück des Festivals angekündigt wurde.

Im dritten der Hölderlin-Lieder erhält der Sänger Unterstützung durch einen Posaunisten und einen Tubisten. (Foto: Petra Coddington)

Für einen kleinen Kreis von Hörern, die auf der Bühne Platz nehmen durften, sang Appl die aphoristisch kurzen Hölderlin-Lieder gleich zweimal: zu Beginn und zum Abschluss des Konzerts. Er gestaltete seine bezwingend intensive Interpretation beinahe im Alleingang, lediglich im dritten Lied dezent unterstützt von einem Tubisten (Thomas Kerstner) und einem Posaunisten (Berndt Hufnagl). Seinen samtig wohlklingenden Bariton führte der Sänger dabei vom inwendigen Summen über einen gehetzten Sprechgesang bis zu nachgerade heraus gebellten Fortissimo-Ausbrüchen.

Die Kompetenz, die Benjamin Appl von Kurtág persönlich erworben hat, wird ihm so rasch niemand streitig machen. Zwei weitere Hölderlin-Vertonungen des Komponisten brachte er in Dortmund gar zur Uraufführung: „Das Angenehme dieser Welt“ und „Brief an die Mutter“. Die Chance, den Abend als kleinen, aber feinen Beitrag zum Hölderlin-Jahr 2020 zu begreifen, ließ das Konzerthaus Dortmund freilich links liegen. Das Programmheft erwähnt den 250. Geburtstag des Dichters mit keinem Wort.

Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech (l.) und der Bariton Benjamin Appl im Gespräch. (Foto: Petra Coddington)

Der musikvermittlerische Gewinn des Abends ergab sich aus dem Mittelteil. In einem Podiumsgespräch tauschten sich der Sänger und der Intendant lebhaft über ihre Begegnung mit György Kurtág und seiner Frau Márta aus. Die Filmausschnitte von der Probenarbeit zeigten die nachgerade symbiotische Verbindung dieses Paars, das der Tod im Oktober 2019 auseinanderriss – nach mehr als 70 Jahren Ehe.

Seit seiner Gründung im Jahr 1974 wurden dem Arditti Quartet mehrere hundert Kompositionen gewidmet. (Foto: Petra Coddington)

Auf die Frage nach seinem Fazit der Tage in Budapest reagierte der Sänger, zuvor durchaus zu ironischen Kommentaren aufgelegt, auffallend nachdenklich. Kurtág habe etwas zu sagen, das man im auf Äußerlichkeiten und Hochglanzfotos fixierten Musikbetrieb kaum noch finde. „Er trägt ganze Welten in sich, einen unglaublichen inneren Reichtum. Es geht ihm stets um Wahrhaftigkeit.“

Zur Eröffnung des Festivals hatte das Arditti Quartet am Vortag gezeigt, wie Kurtágs Streichquartette sich von den zögerlich-spärlichen Klangereignissen seines Opus 1 bis zu den „Six moments musicaux“ op. 44 immer stärker verdichten. Höchst reizvolle Kontrapunkte auf diesem Weg waren der noch spätromantisch geprägte „Langsame Satz Es-Dur“ für Streichquartett von Anton Webern und das unglaublich farbenreiche, von Humor und tänzelndem Walzercharme durchwehte Streichquartett Nr. 1 von Kurtágs Landsmann und Kollegen György Ligeti.

(Die Kurtág-Zeitinsel setzt sich noch bis 6. Februar fort. Informationen: https://www.konzerthaus-dortmund.de/kurtag/ )




Uneitle Spielfreude: Mitsuko Uchida und das Mahler Chamber Orchestra begeistern im Konzerthaus Dortmund mit Mozart

Die Pianistin Mitsuko Uchida, Trägerin der „Goldenen Mozart-Medaille“ und des „Praemium Imperiale“, ist seit 2016 Artistic Partner des Mahler Chamber Orchestra (Foto: Justin Pumfrey)

Was hat dieser Wolfgang Amadeus Mozart nicht alles in seine Klavierkonzerte gesteckt! Verschiedenste Welten sind darin enthalten, Biotope eigener Natur, über deren Vielfalt sich nur fassungslos staunen lässt.

In ihnen begegnet uns der Opernkomponist, der Kammermusiker, der Lebemann und der Tragiker, der Konzertpianist und der Sinfoniker. Mit leichter Hand zieht Mozart einen überraschenden Joker nach dem anderen aus dem Ärmel.

Wie schwer das scheinbar Mühelose zu erreichen ist, lassen die Pianistin Mitsuko Uchida und das Mahler Chamber Orchestra im Konzerthaus Dortmund völlig vergessen. Die britische Pianistin japanischer Herkunft, die an diesem Abend zwei Mozart-Konzerte vom Flügel aus dirigiert, steckt alle im Saal mit ihrer überströmenden, gänzlich uneitlen Spielfreude an. Sie befeuert das Orchester, das ihr hellwach folgt: mit schlankem Klang, wenig Vibrato und beredter Agogik. Sie spürt Mozarts Partituren bis in die feinsten Verästelungen nach, meist quirlig vital, in den langsamen Sätzen aber auch mit stiller Wahrhaftigkeit.

Das mit zahllosen Charakteren jonglierende Konzert Nr. 17 G-Dur (KV 453) im Innersten zusammen zu halten ist ein Kunststück, das Uchida mit Leichtigkeit gelingt. Von der entwaffnenden Klarheit und Natürlichkeit ihres Spiels fordert die Position des dirigierenden Solisten aber doch einen kleinen Preis. Der Klang des Flügels, mittig und ohne Deckel im Orchester aufgestellt, büßt etwas an Kontur ein und hat im Dialog mit dem Orchester ein paar Probleme mit der Balance zur Folge.

Am hohen Niveau der Interpretationen kommt gleichwohl kein Zweifel auf. Das Konzert Nr. 22 Es-Dur (KV 482) entzückt mit dem imperialen Ton von Pauke und Trompeten, mit wunderbar empfindsamen Dialogen der Holzbläser und mit der trüb gefärbten, milden Klage im Andante. Uchida steigert sich immer weiter in Mozarts virtuose Läufe hinein: Hier brilliert eine Künstlerin, der es völlig fern liegt, glänzen zu wollen.

Die Deutsche Erstaufführung von Jörg Widmanns Choralquartett in der Fassung für Kammerorchester wirkt zwischen den beiden Klavierkonzerten keinesfalls wie ein Einschnitt. Widmann bezieht sich ausdrücklich auf alte musikalische Traditionen, hier insbesondere auf die „Sieben letzten Worte“ von Joseph Haydn. Das Werk beginnt stockend, mit leisen Einzeltönen und vielen Pausen. Das Mahler Chamber Orchestra zaubert auf der nun dämmrig abgedunkelten Bühne eine dichte, wie vom Nebel umflorte Atmosphäre, die von gelegentlich aufzuckenden Klangeruptionen nicht durchbrochen wird. Flöte, Oboe und Fagott steuern vom ersten Rang herab wunderbare Klangfarben bei.

Vermutlich hat Mitsuko Uchida hinter der Bühne interessiert gelauscht. Mit einem kurzen Stück von Arnold Schönberg zeigt sie in einer Zugabe, dass ihre Sympathien nicht nur Mozart, Beethoven und Schubert, sondern auch der musikalischen Moderne gelten.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Kurz, kürzer, Kurtág: Das Konzerthaus Dortmund ehrt Ungarns großen Komponisten mit einem fünftägigen „Zeitinsel“-Festival

György Kurtág und seine Frau Márta bei der Probenarbeit mit dem Bariton Benjamin Appl. (Foto: Konzerthaus Dortmund)

Wie der Zoom einer leistungsstarken Kamera wirken die „Zeitinseln“ im Konzerthaus Dortmund. Wenn das mehrtägige Minifestival Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts in den Fokus nimmt, erscheinen diese plötzlich verblüffend nahe. Ob Alban Berg oder Olivier Messiaen, Béla Bartók oder György Ligeti, George Benjamin oder Bernd Alois Zimmermann: Sie alle nehmen durch diese Konzertreihe faszinierend lebendige Gestalt an.

Daran haben die jeweils eingeladenen Interpreten einen großen Anteil, wie sich auch in der kommenden Zeitinsel zeigen wird. Vom 2. bis 6. Februar ehrt das Konzerthaus Dortmund den Ungarn György Kurtág, einen der bedeutendsten Komponisten unserer Zeit. Er gilt als Meister der musikalischen Miniatur, als einer, der einen extrem verknappten, nachgerade aphoristischen Stil pflegt, der gleichwohl maximalen Ausdruck erreicht.

Dortmunds Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech zeigt sich von dieser strengen Konzentration auf das Wesentliche äußerst fasziniert: „Es ist unglaublich, wie er mit ein paar Tönen ganze Welten öffnet.“ Mehr als ein Jahr Vorbereitungszeit und mehrere Reisen nach Budapest haben er und sein Team in diese Zeitinsel investiert. Kurtágs Vorstellungen in die nächste Generation zu tragen, sei dabei das Hauptanliegen, sagt der Intendant.

György und Márta Kurtág (Foto: Judith Marjai)

Folgerichtig bildet ein Gesprächskonzert mit dem jungen Bariton Benjamin Appl (3. Februar) das Herzstück der kommenden Hommage. Er wurde von Kurtág ausgewählt, um unter seiner Anleitung die „Hölderlin-Gesänge“ für Bariton, Posaune und Tuba einzustudieren. An den Proben im Budapester Music Center nahm auch Kurtágs Frau Márta teil, die im Oktober 2019 verstarb – nach mehr als 70 Jahren Ehe.

Wie bereichernd diese exklusive, aber auch anstrengende Arbeit letztlich für alle Seiten war, hat das Konzerthaus per Film festgehalten. Wenn Appl die Hölderlin-Gesänge am 3. Februar aufführt, werden Teile dieser Dokumentation im Anschluss zu sehen sein. Ein Podiumsgespräch mit dem Sänger wird weitere Einsichten eröffnen, bevor er das Werk ein zweites Mal interpretiert. Dieser nachgerade musikvermittlerische Abend wird durch die Uraufführung von Kurtágs Hölderlin-Vertonungen „Das Angenehme dieser Welt“ und „Brief an die Mutter“ gekrönt.

Den Startschuss am 2. Februar gibt indessen das Arditti Quartett mit György Kurtágs Streichquartett op. 1, mit dem der Komponist sich aus einer fundamentalen Schaffenskrise befreite. Die vier Streicher, deren Erfahrung auf dem Gebiet der musikalischen Moderne kaum überboten werden kann, lassen diesem wichtigen Meilenstein Quartette von Anton Webern und György Ligeti sowie zwei weitere Kurtág-Werke folgen.

Der Franzose Pierre-Laurent Aimard bereichert die Kurtág-Zeitinsel am 4. Februar durch einen Klavierabend. (Foto: Marco Borggreve)

Péter Halász, Kurtágs Lektor bei der Edition Musica Budapest, wird am 4. Februar die Einführung zu einem Klavierabend von Pierre-Laurent Aimard geben. Der Franzose, der eng mit vielen Komponisten unserer Zeit zusammenarbeitete, wird Kurtágs „Játékok“-Miniaturen im Wechsel mit den Präludien und Fugen aus Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ spielen, um das Spiel mit Proportionen und Formprinzipien aus der Perspektive zweier Epochen zu beleuchten.

Ähnlich aphoristisch wie Kurtágs Tonsprache sind die Verse der russischen Dichterin Rimma Dalos, die den Komponisten zu seinem Liedzyklus „Szenen aus einem Roman“ inspirierte. Er bildet am 5. Februar den Schluss- und Höhepunkt eines Konzerts der Reihe „Musik für Freaks“. Caroline Melzer (Sopran), Nurit Stark (Violine), Luigi Gaggero (Cymbal) und Uli Fussenegger (Kontrabass) umrahmen den Zyklus mit Musik von Claudio Monteverdi bis Béla Bartók.

Ein moderiertes „Happy Hour“-Konzert gibt das WDR-Sinfonieorchester Köln am 6. Februar. Unter der Leitung des Rumänen Cristian Macelaru erklingen Kurtágs „Grabstein für Stephan“ für Gitarre und Orchester und sein Werk „Stele“ op. 33. Hinzu treten Béla Bartóks Rhapsodie für Violine und Orchester op. 15c sowie „Levante für Orchester“ des 52-jährigen Rumänen Dan Dediu. Bereits ausverkauft ist der Abschluss der Zeitinsel: Die „Kafka Fragmente“ op. 24 für Sopran und Violine werden am 6. Februar im „domicil“ an der Hansastraße aufgeführt, unterstützt von filmischen Installationen. Caroline Melzer (Sopran) und Nurit Stark (Violine) unternehmen diesen musikalischen Streifzug durch die Lebenswelt des berühmten Schriftstellers.

Obwohl der legendäre Komponist seine Wohnung im Budapester Music Center aufgrund seines hohen Alters nicht mehr verlässt, kommt man ihm durch dieses Festival denkbar nahe. Im Konzerthaus-Foyer rundet eine Ausstellung mit Zitaten, Zeichnungen und Manuskripten von Kurtág die Zeitinsel ab. Die Hommage verdankt sich auch der engagierten künstlerischen Planung der Konzerthaus-Mitarbeiterin Marie-Sünje Schade und der Unterstützung durch die Kunststiftung NRW.

(Informationen/Karten: https://www.konzerthaus-dortmund.de/kurtag/ )




Von himmlischen Freuden und Grausamkeiten: Hélène Grimaud und die Bamberger Symphoniker in der Philharmonie Essen

Die französische Pianistin Hélène Grimaud wurde 1969 in Aix-en-Provence geboren (Foto: Mat Hennek)

Ein scharfer Peitschenknall eröffnet Maurice Ravels Klavierkonzert G-Dur. Das für diesen erschreckenden Effekt notwendige Musikinstrument besteht aus zwei Holzlatten mit Griffen, die über ein Scharnier oder einen Riemen miteinander verbunden sind und zur Klangerzeugung gegeneinandergeschlagen werden.

In der Philharmonie Essen fällt dadurch der „Startschuss“ für die französische Pianistin Hélène Grimaud, die derzeit eine kleine Serie von acht Konzerten mit den Bamberger Symphonikern unter Chefdirigent Jakub Hruša gibt. Sie setzt mit quirligen Figurationen ein, deren gleichförmige Motorik sie mit eiserner Disziplin durchhält. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, hätten die Bamberger Symphoniker den rhythmisch vertrackten Beginn dieses übermütigen „Allegramente“ nicht so gründlich verpatzt. Wo die Partitur Präzision benötigt, damit alle Stimmen sich ineinanderfügen, wackelt und klappert dieser Beginn wie eine schlecht konstruierte Mühle.

Aber Hélène Grimaud lässt sich an diesem Abend nicht beirren. Ihr Zugriff auf Ravels Konzert, das in den Ecksätzen so wunderbar kurzweilig ist, setzt mehr auf französische Clarté als auf Jazz-Anleihen à la George Gershwin, wie sie sich in Blues-Klängen und im Aufjaulen der Klarinette bemerkbar machen. Ihr Klavierklang ist gläsern und unsentimental, ihr rhythmischer Drive zwingend. Im tiefgründigen zweiten Satz ist sie aber auch die große Poetin, die ebenso stille wie wehmütige Zwiesprache mit den Holzbläsern hält. Flöte, Englischhorn und Fagott begleiten sie denn auch wunderbar innig und elegisch. Indessen bleiben im Orchester Tempoprobleme bestehen, was umso erstaunlicher ist, als man den Taktstock von Chefdirigent Jakub Hruša zuweilen förmlich hören kann.

Es fehlt die Mahler’sche Morbidität

Mit abrupter Zeichengebung, die oft auf zackig getrimmt wirkt, leitet der Dirigent nach der Pause Gustav Mahlers 4. Sinfonie. Unter seinen zuweilen weit ausladenden Gesten erwächst eine Interpretation, die manches anreißt und zugleich viel vermissen lässt. Zwar sind die Einbrüche des Trivialen in der Partitur erkennbar, aber es fehlt die höhnische Schärfe, der wie ein Messer aufgleißende Spott.

Den schwelgerisch wiegenden Passagen der Streicher mangelt es am Herzenston. Obwohl das Poco Adagio über dem Puls der Bässe ins Schweben gerät, obwohl Oboe und Fagott in ihren Soli melancholischen Trauerflor tragen, fehlt die Mahler’sche Morbidität, der seinem Schönklang innewohnende Stachel der Vergänglichkeit. Der Orchesterklang fächert sich gegen Ende auf wie bei einer Orgel. Aber das kosmische Leuchten aus Mahlers weltabgewandten Weiten bleibt uns verwehrt.

Unter Hrušas Vorgänger Jonathan Nott haben die Bamberger Symphoniker eine ebenso hoch gelobte wie vielfach ausgezeichnete Gesamtaufnahme der Mahler-Sinfonien vorgelegt. Der seit 2016 amtierende Chefdirigent scheint Probleme zu haben, die Musikerinnen und Musiker zu motivieren und für sich zu gewinnen. Zuweilen wirkt er wie mit sich selbst beschäftigt. Das bekommt auch die Sopranistin Kateřina Kneziková zu spüren, die nicht auf größere Rücksichtnahme rechnen darf, wenn sie im Finale die „himmlischen Freuden“ besingt. Aber die sind, folgen wir dem Text aus „Des Knaben Wunderhorn“, auch nicht ganz frei von Grausamkeiten.




Spiel mit barocken Formen: Der Pianist Igor Levit trat mit einem ausgeklügelten Programm im Konzerthaus Dortmund auf

Igor Levit wurde 1987 in Nishni Nowgorod geboren und kam im Alter von acht Jahren mit seiner Familie nach Deutschland. (Foto: Felix Broede)

Manche Pianisten weichen selten von ihrem kleinen, im Konzertsaal erprobten Repertoire ab. Andere setzen auf Fingerakrobatik, auf den Virtuosenrausch Liszt’scher Prägung, um ihr Publikum zu überwältigen. Wieder andere verwenden viel Mühe auf die Werkauswahl, weil sie einem Konzept folgen: einem gedanklichen Faden, der die Stücke zu einem größeren Ganzen bindet und im Idealfall neue Perspektiven auf bekannte Stücke eröffnet.

Igor Levit, der stets repertoirehungrige Notenverschlinger, stellte bei seinem ersten Auftritt im Konzerthaus Dortmund jetzt hohe Ansprüche an seine Zuhörer. Wer mit barocken Formen wie der Ciaconna und der Passacaglia, mit Kompositionstechniken wie der Fuge und dem Kontrapunkt wenig vertraut ist, dürfte schwer Zugang zu diesem Abend finden. Die Raritäten aus alter und neuer Zeit, die Levit zusammengestellt hat, sind ernsten Charakters und erlauben dem Zuhörer kein wohliges Zurücksinken in den Sitz.

Die Chaconne aus Johann Sebastian Bachs d-Moll Partita für Violine Solo gibt den Grundton vor. In ihr sind Choräle versteckt, die um das Thema Tod und Auferstehung kreisen. Levit spielt sie in der Fassung von Johannes Brahms für die linke Hand allein, gibt ihr Wärme und zugleich stille, eindringliche Askese. Als wolle er sich selbst befeuern für die immer neuen, immer prachtvolleren Variationen, lässt Levit die rechte Hand zuweilen gestisch mitgehen, obwohl er sie für dieses Stück nicht benötigt.

Etwas spröde Kost sind die 2014 entstandenen Klavierstücke „Dreams II“ des Amerikaners Frederic Rzewski, der von einem Film von Akira Kurosawa zu diesem Werk inspiriert wurde. Aber Levit, der sich nachhaltig für die Musik von Rzewski einsetzt und dieses Werk 2015 zur Uraufführung brachte, macht die fünf Episoden zu einer sinnlichen Erfahrung. Er spürt den Klängen intensiv nach, scheint nachzulauschen, wie Rzewskis Impressionen ihre Wirkung im Raum entfalten: mal zart wogend, mal impressionistisch verwischt, dann wieder mit der Strenge alter Formen.

Ein Fest barocker Variationslust ist die um 1670 entstandene Passacaglia von Johann Kaspar Kerll, mit der es nach der Pause weitergeht. In knappen sieben Minuten erklingen darin nicht weniger als 40 Abwandlungen auf einer immer gleichen Bassfigur. Levit lässt sie mit überquellender Spielfreude aufrauschen, mit einer leuchtenden Klarheit des Tons.

Zum Abschluss konfrontiert uns der Pianist mit einem Werk des exzentrischen Italieners Ferruccio Busoni. Aus dessen Arbeit an Johann Sebastian Bachs unvollendeter „Kunst der Fuge“ entstand eine Hommage, die als „Fantasia contrappuntistica“ Eingang in Busonis Werksverzeichnis finden sollte. Ihr Oktavgedonner, das sich bis in expressionistisch zugespitzte Klanggewitter steigert, verlangt das technische Rüstzeug eines Liszt-Interpreten und die Fähigkeit, einen kontrapunktisch komplexen Satz transparent darzustellen. Levit besitzt beides. Vehement schraubt er sich in die Steigerungen hinein, ohne verstörende harmonische Reibungen zu glätten. Dann wieder lässt er die Musik in ein fahles Pianissimo zurücksinken, in dem er sich gleichsam suchend und tastend vorwärtsbewegt.

Die Begeisterungsstürme, die Levit für diesen Abend erntet, sind mit seinem Bekanntheitsgrad allein nicht zu erklären. Er scheint ein Publikum anzuziehen, das für Anspruch und Qualität dankbar ist.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen)




Kassenschlager im Doppelpack: Das London Symphony Orchestra spielt Bruch und Tschaikowsky in Dortmund

Janine Jansen stammt aus einer Musikerfamilie. Ihr Großvater leitete einen Kirchenchor, ihre Mutter sang im Kirchenchor, ihr Vater Jan und Bruder David spielen Cembalo, ihr älterer Bruder Maarten Violoncello. (Foto: Harald Hoffmann/Decca)

Rücken und Schulter machen der berühmten Geigerin Janine Jansen häufig zu schaffen. Die aus dem niederländischen Soest (Provinz Utrecht) stammende 41-Jährige pflegt eine sehr bewegungsfreudige Art des Violinspiels, bei der sie die Schultern auffallend hochzieht. Das entspricht dem überbordenden Temperament der Künstlerin, würde jedoch gewiss keine Empfehlung eines Physiotherapeuten erhalten.

Zur Saisoneröffnung Mitte September 2019 hatte sie dem Konzerthaus Dortmund krankheitsbedingt absagen müssen. Nun trat sie mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Gianandrea Noseda auf, im Gepäck eines der meistgespielten und populärsten Violinkonzerte überhaupt: Max Bruchs Erstling g-Moll op. 26, gewidmet dem legendären Joseph Joachim. Die ungeheure Beliebtheit des Werks, die dem Komponisten bereits zu Lebzeiten zum Ärgernis wurde, stellt jeden Interpreten vor die Frage, was aus diesem schier totgespielten Stück noch herauszuholen ist.

Eine völlig neue Lesart zu versuchen, müsste wohl mit Verzerrung, ja Entstellung der Partitur enden. Janine Jansen zielt gar nicht erst darauf ab. Stattdessen vertraut sie auf die Stärken ihres Spiels. Auf den zupackenden Biss ihrer dreistimmigen Akkorde. Auf ihr Vibrato, das in der Introduktion entspannt und weit schwingt, in der Beschleunigung aber eine brennende Intensität erzeugt. Auf die wunderbar gedeckten Farben in der Mittellage ihrer Stradivari, die sie im Adagio in langen ruhigen Bögen ausspielt.

Doppelgriffe mit geradezu sportiver Energie

Besonders authentisch gelingt ihr das Finale mit seinem kraftvoll federnden Hauptthema. Janine Jansen geht das von der Hand wie geschnitten Brot. Ihre Doppelgriffe besitzen eine furiose, nachgerade sportive Energie. Dezimaufgänge schleudert sie mit vollem Schwung in den Raum. Sie setzt nadelfeine Akzente, ihre Läufe sind von quecksilbriger Beweglichkeit, und die Presto-Stretta lässt an Rasanz nichts zu wünschen übrig.

Mit Peter Tschaikowskys 5. Sinfonie folgt nach der Pause ein weiterer Kassenschlager. Hier findet sich das London Symphony Orchestra, das in Bruchs Violinkonzert noch zu recht knalligen Tutti neigte, allmählich besser mit der Akustik des Saals zurecht. Gianandrea Noseda, erster Gastdirigent des Orchesters, animiert das LSO zu einer Fassung, der tänzerische Bewegtheit wichtiger ist als die schwerfällig stapfenden Marschrhythmen. Nichts an dieser Interpretation ist zäh, aber manches Crescendo rauscht so schnell auf, dass auf dem Weg zum Höhepunkt einiges an Spannung verschenkt wird.

Emotionale Extremzustände scheint Noseda eher glätten zu wollen. Gleichwohl führt er das zu Beginn düster vorgetragene Thema der tiefen Klarinetten überzeugend bis zum apotheotischen Schluss-Hymnus. Das Finale bricht aus dem Korsett eines ästhetisch-romantischen Tschaikowsky-Klangs aus. So erhält diese Fünfte zum guten Schluss ein paar eindrucksvolle Ecken und Kanten. Das Blech klotzt selbstbewusst los, die Trompeten schmettern Triumph, die Streicher rasen mit einer weiß glühenden, zugespitzten Schärfe auf die Ziellinie los. Nach dem Schlusston explodiert der Jubel.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Barock-Show mit erlesenen Spitzen: Cecilia Bartoli widmet dem Kastraten Farinelli in der Philharmonie Essen ein Programm

Cecilia Bartoli, Gianluca Capuano und das Ensemble Les Musiciens du Prince. (Foto: Saad Hamza)

Amüsiert schaut Cecilia Bartoli an sich selbst herab. Auf ihre Beine, die in kniehohen Lederstiefeln stecken, als sei sie ein Musketier. Auf ihr feminin zartes Kleid, das sie vorne hoch gerafft hat, damit der Blick auf eben diese Stiefel frei wird. „Was ist das denn bitteschön für eine verrückte Garderobe?“, scheint ihre selbstironische Grimasse zu fragen. Dann zuckt sie die Achseln, wirft lachend ihre Locken zurück und gönnt ihrem Publikum eine mit rasanten Koloraturen gespickte Zugabe.

Natürlich weiß die temperamentvolle Römerin ganz genau, wie gut diese Aufmachung zu ihrem Programm „Farinelli und seine Zeit“ passt. In der Philharmonie Essen huldigt sie dem wohl berühmtesten aller Kastraten, indem sie mit den Geschlechterrollen spielt und mit Lust an der Kostümierung auf dem Grat zwischen Mann und Frau wandelt.

Zu diesem Zweck verlegt sie ihre Künstlergarderobe auf die Bühne. Barock gewandete Zeremonienmeister schaffen einen großen Schrankkoffer herbei, der Schminktisch und Sichtschutz zugleich ist. Sie lässt das Publikum daran teilhaben, wie sie sich vom knabenhaften Octavian in Cleopatra verwandelt, wie sie sich Perücken aufsetzt und mit flinken Fingern ihre Frisur richtet.

Es ist nicht weniger als eine Show, mit der Cecilia Bartoli und das 2016 von ihr gegründete Barockensemble Les Musiciens du Prince aus Monaco unter der Leitung von Gianluca Capuano derzeit auf Tournee sind. Natürlich dient der Aufwand auch der Werbung für die jüngste CD-Einspielung der Diva. Aber die Präsentation ist zu durchdacht und die Gesangskunst der Bartoli zu groß, um den Abend in eine Varieténummer abgleiten zu lassen. Die Abfolge von Orchesterstücken und Arien ist zu zwei großen Blöcken geformt, die den Zuhörern keine Chance lassen, den Spannungsbogen durch Zwischenapplaus zu zerstören.

Cecilia Bartoli wirbt mit ihrem Farinelli-Programm, das sie nun auch in der Philharmonie Essen präsentierte, für ihre jüngste CD-Einspielung. (Foto: Saad Hamza)

So können sich alle an diesem klug konzipierten Gesamtkunstwerk erfreuen, die Puristen ebenso wie die Fans. Denn musikalisch erweist sich dieser Abend über jeden Zweifel erhaben. Cecilia Bartoli ist im raschen Wechsel barocker Affekte zu Hause wie kaum eine andere. In allen Koloraturgewittern bleibt sie souveräne Herrscherin. Sie besitzt jubelnde Höhen, eine staunenswerte Tiefe, vor allem aber ein hoch entwickeltes Feingefühl, das den Arien aus Farinellis Zeit schier unerschöpfliche Nuancen abgewinnt.

Sie gestaltet Geminiano Giacomellis Arie „Sposa, non mi conosci“ zur großen Klage, lässt die Wogen in Nicola Porporas „Nobil onda“ virtuos aufschäumen, packt in den Jagdklängen von Leonardo Vincis „Cervo in bosco“ mit Vehemenz zu. Das exzellente Orchester, das ihr an lebhafter Gestaltung in keiner Weise nachsteht, unterstreicht die jeweilige Atmosphäre durch Effektinstrumente wie Regenmacher, Windmaschine und Vogelpfeifen.

Antonio Caldaras Arie „Quel buon pastor son io“ wird zu einem der anrührendsten Momente des Abends. Zwischen zartbitterer Melancholie und friedvoller Idylle balancierend, erreicht die Bartoli ein Höchstmaß an Innerlichkeit. Hier wird die Quirlige plötzlich still, breitet die Arme aus, verströmt ihre Seele in Gesang. Das klingt noch lange nach.

(Der Bericht ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen zur Konzertreihe „Alte Musik bei Kerzenschein“ unter https://www.theater-essen.de/philharmonie/themenreihen-2019-2020/alte-musik-bei-kerzenschein/)