Mal woanders hingucken: Das Fremde und das Eigene als „museum global“ im Düsseldorfer K20

Der alte Chef interessierte sich nicht für die politische Korrektheit von Kunstgeschichte. Werner Schmalenbach (1920-2010), bis 1990 amtierender Gründungsdirektor der Kunstsammlung NRW, hatte nur einen Antrieb: „Die Lust auf das Bild“. So nannte er ein Buch über sein leidenschaftliches Leben mit der Kunst.

Lasar Segall: „Encontro", um 1924, Öl auf Leinwand (Acervo Museu Segall - IBRAM/MinC - Foto: © Kunstsammlung NRW)

Plakatmotiv, das die Welten verbindet: Lasar Segall „Encontro“, um 1924, Öl auf Leinwand (Acervo Museu Segall – IBRAM/MinC – Foto: © Kunstsammlung NRW)

Und so, mit den Augen und dem Herzen eines Liebhabers, trug er eine der schönsten Sammlungen der klassischen Moderne zusammen: Picasso, Matisse, Miró, Max Ernst und die anderen Großen. Alles nur westliche Ansichten, findet Schmalenbachs heutige Nachfolgerin Susanne Gaensheimer. Sie hat das Haus umräumen lassen und präsentiert nun mit einem Team von Kuratorinnen im Düsseldorfer K20 ihr „museum global – Mikrogeschichten einer ex-zentrischen Moderne“.

„Postkolonialer Diskurs“

Ex-zentrisch (mit Bindestrich) ist in diesem Fall wörtlich gemeint – weg vom zentralen Gedanken. Viele internationale Institute würden derzeit, erklärt Gaensheimer, ihre „Haltung hinterfragen“. Sie wollten wissen: „Was gab es noch?“ Praktischerweise hat die Professorin schon am Frankfurter Museum für Moderne Kunst, ehe sie ins K20 wechselte, mit Geld und Segen der Kulturstiftung des Bundes eine erste Station des Programms „Museum Global“ vorbereitet. Nach Berlin („Hello World“) ist nun Düsseldorf an der Reihe und beteiligt sich an dem, was Julia Hagenberg, die Leiterin der Abteilung Bildung, den „postkolonialen Diskurs“ nennt.

1965 bis 1985: Bilder von Paul Klee auf Weltreise

Da geht es nicht um die traditionelle Volkskunst Afrikas, die im 20. Jahrhundert von Meistern der Moderne geschätzt, von westlichen Galeristen vermarktet und von Bildungsbürgern gesammelt wurde. Zu heikel. Es geht vielmehr um neue Kunstformen, nach denen auswärtige Maler strebten – zeitgleich mit der europäischen Avantgarde. Die „Mikrogeschichten“ zeigen beispielhaft zwischen 1910 und 1960 entstandene Werke aus Japan, Russland, Brasilien, Mexiko, Indien, dem Libanon und Nigeria. Das Ergebnis sei, findet Gaensheimer, „absolut umwerfend“. Nun ja.

Paul Klee: „Omphalo-centrischer Vortrag", 1939, Kreide und Kleisterfarbe auf Seide und Jute (© Kunstsammlung NRW)

Paul Klee: „Omphalo-centrischer Vortrag“, 1939, Kreide und Kleisterfarbe auf Seide und Jute (© Kunstsammlung NRW)

Der innerste Schatz der Kunstsammlung NRW, ein 1960 von der Landesregierung erworbenes Konvolut von 88 Werken Paul Klees, wird zum „Prolog“ des Unternehmens. Schmalenbach liebte die kleinformatigen Kostbarkeiten wie das „Kamel in rhythmischer Baumlandschaft“ (1920/42) oder den „Schwarzen Fürsten“ (1927). Man kann die poetische Melancholie und Heiterkeit des frühen Bauhausmeisters Klee (1879-1940), der 1933 von den Nazis aus seinem Amt an der Düsseldorfer Kunstakademie vertrieben wurde, durchaus aufspüren. Doch die Werke werden im grau gestrichenen Erdgeschoss recht lieblos präsentiert. Dominant sind Texte, Kataloge, Fotografien, Audiodateien zu Ausstellungen zwischen Jerusalem und Rio de Janeiro, bei denen die Düsseldorfer Klee-Bilder zwischen 1965 und 1985 zu sehen waren: „Eine Sammlung auf Reisen“ mit Weltkarte. Erster Teil der Fleißarbeit.

Expressionismus made in Japan

Im zweiten Stock des Hauses sind zum Glück nicht alle grandiosen Bilder durch Unbekanntes ersetzt worden. Vertraute Prachtstücke werden vielmehr den zum Teil recht beliebigen Leihgaben gegenübergestellt. Kandinskys abstrakte „Komposition IV“ von 1911 zum Beispiel bildet einen sonderbaren Kontrast zu einer naiven Festszene des georgischen Autodidakten Niko Pirosmani (1862-1918).

Yorozu Tetsugoro: „Nude Beauty", 1912, Öl auf Leinwand (Important Cultural Property, The National Museum of Modern Art, Tokyo - Foto: © Kunstsammlung NRW)

Yorozu Tetsugoro: „Nude Beauty (Nackte Schönheit)“, 1912, Öl auf Leinwand (Important Cultural Property, The National Museum of Modern Art, Tokyo – Foto: © Kunstsammlung NRW)

Andere Kombinationen zeigen kuriose Verwandtschaften. Die Ähnlichkeit der 1912 gemalten „Nackten Schönheit“ des an Westkunst stark interessierten Japaners Yorozu Tetsugoro mit Bildern deutscher Expressionisten kann kein Zufall sein. Sein in Japan hochgeschätztes Selbstbildnis übt sich im Stil französischer Impressionisten. Da wirkt Ernst Ludwig Kirchners „Mädchen unterm Japanschirm“ (1909) wie ein stummer ironischer Kommentar.

Westliche Impulse zur Befreiung von Folklore

Wer sich von der eigenen Folklore frei machen wollte, ließ sich vom Westen beeinflussen, das zeigt die Ausstellung deutlich – ob sie es will oder nicht. Nicht nur die Libanesin Saloua Raouda Choucair (1916-2017), die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Pariser Akademie-Klasse von Fernand Léger studiert hatte, reagierte direkt auf die Vorbilder. Ihre kleinen stilisierten Figuren korrespondieren fast rührend mit Légers dominantem Paar „Adam und Eva“. Später wandte sie sich der Abstraktion zu. Die in Ungarn geborene Inderin Amrita Sher-Gil (1913-1941) malte sich selbst 1934 mit nacktem Busen „als Tahitianerin“ – in Anlehnung an Paul Gauguins exotische Schönheiten.

Anlehnung an Gauguin: Amrita Sher-Gil „Self-Portrait as a Tahitian", 1934, Öl auf Leinwand (Collection of Navina and Vivan Sundaram - Foto: © Kunstsammlung NRW)

Anlehnung an Gauguin: Amrita Sher-Gil „Self-Portrait as a Tahitian“, 1934, Öl auf Leinwand (Collection of Navina and Vivan Sundaram – Foto: © Kunstsammlung NRW)

Der Mexikaner Diego Rivera hingegen behielt, wie seine berühmte Gefährtin Frida Kahlo, seinen eigenen, volkstümlichen Stil. Ein Wallpaper mit der Reproduktion eines seiner bäuerlichen Fresken weist darauf hin. Das dunkle, verschmitzte Porträt, das der Italiener Amedeo Modigliani 1914 in Paris von Rivera malte, hat ein anderes, subtileres Niveau.

Verbunden werden die Welten durch das Plakatmotiv: ein kleines neu-sachliches Bild des jüdischen Malers Lasar Segall (1891-1957), der in Berlin und Dresden studiert hatte und 1919 einer der Gründer der avantgardistischen Dresdner Sezession war. „Encontro“ heißt es, Treffen, und zeigt ihn selbst mit dunklem Teint neben seiner sehr weißen Frau Margarete. Sie blicken starr aneinander vorbei. Im Jahr der Entstehung, 1924, trennten sie sich, und Segall emigrierte nach Brasilien, wo er zu großen Ehren kam. Sein monumentales, etwas pathetisches Bild „Emigrantenschiff“ erzählt von den Nöten seiner Zeit und erreicht uns mitten in der neuen Flüchtlingskrise.

Didaktik im offenen Raum

In der Abteilung Nigeria geht es hauptsächlich um die innere Loslösung von der britischen Kolonialherrschaft nach der Unabhängigkeit 1960. Ein Künstlerclub wurde gegründet, Schwarzweiß-Filme schildern ausbeuterische Verhältnisse, ein rotes Ölbild von Ueche Okeke mit abstrahierten Figuren trägt den Titel „Land der Toten“. Bilanz: Große künstlerische Entdeckungen sind im Museum Global nicht zu machen. Es ist eher ein historisch-politisches Interesse, das der Besucher braucht, um das mit wissenschaftlichem Eifer erarbeitete, mit viel Information befrachtete, aber nicht gerade betörende Projekt zu goutieren.

Saloua Raouda Choucair „Paris - Beirut", 1948, Gouache (ç Saloua Raouda Choucair Foundation - Foto: © Kunstsammlung NRW)

Von Fernand Léger beeinflusst: Saloua Raouda Choucair „Paris – Beirut“, 1948, Gouache (© Saloua Raouda Choucair Foundation – Foto: © Kunstsammlung NRW)

Das braucht didaktisches Bemühen. Ein zum Grabbe-Platz hin offener „Open Space“ soll auch museumsferne Gäste ins Haus locken. Es gibt da eine aus ökologisch einwandfreien Hölzern erbaute Arena, Tische, Stühle, Monitore, eine kleine Bibliothek mit Büchern und Spielen, freies WLAN und einen Kiosk für den schnellen Cappuccino. Auf diesem von der Kulturstiftung der Commerzbank finanzierten Spielplatz sollen sich Geist und Körper entfalten, bei afrikanischem Tanz und indischer Philosophie. So entsteht, hofft Stiftungsvorstand Astrid Kießling-Taskin, ein „Dialog mit der Stadtgesellschaft“. Hoffen wir mal.

„museum global: Mikrogeschichten einer ex-zentrischen Moderne“: Bis 10. März 2019 im K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Mi. bis 19 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Zwei deutsch-englische Kataloge sind in Vorbereitung. Ein „Open Space“ mit Café und Rahmenprogramm ist von außen frei zugänglich. www.kunstsammlung.de




Show der Zweifel: „Die große Weltverschwörung“ im Düsseldorfer NRW-Forum

Zweifel sind angebracht. Schon immer war der Sprache nicht zu trauen. Was in der Menschheitsgeschichte als Tatsache verstanden wurde, konnte genauso gut ein Märchen sein oder eine Metapher, getragen von Glauben, Liebe, Hoffnung, Hass. Heute, im Zeitalter des digitalen Zaubers, lügen auch vermeintlich eindeutige Abbilder.

Ausstellungsansicht mit Tony Ourslers (Foto: B. Babic)

Ausstellungsansicht mit Tony Ourslers Arbeit „N^u 2016″, einem sprechenden Kopf. (Courtesy the Artist & Galerie Hans Mayer – Foto: B. Babic / NRW-Forum Düsseldorf)

Fotografien und Filme lassen sich so perfekt verändern, dass niemand die Schnitte bemerkt. Zugleich können sie sich ungehemmt im Netz verbreiten – genau wie Behauptungen aller Art. Den Verschwörungstheorien sind keine Grenzen mehr gesetzt. Im Düsseldorfer NRW-Forum kann man mal darüber nachdenken, an der Welt verzweifeln und sich doch auch darüber amüsieren: „Im Zweifel für den Zweifel“ heißt eine schön maliziöse Kunstausstellung zum Thema Weltverschwörung.

Atmosphäre ist alles, weiß der Hamburger Kurator Florian Waldvogel, der diesen Coup mit Forumschef Alain Bieber ausgeheckt hat. Und so spukt es ganz gehörig in der Schau. Gleich vorne in der Ecke steht ein riesiger flacher Holzkopf des amerikanischen Video- und Installationsmeisters Tony Oursler und flüstert mit wechselnden Mündern und einem beweglichen Auge rätselhafte Dinge. Was hat der von Projektionen belebte Kopf gesagt? „I’m coming to the store now“, er käme jetzt ins Geschäft?

„Habe ich was verpasst?“

Egal, es ist spooky. Das bärtige Gesicht des Mannes scheint nur eine Maske zu sein, hinter der sich allerlei Wesen verbergen. Und wenn Sie das Gefühl haben, da stimme etwas nicht, mag es auch an den Suchscheinwerfern liegen, die, nach dem Konzept des isländischen Kunstmagiers Olafur Eliasson, die Besucher zu verfolgen scheinen („Highlighter“). Ein ebenso einfaches wie treffendes Zeichen für die allgemeine Verunsicherung, an der auch die wissenschaftliche Welt nichts ändern kann, wie man an der wandfüllenden Foto-Collage „Ideologiekritische Studien“ von Holger Wüst sieht. In einem Hörsaal sitzen nur noch Arme, Handys und Laptops, keine Gesichter mehr. Die Büsten der Denker liegen zerbrochen am Boden, dafür wimmelt es von abgedruckten Mails und Chats. An der Wand entziffert man eine kleine handgeschriebene Notiz: „Ich war die letzten 30 Tage gesperrt. Habe ich was verpasst?“

Natürlich, man verpasst immer was. Fakten und die von der Trump-Regierung erfundenen „alternativen Fakten“ fordern die Wahrnehmung heraus. Vieles bleibt dennoch verborgen. Die Londoner Kunst- und Forschungsgruppe „Forensic Architecture“ versucht seit der letzten Documenta, die Aufmerksamkeit für einen deutschen Skandal zu schärfen. Wie das Team unter Leitung von Professor Eyal Weizman mit forensischer Recherche und einem genauen Tatort-Plan offenbart, hat ein verdeckter Mitarbeiter des Verfassungsschutzes 2006 in einem Kasseler Internetcafé einem der rassistisch motivierten NSU-Morde tatenlos zugesehen. Der Mann behauptet bis heute, nichts bemerkt zu haben.

Kakofonie im finsteren Flur

Die Tabellen und Videos zu dem Thema sind allerdings nur für den äußerst geduldigen und wissbegierigen Besucher zu entziffern. Eine allzu akademische Arbeit, leider. Ähnliches gilt für die Arbeit „Hexen 2.0“, in deren Mittelpunkt das Bild einer Wissenschaftler-Runde bei einer Séance 1953 hängt. Mit Tarot-Karten und Anspielungen auf die interdisziplinären Macy-Konferenzen in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg wirft die britische Künstlerin Suzanne Treister komplexe Fragen von Technologie und Glauben, Macht und Fortschritt auf.

Auf der anderen Seite des Erdgeschosses appelliert der Hamburger Musiker und Klangkünstler Felix Kubin zum Glück direkt an unsere Sinne. In einem finsteren Flur werden wir von Geräuschen überrascht: Stimmengewirr, Sprechchöre und Musikfetzen. Tatsächlich hat Kubin diese Kakofonie 2002 bei einer unangemeldeten Demonstration gegen den rechtspopulistischen Innensenator Schill vor dem Hamburger Alsterhaus aufgenommen. In kleinen Gruppen, teilweise mit Weihnachtskappen kostümiert, hatten die Protestler damals die Polizei genarrt, während eine Kaufhauskapelle unverdrossen weiter Adventslieder spielte.

Ein ganz normaler Männerbund

Nach diesem Kopfkino gibt es noch ein paar reizvolle Seh-Aufgaben. Die in Köln lebende Dokumentarfotografin Juliane Herrmann (29) hat sich das Vertrauen der Freimaurer erworben und Einrichtungen sowie Mitglieder der als überaus geheim geltenden Loge in verschiedenen Ländern abgebildet. Ihre geduldig geschaffene Serie „Man among Men“ (Mann unter Männern) ist auch ein Bildband auf dem internationalen Büchermarkt geworden und offenbart nichts Verschwörerisches. Es handele sich, versichert die junge Frau, um einen „ganz normalen Männerbund“ mit humanitärem Hintergrund. Das kann man glauben oder bezweifeln, die Einschätzung steht jedem frei. An Trevor Paglens nüchterner Liste von hoch geheimen amerikanischen Militäraktionen („Top Secret“) hat man auf jeden Fall zu knacken: „Combat Hammer“ oder „Patriot Excalibur“ – das klingt nach nichts Gutem.

Michael Schirner (77), Professor für Kommunikationsdesign, erfolgreicher Werber, Ehrenmitglied des deutschen Art Director Clubs und Erfinder künstlerischer Konzepte, irritiert das Publikum nicht mit Worten, sondern mit großen Fotografien, die einem irgendwie bekannt vorkommen und die man doch nicht identifizieren kann. Kein Wunder: Schirner hat in dieser Serie unter dem subversiven Titel „Bye Bye“ auf bekannten Pressefotos die zentralen Figuren und/oder Gegenstände entfernt. Digital natürlich, also spurlos.

Die Präsenz des Verschwundenen

„WAR70“ zeigt Blumen am Ehrenmal der Helden des Ghettos von Warschau ohne Willy Brandt, der in diesem Moment 1970 hier seinen historischen Kniefall machte. „MUN72“ – das ist der Betonbalkon im Olympischen Dorf von München ohne den vermummten Terroristen, der 1972 dort stand und das Ende der friedlichen Spiele markierte. Und „BEI89“ verweist ganz leise auf das Massaker am Tor des Himmlischen Friedens in Peking. Man sieht nur einen kleinen Mann mit Einkaufstüte im Vordergrund. Die Panzer, denen er gegenüberstand, sind verschwunden. Das Bedrohliche existiert nur in der Erinnerung des Betrachters. Faszinierend und beunruhigend, auch wenn Ästhet Schirner betont: „Es ist einfach ein irrsinnig schönes Bild!“

Auf jeden Fall ist es ein klares, ruhiges Werk – ganz im Gegensatz zu der „Crowded Apocalypse“, die von der jungen internationalen Künstlergruppe IOCOSE mit Hilfe von sozialen Netzwerken und beliebigen Verschwörungstheorien in die Welt gesetzt wird. Über fünf Monitore geistern Namen und Andeutungen von Jack the Ripper über die Titanic bis zu den Illuminati, Prozentzahlen ergeben keinen Sinn, und auch eine Karte voller Köpfe und Begriffe schafft keine Ordnung.

Den eigenen Augen trauen

Und was bleibt uns nun? Den eigenen Augen zu trauen und der Vernunft, dieser vergessenen Gabe des denkenden Menschen. Man könnte auch ein bisschen bei den Philosophen nachlesen – zum Beispiel im ungewöhnlichen Katalog der Ausstellung. Kein Coffeetable-Book ist das, sondern ein schlichter, rot-schwarzer biegsamer Band im handlichen Format, geeignet für die Flucht, die der Verschwörungstheoretiker ja immer auch in Betracht zieht.

Aber Scherz beiseite: In diesem Buch sind wichtige Texte zusammengefasst – wie Michel Foucaults „Mut zur Wahrheit“, „Die Unfähigkeit zu trauern“ von Margarete & Alexander Mitscherlich oder Hannah Arendts hellsichtige Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen propagandistischer Hetze und Erlangung von Macht („Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“). Es mag anstrengend sein, sich mit ernsthaften Analysen auseinanderzusetzen. Aber es ist das einzige Mittel gegen das Gift der betörenden Lüge.

„Im Zweifel für den Zweifel: Die große Weltverschwörung“. Bis 18. November im NRW-Forum Düsseldorf, Ehrenhof 2. Di.-Do. 11 bis 18 Uhr, Fr. 11 bis 21 Uhr, Sa. 10 bis 21 Uhr, Sa./So. 10 bis 18 Uhr. Eintritt: Di.-Do. 6 Euro, Fr.-So. 8 Euro. Katalog im Kettler Verlag, Dortmund: 448 Seiten, 24 Euro. www.nrw-forum.de




Düsseldorfer K21: Parkett saniert, Kunst neu sortiert

Türen neu, Parkett saniert, Technik repariert: Die Handwerker waren fleißig im Düsseldorfer K21, dem zeitgenössischen Teil der Kunstsammlung NRW.

Wiedereröffnung des K21 in Düsseldorf: Installations-Ansicht mit Werken von Jeff Wall und Rosemarie Trockel. (Foto: Achim Kukulies / © Kunstsammlung NRW)

Wiedereröffnung des K21 in Düsseldorf: Installations-Ansicht mit Werken von Jeff Wall und Rosemarie Trockel. (Foto: Achim Kukulies / © Kunstsammlung NRW)

Auch die beliebte Kletterinstallation „in orbit“ von Tomás Saraceno – Abenteuerspielplatz für Schöngeister – musste gewartet werden. Drei Wochen blieb das alte Ständehaus hinterm Schwanenspiegel geschlossen. Direktorin Susanne Gaensheimer nutzte die Zeit, um ein festes Team zu installieren und die Kunst frisch aufzumischen. Die Sammlungsräume sehen mal wieder anders aus, ein Besuch lohnt sich.

Eintritt frei heißt es im ersten Stock. Das ist allerdings nicht so sensationell, denn es gibt wenig zu entdecken außer Sammelkartons und Alt-Videos aus dem Archiv der legendären Düsseldorfer Avantgarde-Galerie Fischer. In einem rot ausgelegten und schräg bestuhlten Veranstaltungsraum mit dem Titel „Salon21“ darf der Besucher sich ausruhen oder lesen. Das machen wir aber lieber später bei einem Kaffee in der neu und praktisch möblierten Museumsbar Pardo’s, wo nur das Blubberblasen-Muster der Tapete noch darauf hinweist, dass das Ganze mal eine Rauminstallation von Jorge Pardo war.

Dicke Hosen mit Holzwolle

Wer mehr erleben will, zahlt zwölf Euro und steigt empor in den zweiten Stock, auch „Bel Étage“ genannt. Hier gibt es bis Januar eine kleine Sonderausstellung jener amerikanischen Konzeptkünstlerin, die sich das männliche Pseudonym Lutz Bacher zugelegt hat und ihre eigene Identität schon seit den 1970er-Jahren erfolgreich verbirgt. Die Szene schweigt sich aus, denn das Geheimnis gehört zur Show, die in diesem Fall nach einem Song von Tina Turner benannt ist: „What’s Love Got to Do With It“.

Was Liebe damit zu tun hat? Keine Ahnung. Wie die junge Kuratorin Beatrice Hilke erklärt, ist Bachers Werk sehr heterogen, also uneinheitlich. Durchgängig sei nur ihr „Interesse an Strategien der Aneignung“. Soll heißen: Lutz Bacher benutzt Vorgefundenes und macht es nicht ohne Witz zu ihrer Kunst: Konsumartikel, Handy-Videos, Notizzettel zum Beispiel. Die vergrößerte und verzerrte Unterschrift von Donald Trump hat sie zu einer Art Wandfries ausdrucken lassen. Drei Säle sind damit bestückt – und mit Holzwolle und Glitzerfolienstreifen ausgestreut. Was an den Schuhen kleben bleibt, kann weg. Stehen bleiben sollen 21 mit „Las Vegas“ bedruckte und mit Holzwolle ausgestopfte Schlafanzughosen („Vegas Pants“). Dicke Hosen ohne Inhalt. Verstehe.

Von draußen dröhnt Orgelgebraus: Bachs Toccata in d-Moll, von Lutz Bacher bei einem Konzert in New York mit dem Smartphone aufgenommen, samt Nebengeräuschen. Beherzt geklaut, wird der Klassiker nun als eigenes Soundwerk im Treppenhaus von K21 präsentiert: „Music in the Castle of Heaven“, Musik im Himmelsschloss. Jedenfalls nicht zu überhören.

Großer Geist im Treppenhaus

So beschallt döst keiner, der weitergeht zu den Sammlungsräumen. Zehn von 13 Mini-Ausstellungen wurden neu gestaltet. Dabei sind skurrile Kombinationen entstanden wie Rosemarie Trockels dunkle Wollbilder „My Phantasy“, ein aus der Wand ragendes Wachsbein mit Socken und Herrenschuh von Robert Gober und Jeff Walls Leuchtfotografie von zwei Mädchen am unheimlichen „Abfluss“ im Wald. Überhaupt gibt es von Wall, dem Meister der irritierenden Bilderzählung, einige interessante Arbeiten im K21. Schön, sie wiederzusehen.

Im Treppenhaus steht jetzt einer von Thomas Schüttes „Großen Geistern“ aus Gussstahl und bewacht den Eingang zum dritten Stock. Schüttes große „Bronze-Frau“ von 2001 liegt still in ihrer zerstückelten Pracht vor drei Regalen mit kleinen „Ceramic Sketches“. In einer anderen Raumfolge weist eine geschunden aussehende Gipsfigur des tabulosen amerikanischen Performers Paul McCarthy den Weg zu einem Video von Marina Abramović, die sich 1975 unter dem Motto „Art is beautiful“ (Kunst ist schön) die Haare bis weit über die Schmerzgrenze mit stählernem Gerät gekämmt und gebürstet hatte. „Einige Werke in diesen Räumen könnten möglicherweise verstörend wirken“, heißt der Warnhinweis an der Tür.

Magisches Schattenspiel

Jugendfrei sind hingegen die liebevollen Installationen von Hans-Peter Feldmann, der mit allerlei sich drehendem Trödelkram ein magisches „Schattenspiel“ geschaffen hat. Vier große Frauenköpfe, die Feldmann nach berühmten Bildnissen hat kopieren lassen, amüsieren den Betrachter mit ihren unerklärlichen Blicken. Weiterhin wurden sachliche Fotografien des Becher-Schülers Thomas Ruff kombiniert mit den für uns rätselhaften Bilderfunden von Akram Zaatari von der Arab Image Foundation, der die Direktorin Gaensheimer im letzten Herbst eine Ausstellung gewidmet hatte. Für den westlichen Blick ebenso fremd, aber faszinierend sind die „Cabaret Crusade“-Trickfilme des ägyptischen Künstlers Wael Shawky. Mit zauberhaften, gläsern wirkenden Marionetten vor surrealen Kulissen erzählt Shawky die Geschichte der Kreuzzüge aus arabischer Sicht.

Das ist originell, aber man weiß nicht, ob das Publikum davon so gebannt sein wird wie das „Audience“ auf Thomas Struths gleichnamiger Serie von Großfotografien, die im Flur hängen. Eine Sonderausstellung der angesagten chinesischen Multimedia-Künstlerin Cao Fei soll im Herbst für Spannung sorgen.

Info: Nach Sanierungs- und Umbauarbeiten ist das K21 in Düsseldorf an der Ständehausstraße 1 jetzt wieder für das Publikum geöffnet: Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr. Neben neu sortierten Sammlungsräumen ist im zweiten Stock eine Ausstellung der US-Konzeptkünstlerin Lutz Bacher zu sehen: „What’s Love Got to Do With It“ (bis 6. Januar). Eintritt: 12 Euro. www.kunstsammlung.de




Die Kunst des Schmerzes: Marina Abramović in Bonn

Marina Abramović auf einem Hügel aus blutigen Knochen: "Balkan Baroque" (Performance, 4 Tage, 6 Stunden - 47. Biennale Venedig, Juni 1997 / © Marina Abramović, Courtesy of Marina Abramović Archives / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Marina Abramović auf einem Hügel aus blutigen Rinderknochen, die sie tagelang abgebürstet hat: „Balkan Baroque“ (Performance, 4 Tage, 6 Stunden – 47. Biennale Venedig, Juni 1997 / © Marina Abramović, Courtesy of Marina Abramović Archives / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Die Frau ist verrückt. Das steht fest für uns, die wir im Leben nach Wohlbefinden streben. Marina Abramović setzt sich körperlichen Schmerzen und seelischen Qualen aus und nennt das Kunst. Sie zelebriert ihren Masochismus in aller Öffentlichkeit.

Dafür wird sie von Kuratoren und Vernissage-Plauderern in den renommiertesten Galerien der Welt vergöttert. Warum nur? Vielleicht, weil es ihr gelingt, das Dunkle und Wilde, das Gefühl von Wut, Angst und Gefahr vor unseren Augen in ein Gezähmtes zu verwandeln, es gewissermaßen unschädlich zu machen. Das versteht, wer sich auf die Retrospektive in der Bonner Bundeskunsthalle einlässt: „The Cleaner“ (Tatortreiniger) heißt die furiose Schau und ist kein Familienprogramm.

Anders als in der Malerei entfernt sich ein Performance-Künstler nie von seinem Werk. Es existiert ja nur im besessenen Schöpfer. Marina Abramović erscheint ungezählte Male auf Videos und Fotos in dieser aufwändig, mit zahlreichen Requisiten inszenierten Ausstellung. Sie ist eine serbische Schönheit mit pechschwarzem Haar und herben Zügen, die – dank einer verschwiegenen Beauty-Medizin – im Alter von 71 Jahren glatter wirken als je zuvor. Unheimlich glatt. Mit dem Glamour eines Filmstars erscheint diese Marina Abramović ihrem Publikum. Das genügt manchmal schon. „The Artist is Present“, die Künstlerin ist anwesend, hieß es 2010 im New Yorker Museum of Modern Art, wo sie im bodenlangen Gewand insgesamt 736 Stunden unbeweglich an einem kleinen Tisch saß.

Marina Abramović: "The Artist is Present" (Performance, 3 Monate, The Museum of Moderne Art, New York, 2010 / © Marina Abramović / Foto: © Marco Anelli - Courtesy of the Marina Abramović Archives / VG Bild-KUnst, Bonn 2018)

Wer zuerst wegschaut, hat verloren: Marina Abramović „The Artist is Present“ (Performance, 3 Monate, The Museum of Moderne Art, New York, 2010 / © Marina Abramović / Foto: © Marco Anelli – Courtesy of the Marina Abramović Archives / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Wer wegsieht, hat verloren

Freiwillige mit guten Nerven konnten gegenüber Platz nehmen und der erstarrten Lady in die Augen sehen. Die armen Amateure sollen zum Teil recht emotional reagiert haben, und das erinnert irgendwie an das alte Kinderspiel: Wer zuerst wegguckt oder zuckt, der hat verloren. Marina Abramović gewinnt immer.

Sie macht ihr Spiel mit so mancher alten Qual. Viele Frauen ihrer Generation erinnern sich, dass sie als Mädchen von schroffen Müttern so straff frisiert wurden, dass es wehtat. Marina die Unerbittliche hat das schon in den 1970er-Jahren in einer Performance verwertet, in der sie ihr herrliches Haar so lange mit Metallzinken bürstete und kämmte, bis es beschädigt und die Kopfhaut aufgekratzt war: „Die Kunst muss schön sein, die Künstlerin muss schön sein“, hieß der zynische Titel.

Aber das war eine Kleinigkeit gegen die 1975 zum ersten Mal durchlittene Performance „Lips of Thomas“ – eine Selbstgeißelung der extremen Art, benannt nach dem Kollegen Thomas Lips, mit dem sie eine kurze Affäre hatte. Und die Show geht so: Die nackte Künstlerin trinkt Honig und Wein, zerbricht ihr Glas, dass die Hand blutet, peitscht sich aus, ritzt sich mit einer Rasierklinge ein Pentagramm in den Bauch und legt sich dann mit bloßem Körper auf ein Eiskreuz unter einen Heizstrahler, der das Kreuz langsam schmelzen und die Wunden heftiger bluten lässt. Komplett zerschunden, behält die Künstlerin doch stets die Kontrolle. Sie macht den Plan.

Qual und Erlösung

Kontrolle: Das ist das Stichwort zu den lebenslangen Grenzerfahrungen der Marina Abramović. Man hört ihre Schreie durch den ganzen Saal, doch sie bleibt immer die Königin des Schmerz-Theaters. Anders als in ihrer Kindheit, als sie mit dem Arm in die neue Walzen-Waschmaschine ihrer Mutter geriet, sich den Arm quetschte und dafür noch geohrfeigt wurde. Die Mutter fackelte nicht lange. Sie war Partisanin im Zweiten Weltkrieg gewesen und arbeitete unter Tito als Chefin des Revolutionsmuseums. Der Vater gehörte zur Staatssicherheit. Beide Eltern waren so etwas wie Profi-Jugoslawen, entschlossene Typen. Ihre kleine Marina, 1946 in Belgrad geboren, lebte die ersten Jahre allerdings bei ihrer Großmutter, einer frommen orthodoxen Christin, die ihr ein diffuses Gefühl gibt für Schmerz und Erlösung.

Aus dem Frühwerk: Marina Abramović "Truck Accident (I)", 1963, Öl auf Leinwand (© Marina Abramović, Courtesy of the Marina Abramović Archives / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Aus dem Frühwerk: Marina Abramović „Truck Accident (I)“, 1963, Öl auf Leinwand (© Marina Abramović, Courtesy of the Marina Abramović Archives / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Obgleich den Eltern nur die kommunistische Idee heilig war, förderten sie doch Marinas Talent und ermöglichten ihr ein Studium an der Belgrader Akademie. Tatsächlich machte sie ihr Diplom und malte in der ersten Zeit erstaunlich gute Bilder. 1965 entsteht ein expressives Selbstporträt, und aus dem garstigen Thema „Truck Accidents“ (LKW-Unfälle) zaubert die junge Frau fast abstrakte Kompositionen. Eine andere Serie widmet sich auf kühl-konstruktive Art dem Thema „Wolken“.

Bis das Blut spritzt

Sie hätte weiter malen können, aber die Zeiten waren nicht so. Es wurden Experimente gemacht, Studentin Marina ließ sich mit Klebeband auf eine Bank im Kulturzentrum fesseln und begriff: Körperliche Erfahrungen können Kunst sein. Aus der Koje nebenan hört man ein Klopfen und Stöhnen. Das ist der „Rhythm 10“ von Marina Abramovićs erster öffentlicher Performance 1973 in Edinburgh, als sie sich mit wechselnden Messern so schnell zwischen ihre gespreizten Finger hackte, dass sie sich immer wieder schnitt und das Blut spritzte.

Von nun an gehörte sie zum internationalen Performance-Zirkus, alsbald unterstützt von dem deutschen Künstler Frank Uwe Laysiepen alias Ulay, den sie 1975 in Amsterdam kennengelernt hatte und der die Wirkung ihrer Ideen verdoppelte. Gemeinsam zogen sie durch die Welt und ersannen Paar-Dramen, die im Video bis heute erschreckend präsent sind. Um den Bonner Besucher herum küssen sich Ulay und Marina mit verstopften Nasen, bis sie schier ersticken, sie ohrfeigen sich, rempeln sich an und brüllen wie die Tiere – bis einer aufgibt. Aber das sieht man im Film nicht, da wiederholt sich alles ungebrochen, mit hypnotischer Wirkung auf das Publikum. Und Ulay spannt immer wieder den Bogen, richtet den vergifteten Pfeil auf Marinas Herz und hält ihn mühsam zurück: „Rest Energy“, wie es heißt.

Mit Pfeil und Bogen auf die Partnerin zielen: Ulay / Marina Abramović "Rest Energy" (Performance für ein Video, 4 Minuten, ROSC' 80, Dublin 1980 - Detail aus: 16-mm-Film, auf Digitalvideo überspielt, mit Farbe, Ton 4:04 min (© Ulay / Marina Abramović - Courtesy of the Marina Abramović Archives - VG BIld-KUnst, Bonn 2018)

Mit Pfeil und Bogen auf die Partnerin zielen: Ulay / Marina Abramović „Rest Energy“ (Performance für ein Video, 4 Minuten, ROSC‘ 80, Dublin 1980 – Detail aus: 16-mm-Film, auf Digitalvideo überspielt, mit Farbe, Ton 4:04 min (© Ulay / Marina Abramović – Courtesy of the Marina Abramović Archives – VG BIld-KUnst, Bonn 2018)

Der letzte Liebesdienst

Das konnte nicht ewig gut gehen. 1988, nachdem sie 90 Tage lang über die Chinesische Mauer aufeinander zugelaufen waren („The Lovers“), platzte die Schmerzensliebe. Von ihm spricht man nicht mehr so oft. Sie wurde immer berühmter, zog nach Paris, später nach New York. Bewundert, umstritten, auf keinen Fall ignoriert. Nachdem sie 1997 bei der Biennale in Venedig einen preisgekrönten „Balkan Baroque“ inszenierte und unter Gesang tagelang an einem Berg blutiger Rinderknochen herumschrubbte, entwickelte Marina Abramović elegantere Performances, bei denen es eher um das Durchhalten geht. Zwölf Tage verbrachte sie 2002 im Schaufenster einer New Yorker Galerie, in drei kleinen, mit schönen Holzmöbeln eingerichteten Räumen – ohne zu essen, zu sprechen, auszubrechen.

Sich zwischen zwei Nackten hindurchzwängen: Ulay / Marina Abramović "Imponderabilia" (Performance, 90 Minuten, Galleria Communale d'Arte Moderna, Bologna 1977 (© Ulay / Marina Abramović - Foto © Giovanni dal Magro - Courtesy of the Marina Abramović Archives / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Sich zwischen zwei Nackten hindurchzwängen: Ulay / Marina Abramović „Imponderabilia“ (Performance, 90 Min., Galleria Communale d’Arte Moderna, Bologna 1977 (© Ulay / Marina Abramović – Foto © Giovanni dal Magro – Courtesy of the Marina Abramović Archives / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Die Leitern, die hinaufführten zum „House with the Ocean View“, hatten Sprossen aus glänzend polierten Tranchiermessern. Nur Wassertrinken hatte sich die Künstlerin erlaubt. Vor aller Augen lebte sie dahin, döste, lief umher, pinkelte gelegentlich und duschte oft. Und heute starrt man fasziniert in der Ausstellung auf die Bühne dieser Performance, die vom 12. bis 24. Juni noch einmal von der unerschütterlichen Diva benutzt werden soll.

Und wer macht mit?

Bis dahin kann man sich täglich ein kleines Abramović-Prickeln holen. Besucher sind eingeladen, barfuß in Schuhe aus unbeweglichen Mineralbrocken zu schlüpfen oder alle Habseligkeiten abzugeben, um, an einem langen Tisch sitzend, Linsen und Reiskörner zu sortieren und sich so in Achtsamkeit zu üben.

Derweil sorgen Statisten für Live-Atmosphäre durch „Re-Performances“. So stehen täglich zwei Nackte in einem engen Eingang, so wie Ulay und Marina es 1977 in Bologna taten. Wer sich traut, zwängt zwischen ihnen durch und riskiert die Berührung. Besonders Frauen lassen sich, wie man an einem ganz normalen Ausstellungstag sieht, auf solche Herausforderungen ein. Verrückt, so sind wir eben.

„Marina Abramović – The Cleaner“. Bis 12. August in der Bundeskunsthalle Bonn, Friedrich-Ebert-Allee 4. Di. und Mi. 10 bis 21 Uhr, Do.-So. 10 bis 19 Uhr. Eintritt: 10 Euro. Täglich Re-Performances mit Statisten. Katalog: 32 Euro.

www.bundeskunsthalle.de




Bis das Herz bricht: Jankel Adler in Wuppertal

Er war ein Freund von Otto Dix, ein naher Kollege von Paul Klee, inspiriert von Pablo Picasso, Marc Chagall, Max Ernst. Er kannte sie alle, die vergötterten Meister der Epoche, die man heute „Klassische Moderne“ nennt. Und er gehörte dazu. Der Maler Jankel Adler (1895-1949), geboren in Tuszyn bei Lodz, ging in den Westen und erneuerte die Kunst genau wie die anderen.

Jankel Adler: "Der Künstler" (Artist), 1927 (French & Company, New York / © VG Bild-Kunst Bonn, 2018)

Jankel Adler: „Der Künstler“ (Artist), 1927, Öl auf Leinwand (French & Company, New York / © VG Bild-Kunst Bonn, 2018)

Er wurde zu seiner Zeit anerkannt und geehrt, für die Dichterin Else Lasker-Schüler war er „der hebräische Rembrandt“. Doch heute ist sein Name weitgehend vergessen. Im Wuppertaler Von der Heydt-Museum wird Adler endlich wieder mit der ruhmreichen Avantgarde verbunden.

Um es gleich zu betonen: Anders als die Manet-Ausstellung im vergangenen Winter ist diese ambitionierte Schau keine Mogelpackung mit zu wenigen bedeutenden Originalen. Was der Welt vom Werk Jankel Adlers blieb, kann in Wuppertal weitgehend gewürdigt werden.

110 Bilder und Zeichnungen des Künstlers und noch einmal die gleiche Anzahl an Exponaten seiner Zeitgenossen hat Kuratorin Antje Birthälmer in der gut bestückten Sammlung des Hauses sowie bei 28 Leihgebern zwischen Düsseldorf, London und Tel Aviv zusammengesucht. In zweijähriger Fleißarbeit sorgte sie zudem für einen 416 Seiten starken, bleischweren und beeindruckenden Katalog, der alle relevanten Adler-Forschungen zusammenfasst – wenn er auch, wie viele Publikationen dieser Art, seltsam seelenlos bleibt.

Nichts Leichtes im Leben

Dem Menschen Jankel Adler, den muss man schon selbst aufspüren in den Sälen der Ausstellung. Und man kann ihn finden hinter all den Fakten und nüchternen Texten und auch hinter Fotografien, die einen schönen ernsten Mann im tadellosen Anzug zeigen. Man kommt ihm nahe, weil er in der Kunst all seine Gefühle ausdrückte: Schmerz, Angst, Wut und Sehnsucht. Mit blanker Brust, das Hemd zurückgeschlagen, steht sein „Artist“ von 1927 da, muskulös, aber schutzlos. Adler hat den Mann, der eine Art inneres Selbstporträt sein könnte, mit groben, grau-braunen Strichen gemalt. Man erkennt seine Kraft, aber auch die Anspannung, den bitteren Zug um den Mund und die Schatten um die Augen.

August Sander: Maler (Jankel Adler), 1924 (Silbergelatine-Abzug - Reprint Gunter Sander 1978 / Von der Heydt-Museum, Wuppertal / © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

August Sander: Maler (Jankel Adler), 1924 (Silbergelatine-Abzug – Reprint Gunter Sander 1978 / Von der Heydt-Museum, Wuppertal / © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Auch wenn Adler durchaus einmal eine Vase mit Dahlien malte und, wie ein Bild von Arthur Kaufmann offenbart („Jankel Adlers Traum“, 1920), die blauen Schwebegestalten des Kollegen Chagall liebte – nichts war ein Leichtes im Leben von Jankel Adler. Seine Farben blieben düster, was womöglich auch den heutigen Mangel an Popularität erklärt. Typisch für ihn ist der Kopf eines gezeichneten Menschen mit verschobenem Profil, der die Hand vor das Gesicht schlägt, um die Zerstörung von Lodz im Ersten Weltkrieg zu beklagen: „Was für eine Welt“, heißt das Bild aus den frühen 1920er-Jahren.

Die Mahnung der Eltern

Zu jener Zeit lebte Jankel Adler längst in Deutschland und malte doch immer wieder die Erinnerung an Polen, wo er gegen Ende des 19. Jahrhunderts als siebtes oder achtes Kind (man weiß es nicht genau) eines frommen jüdischen Kaufmanns geboren wurde. Hochformatig, in düsterer Enge, porträtiert er 1921 „Die Eltern“: Der bärtige Vater doziert aus der Thora, die strenge Mutter erhebt den Zeigefinger, ewige Mahnung.

Vielleicht war Jankel nicht der Artigste. Mit sechs Jahren hatte er heimlich angefangen zu malen. 1909 zog er als Halbwüchsiger zu einer verheirateten Schwester nach Barmen, heute Teil von Wuppertal. Goldschmied und Graveur sollte er werden, wie sein Onkel in Serbien. Er hatte die Lehre absolviert, reiste arbeitend durch den Balkan, kehrte aber 1912 zurück an die Wupper, wo er während des Ersten Weltkriegs zwar als „verdächtiger Ausländer“ galt, aber doch an der Kunstgewerbeschule studieren durfte.

Jankel Adler: "Katzen", 1927 (Öl, Kreide, Sand auf Leinwand - Museum Ludwig, Köln / Foto: Rheinisches Bildarchiv, Köln - © VG Bild-Kunst Bonn, 2018)

Jankel Adler: „Katzen“, 1927 (Öl, Kreide, Sand auf Leinwand – Museum Ludwig, Köln / Foto: Rheinisches Bildarchiv, Köln – © VG Bild-Kunst Bonn, 2018)

Eine endgültige Heimat wird Jankel Adler weder in Deutschland noch sonst wo auf Erden finden. Aber er findet Gleichgesinnte unter den Künstlern, knüpft Kontakte zur Gruppe „Das junge Rheinland“ und zu den „Kölner Progressiven“, lernt im Düsseldorfer Aktivistenbund seine Lebensgefährtin Betty kennen, gehört zwischendurch zu den Mitbegründern der Vereinigung „Jung Jiddisch“ in Lodz, wo er seinen Gott sucht und mit hebräischen Buchstaben ein inbrünstiges Poem zeichnet: „Ich singe majn t’file“, ich singe mein Gebet.

Zwischen Freiheit und Bedrohung

Im Westen lebt Jankel Adler in einer anderen Welt. Er reist nach Paris und Berlin, wo die Freiheit auf den Tischen tanzt, während der rechte Mob schon lauert. Er experimentiert mit dem Kubismus, wie man auf seinem formal zerlegten „Paar“-Bild von 1921 sieht. Er schafft Stillleben, die er aufraut mit Sand und Gips, als könnte er keiner Idylle trauen.

Jankel Adler: "Angelika", 1923 (Von der Heydt-Museum, Wuppertal / © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Jankel Adler: „Angelika“, 1923, Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum, Wuppertal / © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Einige Zeit lebt er in Düsseldorf, wo er sich im Künstlerkreis um die Bäckerswitwe und Instinktgaleristin Mutter Ey mit dem schicken und markanten Otto Dix anfreundet. Und während Dix sich als Dandy in einer surrealen Bar in Szene setzt („An die Schönheit“, 1922), versteckt Adler sein Gesicht auf einem collagierten „Selbstbildnis“ (1924) hinter erdigem Papier und Teilen einer brüchigen Zeichnung. Als wäre er nie ganz da.

Und obgleich die Nationalsozialisten noch nicht an der Macht sind, spricht Verlust aus allen Bildern des ahnungsvollen Jankel Adler. „Der Geiger“ von 1928 hat sein Instrument abgelegt und starrt den Betrachter aus dunklen Augen an, als könne es keine Musik mehr geben. Selbst das aparte, expressionistische Porträt der emanzipierten „Angelika“ mit ihren Katzen ist ein Werk der Trauer. Die junge Künstlerfrau starb an Tuberkulose. Überhaupt Katzen: Adler liebte diese Tiere, malte sie oft, doch ohne jede Niedlichkeit. Geradezu erschreckend ist ein Großformat, auf dem sich ein Kater auf ein Weibchen stürzt, der Trieb wird zum Gewaltakt. Das Bild wurde 1928 bei der Ausstellung Deutsche Kunst in Düsseldorf mit der Goldenen Medaille ausgezeichnet.

Wanderer zwischen den Welten

Bald darauf entscheiden Hitler und seine Schergen, was deutsche Kunst zu sein hat. Jankel Adlers Bilder werden aus öffentliche Sammlungen beseitigt und später in der Schandausstellung „Entartete Kunst“ präsentiert. Adler räumt schon 1933 das Düsseldorfer Akademie-Atelier, das er gleich neben Paul Klee innehatte und flieht – nach Paris, Polen, Russland, erneut Frankreich. Während des Krieges gelangt er als freiwilliges Mitglied der polnischen Armee nach Schottland und lässt sich schließlich, wegen eines Herzleidens aus dem Militärdienst entlassen, in London nieder.

Seine Liebste Betty und die gemeinsame Tochter Nina sieht er nur noch zweimal kurz auf der Durchreise und zieht allein weiter. Man weiß nicht genau, ob das so sein musste. Aber man steht vor Bildern wie der zerfurchten „Mutter“ von 1941, die ein Kind umklammert und nichts anderes ausdrückt als Sorge und Müdigkeit. Selbst ein praller „Liegender Akt“ vor matt rotem Hintergrund wirkt verstörend, der Gesichtsausdruck spricht nicht von Liebe.

Jankel Adler: "Komposition", 1946 (Goldmark Gallery / Aukin Collection - © VG Bild-Kunst Bonn, 2018)

Jankel Adler: „Komposition“, 1946, Öl auf Leinwand (Goldmark Gallery / Aukin Collection – © VG Bild-Kunst Bonn, 2018)

Nach 1945 erfährt Adler, dass alle seine Geschwister ums Leben gekommen sind, es gibt nur noch eine Nichte und einen Neffen. Die Figuren und Gegenstände auf seinen Bildern werden immer abstrakter, sie verwandeln sich in geometrische, leicht verzerrte Elemente, eine letzte „Große Figurengruppe“ ist kaum noch als solche zu erkennen. Das mag dem Zeitgeist geschuldet sein, es passt zur aufkommenden Kunstmode. Aber die hat ja ihren Ursprung in der Ablösung von den unerträglichen Realitäten der Vergangenheit.

Auch Jankel Adler will sich lösen. Er kann sich vorstellen, ein neues Leben anzufangen – mit Frau und Tochter in Israel, wo man ihn und sein Werk zu schätzen weiß. Doch sein Herz macht nicht mehr mit. 1949 stirbt Jankel Adler mit nur 53 Jahren, nirgendwo heimisch geworden.

„Jankel Adler und die Avantgarde: Chagall, Dix, Klee, Picasso“. 17. April bis 12. August im Von der Heydt-Museum Wuppertal, Turmhof 8. Geöffnet Di. bis So. 11 bis 18 Uhr, Do. bis 20 Uhr. Eintritt regulär: 12 Euro. Katalog (416 Seiten) 25 Euro.




Hauptsache Grau: Kunst in „Black & White“

Jetzt wollen wir mal hoffen, dass der Frühling bald recht kunterbunt aufblüht. Denn solange draußen das Wetter dermaßen die Stimmung trübt, will man drinnen nicht unbedingt auch noch vorwiegend graue Kunst sehen.

Foto: © Museum Kunstpalast - ARTOTHEK/ © Gerhard Richter 2017

Gerhard Richter:
„Helga Matura mit Verlobtem“, 1966, Öl auf Leinwand (Museum Kunstpalast, Düsseldorf – Foto: © Museum Kunstpalast – Artothek / © Gerhard Richter 2017)

Der neutrale Mischton aus Schwarz und Weiß ist, sagte der Maler und Grau-Experte Gerhard Richter 2004 in einem Interview, „die ideale Farbe für Meinungslosigkeit, Aussageverweigerung, Schweigen, Hoffnungslosigkeit“. Auweia. Doch abgesehen von diesen bleischweren Zuweisungen ist die Nicht-Farbe auch schön – wie man in der Ausstellung „Black & White: Von Dürer bis Eliasson“ im Düsseldorfer Kunstpalast erkennen kann.

„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“, sprach einst Goethes Faust und mochte das nicht mehr. Die Moderne hingegen verehrt das Grau. Es ist die derzeitige Trendfarbe für Wände und Sitzlandschaften. Seit dem 20. Jahrhundert gilt es erstens als Farbe der vornehmen Zurückhaltung und zweitens als Symbol einer ernsthaften Haltung. Schon der alte Brecht in seinem epischen Theater soll, als es um das Bemalen einer Kulisse ging, gesagt haben: „Jede Farbe ist mir recht, Hauptsache, sie ist grau.“

Spezialeffekte in Schwarz-Weiß

Das war nicht immer so. In der frühen christlichen Kunst, die mit leuchtenden Pigmenten die Heiligkeit feierte, wurde das Farblose bewusst zum Zweck von Buße und Trauer eingesetzt. Abt Bernhard von Clairvaux verordnete den Zisterzienserklöstern im frühen 12. Jahrhundert einen Verzicht auf Farben, um den Brüdern die Sinnlichkeit auszutreiben. Später wurde auch dem Kirchenvolk in der Fastenzeit die Farbe entzogen. Man verhängte die prächtigen Flügelaltäre oder – man ließ die zugeklappten Seitenflügel einfach schwarz-weiß bemalen.

Ein faszinierendes Beispiel für die Technik der Grisaille (von gris, französisch grau) ist die „Verkündigung“ aus der Werkstatt des Marten de Vos (1532-1603). In feinsten Hell-Dunkel-Nuancen erscheint da der Engel auf der einen Seite, die Jungfrau auf der anderen. Und durch die Lücke zwischen den Altarflügeln blitzt von unten die Farbe der Verheißung: Geburt Christi, Kreuzigung, Auferstehung.

Jean-Auguste-Dominique Ingres und Werkstatt Odalisque in Grisaille, um 1824-1834 Öl auf Leinwand, 83,2 × 109,2 cm The Metropolitan Museum of Art, Catharine Lorillard Wolfe Collection, Wolfe Fund, 1938 (38.65) Foto: © bpk ǀ The Metropolitan Museum of Art

Jean-Auguste-Dominique Ingres und Werkstatt:
Odalisque in Grisaille, um 1824-1834 (The Metropolitan Museum of Art, Catharine Lorillard Wolfe Collection, Wolfe Fund, 1938 – Foto: © bpk ǀ The Metropolitan Museum of Art)

Die Fähigkeit der Künstler, mit Ölfarben zu zeichnen, verfeinerte sich. Immer plastischer wurde die Formensprache durch Abstufungen von Schwarz und Weiß. So perfekt gelangen dreidimensionale Effekte, dass man sie „Trompe-l’œil“ nannte: Täusche das Auge. Das gefiel auch den weltlichen Herrschaften im schwelgerischen 18. Jahrhundert. Für ihre Salons bestellten sie Bilder wie die ovale Öl-Raffinesse „Jupiter und Ganymed“ von Jacob de Witt oder „Spielende Kinder“ von Marten Jozef Geeraerts. Die niederländischen Meister erzeugten malerisch die Illusion von Marmor-Reliefs und Skulpturen.

Nur eine Frage der Wahrnehmung

Die barocke Druckgrafik – ein weites Geschäftsfeld von Rembrandt, Rubens und Kollegen – verblasst so ziemlich in der recht nüchtern inszenierten Ausstellung. In der nächsten Abteilung hängt das Plakatmotiv: Ingres’ berühmte „Odalisque“ in einer schmucklosen Grisaille-Version, um 1834 entstanden. 40 Jahre später war der Impressionismus da, und Edgar Degas malte eine „Ballettprobe“ ausnahmsweise ohne die üblichen Pastellfarben und doch so duftig und entzückend.

Allein: Raum für Träumerei gibt es hier nicht. Am Ende der unteren Saalflucht wartet schon die Gegenwartskunst in Gestalt eines monumentalen Männerkopfs, den der Amerikaner Chuck Close von einem Polaroid auf eine zweieinhalb Meter hohe Leinwand übertragen hat. Die klaren Konturen lösen sich auf, wenn man sie aus der Nähe betrachtet. Close hat Rasterquadrate benutzt, die mit malerisch freier Geste ausgefüllt sind. Und mit brauner Farbe, die im schwarz-weißen Gesamteindruck verschwindet.

Das Grau als besondere Mischung offenbart sich auch bei Alberto Giacometti, der seine „Annette, sitzend“ 1957 als dunkle Figur in den Schatten setzte, und bei Picasso, der im selben Jahr die Infantin von Velazquez in einer verschobenen Schwarz-Weiß-Variation malte. Die Auswahl von Fotografien, natürlich unbedingt zum Thema gehörend, ist etwas mager. Überhaupt hätte man sich von manchem mehr gewünscht, auch mehr Atmosphäre, mehr Poesie, mehr Spiele mit Licht und Dunkel. Was gänzlich fehlt, ist das Medium Film.

Doch noch ein Zauber zum Schluss

Besucher in der Installation von Hans Op de Beeck. (Foto: Stefan Arendt / LVR-ZMB)

Besucher in der Installation „The Collector’s House“ von Hans Op de Beeck. (Foto: Stefan Arendt / LVR-ZMB)

Es ist für Direktor Felix Krämer wahrscheinlich nicht ganz einfach gewesen. Die Ausstellung entstand nach einem Plan seines Vorgängers Beat Wismer in Zusammenarbeit mit der Londoner National Gallery. Viele Interessen und wissenschaftliche Stimmen mussten berücksichtigt werden, der umständlich betextete Katalog spricht diesbezüglich Bände.

Zum Glück wartet am Schluss der Ausstellung – nach einer klaren Präsentation schwarz-weißer Abstraktionen – noch ein echter Clou. Wer durch eine graue Schwingtür geht (ja, nur zu!), gelangt in „The Collector’s House“, eine spektakuläre Rauminstallation des Belgiers Hans Op de Beeck. Alle Bilder und Skulpturen (oder etwa Menschen?) in seinem „Haus des Sammlers“ sind so grau und still wie der Zierteich in der Mitte, die Bibliothek, der Flügel, das Kanapee, der Hund und sogar ein paar Damenpumps, zerquetschte Bierdosen und andere ordinäre Dinge des Lebens.

(Foto: Moderna Museet, Stockholm © Olafur Eliasson. Foto: Anders Sune Berg)

Olafur Eliasson:
„Room for one Colour“ 1997 (Installationsansicht aus dem Moderna Museet, Stockholm 2015 – Courtesy of the artist; Tanya Bonakdar Gallery, New York; neugerriemschneider, Berlin
(Foto: Moderna Museet, Stockholm / Anders Sune Berg © Olafur Eliasson)

Alles steht erstarrt, wie von feinster Lava übergossen, in Stein verwandelt, tot. Zu leiser Sphärenmusik bewegt man sich, halb ehrfürchtig, halb amüsiert, durch den Raum und wird selbst zum einzig farbigen, lebendigen Teil der Installation. Das kehrt sich um im allerletzten Raum der Schau, den der Isländer Olafur Eliasson in ein grell-gelbes Monofrequenz-Licht getaucht hat. Farben werden davon geschluckt, die Besucher haben kreidebleiche Gesichter, der rote Rock wirkt grau.

Ist etwa die ganze Realität nur eine Frage der Wahrnehmung? Schon allein für das Finale lohnt sich der Besuch der Schau um „Black & White“.

„Black & White: Von Dürer bis Eliasson“. Bis 15. Juli im Düsseldorfer Museum Kunstpalast, Ehrenhof 4-5. Geöffnet Di.-So. 11 bis 18 Uhr, Do. bis 21 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Katalog im Hirmer Verlag: 240 Seiten, 39,90 Euro. Umfangreiches Begleitprogramm unter www.smkp.de




Heinz Mack und Goethe: Auf den Spuren des Lichts

„Mehr Licht!“ Diese letzten Worte auf dem Sterbebett wurden dem großen Johann Wolfgang von Goethe vermutlich nur angedichtet. Aber zweifellos war das Wirken gegen die Finsternis ein Leben lang eins der großen Themen des allseits verehrten Schriftstellers und Universalgelehrten, der zweimal, 1774 und 1792, das Städtchen Düsseldorf und den Freund Jacobi mit seiner Anwesenheit beehrte.

"Taten des Lichts": Ausstellungsansicht mit Arbeiten von Heinz Mack in Düsseldorf. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

„Taten des Lichts“: Ausstellungsansicht mit Arbeiten von Heinz Mack in Düsseldorf. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Mehr Licht gibt es nun endlich im zuvor stark eingestaubten Düsseldorfer Goethe-Museum: frische weiße Farbe, neue Lampen, helle Vorhänge – und ein neues Konzept. Was uns Goethe heute noch zu sagen hat, wie modern er ist, will Direktor Christof Wingertszahn im Schloss Jägerhof der Welt zeigen. Eine weithin leuchtende Kunstausstellung von Heinz Mack wird das Publikum locken – mit „Taten des Lichts“.

Dem Freigeist stets verbunden

Lichtkünstler Mack, der in diesen Tagen 87 Jahre alt wird, hat als reifer Mann, ganz wie einst der nimmermüde Goethe, nichts von seiner Leidenschaft eingebüßt. Es macht ihn wütend, dass die herrschenden westlichen Kuratorencliquen ihn und sein Werk so oft ignorieren. „Die gegenwärtige Kunst geht über ihn hinweg“, sagt er und spricht von sich in der in der dritten Person.

In der Tat würdigt man Mack zwar als Mitbegründer der legendären Gruppe Zero, die 1957 eine neue Klarheit in die wirre Nachkriegskunst brachte. Doch aktuell bevorzugt man Konzept, Installation und Video, befasst sich exzessiv mit Banalitäten und den Neurosen der Gesellschaft. Mack hingegen konzentriert sich ganz auf das, was er die „interstellaren Verhältnisse“ nennt. Man kann auch sagen, er feiert ganz zeitlos die Schönheit des Universums.

Dem alten Freigeist Goethe, der nebenbei auch ein begabter Zeichner war, fühlte sich der 1931 in Hessen geborene Mack schon als Unterprimaner verbunden. Neben Kunst an der Düsseldorfer Akademie studierte er Philosophie in Köln und gab seinen sicheren Job als Lehrer auf, um den Gedanken und dem Schaffen ungehinderten Lauf zu lassen.

Weiterer Blick in die Mack-Ausstellung des Düsseldorfer Goethe-Museums. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Weiterer Blick in die Mack-Ausstellung des Düsseldorfer Goethe-Museums. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Seine Inspiration fand Mack am Himmel über der Wüste, in der Arktis, auf Ibiza – und zu Hause in Mönchengladbach. Und während die Kollegen den Orient weitgehend vergaßen, beachtete er auch die Farben und Muster in der islamischen Kunst, die schon viel früher als der Westen die Abstraktion gefeiert hatte. „For an oriental mirror“, einen orientalischen Spiegel, malte er 2008 flirrende Ornamente. Auch Goethe wusste die morgenländische Kultur zu schätzen und widmete ihr die Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“.

Die Freiheit denkt abstrakt

Und siehe da: Obgleich Jahrhunderte zwischen den beiden Künstlern liegen, passen sie doch auf wundersame Weise zusammen. Denn Goethe hatte nicht nur als Jüngling so zum Spaß das „Bild eines Mädchens in umgekehrten Farben“ gemalt als sei’s eine Idee von Picasso, er arbeitete auch in der Abstraktion. Wie Mack setzte der Dichter und Denker eine Kugel auf einen Würfel und betrachtete das, unerhört für seine Zeit, als sinnhafte Skulptur. Jenseits alles Gegenständlichen erforschte er das Spektrum des Lichtes, entwarf geometrische Skizzen und ließ eine Reihe von konstruktiv anmutenden Karten drucken, deren nüchterne Schwarz-Weiß-Formen, durch ein Prisma betrachtet, an den Rändern farbig erscheinen.

Mack malte 1991 nach dem Vorbild der Goetheschen Experimentalkarten große Pastelle auf Bütten. Schon viel früher hatte er sich stolz auf das inspirierende Vorbild bezogen und 1964 die Farben des Regenbogens in einem großen Pastell „for Mr. Wolfgang von Goethe“ strahlen lassen. Ordnung und Freiheit, sieht man hier, können einander vortrefflich ergänzen. Das zeigen Raster, zwischen denen es golden schimmert, Fächer überlappender Farbquadrate, ein Keil in Ultramarin, der dreidimensional aus der Fläche hervortritt, oder ein schillerndes Gitter vor den Tönen eines Sonnenuntergangs. Der Maler ist ja auch ein Bildhauer, der in viele Städte seine Himmelszeichen gesetzt hat.

Wo das Blau ewig fließt

Es ist eine Lust, in Goethes Museum den Leuchtspuren des Meisters Mack zu folgen oder auch, wie er es oft ganz sachlich nennt, seinen „Chromatischen Konstellationen“. Im ersten Stock, der von den alten Vitrinen befreit wurde, sind die Farben in Bewegung geraten – mit Hilfe einer Technik, von der Goethe nur träumen konnte. Kinetische Lichtkunst, zum Teil in früheren Jahren entworfen, erzeugt hypnotische Effekte. Da fließt ein ewiges Blau, da schwirren bunte Kreise, da pulsiert ein Sonnengelb. Ganz sicher wäre Goethe begeistert gewesen, seine Theorie so herrlich bestätigt zu sehen: „Jede Farbe also, um gesehen zu werden, muss ein Licht im Hinterhalte haben“, notierte er.

Das gilt auch für Schwarz und Weiß, zeigt Heinz Mack mit einer Serie von monumentalen Bildern, die von Licht und Dunkelheit handeln. Ein schwarzer Planet schwebt da auf einem weißen Nebel, eine Raute steht deutlich im hellen Schein, und die kreisrunde „Black Rotation“ beweist, dass Schwarz keineswegs eintönig ist, sondern in vielen Nuancen schimmern kann, ganz nahe am tiefen Blau, aus dem auf wunderbare Weise die anderen Farben der Schöpfung entstehen.

Wir spüren es, ehe wir es sehen. Und wir empfinden vor Macks Bildern mehr, als wir beschreiben können oder sollen. Bei Goethe gibt es das passende Zitat: „Des echten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf; denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat.“ Hingehen und ansehen!

„Taten des Lichts – Mack & Goethe“: 4. März bis 27. Mai im Goethe-Museum Düsseldorf, Schloss Jägerhof, Jacobistr. 2. Eintritt: 8 Euro. Di.-Fr. und So. 11 bis 17 Uhr, Sa. 13 bis 17 Uhr. Ein Buch zur Ausstellung erscheint demnächst im Verlag Hatje Cantz Verlag. 480 Seiten, ca. 50 Euro. Vortrags- und Begleitprogramm unter www.goethe-museum.de




Abstraktion macht den Kopf frei – Carmen Herrera im Düsseldorfer K20

Die Lady ist inzwischen 102 Jahre alt. Sie lebt immer noch in ihrem Wohnatelier in Manhattan und arbeitet täglich an ihrer Kunst – wenn auch mit Hilfe eines Assistenten, der für sie Linien abklebt und Farben mischt.

Porträt Carmen Herrera, um 1961. (© Fotografie von Ralph Llerena, George Perruc Staff Photographers - Foto: Kunstsammlung NRW)

Porträt Carmen Herrera, um 1961. (© Fotografie von Ralph Llerena, George Perruc Staff Photographers – Foto: Kunstsammlung NRW)

Carmen Herrera, 1915 auf Kuba geborene Malerin mit amerikanischem Pass, hat verdammt lange auf ihre Anerkennung warten müssen. Die Boys ihrer Generation, von Jackson Pollock bis Ellsworth Kelly, waren einfach zu dominant. Doch sie hat alle überlebt. Und jetzt ist ihre Zeit. Das coole New Yorker Whitney Museum hat Carmen Herrera 2016 eine Ausstellung gewidmet, die nun, repräsentativ erweitert, im Düsseldorfer K20 zu sehen ist: „Lines of Sight“.

Man wird sich dran gewöhnen müssen, dass Susanne Gaensheimer, die Biennale-erprobte neue Direktorin der Kunstsammlung NRW, unsere Sehgewohnheiten auf die Probe stellt. Ihr Ehrgeiz gilt nicht den geliebten Heiligen der klassischen Moderne, Picasso, Klee, Max Ernst, Modigliani, mit denen Werner Schmalenbach das Haus groß machte. Sie will den Blick des Publikums öffnen – zum Beispiel für Entdeckungen wie Carmen Herrera, deren Namen bisher nur Eingeweihte kennen. Dabei hat die Kubanerin, wie die klare Schau im Erdgeschoss zeigt, durchaus ihren Rang in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Im Salon der Neuen Realitäten

Carmen Herrera war das siebte Kind eines angesehenen Journalistenpaares in Havanna, malt schon früh und besucht Kunstkurse. Amerikanische Touristen kaufen ihr 1935 ein paar Landschaften in Öl ab – aber das Gegenständliche wird sie später nicht mehr interessieren. Auf der Suche nach der modernen Form beginnt sie 1938 in Havanna ein Architekturstudium, das sie wegen politischer Unruhen allerdings bald abbricht.

1939 heiratet die madonnenhafte Schönheit ihren Verehrer Jesse Loewental, einen jüdischen Amerikaner deutscher Herkunft, und zieht mit ihm nach New York. Bis zu seinem Tod im Jahr 2000 werden sie zusammen bleiben – unzertrennlich. Loewental ist Lehrer, unterstützt seine Frau in ihren Ambitionen und baut nebenher die Rahmen für ihre Bilder.

Ansicht der Herrera-Ausstellung im Düsseldorfer K 20. (Foto: Achim Kukulies / © Carmen Herrera / Kunstsammlung NRW)

Ansicht aus der Herrera-Ausstellung im Düsseldorfer K 20. (Foto: Achim Kukulies / © Carmen Herrera / Kunstsammlung NRW)

Er ist auch an ihrer Seite, als Carmen 1948 für einige Jahre nach Paris gehen will. In New York fühlt sie sich fehl am Platze. Die männliche Avantgarde erregt Aufsehen mit dem Abstrakten Expressionismus, und sie kann kaum Englisch. Französisch hingegen spricht sie fließend, und Paris kennt sie von früheren Aufenthalten. Das alte Europa nimmt sie freundlich auf, sie wird Mitglied der Gruppe „Salon des Réalités Nouvelles“ (Salon der Neuen Realitäten), lernt viele Künstlerkollegen kennen und experimentiert mit der Abstraktion.

Die Eroberung der Luft

Noch mag sie das Raue, Ungestüme, mischt Sand in ihre Acrylfarben, malt auf Sackleinen. Aus der freien Hand gesetzte geometrische Formen zeigen Spuren der Leidenschaft, die „Conquête de l’air“, die „Eroberung der Luft“ von 1950 ist sogar eine wilde, informelle Zeichnung.

Wie Kuratorin Susanne Meyer-Büser glaubt, befreit sich Carmen Herrera mit diesen Gesten endgültig von den kubanischen Farben und Formen, von der Vergangenheit. Nach Besuchen in der Heimat beklagt sie sich über Hitze und Moskitos, die Mutter geht ihr auf die Nerven. Nach deren Tod 1963 wird Carmen Herrera nie wieder nach Kuba zurückkehren. Sie zieht einen Schlussstrich.

Carmen Herrera: "Verticals", 1952, Acryl auf Leinwand. (Privatsammlung Portugal / © Carmen Herrera)

Carmen Herrera: „Verticals“, 1952, Acryl auf Leinwand. (Privatsammlung Portugal / © Carmen Herrera)

Ohne die hitzige Sinnlichkeit der Karibik kann sich Carmen Herrera viel besser auf eine Kunst konzentrieren, die nichts Erzählerisches mehr hat, die ganz streng bei sich bleibt. In einer ganzen Reihe von Bildern arbeitet sie nur mit Schwarz und Weiß, setzt Streifen so raffiniert gegeneinander, dass ein optisches Flirren entsteht – wie später auf den Bildern von Victor Vasarely. Um genauere Effekte zu erzielen, arbeitet sie fortan mit Klebebändern wie ein sorgfältiger Handwerker.

Die Kraft von Weiß und Grün

1954 kann sich Jesse Loewental nicht länger vom Schuldienst befreien lassen, das Paar kehrt zurück nach New York. Dort, im Zentrum der gespritzten und gekleckerten Ausdruckskunst, entsteht Carmen Herreras formal sparsamste Serie: „Blanco y Verde“, Weiß und Grün. Schmale Keile erscheinen da auf leerer Fläche und markieren mit subtilen, aber kraftvollen Effekten die Grenzen der freien Malerei. Und während die Pop-Art in den 1960er- und 70er-Jahren ihre auffälligen Späße macht und Warhols Factory die Tabus bricht, bleibt Carmen Herrera der Reduktion treu.

Carmen Herrera: "Verde de Noche", 2017, Acryl auf Leinwand. (Courtesy Lisson Gallery / © Carmen Herrera)

Carmen Herrera: „Verde de Noche“ („Grün der Nacht“), 2017, Acryl auf Leinwand. (Courtesy Lisson Gallery / © Carmen Herrera)

Schlicht wie gute Architektur ist ihre Arbeit. Als Hommage an die Baukunst kann man ihre „Estructuras“ sehen, Wand- und Bodenobjekte aus je zwei, in klaren Farben bemalten Sperrholzformen, die in reizvoller Spannung zueinander arrangiert sind. Carmen Herrera mit ihrem Werk ist, wie die Ausstellung beweist, den Heroen der Minimal Art wie Donald Judd oder Sol LeWitt durchaus ebenbürtig. Aber trotz aller Konsequenz wird die Meisterin in ihrer Wahlheimat USA lange nur im Rahmen von „Latin Art“ (lateinamerikanischer Kunst) oder Frauenforen wahrgenommen.

Symmetrie kann sexy sein

Doch Carmen Herrera gibt nie auf. 1975 komponiert sie schwarze Felder und leuchtende Farben zu kraftvollen „Wochentagen“ („Days of the Week“). Unbeirrbarkeit ist ein wichtiger Teil der künstlerischen Haltung.

Und siehe da: Ende der 1980er-Jahre bezeichnet der einflussreiche Kritiker Stephen Westphall in der Zeitschrift „Art in America“ ihr Werk als „a particularly sexy sort of geometric symmetry“, eine besonders scharfe Art der geometrischen Symmetrie. Stimmt: Man ist angezogen von diesen Bildern, die das Erdgeschoss der Kunstsammlung beherrschen, als hätten sie schon immer dazugehört.

Prof. Susanne Gaensheimer, Direktorin der Kunstsammlung NRW. (Foto: Andreas Endermann)

Prof. Susanne Gaensheimer, Direktorin der Kunstsammlung NRW. (Foto: Andreas Endermann)

In der Tat will Susanne Gaensheimer ein älteres sowie ein aktuelles Werk von Carmen Herrera für die Sammlung erwerben. Eines wie das klare „Grün der Nacht“ („Verde de Noche“) von 2011. Man wird sehen. Obwohl die Künstlerin erst mit über 80 Jahren nennenswerte Verkäufe erzielt hat, sind die Preise jetzt bereits über die Millionengrenze gestiegen. Am Ende wird es Carmen Herrera noch schaffen, neben den Boys zur Klassikerin der Moderne zu werden. Passt doch zu K20.

„Carmen Herrera – Lines of Sight“. Bis 8. April in der Kunstsammlung NRW, K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Geöffnet Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Katalog 36 Euro. www.kunstsammlung.de

Parallel zeigt die Choreographin Maria Hassabi vom 9. Dezember bis 21. Januar in der Grabbehalle die Performance „Staging: Solo #2“. Wechselnde Tänzer werden sich dabei minimal bewegen und „skulpturale Körperlichkeit“ präsentieren. Der Eintritt zu der Performance ist frei.




Manet in Wuppertal und der Traum von Paris

Um es gleich zu sagen: Manets „Olympia“ und sein herrlich skandalöses „Frühstück im Grünen“ kleben nur als Fototapeten im Von der Heydt-Museum. Wir sind nun mal in Wuppertal und können von Paris nur träumen.

Edouard Manet: "Die Reiterin", um 1882. Öl auf Leinwand (Museo Thyssen-Bornemisza) Madrid

Edouard Manet: „Die Reiterin“, um 1882. Öl auf Leinwand (Museo Thyssen-Bornemisza Madrid)

Désolée, Mesdames et Messieurs, tut mir leid! Die Originale blieben im Musée d’Orsay, was immerhin so gnädig war, eine Miniatur namens „Die Zitrone“ auszuleihen. Doch auch ohne die weltberühmten Bilder ist die Schau um Edouard Manet (1832-1882) und seine Kollegen allemal einen Kunstausflug wert.

Wie schon oft ist es Direktor Gerhard Finckh gelungen, mit Schätzen aus der Sammlung ein hoch populäres Thema auszustatten. Sicher könnte man sagen, dass dabei immer ein bisschen Mogelei im Spiel ist. Aber von der gehobenen Sorte.

Schon im ersten Raum, betitelt mit „Manets Triumph“, sehen wir unter anderem kleine Landschaften von Monet und Renoir, „Zwei Tänzerinnen“ von Degas und eine Löwenskizze von Delacroix aus dem vertrauten Besitz des Wuppertaler Hauses.

Ganz rechts in der Ecke hängt endlich ein echter Manet: das „Porträt der liegenden Berthe Morisot“ von 1872 aus der Sammlung des Pariser Musée Marmottan. Mit 26 mal 34 Zentimetern ist das Format bescheiden, der Hintergrund bleibt dunkel, nur das Gesicht leuchtet hell. Aber der feste Blick von Berthe, die selbst eine ehrgeizige Malerin und zudem Manets Schwägerin war, bannt den Betrachter mehr als so manches lichte Getüpfel.

Der Salon ist der Kampfplatz

Ein Zitat von Paul Valéry aus einem Katalog von 1932 legt nahe, „die Figur dieses großen Künstlers mit einem Hofstaat aus berühmten Kollegen zu umgeben“. Das ist nun in Wuppertal geschehen, und wir sehen auf Anhieb, was den Stil Manets so besonders macht: eine Klarheit, eine deutliche Linie, die eher untypisch für den Impressionismus ist.

Edouard Manet: "Frau mit Katze (Mme. Manet)", ca. 1880. Öl auf Leinwand (Tate, London)

Edouard Manet: „Frau mit Katze (Mme. Manet)“, ca. 1880. Öl auf Leinwand (Tate, London)

Zwar diskutierte Manet mit den Kollegen in den Pariser Cafés gern über die Auflösung der Form in Licht, er galt sogar zeitweise als Anführer der Avantgarde und sie als seine Bande, die „bande à Manet“, aber er nahm niemals an ihren selbstorganisierten Ausstellungen teil. Lieber ärgerte er sich über die konservativen „Salons“: „Der Salon ist der wahre Kampfplatz“, sagte er, „da muss man seine Kräfte messen. Mit all den kleinen Buden ist nichts anzufangen“.

Unbekannter Fotograf/Ludovic Baschet: Edouard Manet um 1876. Woodburytypie (Paris, Musée d'Orsaydon de la Fondation Kodak-Pathé, 1983 - bpk / RMN - Grand Palais / Patrice Schmidt)

Unbekannter Fotograf/Ludovic Baschet: Edouard Manet um 1876. Woodburytypie (Paris, Musée d’Orsay, don de la Fondation Kodak-Pathé, 1983 – bpk / RMN – Grand Palais / Patrice Schmidt)

Elf von 26 Werken, die er zwischen 1861 und 1882 einreichte, wurden von den Jurys zurückgewiesen, darunter natürlich die „Olympia“, die offensichtlich eine Pariser Hure war. Manet hatte keine Angst vor Entblößung, da, wie er vor seinem Freund Antonin Proust bekannte, „das Nackte ja doch, wie mir scheint, das erste und letzte Wort in der Kunst ist.“

Das Leben liefert die Motive

Dabei war er an einer göttlichen Venus nicht interessiert. Ihm ging es um den Menschen und „la vie moderne“, das moderne Leben, über das er mit seinem pessimistischen Dichterfreund Charles Baudelaire zu philosophieren pflegte. Anders als die realitätsfremden Impressionisten suchte er gelegentlich sogar ein politisches Motiv und hielt zum Beispiel „Die Erschießung des Kaisers Maximilian von Mexiko“ auf einer Lithografie von 1868 fest. Gern bediente er sich, wie die Ausstellung zeigt, auch fotografischer Vorlagen.

Manet war selbstbewusst und wohlhabend genug, sich der Konvention nicht zu beugen. Als Sohn eines hohen Pariser Justizbeamten, der ihm die gewünschten Studien und Reisen finanziert hatte, konnte sich der markante Maler mit dem Vollbart stets einen eleganten Auftritt leisten. Dabei war er seiner Klavier spielenden, auf einem späten Porträt deutlich matronenhaften Gattin Suzanne wohl nicht sehr treu. Jedenfalls starb er schon mit 52 Jahren an den Folgen einer Syphilis.

Der frühe Traum von der See

Die Wuppertaler Ausstellung erzählt so manche Details aus Manets Leben, mehr noch von geschichtlichen Ereignissen wie dem Deutsch-Französischen Krieg von 1871 und dem Commune-Aufstand.

Edouard Manet: "Das Dampfschiff, Seelandschaft mit Tümmlern", 1868. Öl auf Leinwand (Philadelphia Museum of Art)

Edouard Manet: „Das Dampfschiff, Seelandschaft mit Tümmlern“, 1868. Öl auf Leinwand (Philadelphia Museum of Art)

Aber man möchte ja keine Lektionen hören, man möchte vor allem Bilder sehen. Und so freut man sich über einige schöne, aus verschiedenen Sammlungen stammende Stücke wie die stachelige „Distel“ von 1858, das spanisch wirkende „Kinderbildnis, der kleine Lange“ von 1862 oder das 1868 gemalte „Dampfschiff, Seelandschaft mit Tümmlern“. Manet hatte eine Leidenschaft für das Meer – er war in jungen Jahren als Kadett zur See gefahren.

Trotz leichter Sehnsucht nach der Weite flanierte der Maler dann doch mit Vorliebe durch Paris, wo er sich in der gutbürgerlichen Gesellschaft bestens auskannte. Die Bilder von der „Rennbahn von Longchamp“, einem aufgeputzten „Monsieur Brun“, der „Dame mit Fächer“ und einer reizenden „Reiterin“, bei der es sich um die Tochter eines Buchhändlers handelt, zeugen von seiner Freude am gehobenen Lebensstil.

Edouard Manet: "Beim Père Lathuille", 1879. Öl auf Leinwand (Musée des Beaux-Arts, Tournai - Bridgeman Images)

Edouard Manet: „Beim Père Lathuille“, 1879. Öl auf Leinwand (Musée des Beaux-Arts, Tournai – Bridgeman Images)

Dabei überließ er die Wahl seiner Motive nie dem Zufall. Die so spontan wirkende Gartenlokal-Szene „Beim Père Lathuille“ (1879) war sorgfältig inszeniert. Der schnauzbärtige Charmeur, der da eine etwas verschreckte Dame umgarnt, ist der Wirtssohn in Manets Malerkittel.

„Edouard Manet“: Bis 25. Februar im Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Di. und Mi. 11 bis 18 Uhr, Do. und Fr. 11 bis 20 Uhr, Sa./So. 10 bis 18 Uhr. Katalog, 312 Seiten, 25 Euro. www.manet-ausstellung.de




Fotokunst von Axel Hütte: Die Welt als geistiger Raum

Hey, Sie da mit dem hochgereckten Smartphone! Ist die Fotografie überhaupt noch eine Kunst? Eine heikle Frage. Die allgegenwärtige Technik, diese Domina des 21. Jahrhunderts, ermöglicht jedem Laien gelungene Bilder. Es wird gepostet, bis es uns vor den Augen flimmert.

Axel Hütte Lemaire Channel-1, Antarctic, 2017 C-Print, 135 x 165 cm © Axel Hütte

Axel Hütte
Lemaire Channel-1, Antarctic, 2017
C-Print, 135 x 165 cm
© Axel Hütte

Und doch behauptet sich das besondere Werk – durch Konzept, Konsequenz, Reduktion und das gute alte Gespür für Motiv und Augenblick. Fotografie kann immer noch eine hohe Kunst sein, der Malerei ebenbürtig. Das beweist Axel Hütte in der wunderbaren Ausstellung „Night and Day“ im Düsseldorfer Museum am Ehrenhof.

Der 1951 in Essen geborene Künstler missachtet alles Spektakuläre. Er missachtet das sich anbietende Motiv. Mit einer altmodischen, bleischweren Plattenkamera reist er durch die Welt und lässt die Attraktionen und Panoramen links liegen.

In den kanadischen Bergen wartet er im Mondschein, bis der Nebel aufsteigt über den Wäldern, nur ein paar Konturen preisgebend. Das, wagt man zu bemerken, könnte auch der Schwarzwald sein, wozu die weiten Reisen? „Es geht hier nicht um ein paar Tannenbäume“, murrt der Künstler – er mag die blöden Fragen von Journalisten nicht.

Das Geheimnis bleibt unantastbar

Immer wollen sie das Geheimnis mit Fakten und Erklärungen durchbohren. Axel Hütte hingegen zelebriert das Verschleierte. Nicht ohne Grund hing sein Schweizer Bild vom total vernebelten „Furkablick“ in Beat Wismers großer Verhüllungs-Ausstellung „Hinter dem Vorhang“. An der rechten Seite des Bildes erscheint gestochen scharf die Fassade des historischen Pass-Hotels mit seinen Schnörkelbalkonen, die der Aussicht dienen. Doch nur die Vorstellungskraft vermag in die Ferne vorzudringen. Ein Bild wie aus einem sonderbaren Traum.

„Ich suche den Ort nicht, ich finde ihn“, bemerkt Axel Hütte. Das kann in Griethausen sein, wo ihn 1999 das gekreuzte Eisengitter einer Brücke faszinierte, oder in der Antarktis, wohin er erst in diesem Jahr reiste, um den graublauen Himmel über im Meer treibenden Eisstücken aufzunehmen.

Zwischen weißen und dunkelblauen Wänden geht es in dieser Ausstellung um etwas, was Kurator Ralph Goertz „geistigen Raum“ nennt. Der Blick darf endlich einmal ruhen – sogar auf Bildern, die sich sanft bewegen wie Axel Hüttes Video der Lichter von Detroit. Tatsächlich hatte der junge Mann in den 1970er-Jahren zwei Semester in der Filmklasse der Düsseldorfer Akademie studiert, bevor er zur Fotografie wechselte und einer der frühen Schüler der berühmten Düsseldorfer Becher-Klasse wurde.

Die Kunst in der Natur entdecken

Aber bei einem reifen Künstler ist der obligatorische Rückblick auf die Ausbildung eigentlich absurd. Als ob das eine Rolle spielte. Was zählt, ist das Werk in seiner Stille und Schönheit.

Wir sehen, wie wuchernde Zweige sich spiegeln in den dunklen Wassern des Rio Negro, während der Dschungel im Hintergrund undurchdringlich bleibt. Wir sehen, wie blaue Fensterlichter funkeln an einem Hochhaus in Kuala Lumpur. Wir erkennen die konstruktivistischen Strukturen von ganz gewöhnlichen Brücken-Stahlträgern in Japan oder Australien. Wir wandern in den Dunst eines italienischen Waldes mit kahlen und abgebrochenen Bäumen.

In schwarzer Nacht liegt der Hügel von Bourg St. Maurice in Frankreich, nur ein Schimmer deutet auf menschliche Behausungen. Irgendwo bei Ingelheim scheinen Büsche zwischen Fluss und weißem Himmel zu schweben, und ein wirres „Geäst“ erinnert an die Strukturen des Abstrakten Expressionismus.

Axel Hütte ist auch ein Entdecker der Kunst in der Natur und im profanen Bauwerk. Seine Bilder zeigen Phänomene, verbreiten Atmosphäre, sie erzählen keine Geschichten. Man müsste gar nicht wissen, wo er sie aufgespürt hat. Aber die Namen der Orte, die uns bereitwillig genannt werden, setzen bei jedem Betrachter eine eigene Fantasie frei. Und auch das ist ein Teil von Kunst.

Information:

„Axel Hütte: Night and Day“: bis 14. Januar 2018 im Düsseldorfer Museum Kunstpalast, Ehrenhof. Di.-So. 11 bis 18 Uhr, Do. bis 21 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Katalog 39,90 Euro. www.smkp.de

Parallel wird in Bottrop das Frühwerk (1978-95) von Axel Hütte gezeigt. Neben Porträts von Kollegen interessierten Hütte damals insbesondere architektonische Formationen, wie Treppenhäuser und Flure in Mietshäusern der Nachkriegszeit, U-Bahnhöfe in Berlin, Gebäude und Plätze in London, Venedig und Paris. Di-Sa. 11 bis 17 Uhr, So. 10 bis 17 Uhr. Eintritt: 6 Euro. Katalog: 38 Euro. www.bottrop.de/mq




Düsseldorf: Surrealistische Freiheitskunst aus Ägypten

Der Titel weckt erhabene Gefühle: „Art et Liberté“, Kunst und Freiheit! Man erwartet das große Ganze, Wunderbare. Doch im K20, dem schwarz glänzenden Tempel der Kunstsammlung NRW, geht es in diesem Sommer nur um ein sehr spezielles Thema: das vergessene Wirken einer Gruppe ägyptischer Surrealisten um 1940. Mit der vom Pariser Centre Pompidou übernommenen und von einem Scheich gesponserten Schau überbrückt man die Wartezeit bis zum Antritt der neuen Direktorin Susanne Gaensheimer.

Ramses Younane: Ohne Titel (1939). Courtesy H. E. Sh. Hassan M. A. Al Thani collection, Doha. (Foto: Haitham Shebab) / © Kunstsammlung NRW)

Ramses Younane: Ohne Titel (1939). Courtesy H. E. Sh. Hassan M. A. Al Thani collection, Doha. (Foto: Haitham Shebab / © Kunstsammlung NRW)

Salim al-Habschi, Hassan el-Telmisani, Ibrahim Massouda: Nie gehört? Die Namen der Künstler, die sich Ende der 1930er-Jahre in Kairo unter der Parole „Art et Liberté“ zusammentaten, sind unbekannt. Zu Recht, muss man nach dem Besuch der Ausstellung leider sagen. Denn was man da sieht, ist hauptsächlich so etwas wie das schwülstige Abbild der Avantgarde-Werke, die im Paris zwischen den Weltkriegen entstanden waren. In der Tat hatten etliche Talente aus dem zu jener Zeit noch britisch dominierten Ägypten in der französischen Hauptstadt studiert oder zumindest nach Inspiration gesucht.

Das haben sie in Paris gelernt

Antoine Malliarakis zum Beispiel, genannt Mayo, Sohn eines griechischen Suez-Kanal-Ingenieurs, hatte in den 1920er-Jahren das prickelnde Künstlerleben am Montparnasse gesucht. Keineswegs zufällig ähneln Mayos kurios komponierte, sandfarbene Körperteile von 1937 den surrealistischen Strandszenen von Picasso.

Auch die Kollegen guckten ab. Ringsum meint man grobe Kopien der Traumlandschaften von Max Ernst, Salvador Dalí oder Yves Tanguy zu sehen. Hier glotzt ein Auge aus Tentakeln, da erscheint eine weiche Uhr in einer Landschaft, Nackte steigen aus dem Sumpf, trickreich veränderte Fotografien nach Art von Man Ray verbreiten mysteriöse Stimmungen.

Mayo: "Portrait" (1937). Europäisches Kulturzentrum von Delphi, Griechenland (VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: © Kunstsammlung NRW)

Mayo: „Portrait“ (1937). Europäisches Kulturzentrum von Delphi, Griechenland. (VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: © Kunstsammlung NRW)

Um die fatalen Ähnlichkeiten zu durchbrechen, proklamierte der auch theoretisch versierte Maler Ramses Younane den „Subjektiven Realismus“ und malte 1939 eine dürre gebogene Figur, die entfernt an altägyptische Hieroglyphen erinnert.

Nun ja. Man hat schon weit größere Kunst im K20 gesehen. Aber die Schau ist historisch-politisch interessant und wurde von den Gastkuratoren Sam Bardaouil und Till Fellrath mit Hilfe von Filmen, Tönen und großen Fotografien lebendig inszeniert.

Hoffnung auf die Zukunft

In Kairo also, der Metropole des Orients, formierte sich im Dezember 1938 ein Widerstand gegen die faschistische Kulturpolitik in Deutschland, Italien und der Sowjetunion. „Vive l’art dégénéré“, es lebe die „Entartete Kunst“, überschrieben 37 vereinte Künstler und Intellektuelle in Anspielung auf den Titel der Münchner Nazi-Propaganda-Ausstellung ein Manifest für „Art et Liberté“.

In der „entarteten“, also von akademischen Zwängen und Schönfärberei befreiten Kunst, sahen die progressiven Ägypter „alle unsere Chancen für die Zukunft“ und riefen auf: „Lasst uns gemeinsam für ihren Sieg über das Mittelalter arbeiten, das im Herzen des Okzidents entsteht.“ Dazu bildeten sie ein heute weltberühmtes, damals neues Anti-Kriegsbild des spanischen Idols Picasso ab: „Guernica“.

Inji Efflatoun: Surrealistische Komposition (1942), Privatsammlung (Foto: © Kunstsammlung NRW)

Inji Efflatoun: Surrealistische Komposition (1942), Privatsammlung. (Foto: © Kunstsammlung NRW)

Ganz nebenbei registriert man, dass auch Frauen – natürlich ohne Schleier – Mitglied der Künstlergruppe waren. Filmisch dokumentierte Stadtszenen zeigen eine westlich geprägte Gesellschaft. Islamistischer Fanatismus war noch kein Thema. Die Welt hatte andere Probleme. Die Kriegsfront zog sich zwar nicht durch Kairo, aber 1941 waren hier 140 000 Soldaten stationiert. Wie alte britische Nachrichtenfilme zeigen, prägten marschierende Truppen und rollende Panzer das Straßenbild.

Gegen die Stimmen der Kanonen

„Die Stimme der Kanonen“, so der erste Katalogtitel der Künstlergruppe, übertönte alles. Und die Künstler kämpften leidenschaftlich auf ihre Art. Inji Efflatoun, Malerin und Feministin, versetzte „Mädchen und Monster“ in den Dschungel ihrer Fantasie, und Georges Henein, Poet und Diplomatensohn, dichtete Pathetisches: „Die Furchen deiner Stirn seien gleich Salven, die Edelsteine, die prachtvolle Orgien verheißen, die diesen großen parallelen Lüsten vorbehalten sind …“. Vielleicht ist die Übersetzung ja auch etwas kraus, man weiß es nicht.

Maler und Schriftsteller als Mitglieder von "Art et Liberté" auf einem Foto, das um 1945 entstanden ist. (Unbekannter Fotograf / Sammlung Christophe Bouleau, Genf / © Kunstsammlung NRW)

Maler(innen) und Schriftsteller als Mitglieder von „Art et Liberté“ – auf einem Foto, das um 1945 entstanden ist. (Unbekannter Fotograf / Sammlung Christophe Bouleau, Genf / © Kunstsammlung NRW)

Aus einer Ecke tönt der Saint-Louis-Blues von Teddy Stauffer, ein Film zeigt lockere Frauen und Bauchtänzerinnen mit Gasmasken aus dem Cabaret. Es ging wohl recht ungezwungen zu in den Clubs von Kairo. Gleich, was in Europa in und nach dem Krieg geschah – eine reiche Elite amüsierte sich, während die Armut unterprivilegierter Bevölkerungsschichten immer größer wurde. Ausgemergelte Gestalten auf den Bildern von „Art et Liberté“ weisen auf diese Missstände hin. Wie fatal sich eine solche gesellschaftliche Schieflage auf Dauer auswirkt, wissen wir heute. Schon deshalb ist es wichtig, Kunst und Freiheit hochzuhalten.

„Art et Libertè – Umbruch, Krieg und Surrealismus in Ägypten (1938-1948)“. Bis 15. Oktober im K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr, jeden 1. Mittwoch im Monat bis 22 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Katalog: 35 Euro. www.kunstsammlung.de




Hilfe, die Zukunft ist da! Unser Science-Fiction-Leben

Und, wonach greifen Sie nach dem Aufwachen zuerst? Nun gut, es gibt vielleicht ein Küsschen für den Menschen neben uns. Aber dann schnappt man sich dieses kleine flache Gerät, das, neben einem einstaubenden Rilke-Band, auf dem Nachttisch liegt. Hat es nicht gerade so vertraut gebrummt?

Die Zukunft hat offenbar schon begonnen... (© Franz Ferdinand Photography) photo credit: Franz Ferdinand Photography <a href="http://www.flickr.com/photos/121184747@N06/21706059016">Science Fiction Treffen</a> via <a href="http://photopin.com">photopin</a> <a href="https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/">(license)</a>

Die Zukunft hat offenbar schon begonnen… Vielsagender Moment beim Science-Fiction-Treffen im Technikmuseum Speyer. (© Franz Ferdinand Photography) Photo credit mit Links: Franz Ferdinand Photography Science Fiction Treffen via photopin (license)

Hallo, du mein Wecker voller Musik, mein Telefon, meine Verbindung zur Welt, mein Minikino, mein Alleswisser, mein Immerfürmichda-Dings! Guten Morgen! Magst du mal eben meinen Puls fühlen? Natürlich, das kannst du auch, mein süßes Roboterchen. Denn wir leben unter Bedingungen, die in der Rock’n’Roll-Ära noch pure Science-Fiction waren. Hilfe, die Zukunft ist da!

Es soll sie ja geben. Ein paar ältere Herrschaften, die sich der neuen Technik verweigern. Sie haben kein Smartphone, sie kennen kein Internet: „Brauch ich nicht, will ich nicht“, murren sie. Doch sie kennen ihre Fernbedienung und lassen gerne ganztägig den Fernseher laufen. Früher flimmerte da ein Testbild, jetzt ist immer Seifenoper. Blöd, aber faszinierend.

Genau so etwas hatten wir befürchtet, damals, als wir den Fortschritt noch mit Skepsis sahen. Aber zum Glück gibt es – zumindest in der westlichen Zivilisation von Angela Merkel und Monsieur Macron – keinen dämonischen Staatsapparat, der uns dumm hält, um uns für fiese Ziele zu benutzen, was Dichter, Denker und wir Gelegenheitsrevoluzzer stets geargwöhnt hatten. Es ist vielmehr die betörende Technik, diese geschäftstüchtige Circe des 21. Jahrhunderts, die uns mit ihrem Zauberkünsten und Lockgesängen in ihren Bann gezogen hat. Und wir wollen uns nicht mehr von ihr trennen.

Captain Kirk, bitte kommen!

Denn sie macht uns das Leben schon sehr bequem. Wir müssen nie mehr wieder nach einer Telefonzelle suchen, nach Münzen kramen und uns über zerfledderte Telefonbücher ärgern. Unser Smartphone kennt sowieso alle Nummern, stellt jederzeit und überall die Verbindung her. Selbst aus der Gletscherspalte können wir noch Mutti anrufen, denn das Mobilfunknetz umfasst entlegenste Winkel der Erde. Und Akkus halten auch immer länger.

Tatsächlich funktionieren unsere Handys heute reibungsloser als der Kommunikator, mit dem Captain Kirk in der Fantasie von 1966 Kontakt zu den Kollegen vom Raumschiff Enterprise aufnahm. Ein ziemlich klobiges Klappding war das – und doch vollkommen utopische Technik für Menschen, die allenfalls ein knarrendes Walkie-Talkie kannten.

Allgegenwärtiger Begleiter: das Smartphone. (Foto: Joachim Kirchner / pixelio.de)

Allgegenwärtiger Begleiter: das Smartphone. (Foto: Joachim Kirchner / pixelio.de)

1966, das muss man mal bedenken, war noch nicht einmal das Fax-Gerät erfunden, das sich die Enterprise-Macher ausgedacht hatten. Wer hätte damals geahnt, dass auch das Bildtelefon mit beliebiger Projektion – dolle Sache in der Sternenflotte – für uns alle bald schon eine Selbstverständlichkeit werden würde? Gerade so, wie Captain Kirk und sein geschätzter Halbvulkanier Mr. Spock (der mit den spitzen Ohren) die knurrenden Klingonen-Generäle vor dem Zusammenstoß auf ihren Schirmen sehen konnten, gucken wir heute der Schwiegermutter über Skype in die Augen. Und dank Highspeed Flatrate kostet das nichts extra.

Das Ende der Geheimnisse

Die ewige Verfügbarkeit kann auch ein Fluch sein. Es gibt keine Ausreden mehr. Vorbei die Zeit, als man tatsächlich in die Ferien verschwinden konnte – mit dem vagen Versprechen, nach einer Woche vielleicht einmal anzurufen („Aber verlass dich nicht drauf …“). Ständige Statusmeldungen – „Sind jetzt am Autobahnkreuz“, „Haben die Meiers getroffen“, „So sieht der Strand aus“ – gehören zum Unterwegs-Sein. Und es werden zeitnahe Antworten erwartet. Schließlich verpetzt mir meine What’sApp sofort, wann die Lieben meine Nachricht gesehen haben.

Diskretion war gestern. Finstere Mächte, geheime Dienste könnten jede meiner Mails und Messages theoretisch auch gesehen haben. Da nützen Anti-Viren-Programme nichts. Wir wissen alle, dass die gründliche Bespitzelung des Einzelnen technisch kein Problem mehr darstellt. Genau das hat George Orwell, der alte Pessimist, in seinem 1948 vollendeten, von der Zeit überholten Zukunftsroman „1984“ befürchtet.

„Big Brother is watching you“ – ja, ja, der wie auch immer geartete große Bruder kann/könnte alle Räume und Straßen beobachten, unsere Gespräche abhören, unsere Handys und Autos jederzeit orten. In den 1970er-Jahren wären wir ausgeflippt vor Entsetzen. Heute ist die Privatsphäre ein weniger streng gehütetes Revier.

Keine Angst vor Big Brother

Mit kindlichem Vergnügen geben wir der Öffentlichkeit bei Facebook preis, wo wir heute Abend essen gehen, was wir auf dem Teller haben, wie süß der Hund wieder guckt. Die virtuellen Friends verdrehen schon die Augen, treiben es aber ähnlich. Ich poste, also bin ich, das ist die Devise der Social-Media-Gesellschaft.

Während die Vorsichtigen wenigstens kurz überlegen, was sie da unauslöschbar in die Welt setzen, so begeben sich tollkühne oder auch dummdreiste Freiwillige in die Arenen der Reality-Shows, scheuen weder Dschungelprüfungen noch Wohnzimmerknäste und lassen sich vor der Kamera demütigen. Eigentlich nicht zu fassen: Orwells Begriff vom „Big Brother“ ist seit der Jahrtausendwende der Titel der erfolgreichsten Sendung mit voyeuristischem Konzept.

Verzeihen Sie, Mr. Orwell, der Sie die Menschheit mit dem gruseligen Großen Bruder vor dem faschistoiden Überwachungsstaat warnen wollten! Wir Science-Fiction-Wesen haben aus Ihrem düsteren Zukunftsbild einen Witz gemacht. „Wir amüsieren uns zu Tode“, ermahnte schon in den 1980er-Jahren der Medienwissenschaftler Neil Postman die Welt. Aber wir leben noch, trotzen dem Terror und der Klimakatastrophe und gucken jetzt Serien gleich staffelweise auf Netflix. Unsere Empfindlichkeiten haben sich offenbar erheblich verändert. Die nicht abschaltbaren Teleschirme in Orwells 1984er-Szenario können uns einfach nicht mehr schrecken.

Seltsame neue Welt

Natürlich regen wir uns zwischendurch mal ein bisschen auf – über Gentechnik, Leihmütter, eingefrorene Eizellen, Embryonen aus dem Reagenzglas und geklonte Tiere. Lauter Phänomene aus der klassischen Science-Fiction-Literatur, die mir nichts, dir nichts Wirklichkeit geworden sind.

Immer wieder gern zitiert wird in diesem Zusammenhang der 1932 entstandene Zukunftsroman „Schöne neue Welt“ des britischen Intellektuellen Aldous Huxley. Noch heute beschäftigen sich artige Abiturienten mit dem pädagogisch konstruierten Stoff über einen globalen Staat, der die Menschheit in Großlabors aufzieht und perfekt kontrolliert. Für Vergnügungen ist gesorgt, allzu starke, individuelle Gefühlsregungen sind hingegen unerwünscht und werden von der Obrigkeit gewaltsam unterdrückt.

Da allerdings irrten Huxley und andere Vordenker. Es ist alles noch viel raffinierter. Wir in der Zukunft Angelangten dürfen durchaus individuell fühlen und handeln. Das allumfassende Netz bietet uns nicht nur ständige Konsum-, Kommunikations- und Unterhaltungsmöglichkeiten. Nein, es nimmt auch unsere Wutausbrüche und Verschwörungstheorien offenherzig entgegen, Tag und Nacht.

Liebesschwüre und Hasstiraden werden genauso tolerant gespeichert und leidenschaftslos verbreitet wie Referate über die Erderwärmung. Und was das Beste ist: Das System hilft uns bei dem Referat. Wie eines dieser allwissenden Elektronengehirne aus der Science-Fiction-Literatur weiß es Antworten auf alle Fragen. Gefüttert vom Wissen zahlloser einander kontrollierender Individuen, entwickelt es zum Glück (noch) kein gemeines Eigenleben wie der Supercomputer HAL 9000 aus Stanley Kubricks 1968er-Werk „2001 – Odyssee im Weltraum“. Aber das kann ja noch kommen.

Wo bleibt das eigene Wissen?

Bisher lieben wir unser allwissendes Elektronengehirn und googeln uns durchs Leben, auch wenn uns hin und wieder ein Unbehagen beschleicht. Was ist, wenn der große Stecker mal gezogen wird? Wenn die iCloud, diese mysteriöse Datenwolke der weltbeherrschenden Firma Apple, vom Wind des Unberechenbaren verweht wird? Wenn die Systeme kollabieren? Dann, werte Mitmenschen, bleibt, was derzeit nicht mehr allzu heftig gefördert wird: das eigene Wissen. Wohl dem, der dann noch Meyers Taschenlexikon in 25 leider veralteten Bänden besitzt! Das sind bekanntlich nur wenige Menschen.

Die Vernichtung der privaten Bibliotheken musste keineswegs, wie in Ray Bradburys 1953 erschienenem Science-Fiction-Roman „Fahrenheit 451“, mit Gewalt betrieben werden. Junge Leute schleppen sich bei ihren globalen Umzügen nicht mehr mit 100 Bücherkisten ab. Große Bücherwände sind aus den Katalogen der Möbelhäuser verschwunden. Zwar kaufen kultivierte Damen gerne Literatur zum Verschenken. Auch sieht man im Urlaub Leute mit Krimis auf dem Liegestuhl. Aber auf Dauer ist das e-book nun mal praktischer.

Alles ist so praktisch. Wir können über das Smartphone zu Hause das Licht anmachen. Wir müssen uns keine Zahlen und Fakten mehr merken. Das Auto fährt bald von selbst. Und schon jetzt führt uns das Navigationssystem zu jedem Ziel, das wir uns vorher über Streetview schon mal angeguckt haben. Wir müssen nicht mal mehr mit dem Finger auf Tasten drücken. Die Technik reagiert auch auf unsere Stimme.

Science-Fiction ist Realität geworden. Es wird Zeit, den eingestaubten Rilke-Band vom Nachttisch zu nehmen und mal wieder einfach so auf knisterndem Papier ein Gedicht zu lesen: „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre …“. Dann denken wir noch mal nach. Über uns und die Zukunft, in der wir angekommen sind.




Das Flimmern der Gefühle in der Videokunst: Zehn Jahre Düsseldorfer Stoschek Collection

Wer in der Kunst nach Seelenruhe sucht, der sollte vielleicht lieber seinen Zier-Buddha im Garten betrachten. In der Düsseldorfer Stoschek Collection braucht der Mensch eine Bereitschaft, die Aufmerksamkeit strapazieren zu lassen. Videokunst, diese subjektive Verwendung der Filmtechnik ohne cineastische Absicht, ist nichts für schwache Nerven.

Installationsansicht - Links: Charles Atlas "Hail the New Puritan" (1985/86), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Rechts: Wolfgang Tillmanns "Heartbeat / Armpit" (2003), Video 2'27. (Foto: Simon Vogel, Köln - © Julia Stoschek Foundation e. V.)

Installationsansicht – Vorn links: Charles Atlas „Hail the New Puritan“ (1985/86), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Vorn rechts: Wolfgang Tillmanns „Heartbeat / Armpit“ (2003), Video 2’27. (Foto: Simon Vogel, Köln – © Julia Stoschek Foundation e. V.)

Besonders herausfordernd wirkt eine Ansammlung von Videokunst ohne den üblichen Ausgleich durch Bilder oder Skulpturen. Für Julia Stoschek, die Sammlerin, Sponsorin und Stifterin eines europaweit einmaligen Ausstellungshauses für nichts als flimmernde, immaterielle Werke, gibt es nichts Spannenderes.

Pressekonferenz an der Düsseldorfer Schanzenstraße 54, dem kühlen Tempel der unfassbaren Kunstform, wo zum zehnjährigen Bestehen eine Schau unter dem „Generation Loss“ (Generationsverlust) arrangiert wurde. „Wir warten noch auf Frau Stoschek“, heißt es. Und dann schwebt sie die graue, raue Treppe herab zu uns – das mondäne Schneewittchen unter den Big Spendern: eine bleiche, perfekt geschminkte Schönheit mit pechschwarzem langem Haar, elfenhaft schlank auf atemberaubenden rosa Stöckelstiefeln: „Guten Morgen“, lächelt sie.

Die Schöne und ihre Geheimnisse

Dass man Julia Stoscheks Erscheinung nicht beachtet, ist unmöglich, auch wenn sie sich mit betont intellektueller Attitüde von der Welt des Luxus und der Modegeschöpfe distanziert. Sie spricht viel und unbeirrt über die Relevanz von „time-based media“, die zeitbezogene Medienkunst. Über ihr Leben und ihre lang geheime Liebe zu Springer-Chef Mathias Döpfner äußert sich die Mutter eines 2016 geborenen Sohnes nicht. Das überlässt sie dem Klatsch der Magazine.

Aber gerade das Geheimnis, das sie umgibt, macht die 42-jährige Milliardärin und Gesellschafterin der Brose Fahrzeugteile GmbH zu einer der viel beachteten Figuren in der internationalen Kunstszene. Sie ist unsere Peggy Guggenheim der Gegenwart und bringt Glamour ins bürgerliche Einerlei. Zu ihren Vernissagen treffen internationale Künstler und Galeristen auf geschmeichelte Vertreter der regionalen Society.

Die Unterstützung durch die eher biedere Düsseldorfer Kulturpolitik lässt hingegen zu wünschen übrig. Die Sammlung Stoschek profitiert nicht von vorhandenen musealen Strukturen, und es dauerte zehn Jahre, bis auch nur ein Wegweiserschild aufgestellt wurde. Dass Stoschek im letzten Jahr eine Filiale ihrer Collection in der offenherzigen Hauptstadt Berlin eröffnete, scheint hier niemanden zu beunruhigen.

Die Ausstellung ist selbst eine Kunst

Immerhin steht fest, dass Julia Stoschek ihre Düsseldorfer Zentrale, eine von den Berliner Architekten Kuehn Malvezzi umgebaute Rahmenfabrik am Rand von Oberkassel, mehr schätzt als die weniger idealen Berliner Räumlichkeiten: „Ich liebe das Haus!“ Ohne Zögern hat sie für die Jubiläumsausstellung gläserne Lärmschutzwände einbauen lassen. Was die Zukunft bringt, weiß niemand, aber in den nächsten zwölf Monaten kann man hier in Düsseldorf eine faszinierende Ausstellung zur Geschichte der Videokunst sehen: 48 Werke, die keineswegs alle erst gestern, sondern in den letzten 50 Jahren entstanden sind.

Und das Besondere: Die Präsentation ist eine Art übergeordneter Rauminstallation. Denn da war kein Kurator am Werke, sondern ein junger Videokünstler ohne falsche Scheu. Ed Atkins, 1982 in Oxford geborener Wahl-Berliner, nutzt digitale Kopien älterer Schmalfilme und Videos, um sie gleichrangig und gleichformatig mit neueren Arbeiten zu konfrontieren. Der „Generation Loss“ aus dem Titel bezieht sich auf den Verlust des Originals ebenso wie auf die Ablösung der Künstlergeneration und überhaupt auf das Entschwinden aller Dinge und Gewissheiten. Der Gedanke der Vergänglichkeit treibt die heutigen Technik-Freaks genauso um wie einst die Maler des Barock.

Was entsteht und verschwindet

Mit einer stummen Live-Projektion der aktuellen Sky-News zeigt Atkins, was er meint. Kaum gesehen, schon zerronnen sind die Bilder der Stunde, die Aufregung über Anschläge, Katastrophen, Wetterberichte. Der Amerikaner Ian Cheng bezieht sich nicht auf die Realität. Er entwickelt kunstvoll stilisierte Figuren, die nach Art eines Videospiels in Echtzeit agieren, wobei immer neue Szenarien entstehen.

Im nächsten Raum, abgetrennt durch eine gläserne Wand, hat Atkins wild geschnittene Punkclub-Szenen aus den 1980er-Jahren von Charles Atlas mit einem kurzen Video-Loop von Wolfgang Tillmanns kombiniert, der 2003 nichts als die Achselhöhle eines jungen Mannes zeigt, in der man den Herzschlag pochen sieht.

Installationsansicht - Links: Bruce Nauman "Walking in an exaggerated manner around the perimeter of a square" (1967/68), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Rechts: Klara Lidén "Paralyzed" (2003, Video 3' (Foto: Simon Vodel, Köln / © Julia Stoschek Foundatiob e. V.)

Installationsansicht – Links: Bruce Nauman „Walking in an exaggerated manner around the perimeter of a square“ (1967/68), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Rechts: Klara Lidén „Paralyzed“ (2003, Video 3′ (Foto: Simon Vogel, Köln / © Julia Stoschek Foundation e. V.)

So kommt es zu den seltsamsten Begegnungen. Während Paul McCarthy 1974 auf die Kameralinse spuckt („Spitting on Camera Lens“), lässt Douglas Gordon 2003 eine Männer- und eine Frauenhand miteinander kämpfen. Das berühmte Performance-Paar Ulay und Marina Abramovic knallt 1976 im Laufen mit den nackten Körpern gegeneinander, bis es auch dem Betrachter weh tut. Dann bemerkt man auf der linken Seite, wie Konzept-Altmeister Bruce Nauman als junger Mann in einem Schwarzweiß-Film der 1960er-Jahre um die auf den Boden gezeichneten Umrisse eines Quadrats spaziert („Walking in an exaggerated manner around the perimeter of a square“), und rechts verausgabt sich Patty Chang 2003 beim „Fan Dance“ in einem Strudel aus Dreck und Farbe.

Das Innere nach außen gekehrt

Immer wieder geht es in der Videokunst um die Enthüllung neurotischer Strukturen und Zwangshandlungen, das Innere wird nach außen gekehrt. Ein bisschen Witz kann auch mal dabei sein, zum Beispiel, wenn die Abramovic sich mit einem Vollbart in einen Mann verwandelt. Schwindelerregende Effekte kann es geben wie in Dara Friedmans „Revolution“, wo ein Mann wie eine Fliege an der Wand und der Decke läuft, weil sich die Perspektive dreht. Und manchmal wird man ganz andächtig wie vor dem „Sanctus“ von Barbara Hammer, die 1990 zu Bachmusik eine Art Totentanz aus experimentellen Röntgenfilmen der 1950er-Jahre schuf.

Atkins zeigt diese beeindruckende Arbeit in einem Einzelraum. Wenn er Filme kombiniert, so achtet er auf die Abstimmung von Bild und Ton. Um mit Shakespeare zu sprechen: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode. Und eine strenge Ordnung. Durch die gläsernen Akustikwände vermeidet Atkins die sinnlose Kakofonie, die so oft durch die räumliche Nähe verschiedener Videos entsteht. Die allzeit sich verändernden Bilder aber und ihre Spiegelungen sind weithin zu sehen – und vom Künstler bewusst arrangiert.

Der Besucher begegnet sich selbst als Spiegelbild oder Schattenriss inmitten der Gesamtkonstellation. Da flimmern die Gefühle wie die Projektionen. Ja, Videokunst ist nicht nett wie die Katzenfilmchen auf Facebook. Sie ist manchmal sogar eine Qual. Aber man kann sich ihr nicht entziehen. Ihre nervöse Flüchtigkeit ist nur eine treffliche Metapher für die Vanitas, in der wir alle leben. Daran ändert auch der Buddha im Garten nichts.

„Generation Loss: 10 Years of the Julia Stoschek Collection“: Bis 10. Juni 2018 an der Schanzenstraße 54 in Düsseldorf-Oberkassel. Geöffnet bei freiem Eintritt jeweils Samstag und Sonntag, 11 bis 18 Uhr. Öffentliche Führungen (Gebühr 10 Euro) gibt es seit dem 11. Juni alle 14 Tage sonntags, jeweils 12 und 15 Uhr. Anmeldung unter www.julia-stoschek-collection.net




Mythos Tour de France: Ja, wo radeln sie denn?

Die Düsseldorfer meckern gerne bei einem schönen Gläschen Crémant über den Grand Départ, den großen Start der Tour de France 2017 in unserem Möchte-gern-Klein-Paris. Ein einziger Reklamerummel sei das, viel Geld, Gedöns und blöde Dekoration für ein paar Momente, die nur Radsport-Fans interessieren.

Aber halt, die Chose hat auch kulturelle Aspekte, ja, da staunen Sie, Mesdames et Messieurs! Im NRW-Forum, dieser Forschungsstation für eine Philosophie der westlichen Lebensart, wurde soeben eine Ausstellung über den „Mythos Tour de France“ eröffnet, die auch Sportschau-Verächtern gefallen wird.

Dabei geht es nicht um eine kritische Betrachtung des Radzirkus mit seinen obskuren Geschäften und Skandalen. Man will ja die Stimmung und das Sponsoring nicht verderben. Lediglich ein kleines Wandobjekt mit Beutelchen Eigenblut des jungen Künstlers Martin Höfer weist diskret auf das Doping-Problem hin. Ansonsten freut man sich an Menschen, Rädern, Emotionen – und einer zum Teil überwältigenden Ästhetik. Düsseldorfs Kulturdezernent Hans-Georg Lohe hat nicht Unrecht, wenn er feststellt, Sport und Kunst seien sich näher als gedacht.

Legenden der Landstraße

So edel sah man die Helden des belgischen Radsports gewiss nie wie auf den Schwarz-Weiß-Porträts des Fotografen Stephan Vanfleteren: Eddy Merckx, Briek Schotte, Johan Museeuw – Legenden der kurvenreichen Landstraße. Aber selbst, wenn man die Namen der Sportstars überhaupt nicht kennt und kein Fachgespräch über sie führen könnte, wird man die markanten Visagen zu schätzen wissen.

Gleich davor kann man seinen kindlichen Spaß haben. Der Franzose Pascal Rivet hat Radsportler der 1990er-Jahre in hölzerne Aufstellfiguren verwandelt – lebensgroß und kopflos wie auf einem altmodischen Jahrmarkt. Besucher dürfen damit posieren und das Smartphone für ein Selfie zücken.

An der Wand hängen, in weiß gerahmten Kästen, die Trikots diverser Tour-Teilnehmer, getränkt mit dem Schweiß der Helden: Reliquien der besonderen Art aus der Privatsammlung des britischen Modedesigners Paul Smith. Aufschlussreicher ist allerdings eine Serie der Fotografin und Bloggerin Nicola Mesken, die seit zwölf Jahren mit einer analogen Kleinbildkamera und liebevollem Blick die Fans entlang der Strecke fotografiert – und vor allem eins entdeckt hat: Begeisterung.

Harry Gruyaert (75), einer der großen Bildreporter der Agentur Magnum, hielt in den 1980er-Jahren mehr Abstand und fotografierte die stillen Landschaften, durch die Radler sausen wie ein Schwarm aggressiver Insekten. Am Rand grasen die Schafe, Brünnlein fließen, Kinder spielen, Familien machen Picknick, als wäre nichts geschehen.

Euphorie und Elend

Dazu spielt die Musette-Musik, und man hört Männerstimmen aus einem Dokumentarfilm, den der Regisseur Louis Malle 1962 gedreht hat: „Vive le Tour“. Zur großen Euphorie, zeigt Malle, gehören auch Schmerz, einsamer Kampf, Verletzung, Zusammenbruch.

Die Tour ist, jenseits der Tabellen und der üblichen Sportberichte, ein Ereignis, das verschiedene Aspekte des irdischen Lebens auf eigentümliche Art verdichtet. Man sieht beklommen auf die von Robert Capa fotografierten Fähnleinschwenker von 1939, die kurz vor Ausbruch des katastrophalen Krieges noch einmal nur ans Radfahren dachten. Man sieht den Hippie und die Mutti nebeneinander 1978 in Paris. Man sieht in wandhoher Vergrößerung die zerschundenen und verpflasterten Beine von Radsportlern, die Tim Kölln nach dem Zieleinlauf fotografiert hat: Säulen aus Muskeln.

Olaf Unverzagt, selbst begeisterter Radler, fotografierte nur die Schauplätze vor dem Sturm – die menschenleeren Kurven zwischen Häusern oder Gipfeln. Die Erwartung ist spürbar – und zugleich ein Wissen um die Flüchtigkeit des Ereignisses. Auf der berühmten Fotografie „Tour de France“, die Andreas Gursky 2007 machte, wirken Sportler, Fans, Begleiter wie winzige Ameisen in der gewaltigen Kulisse einer aus der Ferne betrachteten Serpentinenstraße irgendwo im Gebirge.

Das große Rauschen

Gursky ist nicht der einzige Düsseldorfer Kultur-Star, der sich für das Thema Tour engagiert. Kraftwerk, die Band, die 1970 den Elektropop erfand („Wir sind die Roboter“), wird zum Start der Tour de France am 1. Juli im Ehrenhof spielen und hat für die Mythos-Schau eine Filmcollage mit typischer Kraftwerk-Musik produziert. Konzeptkünstler Reinhard Mucha präsentiert im dunklen Hinterzimmer einige Bilder und Papiere, deren Sinn sich nur dem geduldigen Betrachter erschließt.

Bestechender sind da die Bilder des Fotografen Philipp Hympendahl, der mit einer altmodischen Rollfilm-Kamera nicht nur unwirklich schöne Panoramen von der Wegstrecke schuf. 2001 gelang ihm an der Route auf der Alpe d’Huez eine verblüffende Fotografie, auf der alles Umgebende überdeutlich zu sehen ist: die Berge, Bäume, Zuschauer, sogar der Kirchturm des nahen Dorfs. Die Truppe der Radler aber erscheint nur wie eine abstrakte Woge aus vorbeirauschenden Farben. Es ist eben alles nur ein Spuk.

Info:
„Mythos Tour de France“. Bis 30 Juli im NRW-Forum Düsseldorf, Ehrenhof 2. Täglich 11 bis 18 Uhr, Fr. und Sa. bis 20 Uhr. www.nrw-forum.de




Cranach in Düsseldorf: Der Meister macht die Marke

Der Meister hat die Forschung ausgetrickst: Welcher Pinselstrich von ihm selbst ausgeführt wurde, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Denn Lucas Cranach der Ältere (1472-1553), der begnadete Maler, war vor allem ein gewiefter Kunstunternehmer.

Lucas Cranach der Ältere: "Judith mit dem Haupt des Holofernes", um 1530. Malerei auf Holz. (The Metropolitan Museum of Art, Rogers Fund, 1911 / Foto: bpk / The Metropolitan Museum of Art)

Lucas Cranach der Ältere: „Judith mit dem Haupt des Holofernes“, um 1530. Malerei auf Holz. (© The Metropolitan Museum of Art, Rogers Fund, 1911 / Foto: bpk / The Metropolitan Museum of Art)

Mit seiner Wittenberger Werkstatt produzierte er Tausende von Gemälden und zigtausend Grafiken der Marke Cranach. Sein professionelles Team – ein Dutzend Gesellen, später auch die eigenen Söhne Hans und Lukas der Jüngere – musste seinen Stil so perfekt beherrschen, als wär’s ein Stück vom Chef persönlich. Die Kundschaft hatte nichts dagegen. Das Signet der Cranach-Werkstatt, eine Schlange mit Fledermausflügeln, galt als Garantie für Qualität und Prestige.

„Meister – Marke – Moderne“: Das sind denn auch die Stichwörter im Titel der großen Schau der Saison im Düsseldorfer Kunstpalast. Beat Wismer, der scheidende Generaldirektor, war als Student 1974 an einer Cranach-Ausstellung in Basel beteiligt – und krönt jetzt seine Düsseldorfer Laufbahn mit dem Namen des in Kronach geborenen Renaissance-Stars, der in Wien erstes Aufsehen erregte, bevor er 1505 vom sächsischen Kurfürsten Friedrich III. zum Hofkünstler ernannt wurde. Der Kurfürst, bekannt als Friedrich der Weise, hatte ausgerechnet das 2000-Einwohner-Kaff Wittenberg zur Residenzstadt auserkoren und baute es zu einem Zentrum der Kunst und Wissenschaft aus.

Luthers Medienstratege

Cranachs Geschäfte an der Elbe liefen glänzend, zumal der Maler im Rat saß, später sogar Bürgermeister wurde, ganz nebenbei eine Apotheke betrieb und auch noch an einer Druckerei beteiligt war, die etliche Schriften seines Freundes Martin Luther verbreitete. Die Werkstatt Cranach sorgte für die würdevollen Porträts des Reformators mit schwarzem Mantel, mal mit, mal ohne Kappe. Nach Ansicht der Kuratoren Daniel Görres und Gunnar Heydenreich war der Maler so etwas wie der Medienstratege der Reformation. Auf jeden Fall stützten seine Bildnisse den Ruhm Luthers.

Lucas Cranach der Ältere: "Bildnis Martin Luthers als Junker Jörg", 1521, Malerei auf Buchenholz. (Museum der bildenden Künste, Leipzig / © bpk / Museum der bildenden Künste, Leipzig)

Lucas Cranach der Ältere: „Bildnis Martin Luthers als Junker Jörg“, 1521, Malerei auf Buchenholz. (Museum der bildenden Künste, Leipzig / © bpk / Museum der bildenden Künste, Leipzig)

Bis heute stellen wir uns den naturgelockten Ex-Mönch genauso vor, wie ihn Cranach in den frühen 1540er-Jahren abbildete: leicht übergewichtig (er war schließlich ein Genussmensch), aber mit festem Blick und energischem Zug um den Mund. Das viel früher, 1521, entstandene „Bildnis Martin Luthers als Junker Jörg“ zeugt von der Zeit, als der Reformator, verfolgt von Rom, verurteilt vom Reichstag, vogelfrei war und sich einen Bart wachsen ließ, um nicht erkannt zu werden. Cranachs Porträt, in einer grafischen Kopie weit verbreitet, war ein Zeichen für Luthers Überleben und seine Entschlossenheit.

Aber es geht ja im Kunstpalast nicht um Luther, es geht um Cranach, der 1528 als zweitreichster Bürger nach dem kursächsischen Kanzler in der Steuerabrechnung der Stadt Wittenberg aufgeführt wurde. Und das lag nicht nur an seinen Porträts bedeutender oder gut zahlender Herren im vorteilhaften Dreiviertelprofil. Das lag auch und vor allem an seinen berückenden Frauenbildern.

Cranach der Ältere war der erste Maler nördlich der Alpen, der mit „Venus und Cupido“ von 1509 (entliehen aus der Petersburger Eremitage) einen unübersehbaren, weil lebensgroßen Akt produzierte. Kugelrunde Brüste, hüftlange Locken und eine Haut wie Marzipan hat Cranachs Göttin.

Lucas Cranach der Ältere: "Venus und Cupido", 1509, Malerei auf Holz, auf Leinwand übertragen. (© Staatliche Eremitage, St. Petersburg, 2017 / Foto: Gunnar Heydenreich, cda)

Lucas Cranach der Ältere: „Venus und Cupido“, 1509, Malerei auf Holz, auf Leinwand übertragen. (© Staatliche Eremitage, St. Petersburg, 2017 / Foto: Gunnar Heydenreich, cda)

Der hauchzarte Schleier vor der Scham offenbart mehr, als er verbirgt. Amor, der kleine Schlingel, lauert schon hinter der Mutter, bereit, seinen Liebespfeil auf den Betrachter zu richten. So etwas hatten bis dato nur die Italiener gewagt. Es muss unerhört gewesen sein – weshalb Cranach vorsichtshalber für eine mahnende lateinische Inschrift sorgte, zu Deutsch etwa: „Bezwinge mit ganzer Anstrengung deine Liebesgelüste, damit nicht Venus dein umnebeltes Herz besitzt“.

Der Schmelz der Frauen

Ganz sicher erregten diese Worte umso mehr Interesse an den Weibsbildern des Lukas Cranach. Auch bekleidet waren sie überaus attraktiv. Anders als die porträtierten Männer mit ihren Knubbelnasen und individuellen Gesichtszügen unterschieden sie sich nicht sehr stark voneinander. In reiferen Jahren verfeinerte Cranach den immer gleichen Frauentypus, gern in Rotblond. Ob Judith, Lucretia oder Prinzessin Sibylle von Cleve, sie hatten alle eine hohe Stirn, mandelförmige Augen, eine volle Unterlippe und ein spitzes Kinn. Prächtig führten die Gesellen die passenden Gewänder, Kopfbedeckungen, goldenen Halsbänder aus.

Auch Cranachs Madonnen haben diesen besonderen Schmelz – und auch die Ehebrecherin, die von Christus auf einem Bild vor dem hässlichen Lynch-Mob bewahrt wird. Was die Motive betraf, war die Werkstatt Cranach sehr flexibel. Neben zahlreichen frommen Szenen – „Christus segnet die Kinder“, „Der Abschied der Apostel“ – gab es auch Schlüpfrigkeiten im Angebot. Ein grinsender alter Mann wird da von bildhübschen Kurtisanen betört. Das Sujet des „Ungleichen Paares“ (zahnloser Buhler und junge Frau, seltener umgekehrt) war so beliebt, dass die Werkstatt es in Variationen immer wieder verkaufen konnte.

Lucas Cranach der Ältere: "Christus und die Ehebrecherin", 1532, Malerei auf Lindenholz. (© Szépmüvészeti Múzeum / Museum of Fine Arts, Budapest, 2016 / Foto: Dénes Jósza)

Lucas Cranach der Ältere: „Christus und die Ehebrecherin“, 1532, Malerei auf Lindenholz. (© Szépmüvészeti Múzeum / Museum of Fine Arts, Budapest, 2016 / Foto: Dénes Jósza)

Die große Inspiration

Es ist eine Lust, die auf Holz gemalten Werke Cranachs und der Seinen aus der Nähe und in Ruhe zu betrachten. Und es macht Spaß, in der letzten Abteilung zu sehen, wie die moderne Kunst von der Marke Cranach inspiriert wurde. Picasso malte seine ungestüme Version von „Venus und der Liebe“ 1968 mit 87 Jahren. „Wenn ich male, dann stehen die Künstler der Vergangenheit hinter mir“, bemerkte er und nahm sich doch jede Freiheit. Braver ging Andy Warhol 1984 mit Cranach um und verwendete die Konturen des „Bildnis einer jungen Frau“ mit kessem Hut von 1526 für eine seiner farbverliebten Acryl-Siebdruck-Serien.

Der Japaner Yasumasa Morimura verkleidete sich sehr sorgfältig mit Wurst und Gemüse als Cranachsche Judith und fotografierte die Szene unter dem aufschlussreichen Titel „Mother“ (Mutter, 1991). Die junge Konzeptkünstlerin Leila Pazooki, eine Iranerin aus Berlin, zeigt an einer hohen Wand 100 mehr oder minder gute Kopien von Cranachs „Justitia“, um die Wette produziert von chinesischen Dienstleistungs-Malern. Kunst am Fließband? Das hätte dem alten Meister und Geschäftsmann Cranach womöglich ganz gut gefallen.

„Cranach: Meister – Marke – Moderne“. 8. April bis 30. Juli im Museum Kunstpalast, Düsseldorf, Ehrenhof 4-5. Di.-So. und feiertags 11 bis 18 Uhr, Do. und Sa. bis 21 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Der Katalog ist im Hirmer Verlag erschienen: 340 Seiten, Museumsausgabe 39,90 Euro. Informationen, auch über Führungen und Begleitprogramm unter: www.cranach2017.de

Erweiterte Öffnungszeiten ab 1. Juli 2017 (bis 30.7.2017): Di, Mi, Fr, So 10-18 Uhr, Do und Sa 10-21 Uhr.




Das Leben ohne Verdünnung: Otto Dix in Düsseldorf

Otto Dix: "Bildnis der Tänzerin Anita Berber", 1925. (Sammlung Landesbank Baden-Württemberg im Kunstmuseum Stuttgart / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016)

Otto Dix: „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“, 1925. (Sammlung Landesbank Baden-Württemberg im Kunstmuseum Stuttgart / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016)

Er hatte was, dieser junge Mann aus dem Osten. Eine Frechheit, einen Charme, ein markantes Gesicht. Er trug schicke Anzüge, aber er sah darin nicht aus wie ein Bürger, eher wie ein Gangster aus dem Kintopp. Und malen konnte der Kerl, zum Fürchten!

Die Gesellschaft im Düsseldorf der locker-leichten 1920er-Jahre war irritiert, amüsiert, fasziniert. Otto Dix (1881-1969), im thüringischen Kaff Untermhaus geborener Sohn eines Eisengießers, machte 1922-25 sein Glück am Rhein, hier startete er seine Karriere. „Der böse Blick“, so der Titel einer grandios sortierten und arrangierten Schau im K20, führte den Meister der sogenannten Neuen Sachlichkeit geradewegs in den Olymp der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Am liebsten möchte man sofort die fatalen Weiber sehen, für die Dix berühmt wurde. Seine „Tänzerin Anita Berber“ von 1925, dieses kaputte Luder aus der Berliner Szene, lockt und leuchtet weit und breit an der Fassade der Düsseldorfer Landesgalerie: kreidebleich, mit rotem Haar, roten Lippen und rotem Kleid im roten Licht wie eine Teufelsbraut. Und da drinnen sind noch viele andere – „Mieze“ mit den Krallenhänden, „abends im Café“, die lauernde „Liegende auf Leopardenfell“ oder „Ellis“, die hinter einem koketten Schleier die gelben Augen und das bissige Grinsen einer bösen Katze zeigt. Sie sind alle Teil der Vorstellung, die wir uns – auch durch Dix – von den wilden 20er-Jahren machen.

Der Künstler Otto Dix im Jahr 1919, Fotograf unbekannt (Otto Dix Stiftung / Foto Kunstsammlung NRW)

Der Künstler Otto Dix im Jahr 1919, Fotograf unbekannt (Otto Dix Stiftung / Foto Kunstsammlung NRW)

Der Mensch im entfesselten Zustand

Aber man sollte erst einmal nach links gehen, in den Ausstellungssaal, der konzentriert von dem Ereignis handelt, das den Optimismus des frühen 20. Jahrhunderts zerschmetterte. Der Weltkrieg 1914-18 veränderte alles. Wie viele Künstlerkollegen war auch der talentierte junge Dix freiwillig an die Front gezogen, um, wie er sagte, „etwas Gewaltiges“ zu erleben, „den Menschen in diesem entfesselten Zustand“.

Soldat Dix schoss unbekannte Gegner nieder, wurde selbst verwundet. Er sah Panik, Verwüstung – und er zeichnete, hielt alles fest. Zehn Jahre später entstand seine legendäre Grafikfolge „Der Krieg“. Drastischer als Dix kann man das Entsetzen nicht zeigen: die Grimassen der Toten, die Kadaver der Pferde, die aufgerissenen Augen, die zerbombte Erde.

Otto Dix: "Sturmtruppe geht unter Gas vor" (Detail), 1924. Aus: "Der Krieg", Zyklen aus 50 Radierungen, 2. Mappe (Otto Dix Archiv, Bevaix / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Otto Dix: „Sturmtruppe geht unter Gas vor“ (Detail), 1924. Aus: „Der Krieg“, Zyklen aus 50 Radierungen, 2. Mappe (Otto Dix Archiv, Bevaix / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Der Veteran, zuletzt Vizefeldwebel, will nichts mehr beschönigen. In Dresden, wo er die Akademie besucht, propagiert Dix Wahrhaftigkeit: „Ich brauche die Verbindung zur sinnlichen Welt, den Mut zur Hässlichkeit, das Leben ohne Verdünnung.“ Das kommt bei den bürgerlichen Kunstfreunden nicht so gut an. „Ich kumm uff keinen grienen Zweich“, soll er 1920 gesächselt haben, „meine Malereien sind unverkäuflich.“ Doch der Kollege Conrad Felixmüller vermittelt ihm den Kontakt mit der Düsseldorfer Avantgarde-Gruppe Junges Rheinland – und empfiehlt ihn bei Johanna Ey, einer Bäckersfrau, die seit 1916 ein Galerie-Café in der Nähe der Düsseldorfer Akademie betreibt, mit Otto Pankok und Gert Wollheim arbeitet und schon viele Künstler durchgefüttert hat. „Großes Ey, wir loben dich …“, dichtet „Dada“-Max Ernst für sie.

Otto Dix: "Dienstmädchen am Sonntag", 1923. (Otto Dix Stiftung / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016)

Otto Dix: „Dienstmädchen am Sonntag“, 1923. (Otto Dix Stiftung / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Beim Tanzen verliebt sich der Künstler

Mutter Ey lädt Dix im Herbst 1921 nach Düsseldorf ein, lässt ihn im Hinterstübchen übernachten und knüpft für ihn wichtige Kontakte. Durch sie lernt er den Arzt und Sammler Dr. Hans Koch kennen, der mit seiner mondänen, aber unzufriedenen Ehefrau Martha ein Graphisches Kabinett betreibt. Koch lässt sich von Dix porträtieren – und Dix tanzt Charleston mit der 26-jährigen Martha. Er ist betört von ihren Mandelaugen, dem vollen Mund, der kess geschnittenen Pagenfriseur und dem mondänen Stil. Und er tanzt verdammt gut. Die beiden verlieben sich schnell, und tatsächlich hat der Ehemann nichts dagegen, weil er seinerseits schon länger die Schwägerin Maria bevorzugt. Man ist nicht spießig im Düsseldorf der 20er-Jahre.

Martha, von Dix „Mutzli“ genannt, lässt sich flott scheiden und heiratet ihren schnieken Maler im Februar 1923. Er porträtiert sie stolz in Öl mit ihrem breitkrempigen roten Hut und dem schwarzen Pelz, das Bild ist eine dunkle Pracht. Im Juni kommt ihr erstes gemeinsames Kind zur Welt: Nelly. Papa Dix malt berückende Porträts von der molligen Kleinen. Auch den später geborenen Söhnen Ursus und Jan huldigt er künstlerisch und zeichnet Bilderbücher für sie.

Otto Dix: "Herren und Damen", 1922 (Aquarell und Bleistift - Private Collection, Courtesy Richard Nagy Ltd., London / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto: Kunstsammlung NRW)

Otto Dix: „Herren und Damen“, 1922 (Private Collection, Courtesy Richard Nagy Ltd., London / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto: Kunstsammlung NRW)

Schmeicheleien gibt es nicht

Man findet ihn in dieser Ausstellung also durchaus, den liebevollen Maler und Familienmenschen Dix. Kuratorin Susanne Meyer-Büser hat der weichen Seite einen Raum gegeben. Aber seine große Stärke zeigt sich, wenn er ohne innere Rücksicht arbeitet. „Wir wollten die Dinge ganz nackt, klar sehen, beinahe ohne Kunst“, erklärt er 1965 im Rückblick. Das akzeptierte auch seine Förderin Mutter Ey, von der er 1924 ein großes, repräsentatives Öl-Bildnis malt, auf dem sie in ihrem lila Seidenkleid und mit dem geliebten spanischen Kamm im schwarz gefärbten Haar vor einem roten Vorhang erscheint. Sie posiert wie eine barocke Königin. Aber die 60-jährige Frau Ey sieht eben aus, wie sie aussieht: fett, Doppelkinn, Falten um den Mund, starre Augen hinter runden Brillengläsern. Eins ist allerdings klar: Da steht eine unumstößliche Persönlichkeit.

Otto Dix: "Mieze, abends im Café", 1923 (Buchheim Museum der Phantasie, Bernried / Starnberger See / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Otto Dix: „Mieze, abends im Café“, 1923 (Buchheim Museum der Phantasie, Bernried / Starnberger See / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Lobhudelei gibt’s nicht von dem aufstrebenden Malerstar, der die abgetakelten Nutten und gierigen Freier, die Berliner Puffmütter und die Hamburger Matrosen mit gnadenloser Deutlichkeit festhält. Die subtile Farbigkeit seiner Aquarelle steht in krassem Kontrast zur Schärfe der Aussage. Und auch Freunde und Kunden werden nicht geschont. Wie ein insektenhaftes Männlein, bläulich und mager, gestikuliert Adolf Uzarski, Gründungsmitglied des Jungen Rheinlands. Der große Schauspieler Heinrich George hockt da wie ein wütender Ochsenfrosch. Paul Ferdinand Schmidt, der Direktor der Kunstsammlungen Dresden, erscheint klapprig und verknittert, während der (sicher sehr gut zahlende) Düsseldorfer Farbenfabrikant Julius Hesse im nüchternen Dreiviertelprofil zumindest einen lebendigen Teint haben darf.

Symphonie einer Großstadt

In zwei Ecken der raffiniert gebauten und farbig unterteilten Ausstellung flimmern Ausschnitte des Stummfilms „Berlin – Symphonie einer Großstadt“ von 1927. Unterlegt von Geräuschen und Musik wimmeln da die Bilder einer Zeit. Man sieht die Autos und Trambahnen, die Revuegirls auf den Bühnen, die Damen mit den kurzen Haaren und Kapotthüten. Die Welt war modern und chaotisch geworden – und Dix war ihr leidenschaftlicher Maler. 1925 zieht er in die Hauptstadt, 1927 wird er Professor in Dresden, die Welt beachtet ihn. Dann kommen die Nazis, entlassen Dix sofort aus seinem Amt und stellen ihn kalt. Mit der Familie zieht er sich zurück an den Bodensee, wo er versucht, nicht weiter aufzufallen. Es entstehen altmeisterliche Idyllen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Information:

„Otto Dix – Der böse Blick“: bis 14. Mai in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Geöffnet Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr. Jeden ersten Mi. im Monat bis 20 Uhr. Katalog 34 Euro. Die Schau wird anschließend von Juni bis Oktober in der Tate Liverpool in Großbritannien gezeigt: „Portraying a Nation: Germany 1919-1933“. www.kunstsammlung.de




Ja, mach nur einen Plan: Über die Vergeblichkeit unserer Vorsätze

Und? Wie sehen sie aus? Ihre Vorsätze fürs neue Jahr? Wir alle lachen ja darüber und tun es doch immer wieder.

Wir geloben Besserung, wir wollen unsere Schwächen überwinden, eigentlich wollen wir ein anderer Mensch werden: sportlich, schlank, diszipliniert. Das sieht man schon daran, dass es in den Fitness-Studios im Januar von probeweise Trainierenden und endlich mal wieder Trainierenden nur so wimmelt. Da stöhnen sie in ihren neuen Turnhosen.

Was oft genug mit guten Vorsätzen geschieht... (Foto: Andreas Stix/pixelio.de)

Was oft genug mit guten Vorsätzen geschieht… (Foto: Andreas Stix/pixelio.de)

Stammkunden tragen die Störung mit Fassung, denn sie wissen: Schon im Februar wird die Entschlossenheit der falschen Sportskameraden erschlaffen, und der Betrieb normalisiert sich wieder.

Ein Zettel von 1992

Unzulänglich ist die planende Absicht des Menschen, und Bertolt Brecht lieferte uns 1928 in seiner Dreigroschenoper die passende Ballade: „Ja, mach nur einen Plan! / Sei nur ein großes Licht! / Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, / Gehn tun sie beide nicht.“ Dafür gibt es Beweise – zum Beispiel in meiner Brieftasche, wo ich immer noch aus purer Sentimentalität zwischen altmodischen Familienfotos eine zerknitterte Liste aus der Silvesternacht 1992/93 aufbewahre. Damals saßen mein Mann, unsere zehnjährige Tochter und ich in den Schneeferien an einem Schweizer Kamin und notierten abwechselnd unsere Vorsätze und Pläne.

Es mag gemein sein, dass ich das hier nochmal erwähne. Aber die empirische Sozialforschung kennt kein Erbarmen. „Ich verspreche, im neuen Jahr weniger zu schnaufen. Das heißt, ich werde mindestens zehn Kilo abnehmen“, schrieb der Gatte. Nun, das ist ihm gelungen. Allerdings nahm er kurz danach zwölf Kilo zu. Und so fort. Um die Wahrheit zu sagen: Er entwickelte sich zum Großmeister des Jojo-Effekts. Heute wiegt er rund zwei Zentner, und Schnaufen ist seine Art zu atmen.

Abnehmen, aufräumen, arbeiten

Unsere Tochter Kathi schrieb unter anderem auf die Liste: „Ich räume mein Zimmer besser auf und meine Anziehsachen.“ Doch ach, bis heute ist kein ordentlicher Mensch aus ihr geworden, und der neue Lebensgefährte, ein ausgesprochen pingeliger Mensch, versucht vergeblich, sein Ablagesystem auf Kathis Klamottenberge zu übertragen und die Staubmäuse unter der Kommode zu bändigen.

Wenn ich meine eigenen Vorsätze von 1992 betrachte, war ich auch nicht viel erfolgreicher. Da wäre zum Beispiel: „Ich will konzentrierter arbeiten, nicht so viel Zeit verplempern.“ Sonderbar, dass ich für einen freien Text wie diesen nicht etwa Stunden brauche, sondern Tage. Und das liegt nicht nur am Aufwand von Recherche und Reflexion. Das hat auch damit zu tun, dass ich mich in meinem Home-Office sehr gerne ablenken lasse und plötzlich dringend die Bügelwäsche machen oder dem Gatten ein Spiegelei braten muss, nur, um wieder mal vom Schreibtisch aufstehen zu können.

Scheitern als Schicksal

Fokussieren kann ich nur, wenn der Redaktionsschluss droht. Deshalb ist es mir auch nie gelungen, größere Lebenspläne durchzusetzen. Ich habe lieber volontiert als über Heine promoviert, und den großen Entwicklungsroman, den habe ich auch nie geschrieben. Dabei war beides fest eingeplant.

Das Scheitern von Vorsätzen und Absichten gehört offenbar zu unserem Schicksal. Wir wissen schon aus Shakespeares Hamlet: „Der Vorsatz ist ja der Erinnerung Knecht, / Stark von Geburt, doch bald durch Zeit geschwächt.“ Man kann eigentlich noch von Glück sagen, wenn nur die eigene Saumseligkeit daran schuld ist und nicht ein Unheil, das uns natürlich auch treffen könnte. So oder so erfüllt der Mensch ihn selten, den eigenen Plan. Vor der großen Frustration rettet uns die Psychologie, die uns versichert: Scheitern ist menschlich.

Kennon M. Sheldon, Psychologe und Professor an der University of Missouri, hat ein Schlüsselwerk über das „Optimal Human Being“ (Optimales menschliches Wesen) verfasst und verriet der Zeitschrift „Psychologie heute“, dass wir oft Ziele anstreben, die „nicht dienlich“ sind. Weder passen sie zu uns noch erhöhen sie das Wohlbefinden oder dienen der persönlichen Weiterentwicklung.

Von fremden Werten gelenkt

Tatsächlich lassen wir uns oft, ohne es zu merken, von fremden Werten leiten. Von der Familie wird erwartet, dass der Junge später die Firma übernimmt, also studiert er Betriebswirtschaftslehre, obwohl er lieber Pianist wäre. Oder ein Mädchen will unbedingt abnehmen, weil die zickige Freundin sie sonst uncool findet. Die falschen Ziele können eine Qual sein.

Auch und gerade im Beruf haben viele Menschen den für ihre Natur nicht geeigneten Plan. Zu Unrecht gaukeln Erfolgsmanager uns vor, dass jeder alles erreichen kann, wenn er nur dem richtigen Verhaltensschema folgt. Letztendlich muss man seine Aufgaben lieben, und man braucht nicht nur Fleiß, sondern auch Talent. Wie aber, ist die bange Frage, erkennt man ein falsches Ziel? „Psychologie heute“ hat die Antwort: „Ständige Erschöpfung, fehlende Freude auf dem Weg dorthin und eine innere Leere, wenn man es erreicht hat, sind typische Symptome.“

Aha! Den Vorsätzen ist also nicht zu trauen, ihre Erfüllung führt keineswegs schnurstracks zum Glück. „Ja, renn nur nach dem Glück, / Doch renne nicht zu sehr! / Denn alle rennen nach dem Glück, / das Glück rennt hinterher.“ Dieser Teil der Brecht’schen Ballade ist nicht besonders aufschlussreich. Da fragen wir doch lieber die Wissenschaft. Anja Achtziger hat einen Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftspsychologie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und ist eine Expertin für Motivation, erfolgreiches Handeln und, jawohl, Vorsatztheorie. Sie glaubt, sagte sie uns mal in einem zeitlos gültigen Neujahrsgespräch, grundsätzlich durchaus an den Sinn von Vorsätzen.

Präzise formulieren

Allerdings müssten zwei Fragen geklärt werden. Erstens: „Finde ich das Ziel überhaupt attraktiv?“ Also: Will ich wirklich Abteilungsleiter werden oder fühle ich mich weiter unten in der Hierarchie eigentlich wohl? Und: „Habe ich überhaupt die Fähigkeiten, die Vorsätze umzusetzen?“ Also: Ist der Plan wirklich realistisch? Für einen Marathon braucht man eben doch eine besondere körperliche Fitness, dazu ausreichend Zeit für ein systematisches Training. Anja Achtziger: „Die Motivationsforschung hat gezeigt, dass man bei intensiver Auseinandersetzung mit solchen Fragen auch besser in der Umsetzung von Vorsätzen wird.“

Damit das klappt mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis, sollte man zudem präziser formulieren. Die Professorin empfiehlt „Wenn-Dann-Pläne“. Zum Beispiel: „Wenn ich vor einem Aufzug stehe, dann benutze ich ihn auf keinen Fall, sondern laufe die Treppe hoch.“ Solche Sätze setzen sich im Gehirn fest, werden zu inneren Gesetzestexten und helfen im Alltag tatsächlich, ein „zielförderndes Verhalten“ zur Gewohnheit zu machen. Nun ja, das stimmt gewiss, klingt aber irgendwie anstrengend. In den unendlichen Weiten des Internets findet man sicher noch ein paar süffigere Ansichten. Zum Beispiel im Blog „Mentale Revolution“ des Tönisvorster Heilpraktikers und Hypnose-Spezialisten Ulrich Heister. Er empfiehlt: „Definieren Sie Ihr Ziel am besten schriftlich. Formulieren Sie so, dass Sie Begeisterung spüren!“

Wenn Begeisterung verfliegt

Begeisterung? Das gefällt uns. Wir fänden es toll, dünn und erfolgreich zu sein, wir sehen uns schon auf dem roten Teppich der allgemeinen Bewunderung. Aber so einfach ist das Planen mit Mentaltrainer Heister auch nicht. Denn: „Vorhaben, die spontan aus einem Defizitgedanken geboren werden, sind in der Regel nicht sehr stabil.“ Beim ersten Genussverzicht und bei der ersten Anstrengung könne die Begeisterung schon verflogen sein. Womit wir wieder beim vorübergehenden Hochbetrieb im Fitness-Studio wären.

Experten können richtige Spielverderber sein. Vielleicht sollten wir uns jetzt einfach mal entspannen und ein kleines Späßchen machen. Auf Facebook kursiert in diesen Tagen ein „Vorsatz-Generator für 2017“, mit Versatzstücken aus typischen Vorsätzen wie „Nicht mehr so oft – aufs Smartphone gucken“ oder „Jeden Morgen – Sport machen“. Nach dem Monat der Geburt (bei mir: Februar) und dem ersten Buchstaben des Vornamens (bei mir: B) soll man seinen persönlichen Vorsatz für 2017 zusammenstellen. Und was kommt bei mir raus? „Öfter – Geld ausgeben“. Haha.

In aller Ruhe abwarten

Im Ernst habe ich mir für dieses Jahr vorgenommen, mir nichts vorzunehmen, sondern ganz ruhig abzuwarten, welche Möglichkeiten sich ergeben. Wie sagte doch schon unser Lieblings-Beatle John Lennon? „Life is what happens to you while you are busy making other plans“ – Leben ist, was geschieht, während du eifrig andere Pläne schmiedest. Das habe ich endlich begriffen.

Mit wachsendem Alter wird mir der Genuss des heutigen Tages ohnehin immer wichtiger, und es entsteht eine Dankbarkeit für das, was die Jugend für selbstverständlich hält: Gesundheit, Freunde, Familie. Tatsächlich lenkt das Schrumpfen der Zukunft den Blick auf die Geschenke der Gegenwart.

Wünsche machen uns lebendig

Das heißt natürlich nicht, dass ich nie mehr Pläne machen will. Der Versuch, die Zukunft selbst zu gestalten, ist ja zutiefst menschlich, er unterscheidet uns vom Tier, das seinen Instinkten folgt und nur den Augenblick kennt. Außerdem macht Planen großen Spaß, es ist ein Spiel der Einfallskraft. Wenn ich diese Ferienwohnung am Meer kaufen könnte, wie würde ich die dann wohl einrichten? Und wie schön wäre das…

Planen hat auch mit Wünschen zu tun, und Wünsche machen uns lebendig. Wenn wir uns von der Illusion verabschieden, alles kontrollieren zu können, ist das Planen zu jeder Zeit erlaubt. Das erfrischt den Geist. Wie sagte schon Jean Paul, Pastorensohn und Dichter der Romantik? „Gegen das Fehlschlagen eines Plans gibt es keinen besseren Trost, als auf der Stelle einen neuen zu machen.“




Wir Angsthasen und Zimperliesen: Die neue Empfindlichkeit

Sicher liegt es an dieser ordinären Currywurst in scharfer Soße, die ich gestern hemmungslos aus einer Pappschale gepickt und, jawohl, genossen habe. Ethisch nicht zu vertretende Schlachtprodukte, weiß der inzwischen omnipräsente Veganer, blockieren das Gutsein und fördern fiese Überlegungen.

Freunde, das mag sein. Jemand wie ich, der Fleisch, Fisch und tierische Segnungen wie Milch, Eier, Honig ohne Zögern zu sich nimmt, der frisst auch eure Bedenken. Mit Mayo. Es tut mir leid. Aber wann sind wir eigentlich alle so extrem empfindlich geworden? Je besser es uns geht, desto weniger können wir vertragen. Das gilt nicht nur fürs Essen, sondern auch für stickige Luft, Lärm und alles, was gegen unsere zimperlichen Gewohnheiten geht.

Illustration zu Andersens Märchen "Die Prinzessin auf der Erbse". (© Fotolia)

Illustration zu Andersens Märchen „Die Prinzessin auf der Erbse“. (© Fotolia)

„Stell dich nicht so an!“ Dieser barsche Satz gehörte in der Aufbauzeit des 20. Jahrhunderts zur Kindererziehung. Das war kein Spaß, kann ich jüngeren Lesern versichern. Wir mussten den Teller mit dem muffigen Kochfisch leeressen, bei Tisch die Klappe halten, im Stockdunklen einschlafen („Die Tür bleibt zu!“), sonntags ohne Widerspruch wandern und gruseligen alten Tanten ein Küsschen geben.

Verfeinerte Lebensart

All das wollten wir unseren eigenen Kindern nicht antun. Meine Tochter durfte sich Pommes bestellen, mit Erwachsenen plappern, nachts ihre Gänselampe anlassen und stets mit unserer Aufmerksamkeit rechnen. Auch wurde sie nie eiskalt abgeduscht, obwohl das sicher gesund ist. Keiner von uns wollte die Härte der von traumatisierenden Erlebnissen geprägten Kriegsgeneration an die Gesellschaft der Zukunft weitergeben.

Wir waren sensibel, wir wollten es sein. Für eine bessere Gesellschaft. Leider haben wir Gewalt und üble Absichten nicht aus der Welt schaffen können. Verrückte Diktatoren und hasserfüllte Fanatiker tummeln sich auch in der Gegenwart. Und was tun wir? Wir feilen wir an der eigenen Lebensart und haben sie so stark verfeinert, dass wir uns gegenseitig damit erheblich auf die Nerven gehen. Wir sind die Memmen des Alltags. Jeder Hauch von Zigarettenrauch widert uns an. Raus mit euch, ihr Qualmer!

Essen als Herausforderung

Ein gemeinsames Essen wird zu einer Herausforderung. Man muss so viel bedenken. „Kannst du eigentlich Brokkoli vertragen“, fragt mich meine Freundin Uschi, eine kreative Köchin. Nein, Süße, kann ich nicht. Auch andere gesunde Sachen wie Zwiebeln, Nüsse, Kohl und Linsen, sogar Salat sind schlecht für meine Art der Darmbeschaffenheit, um es mal vorsichtig auszudrücken. Ich hätte gern Maispoularde mit Kartoffelpüree. Und Suppe ohne Schnittlauch. Und bloß kein Körnerbrot. Lieber Baguette. Und zum Nachtisch keine Beeren. Aber gerne eine Schokoladen-Mousse.

Gut, dass meine Freundin nicht zugleich eine jener Frauen eingeladen hat, die abends keine Kohlenhydrate wollen und Zucker für pures Gift halten. Den größten Küchenstress hat Uschi, selbst eine erklärte Freundin von Gulasch und Leberkäs, in ihrem vegetarisch-kalorienarm orientierten Damenkränzchen, zu dem ich zum Glück nicht auch noch gehöre. Allerdings ist eine Allergikerin dabei, die weder Eier und Milchprodukte noch Schalentiere und Zitrusfrüchte vertragen kann – von Nüssen ganz zu schweigen.

Um es klar zu sagen: Einige Unverträglichkeiten können lebensgefährlich sein. Wer davon betroffen ist, hat keine Wahl, als auf die bedrohliche Eigenart seines Immunsystems Rücksicht zu nehmen. Aber niemand weiß genau, wie viele Menschen tatsächlich unter ernsthaften Allergien leiden. Nach Auskunft der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft zeigen etwa 27 Prozent aller deutschen Männer und 39 Prozent der Frauen in unserer (zu) gründlich geputzten Zivilisation allergische Reaktionen. Die meisten davon reagieren verschnupft auf Pollenflug, einige bekommen Bauchweh von Mehl oder Milch. Andere klagen über die Tücke der Hausstaubmilbe und lassen den Teppichboden entfernen. Nur ein glatter Boden ist ein guter Boden. Der lässt sich leicht wischen. Aber nicht mit scharfen Substanzen, davon brennen uns die Augen. Am besten nur mit Wasser.

Selbst Wasser wird zum Problem

Apropos Wasser. Selbst das harmlose Element ist ein heikles Thema für uns Empfindsame. Während in Dürre-Regionen jedes Schlammloch genutzt wird, müssen wir, was da klar aus der Leitung fließt, erst mit Magneten und Heilsteinen „lebendig“ machen, um es trinken zu können. Manche glauben, jeder Schluck Sprudel könnte ihren Bauch aufblähen und die Gesundheit ruinieren. „Mit oder ohne Kohlensäure“ ist in Lokalen inzwischen eine gängige Frage, genau wie „mit oder ohne Koffein“. Ein Luxusproblem, wie mir scheint.

So, wie wir nicht mehr einfach zu uns nehmen, was auf den Tisch kommt, kontrollieren wir stets die gewöhnlichen Bedingungen unserer Umgebung. Allem wird misstrauisch nachgefühlt. Ist es hier drin zu kalt oder zu warm? Zieht es von der Tür her? Reden die Leute zu laut? Muss ich mich umsetzen? Aber nicht an den Tisch zwischen Fenster und Spiegel! Da geht nach Feng Shui die Energie verloren.

Kein Filter für die Umweltreize

Hilfe, wir sind so empfindlich, es ist nicht auszuhalten mit uns! Tatsächlich erforscht die amerikanische Psychologin Elaine Aron (72) schon seit den 1990er-Jahren ein anschwellendes Phänomen, das sie „high sensitivity“ nennt, Hochsensibilität (HS). Bis zu 20 Prozent der Bevölkerung, sind nach Ansicht der Bestseller-Autorin („Sind Sie hochsensibel?“) von dieser Besonderheit betroffen. Das heißt, sie nehmen die Reize ihrer Umwelt intensiver wahr als der Rest der Menschheit. Geräusche, Gerüche, Farben, zufällige Berührungen können für hochsensible Naturen schier unerträglich sein. Ihnen fehlt gewissermaßen der innere Filter, mit dem robustere Naturen ihre Wahrnehmungen dämmen.

Wenn es eng wird bei der Vernissage, flieht der hochsensible Typ nach Hause. Wenn das Ferienhotel neben der Durchgangsstraße liegt, muss er sofort abreisen. Er kann das weniger Angenehme einfach nicht ausblenden – und will es auch nicht. Wie der Antiheld aus Wilhelm Genazinos Roman „Mittelmäßiges Heimweh“. Zitat: „Ich muss überlaute Menschen rechtzeitig erkennen und ihnen schnell aus dem Weg gehen. Seit Wochen schon will ich private Lärmerwartungsstudien anstellen, damit ich im Straßenverkehr nicht mehr so oft erschreckt werden kann.“ Angst und das Bedürfnis nach Kontrolle gehören auch im wirklichen Leben zusammen.

Wie die Prinzessin auf der Erbse

„So ein Quatsch“, hätte meine Mutter dazu gesagt. Wie viele Zeitgenossen hatte sie früh gelernt, die eigenen Befindlichkeiten zu ignorieren, um Nazi-Terror, Kriegsnächte, mörderische Fluchten und Hunger zu überleben. Bis zuletzt mangelte es ihr an Zartheit. Wir behüteten Nachgeborenen hingegen scheinen geradezu stolz auf unsere Empfindlichkeit zu sein. Ja, vielleicht wollen wir sogar gern die Hochsensiblen sein. Und fein wie die „Prinzessin auf der Erbse“ aus Hans-Christian Andersens kleinem Märchen. Sie erinnern sich?

Es war einmal ein Prinz, der wollte partout eine Prinzessin heiraten. Doch er traf auf seinen Reisen nur Betrügerinnen. Da ersann die alte Königin zu Hause einen unfehlbaren Test. Sie ließ die nächste Kandidatin, die ganz durchnässt am Stadttor erschienen war, in der Schlafkammer übernachten. Ganz unten auf die Bettstelle hatte sie eine Erbse gelegt und darauf zwanzig Matratzen sowie zwanzig Eiderdaunendecken gestapelt. Als die Unbekannte am nächsten Morgen klagte, dass sie überhaupt nicht schlafen konnte, weil sie auf etwas Hartem gelegen habe, da wussten alle, dass dies die richtige Braut war. Denn: „So empfindlich konnte niemand sein außer einer echten Prinzessin.“

Und? Wie zickig ist das denn? Wir sind keine Märchenprinzessinnen und sollten unsere Empfindlichkeiten auf ein angemessenes Maß reduzieren. Wie wäre es mit einer Currywurst draußen an der Ecke, wo es zieht und der Verkehr vorüberrauscht? Nur so als Übung. Na bitte: Geht doch!




Gebrauche Deine Zeit: Zum 80. Geburtstag von Wolf Biermann

Es ist ein seltsames Phänomen um Wolf Biermann, der ein glühender Liebhaber des Kommunismus war und doch mit ungehorsamen Liedern die DDR in Aufruhr versetzte.

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival "Lauter Lyrik" (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de - Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival „Lauter Lyrik“ (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de – Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wenn man von ihm spricht, diesem schnauzbärtigen Helden deutsch-deutscher Kultur, da erhebt sich schnell ein Missmut: „Den mag ich nicht. Der ist so selbstgerecht, so eitel!“ Ja, Leute, der Biermann ist nicht berühmt für seine Bescheidenheit. Er weiß um seine Bedeutung. Aber, mit Verlaub, das darf er auch. Denn er hat mit Poesie und Pathos am Rad der deutschen Geschichte gedreht.

Von seinem Leben, das am 15. November 1936 in einer Hamburger Arbeiterfamilie begann, erzählt er uns zum 80. Geburtstag selbst. 544 Seiten lang ist Biermanns Autobiografie mit dem Titel eines Liedes: „Warte nicht auf bessre Zeiten“. 200 Tagebücher und Stapel von Stasi-Akten wurden da verarbeitet – von einem, der nur in Liebesdingen locker lässt. Viel Zorn steckt darin. Aber auch viel Zärtlichkeit, nicht nur für seine Frauen und insgesamt zehn Kinder. Am Ende wird keine fiese Abrechnung aus dem Buch, sondern ein Stück süffiger Literatur mit geschichtlich-politischem Mehrwert. Der Meister der lyrisch-prägnanten Kurzform – „Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit …“ – bleibt seiner Sprache auch auf der Langstrecke treu.

„Weggerissen wurde der Vater mir, als ich vier Monate alt war …“ Dagobert Biermann, Werftarbeiter jüdischer Herkunft, Kommunist und aktives Mitglied einer Widerstandsgruppe, wird 1937, kurz nach der Geburt seines Sohnes, zum zweiten Mal von den Nazis verhaftet. Er stirbt, nach qualvollen Jahren, im Februar 1943 in Auschwitz. Sein letzter Brief – „Warte nur, Wölflein, wenn ich wieder komme, dann bauen wir uns ein großes Schiff …“ prägt Biermanns Kinderseele bis ins hohe Alter. Im Juli 1943 überlebt der Kleine an der Hand seiner Mutter Emma die Zerstörung Hamburgs durch Fliegerbomben – den „Feuersturm“. Er sieht verbrannte und erstickte Menschen, registriert entsetzliche Details. Doch er weint nicht: „Der Schrecken war zu übermächtig.“

Vielleicht hat das große Trauma den erwachsenen Biermann unempfindlich gemacht gegen die kleinlichen Schikanen des SED-Regimes. Er ist in den Ostapparat hinein geraten, weil seine Mutter Emma Biermann, mutig-naive Witwe des Widerstandshelden Dagobert und überzeugt vom Segen des Kommunismus, ihr Bübchen zu den Jungen Pionieren und schließlich in die junge DDR schickt, den Hoffnungsstaat der westdeutschen Genossen.

Ab 1953 geht Wolf Biermann auf ein Mecklenburger Internat und fühlt sich am rechten linken Platz. Als Student und Regieassistent des Berliner Ensembles ist er Ende der 1950er-Jahre intellektuell ganz vorn dabei. 1961 begrüßt er sogar den Mauerbau als Reaktion auf die massenhafte Westflucht der Eliten. Und er bekennt heute: „Ich habe an diesem 13. August die verfluchte Mauer mitgebaut“.

Hinter der schützenden Grenze entwickelt sich der junge Biermann, gefördert vom Brecht-Komponisten Hanns Eisler, zum Liedermacher mit Gitarre. Er tritt auf als „Troubadour de Berlin“, beachtet auch von der Linken im Westen. Für den Osten ist sein Ton nicht unverfänglich genug. Er verärgert die „Alten Genossen“ mit Versen über seine Unzufriedenheit. Schon bald gibt es Auftrittsverbote wegen „Klassenverrat“ und Obszönität“.

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael - Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael – Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Mitte der 1960er-Jahre gehört Biermann zu den Geistern des Widerstands, ununterbrochen bespitzelt. „Die Stasi ist mein Eckermann“, so kommentiert Biermann bissig die eifrigen Mitschriften der Lauscher. Die westliche Studentenbewegung liebt ihn und seinen eingängigen Song von der „Ermutigung“ (1966): „Du, lass dich nicht verbrauchen, gebrauche deine Zeit …“. Sie liebt auch sein wehmütiges Barlach-Lied: „Vom Himmel auf die Erden falln sich die Engel tot …“. Die Langspielplatte „Chausseestraße 131“, zu Hause aufgenommen mit einem von Mutter Biermann geschmuggelten Mikrofon, wird 1969 hüben verkauft und mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet. Sie bringt dem Regime und dem Barden erstaunliche Devisen.

Biermann hat sich recht kuschelig eingerichtet im Gesinnungsgefängnis DDR, wo er Beachtung findet an der Seite des Chemikers und Dissidenten Robert Havemann, dessen Tochter Brigitt zu seinen zahlreichen Amouren gehört. Er inszeniert sich poetisch als preußischen Ikarus, „mit grauen Flügeln aus Eisenguss“. Wegen seines westlichen Ruhms wagen die Behörden nicht, Biermann einzusperren, sie lassen ihn 1976 sogar auf Westtournee gehen (siehe Video am Schluss des Beitrags), und er wäre wohl artig zurückkommen, wenn man ihn nicht nach seinem triumphalen Konzert in Köln ausgebürgert hätte. Aus Protest verlassen etliche Kunstgenossen, darunter auch die Filmstars Manfred Krug und Eva-Maria Hagen, die DDR. Das System erzittert nachhaltig. 13 Jahre später wird die Mauer fallen.

Der Vertriebene selbst verliert in der Freiheit seinen Status. Die Fans reagieren gelangweilt auf klassenkämpferische Parolen und belehrende Konzerte. Sie sind genervt von den Streitigkeiten, die er vom Zaun bricht. Biermann zieht sich zurück nach Frankreich, in den „Bernstein der Balladen“ und in den Kreis seiner wachsenden Familie.

Der schönen Pamela, Mutter der letzten drei Kinder, ist er immerhin seit 1983 verbunden. Er ist weich geworden. Geehrt mit Preisen im Namen deutscher Dichter von Hölderlin bis Heine, kommt der alte Wolf Biermann zu ziemlich liberalen Einsichten. Er lobt die bürgerliche Demokratie als „das am wenigsten Unmenschliche, was wir Menschen als Gesellschaftsmodell bisher erfunden und ausprobiert haben“. Ist doch wahr. Drum: „Lass dich nicht erschrecken in dieser Schreckenszeit!“

Wolf Biermann: „Warte nicht auf bessre Zeiten!“ Die Autobiografie. Propyläen Verlag. 544 Seiten. 28 Euro.

Wolf Biermann: „Im Bernstein der Balladen – Lieder und Gedichte“. Propyläen. 240 Seiten. 24 Euro.

„Warte nicht auf bessre Zeiten“ – Wolf Biermann 1976 beim legendären Auftritt in der Kölner Sporthalle:




Superbes Duett: Degas und Rodin im Wuppertaler Museum

Edgar Degas: "Drei Tänzerinnen" (blaue Röcke, rote Mieder), um 1903. Pastell auf Papier und Karton (Fondation Beyeler, Riehen/Basel - Sammlung Beyeler, Foto Peter Schibli, Basel)

Edgar Degas: „Drei Tänzerinnen“ (blaue Röcke, rote Mieder), um 1903. Pastell auf Papier und Karton (Fondation Beyeler, Riehen/Basel – Sammlung Beyeler, Foto Peter Schibli, Basel)


Nun, beste Freunde waren diese Herren nicht. Aber man kannte sich natürlich in Pariser Künstlerkreisen. Edgar Degas und Auguste Rodin, haben mindestens einmal, das ist erwiesen, bei Monet zusammen diniert. Und es wurde ein undatiertes Briefchen gefunden, das Edgar Degas an „mon cher Rodin“, seinen lieben Rodin, schickte, um ihn um eine Empfehlung zu bitten („Das wäre nett von Ihnen“). Kein Museum der Welt kam bisher auf die Idee, ausgerechnet „Degas & Rodin“, den Maler duftiger Tänzerinnen und den Schöpfer markanter Mannsbilder, in einem superben Duett zu präsentieren. Das Wuppertaler Von der Heydt-Museum verschafft uns jetzt das Vergnügen.

Gerhard Finckh, der gewandte Direktor des Museums, weiß, dass er große Namen braucht, um das Publikum von nah und fern in seine Stadt zu locken. Und es gelingt ihm immer wieder. Noch bevor Degas und Rodin, die zufällig beide 1917 starben, nächstes Jahr zu ihren 100. Todestagen ganz groß in Paris und den USA abgefeiert werden, lenkt Finckh die Aufmerksamkeit schon mal nach – Wuppertal.

Edgar Degas: "Kleine Tänzerin", 1888, Bronze (Städel Museum, Frankfurt/Main, Artothek)

Edgar Degas: „Kleine Tänzerin“, 1888, Bronze (Städel Museum, Frankfurt/Main, Artothek)

100 Rodin-Werke und 80 von Degas, darunter elf aus der eigenen Sammlung, kann Finckh zeigen, dazu leicht lesbare Texte und opulent inszenierte Fotografien. Ein Coup, ohne Zweifel. Finckh macht den Anfang, sein imponierender Katalog liegt zuerst vor. Und sein Konzept ist überaus originell. Denn er hat, ohne die Sache zu forcieren, tatsächlich erstaunliche Parallelen im Oeuvre der beiden Großmeister der Moderne herausgearbeitet.

Beide schweiften nicht, wie die lichtvernarrten Kollegen der Impressionisten-Liga, durch Wiesen und Felder, um die Sonne zu suchen. Landschaft interessierte sie nur am Rande. Beide waren interessiert an der Figur und ihrer natürlichen Bewegung. Sie zeichneten sehr genau und schätzten, wie zarte Studien zeigen, die Vorbilder der Antike und Renaissance. Gleichzeitig nutzten sie das moderne Medium der Fotografie als Vorlage, um noch wahrhaftiger zu arbeiten. Beide waren bemüht, die Delikatesse der Malerei in die Skulptur umzusetzen – wobei nur Rodin als Bildhauer reüssierte. Damit wären wir schon bei den Unterschieden.

Rodin, ein imponierender Kerl und Frauenheld, 1840 als Sohn eines Polizeibeamten geboren, wurde dreimal von der Pariser Akademie abgelehnt und arbeitete sich über das Stukkateurhandwerk hinauf in den Olymp der Kunst. Rückschläge ließen ihn nur schlauer vorgehen. Als die lebensgroße Statue eines verwundeten Soldaten („Der Besiegte“) 1877 nichts als Genörgel auslöste, präsentierte er die nackte Figur eines stehenden jungen Mannes, der sich an den Kopf fasst, noch einmal ohne Lanze und mit dem allegorischem Titel „Das eherne Zeitalter“. Und siehe da: Das lebensgroße Bildnis wurde 1880 vom Staat gekauft, und Rodin hatte gleich den nächsten Auftrag in der Tasche – ein „Höllentor“ für das Kunstgewerbemuseum. Er avancierte zum Superstar der Bildhauerei, porträtierte Balzac, setzte ein Denkmal für „Die Bürger von Calais“, machte einen Boxer zum Modell für seinen „Denker“ und rückte auf in der Ehrenlegion. Die Kunden standen Schlange.

Auguste Rodin: "Das eherne Zeitalter", 1877. Bronze, Sandguss. (Musée Rodin, Paris)

Auguste Rodin: „Das eherne Zeitalter“, 1877. Bronze, Sandguss. (Musée Rodin, Paris)

Degas hingegen, eigentlich de Gas, 1834 geborener und exzellent ausgebildeter Spross einer Bankiersfamilie, endete als grämlicher Hagestolz. Er reagierte stets beleidigt auf Enttäuschungen. Nachdem die Kritik 1881 die Wachsfigur einer „Kleinen vierzehnjährigen Tänzerin“ mit echtem Tüllrock gehässig kommentiert und deren Physiognomie als verdorben bezeichnet hatte, zeigte er nie mehr wieder eine Skulptur öffentlich vor und handelte nur noch mit Malerei. Alle existierenden Bronzefiguren wurden posthum aus Wachs- und Tonmodellen gegossen. Umso berührender ist es, ihre gerettete Qualität zu sehen.

Finckh kann von der weltberühmten „Kleinen Tänzerin“ aus dem Musée d’Orsay zwar nur eine Leuchtfotografie zeigen, aber er hat eine ganze Compagnie kleinformatiger Degas-Ballerinnen zusammengestellt, die nackt und stolz posieren: Arabèsque und Attitude – das wirkt erstaunlich kraftvoll und wesentlich erotischer als die pastellfarbenen Bilder von Ballettmädchen in Tüllkostümen, die man sonst von Degas kennt und liebt. Und tatsächlich ergänzen die Bronzeabgüsse von Rodins kühnen Studien des modernen Ausdruckstanzes ganz ausgezeichnet dieses stumme Degas-Theater.

Auguste Rodin: "Tanzstudien F", um 1911 (Bronze, Guss 1952). (Musée Rodin, Paris, Foto Christian Baraja)

Auguste Rodin: „Tanzstudien F“, um 1911 (Bronze, Guss 1952). (Musée Rodin, Paris, Foto Christian Baraja)

Zugleich sieht man an der ungleichmäßigen Oberfläche der Skulpturen, dass hier wie dort ein malerischer Sinn am Werke war. Weder Degas noch Rodin mochten das Glatte, sie drückten ihre Figuren aus dem Ton oder Wachs mit Gesten, die differenziert waren wie Pinselstriche. Hier wurde zur festen Form, was Rodin in seinen Aktzeichnungen und Degas in seinen intimen Bildern von Frauen bei der Toilette festgehalten hatten. Das Museum zeigt etliche exquisite Beispiele dafür.

Rodins aquarellierte Zeichnungen sind auch für heutige Augen noch freizügig. Der Künstler lebte zwar bis ans Ende mit seiner Rose zusammen, malte und liebte aber auch andere Frauen ungeniert. Nicht nur seine hochbegabte Schülerin und Kollegin Camille Claudel machte er mit Treulosigkeit unglücklich. Degas hingegen mied persönliche Ausschweifungen. Er geisterte als korrekt gekleideter Gast durch die Hinterzimmer der Theater und Bordelle. Dort durfte er die Frauen bei ihrer Körperpflege beobachten und zeichnen, so lange es sein schwindendes Augenlicht erlaubte. Es ist nicht bekannt, ob er je ein Verhältnis zu ihnen hatte.

Auguste Rodin: "Tänzerin aus Kambodscha", Juli 1906. (Musée Rodin, Paris, Foto Jean de Calan)

Auguste Rodin: „Tänzerin aus Kambodscha“, Juli 1906. (Musée Rodin, Paris, Foto Jean de Calan)

Edgar Degas hütete seine Geheimnisse. Er wahrte die Fassade. Und auch in der Kunst war er mehr an der flirrenden Oberfläche, am Zauber der flüchtigen Geste interessiert. Auguste Rodin hingegen wollte das Verborgene offenbaren. Er erforschte den individuellen Ausdruck des Menschen in Schmerz, Sehnsucht, Liebe. Von ihm stammt der Satz: „Die Kunst beginnt erst bei der inneren Wahrheit.“ Insofern sind die Pariser Zeitgenossen Degas & Renoir keineswegs als Brüder im Geiste zu betrachten. Aber das macht die Ausstellung eher noch reizvoller.

„Degas & Rodin – Giganten der Moderne“: 25. Oktober 2016 bis 26. Februar 2017. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8 (Fußgängerzone). Di./Mi. 11 bis 18 Uhr, Do./Fr. 11 bis 20 Uhr, Sa./So. 10 bis 18 Uhr. Katalog (432 Seiten, Verlag Kettler) 25 Euro. DVD „Giganten der Moderne“ 17,50 Euro.
www.degas-rodin-ausstellung.de




Prächtige Schau im Kunstpalast: Hinter dem Vorhang offenbart sich das Geheimnis

Er hat’s. Dieses Gespür für das Publikum. Beat Wismer, der im nächsten Jahr – leider, leider – scheidende Generaldirektor des Düsseldorfer Museums Kunstpalast, möchte nicht nur in der Fachwelt reüssieren. Der gewitzte Schweizer will, dass alle hinsehen.

Das wird ihm, nach dem grandiosen Tschingderassabum der Tinguely-Maschinen, mit seiner letzten selbst kuratierten Schau wieder gelingen. „Hinter dem Vorhang“ präsentieren Wismer und seine Kollegin Claudia Blümle rund 200 Werke, die mit Verhüllung und Enthüllung zu tun haben – von der Renaissance bis heute. Um es unverhüllt zu sagen: Diese Ausstellung ist eine Pracht, und sie inspiriert den Betrachter auch ohne große Erklärungen.

Tizian: "Bildnis des Filippo Archinto" (© Philadelphia Museum of Art: John G. Johnson Collection - Foto: Philadelphia Museum of Art)

Tizian: „Bildnis des Filippo Archinto“ (© Philadelphia Museum of Art: John G. Johnson Collection – Foto: Philadelphia Museum of Art)

Dabei gibt es genug der Worte. Der raffiniert gestaltete Katalog vereint gelehrte Texte von zehn international renommierten Kunsthistorikern, aber – pardon! – die muss man nicht lesen, um gebannt zu sein von der Idee dieses Projekts. „Wir wollen alle hinter den Vorhang gucken“, bemerkt Direktor Wismer zu Recht. Und in der Tat geht es ja beim Verhängen von Räumen, Menschen und Dingen einerseits um das Kaschieren, andererseits aber auch um die Möglichkeit der Offenbarung. Vorhänge sind keine Mauern. Sie lassen sich durch einen Handgriff beiseite schieben und steigern von jeher die Spannung auf den Bühnen der Welt.

Verschleierter Erzbischof

Manchmal sind sie auch durchsichtig wie die unglaublich zart gemalte Gardine, womit Tiziano Vecellio, genannt Tizian, anno 1558 das Porträt des Kardinals Filippo Archinto zur Hälfte verdeckte. Mit Delikatesse machte der venezianische Meister das weißbärtige Antlitz des Kirchenfürsten hinter dem schleierartigen Stoff sichtbar. Der Vorhang hatte eine symbolische Bedeutung, weil der Kardinal zwar zum Erzbischof von Mailand ernannt wurde, aber das Amt wegen politischer Querelen nie ausüben konnte. Beat Wismer entdeckte das geheimnisvolle Bildnis vor Jahren im Philadelphia Museum of Art. Inzwischen hat es sicher jeder Düsseldorfer gesehen – auf den Plakaten zur Ausstellung. Auf ebenso subtile wie zielsichere Art wird da die Neugier geweckt.

Arnold Böcklin: "Trauer der Maria Magdalena an der Leiche Christi", 1867 (© Kunstmuseum Basel / Martin P. Bühler)

Arnold Böcklin: „Trauer der Maria Magdalena an der Leiche Christi“, 1867 (© Kunstmuseum Basel / Martin P. Bühler)

Der Vorhang als malerisches Sujet war keineswegs neu in Tizians Zeit. Schon im Hochmittelalter wiesen die Maler der Christenheit damit auf das göttliche Geheimnis hin, auf die Trennung zwischen Himmel und Erde, die letztendlich überwunden werden kann. Die Renaissance war ganz verliebt in diesen Gedanken. Sowohl Hans Holbein als auch Lucas Cranach der Ältere ließen um 1520 hinter ihren Madonnen die Englein schweben und einen grünen Vorhang halten, der die Mutter Gottes würdevoll umrahmt.

Göttliche Schöne beim Bade

Ein Jahrhundert später, im Barock, war es nicht nur der Glauben, sondern auch die Erotik, die mit drapierten Stoffen in Szene gesetzt wurde. Bei Anthonis van Dyck greift „Jupiter als Satyr bei Antiope“ lüstern nach der roten Decke, die den Schoß der Schlafenden verhüllt. Rubens betont die schwellenden Formen seiner Diana beim Bade um 1635-40 mit Tüchern, die von Dienerinnen gereicht werden. Der Blick der Göttin trifft den Betrachter, als habe sie ihn ertappt: ein delikater Moment.

Das 17. und 18. Jahrhundert, langes Zeitalter der Sinnenfreude, kokettierte auf vielfache Weise mit dem Vorhang. Etliche Barockmeister werteten ihre Selbstbildnisse mit Vorhängen auf und zeigten dabei nebenher ihre Fähigkeiten, einen perfekten Faltenwurf zu schaffen. Man perfektionierte das Spiel mit dem Vorhang – nicht nur malerisch. Kunstsammler pflegten ihre besten Bilder hinter echten Stoffen zu verstecken, um sie im gegebenen Augenblick effektvoll zu enthüllen.

Eine ungeheure Bilderfülle aus der Geschichte der Kunst hat die Ausstellung zu bieten. So manche Schönheit kommt da zum Vorschein wie Franz von Stucks „Susanna im Bade“ (1904), die dem Betrachter ihren herrlichen Leib von hinten zeigt, während sie sich mit einem hochgehaltenen Tuch vor den Blicken der Ältesten schützt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts verschwinden derlei Kompositionen. Die Tabus fallen, das Verborgene verliert seinen Reiz. „In der Moderne wird die Verhüllung selbst zum Thema“, sagt Co-Kuratorin Claudia Blümle.

Gerhard Richter: "Schwestern", 1967 (© Kunstmuseum Bonn, Dauerleihgabe Jürgen Hall)

Gerhard Richter: „Schwestern“, 1967 (© Kunstmuseum Bonn, Dauerleihgabe Jürgen Hall)

Das kann man wörtlich nehmen wie bei dem Düsseldorfer Kunstphilosophen Hans-Peter Feldmann, der einen „Vorhang Rot“ an einer Messingstange aufhängt – und das zum Objekt erklärt. Evelina Cajacob platziert einen weißen Vorhang aus gewachsten Papierstreifen mitten in den Saal. Wolfgang Kliege ließ aus rotweißen Stoffen die leere „Skulptur eines Zimmers“ nähen. Wie bitte? Verbirgt sich etwa das blanke Nichts hinter der Fassade der Gegenwart, die doch so stolz ist auf ihre brisanten Enthüllungen?

Rätsel für die Gegenwart

Ehe wir darüber in Verunsicherung geraten, tröstet uns eine monumentale „Vorhang“-Szene des neuen deutschen Romantikers unter der Surrealisten, Neo Rauch. In einem traumverlorenen Theater, das auch ein Museum ist, treiben da einige Krieger und Könige, Soldaten und Denker, was wir nicht verstehen müssen. Aber wir dürfen uns nach Herzenslust in das Bild hinein fantasieren. Denn es werden auch in der modernen Malerei durchaus Geschichten erzählt und Rätsel aufgegeben.

Christo: "Wrapped Beetle", 1963 (Objekt 2014). (© Christo 2014 - Im Besitz des Künstlers, Foto Wolfgang Volz)

Christo: „Wrapped Beetle“, 1963 (Objekt 2014). (© Christo 2014 – Objekt im Besitz des Künstlers, Foto Wolfgang Volz)

Und wir haben natürlich Christo, den großen Zauberer der Verhüllungskunst. 1963, als er noch nicht ganze Landschaften und Seen mit seinen Stoffen markierte, packte er vor der Düsseldorfer Galerie Schmela einen VW Käfer in gelben Stoff ein.

Der „Wrapped Beetle“ wurde, im Gegensatz zum Reichstag 1995, nie wieder ausgepackt und befindet sich noch heute, gut verschnürt, im Besitz des Künstlers. Christo wurde jetzt nicht nur zum Leihgeber der Ausstellung, er kommt auch wieder höchstpersönlich nach Düsseldorf und hält am Abend des 3. November einen enthüllenden Vortrag, der leider bereits ausverkauft ist. Aber auch ohne den Auftritt des Meisters sind die Verhüllungen im Kunstpalast eine Offenbarung. Vorhang auf!

„Hinter dem Vorhang: Verhüllung und Enthüllung seit der Renaissance – von Tizian bis Christo“. Bis 22. Januar 2017 im Museum Kunstpalast, Düsseldorf, Ehrenhof 4-5. Di.-So. 11 bis 18 Uhr, Do. bis 21 Uhr. Katalog (Hirmer Verlag) 39,90 Euro.




Das Konzept ist die Kunst: Die Sammlung Fischer in Düsseldorf

Ach, Verklärung tut ja so gut! Einhellig schwärmen selbst konservative Bürger, Politiker und Lobbyisten für die späten 1960er-Jahre, als der leicht verkrachte Künstler Konrad Fischer in einem Torbogen an der Neubrückstr. 12, mitten in der Düsseldorfer Altstadt, diese winzige Avantgarde-Galerie aufmachte.

Mag sein, dass damals kaum einer hinguckte. Mag sein, dass spätere Kunst-Superstars wie Gerhard Richter und Bruce Nauman bei einer Vernissage mit dem Galeristen allein dastanden und resigniert ein Bier trinken gingen. Heute will jeder, der alt genug ist, dabei gewesen sein. Und die Jungen erschauern vor Ehrfurcht.

Die Kunstsammlung, neu gemischt: "25 Blocks and Stones" von Carl André aus der Sammlung Fischer vor Jackson Pollocks monumentalem Bild "Number 32" von 1950. (© Kunstsammlung NRW / Foto: Birgit Kölgen)

Die Kunstsammlung, neu gemischt: „25 Blocks and Stones“ von Carl André aus der Sammlung Fischer vor Jackson Pollocks monumentalem Bild „Number 32“ von 1950. (© Kunstsammlung NRW / Foto: Birgit Kölgen)

Wie eine Offenbarung wird die wilde Zeit gefeiert. Und wie ein Zeichen dieser Offenbarung leuchtet ein pinkfarbenes Neonröhren-Denkmal von Dan Flavin am Eingang der Ausstellung „Wolke & Kristall“ in der Kunstsammlung NRW. Auf 2000 Quadratmetern beschwören über 200 Werke der Sammlung Fischer die Öffnung der Kunst hin zum Konzept. Die Idee ist dabei wichtiger als das Werk selbst, dessen Bestandteile unter Umständen sogar austauschbar sein können.

Aus den einstigen Versuchen ist ein Schatz geworden

Nicht gerade ein populäres Feld, aber das Publikum der Landesgalerie sollte sich daran gewöhnen. Denn das renommierte Museum hat den größten Teil der Sammlung und des Archivs von Konrad Fischer (1939-1996) und seiner 2015 mit 78 Jahren verstorbenen Frau Dorothee erworben. Kaufpreis: eine diskret verschwiegene Summe im, wie es heißt, „niedrigen zweistelligen Millionenbereich“. 7,7 Millionen zahlte jedenfalls das Land, das übrige Geld wurde von Stiftungen und Sponsoren aufgebracht.

Marion Ackermann, die scheidende Direktorin, führte schon vor über sechs Jahren die ersten Gespräche mit Dorothee Fischer, schloss den Deal jetzt mit den Kindern Berta und Kasper Fischer ab und betont die „unglaublich faire Verabredung“. Lediglich die Hälfte des unteren Schätzwertes für die gesamte Sammlung musste gezahlt werden, die andere Hälfte ist ein Geschenk der Fischers an die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, die dadurch zum Museum auch der spröderen Moderne wird. In der von 1962 bis 1990 dauernden Ära des Gründungsdirektors Werner Schmalenbach wäre das nicht passiert. Er verachtete neue Trends, kaufte nur die abgesegneten Meisterwerke der klassischen Moderne und bescherte den Düsseldorfern einige der berühmtesten Bilder von Paul Klee, Max Ernst, Picasso oder Modigliani.

Das Format und das Feeling der Original-Galerie

Deren betörende Wirkung hat die Sammlung Fischer nicht. Aber sie öffnet den Blick für die Entwicklung der Kunst und der Gesellschaft in der zweiten, freieren Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es lohnt sich, genauer hinzusehen, zumal Kuratorin Anette Kruszynski für eine originelle Inszenierung sorgte. Etliche der 16 Ausstellungsräume haben das Format und damit das Feeling der Original-Galerie: drei mal elf Meter. Auf dieser bescheidenen Fläche legte der New Yorker Carl André zur Eröffnung im Herbst 1967 hundert gleich große, industriell gefertigte Stahlplatten aus. Das war die begehbare Bodenskulptur „5×20 Altstadt Rectangle“. So mancher lief über die Kunst und erkannte sie nicht. Derlei spitzbübische Effekte waren durchaus im Sinn des Galeristen, der selbst künstlerische Ambitionen hatte und sich als serieller Maler Konrad Lueg nannte.

Nach Carl Andrés Boden-Installation "Wolke und Kristall" wurde die Ausstellung benannt. Der Spruch an der Wand stammt von Lawrence Weiner. (© Kunstsammlung NRW / Foto: Birgit Kölgen)

Nach Carl Andrés Boden-Installation „Wolke und Kristall“ wurde die Ausstellung benannt. Der Spruch an der Wand stammt von Lawrence Weiner. (© Kunstsammlung NRW / Foto: Birgit Kölgen)

Aber sein wahres Lebenswerk war die Entwicklung der Galerie, die zunächst, in Ermangelung wirtschaftlicher Erfolge, vom Lehrerinnengehalt seiner Frau Dorothee finanziert wurde. Konsequent präsentierte Fischer, was vom bürgerlichen Publikum als Spinnerei abgetan wurde. „He made things possible“, er machte Dinge möglich, sagt der heute als Videokünstler weltbekannte Amerikaner Bruce Nauman, dessen Installation „Six Sound Problems for Konrad Fischer“ von 1968 man jetzt in der Kunstsammlung betrachten – und vor allem hören kann. Mit einem Tonband, aufgespannt zwischen einem Stuhl und einem authentischen Wiedergabegerät, wird da ein jaulendes Geräusch erzeugt, während sich eine leere Spule dreht.

Mit Fantasie, Konsequenz und Spürsinn

Sinnlos? Gewiss. Aber schon damals erzeugte Nauman durch penetrante Wiederholung eine Aufmerksamkeit, die ihn schließlich berühmt machte. Und er weckte das Empfinden für unsere eigenen verrückten Wiederholungen und Zwangshandlungen. Ganz anders ging der britische Land-Art-Neuling Richard Long zu Werke, als er die kleine Galerie Fischer mit Streifen aus fein beschnittenen Weidenstöckchen auslegte. Lothar Baumgarten fantasierte mit einer poetischen Diashow „Ein Reise mit der MS Remscheid auf dem Amazonas“. Von April bis Juli 1969 schickte der japanische Konzeptkünstler On Kawara täglich eine Postkarte aus New York mit der Mitteilung: „I got up“, ich bin aufgestanden. Die vergilbenden Karten werden zum zarten Hinweis auf die vergehende Zeit – wie sechs Telegramme, die On Kawara 1970 schickte: „I am still alive“, ich lebe noch. Man liest es – und spürt die Vergänglichkeit.

Langsam, aber sicher, erreichte Konrad Fischer die Beachtung der Zeitgenossen und konnte 1974 mit der Galerie in bis heute existierende Räume an der Platanenstraße ziehen. Auch die Sammlung wurde repräsentativer. Viele Stücke passen ausgezeichnet in den Zusammenhang des Museums – geradezu magisch wirkt das schwarze Tier („Black Animal“) das Mario Merz, der italienische Meister der Arte Povera, in den 1990er-Jahren aus Papier und Leuchtzahlen konstruierte. „25 Blocks & Stones“, 25 Betonklötze mit aufgelegten kleinen Natursteinen, die Carl André 1973 erstmalig arrangierte, liegen wie selbstverständlich unter einem monumentalen Werk des Abstrakten Expressionismus aus den 1950er-Jahren: Jackson Pollocks 1964 von Schmalenbach erworbenes Bild „Number 32“. Mit knarrenden grauen Dielen, einer verschlossenen Tür, einem verhangenen Fenster und einer rätselhaft gruseligen Atmosphäre öffnet sich unvermittelt der „Raum für einen Tag“, den Gregor Schneider erst 1999 für die Galerie Fischer konzipierte.

Da war Konrad Fischer schon nicht mehr auf der Welt. Sein Tod 1996 hatte die Künstler erschüttert und zu besonderen Werken inspiriert. Thomas Schütte malte zwölf berückend schöne „Blumen für Konrad“ und schuf einen Keramikkopf nach Zeichnungen, die am Totenbett des Freundes entstanden waren. Carl André, der Partner der ersten Stunde, konzipierte aus zwei mal 144 Bleiblöcken, die er auf dem Boden auslegte, ein stummes Requiem für den Galeristen: „Wolke & Kristall. Blei Leib Leid Lied“. Die dunklen Klötze, nach Andrés Plan im Raum verteilt und angeordnet, zeigen, wie eindringlich Konzeptkunst wirken kann. Sie fordert das Denken und die Empfindung heraus.

„Wolke & Kristall – Die Sammlung Dorothee und Konrad Fischer“: ab 24. September bis zum 8. Januar 2017 in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr. Sa./So. 11 bis 18 Uhr. Der Katalog kostet 48 Euro.
www.kunstsammlung.de

Extra:

„Ich habe große Dinge vor“

„Lieber Kasper König“, schrieb Konrad Fischer im Juli 1967, an seinen in New York arbeitenden Freund: „ich habe große Dinge vor … Ich mache eine Galerie auf.“ König sorgte für erste Kontakte, und im Herbst 1967 eröffnete Fischer mit einer Bodenskulptur des New Yorkers Carl André seine Mini-Galerie an der Neubrückstr. 12, gleich neben dem legendären Künstlerlokal Creamcheese.

Fischer, 1939 in Düsseldorf geboren, hatte selbst an der Kunstakademie studiert, mit den Kommilitonen Gerhard Richter und Sigmar Polke einige Experimente gemacht und sich unter dem Namen Konrad Lueg als Maler profiliert. Die Mission seines Lebens aber fand er mit der Galerie, die Konzeptkunst, Minimal Art und Arte Povera gesellschaftsfähig machte.

Nach dem Tod Fischers 1996 führte seine Witwe und Partnerin Dorothee Fischer die Galerie bis zu ihrem Tod 2015 weiter. Sie sorgte noch selbst für den Erwerb der Sammlung Fischer durch die Kunstsammlung NRW. Die Galerie Konrad Fischer wird inzwischen von seiner Tochter Berta geführt.




Alles fließt: Der Rhein im Strom der Zeit – eine gedankenreiche Ausstellung in Bonn

Warum ist es am Rhein so schön? Etwa, „weil die Mädel so lustig und die Burschen so durstig“? Nee, du gutes altes Stimmungslied, es gibt noch etwas Anderes als das nervige Partygetümmel an den Promenaden von Düsseldorf, Köln oder Rüdesheim.

Der "Vater Rhein" in seinem Bett, umgeben von Städten und Nebenflüssen - so malte es 1848 Moritz von Schwind. (Foto: Raczynski-Stiftung, Poznan)

Der „Vater Rhein“ in seinem Bett, umgeben von Städten und Nebenflüssen – so malte es 1848 Moritz von Schwind. (Foto: Raczynski-Stiftung, Poznan)

Abseits, auf den Uferwiesen, da fließen die Gedanken und Gefühle. An den windigen Stränden, wo die Kinder des Rheins lernen, flache Kiesel so über das Wasser zu werfen, dass sie hochhüpfen, ehe sie versinken. Dort, wo sich die Pänz nasse Füße holen und den Schiffen hinterherträumen, die aus Basel oder Rotterdam kommen und mit ihren langen Lasten und fremden Leuten so leicht und fast lautlos vorüberfahren.

Es kam zu allen Zeiten etwas Neues mit dem Strom, und etwas Altes wurde fortgespült, bis es weiter oben im Meer verschwand. Vielleicht sind die Menschen am Rhein deshalb tatsächlich etwas offener und toleranter und, ja, manchmal auch etwas weniger treu und beharrlich als ihre Mitbürger, die tief verwurzelten Westfalen. In Bonn, der (typisch Rhein) verflossenen Hauptstadt der Republik, präsentiert die Bundeskunsthalle in den nächsten Monaten das große Thema „Der Rhein“ und zwar, wie der Untertitel heißt, als „Eine europäische Flussbiografie“. Das klingt ein wenig anstrengend und ist es auch.

Krieg und Kirche, Macht und Wacht

Zwischen leuchtend blauen Wellenwänden wird dem Betrachter einige Wissbegier abgefordert. Eine Fülle an Fakten und neuerer Forschung muss durchgearbeitet werden. Zahlreiche Bücher, Dokumente und historische Exponate erfordern mehr als beiläufiges Interesse für flussrelevante Themen wie Hochwasserregulierung, Kriegs-, Kirchen- und Industriegeschichte, die Macht und die Wacht am Rhein. Der Gesamteindruck ist irgendwie halbtrocken wie der Wein vom Drachenfels, den Kalauer konnten wir uns jetzt nicht verkneifen.

Nüchtern betrachtet: "Der Rhein I", Fotografie von Andreas Gursky. (Foto: Gursky / VG Bild-Kunst)

Nüchtern betrachtet: „Der Rhein I“, Fotografie von Andreas Gursky. (Foto: Gursky / VG Bild-Kunst)

Aber es lohnt sich, artig hinzusehen, zumal Kuratorin Mare-Louise Gräfin von Plessen eine kunstvolle Idee zur Einstimmung hatte. Unter den Klängen von Schumanns „Rheinischer Symphonie“ werden da drei Rheinbilder zusammengeführt. Die nüchtern-rätselhafte Fotografie eines nicht identifizierbaren Uferstreifens aus dem Werk des Starfotografen Andreas Gursky (1996) hängt gegenüber Moritz von Schwinds schwärmerischer Darstellung von „Vater Rhein“, der anno 1848 in den grünblauen Fluten sitzt und seinen Töchtern, den Flüssen und Städten, ein rheinisches Liedchen fiedelt. Daneben bannt uns der alienhafte grüne Kopf, den Max Ernst, der Surrealist und Weltbürger, 1953 seinem „Vater Rhein“ gegeben hat.

Nach Jahren im Exil war der in Brühl geborene Künstler zurückgekehrt an den heimischen Fluss und besang ihn auf seine Weise: „Hier kreuzen sich die bedeutendsten europäischen Kulturströme, frühe mediterrane Einflüsse, westliche Regionalismen, östliche Neigung zum Okkulten, nördliche Mythologie, preußisch-kategorischer Imperativ, Ideale der französischen Revolution und noch manches mehr“, stellte er fest.

Der Flussgott trägt zwei Hörner

Und das belegt die Ausstellung mit Bildungsgut. Die Chronologie beginnt bei den alten Römern, die den Rhenus fluvius als Flussgott sahen, mit zwei Hörnern, bicornis, wegen der Gabelung an der Mündung. Der Fluss, nicht so leicht zu überqueren, galt als natürliche Grenze zwischen Gallien und Germanien. Hier spielten sich über Jahrhunderte, bis hin zum Zweiten Weltkrieg, die Konflikte zwischen Franzosen und Deutschen ab, der Machtkampf zwischen Marianne und Germania. In nicht allzu schlechter Erinnerung hat man die sogenannte Franzosenzeit zwischen 1794 und 1814, als die nachrevolutionären Truppen aus Paris auf ihrem Eroberungszug nicht nur ein geregeltes Rechtssystem (Code Napoléon), sondern auch ein gewisses savoir vivre an den Rhein brachten.

Aufwallung: der "Vater Rhein" von Max Ernst, 1953. (Foto: Kunstmuseum Basel / VG Bild-Kunst)

Aufwallung: der „Vater Rhein“ von Max Ernst, 1953. (Foto: Kunstmuseum Basel / VG Bild-Kunst)

Heute bemüht man sich im europäischen Geist, die friedliche Einigkeit der Nationen zu betonen. Die Verbundenheit mit den Rhein-Nachbarn Schweiz, Frankreich und den Niederlanden wird auch in der Bonner Ausstellung beschworen, aber, Hand aufs Herz, die westlichen Anwohner sind nie zu solchen Rheinromantikern geworden wie es die angereisten Engländer schon im 19. Jahrhundert waren, als sie die Romantik und die erbauliche Flussfahrt entdeckten. The river Rhine is so lovely, Ladies and Gentlemen!

Die Geschichte der fatalen Loreley

Doch halt! Da sind wir wieder mal zu schnell im Strom der Zeit vorausgetrieben. Zunächst einmal baute die christliche Kirche auf den Stätten der Antike ihre Kathedralen, und das Heilige Römische Reich breitete sich aus. Kaiser und Ritter residierten bevorzugt am Rhein, und es entstanden die Burgen, deren Ruinen sich noch heute so malerisch erheben, und es entstanden die Sagen und Märchen, die sogar disziplinierten japanischen Touristen die Tränen in die Augen treiben. Am Felsen der Loreley, die mit ihrem Gesang und ihren goldenen Haaren so manchen Schiffer ins Verderben lockte, da singen sie im Chor: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin …“.

Zum Fürchten: Lorenz Clasens "Germania als Wacht am Rhein", 1880. (Foto: Kunstmuseen Krefeld)

Zum Fürchten: Lorenz Clasens „Germania als Wacht am Rhein“, 1880. (Foto: Kunstmuseen Krefeld)

Heinrich Heine schrieb die berühmten Verse, denn selbst scharfsinnige Spötter werden sentimental, wenn sie nur lange genug auf die Fluten schauen. Und nicht nur Richard Wagner suchte mit ganz großem Pathos nach dem Rheingold. Über Kopfhörer kann man allerlei vom Rhein inspirierte Musik hören.

Ansonsten ist in der Ausstellung relativ wenig Platz für sinnliche Erlebnisse. Sie hat einfach zu viel zu erzählen: vom Strom der Händler, von den Waren und Menschen, die über den Rhein kamen, von wachsenden Städten und von glanzvollen Höfen wie dem des Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz, genannt Jan Wellem, der in Düsseldorf die erste Gemäldegalerie für das Volk eröffnete und von dessen ganzer Prachtentfaltung nur noch ein kleiner übriggebliebener Schlossturm zeugt. Das Türmchen ist heute Domizil eines hübschen kleinen Schifffahrtsmuseums und steht gleich vorn in der Altstadt an der Promenade der immerwährenden Party. Womit wir wieder beim Stimmungslied wären: „Warum ist es am Rhein so schön?“ Ich empfehle, einen kleinen Spaziergang zu machen, ein wenig abseits, und sich den Wind des freien Rheins um die Nase wehen zu lassen.

„Der Rhein. Eine europäische Flussbiografie“. Bis 22. Januar 2017 in der Bundeskunsthalle Bonn, Friedrich-Ebert-Str. 4, Museumsmeile. Di und Mi. 10 bis 21 Uhr, Do.-So. 10 bis 19 Uhr. Eintritt: 12 Euro (ermäßigt 8 Euro). Katalog (Hrsg. Marie-Louise von Plessen), Prestel-Verlag, 336 Seiten, 39,95 Euro. Es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm. www.bundeskunsthalle.de




Museum Ludwig: Die Kunst des Nachdenkens

Der neue Direktor neigt nicht zur großen Show. Yilmaz Dziewior, der Anfang 2015 vom Bregenzer Kunsthaus in Kölner Museum Ludwig wechselte, feiert das 40jährige Bestehen des renommierten Hauses am Dom, wie es seine Art ist – mit einer reflektierenden Gruppenausstellung zum Thema Sammler, Institution und Gesellschaft. „Wir nennen es Ludwig“ heißt das kuratorische Projekt mit Werken von 25 politisch korrekt gemischten Künstlern, und man muss sich schon durcharbeiten.

Am Eingang der Jubiläumsausstellung im Museum Ludwig steht das Publikum vor „Bakunins Barrikade“, einer Installation des türkischen Künstlers Ahmet Ögüt. Gleich vorne am Bauzaun hängt Warhols Porträt des Sammlers Peter Ludwig (links im Bild). (Foto: bikö)

Am Eingang der Jubiläumsausstellung im Museum Ludwig steht das Publikum vor „Bakunins Barrikade“, einer Installation des türkischen Künstlers Ahmet Ögüt. Gleich vorne am Bauzaun hängt Warhols Porträt des Sammlers Peter Ludwig (links). (Foto: bikö)

Der Schokoladenfabrikant Peter Ludwig (1925-1996), schwerreicher Mäzen und Stifter für 15 internationale Museen, gehört zu den Phänomenen, mit denen sich die Ausstellung beschäftigt. Sein 1980 bei Andy Warhol bestelltes Porträt hängt schief neben Kokoschkas „Ansicht der Stadt Köln“ an einem Haufen Schrott mit umgekippten Autos, Steinen, Rohren, Gittern und Bauzäunen. Der türkische Konzeptkünstler Ahmet Ögüt hat die Bilder für „Bakunins Barrikade“ benutzt. Die Installation weist etwas umständlich hin auf den Dresdner Aufstand von 1849, als der russische Anarchist Michail Bakunin angeblich Bilder der Gemäldegalerie benutzte, um die Soldaten zu stoppen.

Das Publikum sollte sich nicht aufhalten lassen und hinter der Barrikade nach weiteren Erkenntnissen und einer kleinteiligen Installation des Afrikaners Georges Adéagbo suchen. Eine Reihe von Druck-Collagen, mit denen Hans Haacke 1981 den vielgerühmten Sammler und „Pralinenmeister“ provozierte, enthüllt – über Packungen von Novesia-Goldnuss und Schogetten – die machtbewussten Ansichten Peter Ludwigs. „Der Markt für Pop-Art ist entscheidend durch die Aktivitäten des Ehepaars Ludwig geprägt worden“, soll der Big Spender selbst gesagt haben. Auch der Videokünstler Marcel Odenbach hat sich mit der schillernden Figur beschäftigt. Er projiziert dokumentarische Filme auf ein Bild des Garagentors von Ludwigs Aachener Privathaus, wo eine Skulptur des Nazi-Bildhauers Arno Breker im Garten stand. Ludwig mochte Breker. Odenbach bewertet nichts, er präsentiert, zeigt Erinnerungen an den Sammler.

In flimmernden Interviews spricht Peter Ludwig über Fantasie, Disziplin und Empfindsamkeit. Er agierte, das wird klar, wie ein Sonnenkönig der modernen Kunst, deren Bedeutung er festlegen wollte, um sich selbst eine über den wirtschaftlichen Erfolg herausragende Bedeutung zu verschaffen: „Meine Sammlung ist keine Kapitalanlage, kein Spekulationsobjekt“, versicherte er. Immerhin hat die Kunst dem Unternehmer durch geschickte Stiftungen und Schenkungen eine Menge Steuern erspart.

Die Ausstellung schweift weiter ab in die Sphären kritischer Betrachtung von Kultur und Gesellschaft an sich. Nicht gerade ein Garant für Spannung. Die amerikanische Performance-Künstlerin Andrea Fraser präsentiert in einer Vitrine sämtliche Seiten ihres Arbeitsvertrags. Die „Guerrilla Girls“ aus New York, bekannt für Auftritte mit Gorilla-Masken, rechnen die Beteiligung beziehungsweise die Abwesenheit weiblicher Künstler in wichtigen Museen vor. Die Mexikanerin Minerva Cuevas lässt die Hymne ihrer „International Understanding Foundation“ hören.

Ai Weiweis Objekt aus 42 umgekippten und aneinander montierten Fahrrädern, die einerseits auf Chinas Verkehr, andererseits auf Duchamps „Roue de bicyclette“ hinweisen, gehört noch zu den opulenteren Erscheinungen des Parcours zum 40jährigen Bestehen der Institution Museum Ludwig. Der in Köln lebende Kunstsuperstar Gerhard Richter zeigt nur ein paar kleinere Werke mit lokalem Bezug wie die Fotografie einer Demonstration von 1987 und das Reprint eines Gemäldes von der „Domecke“. Da bleibt nur eins: Auf in die Dauerausstellung mit Spitzenwerken von der klassischen Moderne! Picasso, Rothko, wir kommen.

Info:

Vor 40 Jahren, 1976, schenkten die Eheleute Peter und Irene Ludwig der Stadt Köln 350 Werke der modernen Kunst mit der Auflage einer eigenen Museumsgründung. Zehn Jahre später, im September 1986, wurde das von den Architekten Peter Busmann und Godfried Haberer entworfene Gebäude gleich hinter dem Kölner Dom eröffnet.

Die Ausstellung „Wir nennen es Ludwig – Das Museum wird 40“ beschäftigt sich bis zum 8. Januar 2017 kritisch mit den Themen Sammeln und Gesellschaft. Di.-So. 10 bis 18 Uhr. www.museum-ludwig.de




Wenn Dichter baden gehen

Jeder Autor, der einmal ohne den geringsten Einfall auf ein leeres Blatt Papier gestarrt hat (jaja, heutzutage ist es der Bildschirm), der weiß: Auch der munterste Geist braucht gelegentlich Erholung an den Stränden ordinärer Lebenslust. Angeregt durch die Ferienzeit und eine kleine Ausstellung im Düsseldorfer Heine-Institut würdigen wir die „Dichter in Badehosen“.

„Stilles Gestade, so nahe dem heftigsten Getriebe“: Der Schriftsteller Heinrich Mann (Mitte) plaudert mit seiner Frau Nelly und einem Freund 1935 am Strand von Nizza. Foto: Feuchtwanger Memorial Library/University of California

„Stilles Gestade, so nahe dem heftigsten Getriebe“: Der Schriftsteller Heinrich Mann (Mitte) plaudert mit seiner Frau Nelly und einem Freund 1935 am Strand von Nizza. (Foto: Feuchtwanger Memorial Library/University of California)

Aber was heißt hier Badehosen? Schon Johann Wolfgang Goethe, der Übervater des deutschen Bildungsbürgers, riss sich gerne sämtliche Kleider vom Leibe, um sich frei zu fühlen. Bei einer Reise durch die Schweiz 1775 hatten es ihm seine Freunde Friedrich Leopold und Christian von Stolberg vorgemacht, „die guten harmlosen Jünglinge“. Goethe notierte, dass er sich „halb nackt wie ein poetischer Schäfer oder ganz nackt wie eine heidnische Gottheit“ in Schweizer Seen tummelte – leider nicht weit genug von der Zivilisation entfernt. Entrüstete Anwohner sollen mit Steinen geworfen haben.

Heinrich Heine, Goethes junger und von ihm nie adäquat beachteter Düsseldorfer Kollege, reiste häufig an die Nordsee, um, bevor es ihn nach Paris verschlug, seine zarte Gesundheit zu stärken. Im Juli 1826 auf Norderney lernte er sogar schwimmen – wir wissen nicht, welches Outfit er dabei trug. Aber: „Das Meer war so wild, dass ich oft zu versaufen glaubte“, schrieb er mit jungenhaftem Stolz an seinen Hamburger Verleger Julius Campe. Die Brandung verschaffte Heine ein Hochgefühl. „O wie lieb ich das Meer“, schwärmte er im folgenden Herbst in einem Brief an seinen Dichterfreund Karl Immermann, „… und es ist mir wohl, wenn es tobt.“

Ganze Gedichtzyklen Heines sind vom Meer inspiriert, er besang „Poseidon“ und das „Seegespenst“, den „Untergang der Sonne“ und den „Gesang der Okeaniden“. Man kann also nicht sagen, dass der Müßiggang am Strand die Kreativität vernichtet. Ganz im Gegenteil. Hermann Hesse, ein früher Verfechter der Freikörperkultur, schrieb liebevolle Betrachtungen über seine „Jahre am Bodensee“ (1904-1912), in der Nähe des Wassers entstanden Romane und schwelgerische Verse: „Seele, Seele, sei bereit!“

Mannsbild in Badehosen: Der Heimatdichter Wilhelm Schäfer 1911 am Bielersee (Schweiz). Er war ein Freund von Hermann Hesse und schrieb schwärmerische Texte über Seen und Berge. (Foto: Rheinisches Literaturarchiv/ Heine-Institut)

Mannsbild in Badehosen: Der Heimatdichter Wilhelm Schäfer 1911 am Bielersee (Schweiz). Er war ein Freund von Hermann Hesse und schrieb schwärmerische Texte über Seen und Berge. (Foto: Rheinisches Literaturarchiv/ Heine-Institut)

Hesses Freund Wilhelm Schäfer, ein vollbärtiges Mannsbild, liebte die Sommerfrische in Süddeutschland und der Schweiz. „Auch der See, in der Nähe kristallgrün, ging wie blaue Seide in die Tiefe hinein …“, schrieb er 1931 in „Wahlheimat“. Seine volksverbundene Prosa gefiel später leider auch den Nazis. Geplagt von Finanzsorgen und Schnaken, verbrachte der Rechtsanwalt Heinrich Spoerl 1931 einen dreiwöchigen Urlaub am Starnberger See, badete nur bis zur Taille („der See ist ziemlich kühl“) und hatte die Idee zu einer heiteren Pennälergeschichte, die als verfilmter Roman eine Legende wurde: „Die Feuerzangenbowle“.

Thomas Mann, der im Schutze eines Strandkorbs mitunter sogar den feinen Sommeranzug ablegte und im Badetrikot mit Sockenhaltern in der Sonne saß, stattete seine berühmtesten Helden mit Meeresliebe aus. „Tonio Kröger“ ließ er die „geheimnisvoll wechselnden Mienenspiele“ sehen, „die über des Meeres Antlitz huschen“. Und Hanno, Sprößling der „Buddenbrooks“, liebt „dieses zärtliche und träumerische Spielen mit dem weichen Sande, der nicht beschmutzt, dieses mühe- und schmerzlose Schweifen und Sichverlieren der Augen über die grüne und blaue Unendlichkeit hin …“

Auch Manns Bruder Heinrich, der, wie viele verfolgte Intellektuelle, an der südfranzösischen Ferienküste vorübergehend den Naziterror vergessen konnte, fand große Worte für das Stranderlebnis: „Das Meer, sein tiefer Atem, seine windige, … ersterbende Bläue und dieser Glanz von abendlich feuchtem Gold …“. Ein anderer Emigrant, der kämpferische Dichter und Dramatiker Bertolt Brecht, hatte schon 1919, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, dem Schwimmen ein Gedicht gewidmet: „Der Leib wird leicht im Wasser“, schrieb er da, und es ist, als befreite das Baden den Denker von den drückenden Problemen der Zeit: „Natürlich muss man auf dem Rücken liegen / so wie gewöhnlich. Und sich treiben lassen. / … / Ganz ohne großen Umtrieb, wie der liebe Gott tut / wenn er am Abend noch in seinen Flüssen schwimmt.“

Info:
Angeregt wurde dieser Text von einer Treppenhausaustellung im Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, Bilker Str. 12-14: „Dichter in Badehosen“ bis 11. September 2016, Di.-So. 11 bis 17 Uhr (Sa. 13-17 Uhr).

Büchertipps:
Heinrich Heine: „O wie lieb ich das Meer – Ein Buch von der Nordsee“, herausgegeben von Jan-Christoph Hauschild, Hoffmann und Campe. 128 Seiten. Vergriffen, aber antiquarisch und als E-Book ab etwa drei Euro über das Internet erhältlich.
Hermann Hesse: „Jahre am Bodensee – Erinnerungen, Betrachtungen, Briefe und Gedichte“. Herausgegeben von Volker Michels mit Bildern von Siegfried Lauterwasser. Insel Verlag. 238 Seiten. 28 Euro.




Ai Weiwei und die Kunst des Konflikts

Er hätte in New York bleiben können, frei, unbehelligt. Immerhin lebte der chinesische Künstler und Architekt Ai Weiwei von 1981 bis 1993 seinen amerikanischen Traum. Aber wer kannte ihn schon? Erst als aufrührerischer Heimkehrer entwickelte Ai ein von der westlichen Welt bewundertes Werk voller Zorn und Schönheit. Der Konflikt mit dem kommunistisch-kapitalistisch agierenden Regime inspiriert ihn zu immer wieder neuen Installationen, die er jetzt in einer grandiosen Schau im Berliner Gropius-Bau zeigt: „Evidence“ – Beweis.

Dass er selbst nicht zur Eröffnung kommen durfte, passt Ai Weiwei durchaus ins Konzept. Das Verbot sei, ließ er vorab verlauten, „ein Kunstwerk an sich“ und spiegele die menschliche Verfassung wider.

Der Künstler Ai Weiwei im Jahr 2012. (Foto: © Gao Yuan)

Der Künstler Ai Weiwei im Jahr 2012. (Foto: © Gao Yuan)

Die chinesischen Behörden verweigern ihm die Ausreise, seit er 2010 mit einer im Internet angekündigten Protestparty auf den willkürlichen Abriss seines Ateliers in Shanghai reagierte. Während Ai in Hausarrest saß, ließ er rund 1000 Gästen ein symbolhaltiges Mahl servieren: Flusskrebse, chinesisch „he xie“. Genauso klingt – etwas kompliziert für westliche Rezipienten – das chinesische Wort für Harmonie, welches wiederum vom Regime gebraucht wird, sobald es um Gleichschaltung geht. Für Ai Weiwei sind die Flusskrebse nun seine subversiven Krabbeltiere. Er ließ sie 2011 in kostbarem Porzellan nachbilden, grau und rot, zerbrechlich, aber nicht verderblich. In unübersehbarer Zahl liegen sie auf dem Boden des Ausstellungssaals – unheimlich und reizvoll.

So macht sich Ai Weiwei die Dinge und Ereignisse zu eigen. Die Idee der Verwandlung ist sein Trick und zugleich seine Erlösung. Die Überwachungskameras, die vor seinem Haus in Peking installiert wurden, ließ er in Marmor nachbilden. Versteinert sind sie nun, hübsch, harmlos und doch Zeugnisse einer allgegenwärtigen Schikane. Ai hat sie verzaubert – genau wie die Handschellen, die zum Jade-Schmuck wurden, und sechs schäbige Plastikbügel, die jetzt als Kristallobjekte edel in einer Vitrine schimmern. Gezähmte Erinnerungen an die 81 Tage, die Ai im Frühjahr 2011 in einem Geheimgefängnis verbrachte.

Ohne Angabe von Gründen hatte man ihn auf dem Flughafen verhaftet und in eine Zelle gesperrt, wo das Licht nie ausging und die Möbel mit Schaumstoff umwickelt waren. Ein Nachbau soll dem Publikum (nur sechs Personen dürfen zugleich eintreten) die Gefühle des Gefangenen nahebringen, Ai lässt nichts aus. In einem suggestiven Musikvideo marschiert er zwischen Bewachern auf und ab – und inszeniert seine Fantasien. Ein Kind rasiert ihm die struppigen Haare vom Schädel, auch der lange Bart fällt. Der bullige Künstler wird zu einer kahlköpfigen, geschminkten Diva, die aus dem Gefängnisgang einen Laufsteg macht. Wieder hat die Metamorphose funktioniert.

Ein gefährliches Spiel, was Ai da treibt. Nicht immer geht es so gut aus wie Ende 2011, als Tausende von Spendern seine angeblichen Steuerschulden bezahlten. 2009, als er nach dem verheerenden Erdbeben von Sichuan auf Baumängel in den zusammengestürzten Gebäuden hinweisen wollte, erlitt er nach einer Polizistenattacke eine Hirnblutung, die in Deutschland operiert wurde. Zu einer Ausstellung im Münchner Haus der Kunst durfte er damals noch leibhaftig erscheinen. Heute ist er virtuell gegenwärtig – und ein andächtiges Publikum huldigt ihm im Gropius-Bau, dem ehemals kaiserlichen Kunstgewerbemuseum, um 1880 von Martin Gropius (dem Großonkel des Bauhaus-Gründers) als Pseudo-Renaissance-Palast errichtet.

Installation mit über 6000 chinesischen Holzschemeln im Gropius-Bau: "Stools" (Hocker), 2014. (© Ai Weiwei / Foto © Reschke, Steffens & Kruse, Berlin/Köln)

Installation mit über 6000 chinesischen Holzschemeln im Gropius-Bau: „Stools“ (Hocker), 2014. (© Ai Weiwei / Foto © Reschke, Steffens & Kruse, Berlin/Köln)

Ai weiß, wie man auch solche Räume füllt. Über 6000 alte Hocker aus nordchinesischen Dörfern stehen dichtgedrängt im prächtigen Lichthof. Sie tragen die Spuren vieler Leben und erzählen mit ihren Kratzern, Brüchen und Farbresten von Chinas Vergangenheit, deren Überreste systematisch dem Wirtschaftsboom geopfert werden.

Nicht nur in Peking verschwinden historische Stadtviertel, um neuen Wohn- und Geschäftsburgen Platz zu machen. Schon 2007, nachdem er antike Häuserteile und Möbel auf der Documenta installiert hatte, ließ Ai 30 Türen zerstörter Häuser in Marmor nachbilden. Sein „Monumental Junkyard“, der monumentale Schrottplatz, ist ein Denkmal für das Verlorene – genau wie zwölf vergoldete Bronzen chinesischer Tierkreisfiguren, die sich einst in den Gärten des kaiserlichen Sommerpalastes befanden, wo sie 1860 von europäischen Soldaten geraubt wurden.

Jede Zeit gebiert ihr eigenes Unrecht. Und sie sorgt für Verdrängung. Die jungen Chinesen im Fortschrittsrausch interessieren sich kaum für die traditionelle Kultur ihres Landes. Sie wollen Audi fahren. Ai Weiwei hat dafür in diesem Jahr ein starkes Zeichen geschaffen: Er überzog acht etwa 2000 Jahre alte Vasen aus der Han-Dynastie mit metallisch glänzendem Autolack. Sieht perfekt aus, dieser Akt der Zerstörung. Ai Weiwei, der abwesend Anwesende, hat sich wieder einmal klar ausgedrückt.

„Ai Weiwei – Evidence“: bis 7. Juli im Martin-Gropius-Bau, Berlin, Niederkirchnerstr. 7. Mi.-Mo. 10 bis 19 Uhr, ab 20. Mai bis 20 Uhr, Di. geschlossen. Katalog im Prestel-Verlag: 25 Euro (Buchhandelsausgabe: 39,95 Euro). www.gropiusbau.de




Der Flaneur braucht kein Ziel

In der Regel hat der Weg in der westlichen Leistungsgesellschaft ein Ziel. Man geht zur Arbeit oder zum Supermarkt, man muss Behördengänge erledigen, die alte Mutter besuchen, für den Halbmarathon trainieren, Schuhe kaufen oder wenigstens Brötchen holen. Auch die systematische Besichtigung historischer Innenstädte in artigen Gruppen oder mit Hilfe eines gedruckten Reiseführers ist durchaus üblich.

Der Flaneur (aus dem Französischen: flaner = umherstreifen, schlendern) braucht alle diese Gründe nicht, um stundenlang durch eine Stadt zu bummeln. Er hat keine Eile, er lässt sich treiben. Mal beobachtet er die Schwäne auf dem Stadtteich, mal lauscht er einem Straßenmusiker, mal trinkt er einen Espresso, sieht Passanten hinterher und lässt die Zeit vergehen. Ein Flaneur verfolgt keinerlei praktischen, wirtschaftlichen oder sportlichen Nutzen. Er sammelt Eindrücke.

Inspirationen suchen

Das ist für emsig arbeitende Menschen eher suspekt. Der kleine Müßiggang beim Cappuccino wird zwar mittlerweile akzeptiert, man darf mal Pause machen. Aber nicht zu lange, dann muss man wieder ins Büro. Oder wenigstens ins Sportstudio. Der Flaneur lächelt nur milde, grüßt flüchtig und schlendert weiter, um die nächste Ecke. Das ist seine liebste Beschäftigung. Für einen Faulenzer darf man diesen Charakter dennoch nicht halten, denn er registriert alles.

Flaneusen sind in der Kulturgeschichte nicht vorgesehen. Aber es soll sie geben... (Bild: Privat)

Flaneusen sind in der Kulturgeschichte nicht vorgesehen. Aber es soll sie geben… (Bild: Privat)

Viele Dichter und Journalisten verschafften sich flanierend ihre Inspirationen. Der Beschwörer des Unheimlichen zum Beispiel, Edgar Allan Poe, ließ den Ich-Erzähler seiner Novelle „Der Mann in der Menge“ (1838) nach langer Krankheit „an dem Bogenfenster des vielbesuchten Café D. in London“ Platz nehmen und das städtische Leben beobachten: „Das Gefühl der wiederkehrenden Kräfte hatte mich in jene glückliche Stimmung gebracht, die das Gegenteil von Langeweile ist, alle Sinne schärft, aufnahmefähiger macht… Alles, selbst Unbedeutendes, nötigte mir eine ruhige, forschende Teilnahme ab.“ Durch die dunstbeschlagenen Scheiben späht der Mann auf die Straße hinaus, Poe lässt ihn unermüdlich die Vorübergehenden beschreiben: die Herrschaften und Hausierer, die Bettler und Spieler, die Kuchenverkäufer und Trunkenbolde bis hin zu einem kleinen alten Mann, dessen satanisches Gesicht ihn derartig fasziniert, dass er ihm folgt – durch den Nebel der Nacht.

Kunst der Wahrnehmung

Flanieren, lernt man aus diesem Stück Literatur, hat nichts mit Dösen zu tun. Es verbessert vielmehr die Wahrnehmungsfähigkeit. „Flaneure sind Künstler, auch wenn sie nicht schreiben“, behauptet der holländische Schriftsteller Cees Nooteboom in einem Essay für die „Zeit“: „Sie sind zuständig für die Instandhaltung der Erinnerung, sie sind die Registrierer des Verschwindens, sie sehen als erste das Unheil, ihnen entgeht nicht die kleinste Kleinigkeit.“ Kein Riss im Parkhaus-Beton, keine Bausünde, keine Verwahrlosung. Und kein Vogelzwitschern im Gebüsch.

Hans Dieter Schaal, der jenseits der Szene arbeitende Architekt, Bühnenbildner, Dichter und Denker, fühlte sich von den Städten, die er besuchte, so vielfältig angeregt, dass er im Jahr 2009 seine „Stadttagebücher“ veröffentlichte. „Ich bin Erlebender und Beobachter“, schrieb Schaal im Vorwort: „Ich schaue mir die Gebäude, Straßen, Plätze, Märkte Fußgängerzonen, Malls und die Menschen an, lasse die Oberflächen auf mich wirken, spüre den Atmosphären nach. Manchmal überfällt mich die Angst, dann wieder fühle ich mich beglückt und bereichert.“ Knapp 700 eng bedruckte Seiten füllte Schaal mit Texten und selbst fotografierten Bildern.

Langsam gehen

Der Flaneur kann also auch besonders fleißig sein. Muss aber nicht. Er ist im Prinzip ein Zeitverschwender, gibt Nooteboom zu. „Wenn ich an all die Stunden – und allmählich Jahre – denke, die ich durch die Straßen der Welt geschlendert bin, dann hätte ich in dieser Zeit die gesammelten Werke von Hegel und Kant mit der Hand abschreiben können“, scherzt er. Stattdessen habe er „ein Buch gelesen, das nie zu Ende geht, ein Buch, dessen Kapitel und Buchstaben aus Gebäuden, Standbildern, Straßen, Autobussen und Menschen bestehen“.

Als „Lektüre der Stadt“ bezeichnete schon der Autor und Rowohlt-Lektor Franz Hessel (1880-1941) das Flanieren. In seinem Buch „Spazieren in Berlin“ feierte er 1929 das zweckfreie Schlendern: „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung.“ Allerdings registrierte Hessel in der geschäftigen Metropole auch misstrauische Blicke: „Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb.“ In Paris, wo Hessel vor dem Ersten Weltkrieg einige glückliche Jahre verbrachte, war das anders: Das Flanieren als Lebensart wurde dort im späten 19. Jahrhundert erfunden und von Autoren wie Marcel Proust („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“) gefeiert. Wie viele Bilder der Impressionisten zeigen, liebte man das zweckfreie Bummeln besonders, seit die französische Hauptstadt kein Labyrinth stinkender Gassen mehr war. Der Präfekt Georges-Eugène Baron Haussmann hatte großzügige Boulevards und lauschige Passagen angelegt – das ideale Terrain für den Flaneur, den Charles Baudelaire, Poet der „Blumen des Bösen“, als „Künstler, Mann von Welt, Mann der Menge und Kind“ beschrieb.

Melancholischer Voyeur

Nach Ansicht des deutschen Philosophen und Proust-Übersetzers Walter Benjamin (1892-1940) ist der Flaneur ein Süchtiger, ein melancholischer Voyeur, ein Detektiv und ein Verdächtiger zugleich. Benjamin widmete dem Phänomen sein unvollendetes „Passagen-Werk“, dessen Durcharbeitung allerdings nur strebsamen Geisteswissenschaftlern zu empfehlen ist. Alle anderen sollten einen leichten Mantel anziehen und einfach nach draußen gehen, in die Stadt, zum Flanieren.

Zitat:

„Hierzulande muss man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für unsereinen.“
(Franz Hessel, Flaneur)

Und wo bleibt die Flaneuse?

Frauen haben offensichtlich immer was zu tun. Jedenfalls kennt die Literatur keine Flaneuse. So, wie sich die Männer bei der Arbeit entschlossen bis stur auf ein Ziel konzentrieren, sind sie auch in Sachen Müßiggang durch nichts abzulenken. Immerhin gibt es bei Marcel Proust den Begriff der „Passante“ (französisch: Spaziergängerin). Dabei handelt es sich um vorbeiziehende, flüchtige Figuren, die alle Blicke und Begehrlichkeiten flanierender Herren ignorieren. In der Gegenwart bahnt sich zum Glück eine Änderung an. In dem Flaneur-Büchlein von Stefanie Proske (siehe Buchtipps) wird zwischen vielen Männern auch die Berliner Schriftstellerin Christa Moog zitiert: „Ich spazierte zum Grab von Kleist.“

Buchtipps:

„Das Passagen-Werk“
„Man darf, ohne Einschränkung, von einem epochalen Werk sprechen“, befand die Züricher Zeitung. Alle klugen Menschen nicken verständig, wenn von Walter Benjamins „Passagen-Werk“ die Rede ist. Jeder, der über das Flanieren philosophiert, wird es zitieren. Dabei handelt es sich um eine fragmentarische, aber überaus umfangreiche Sammlung von Texten, die durchzuarbeiten nicht gerade ein Vergnügen ist. 13 Jahre lang, bis zu seinem Selbstmord im Exil 1940, arbeitete der 1892 in Berlin geborene Philosoph an seinem Hauptwerk, einem Buch über seine Lieblingsstadt Paris – und wurde niemals fertig. Der Titel leitet sich ab von einer reichlich trockenen Abhandlung über die Geschichte der im 19. Jahrhundert erbauten Passagen, jene überdachten Gassen für den flanierenden Genießer. Die zweibändige Textsammlung ist nur geeignet für Menschen mit entschiedenem Bildungswillen. (Walter Benjamin: Passagen-Werk. Edition Suhrkamp, 1354 Seiten, 29,90 Euro)

„Flaneure – Begegnungen“
Das rosarote, hübsch gestaltete Büchlein der Lektorin und Politologin Stefanie Proske ist so leicht, dass es der Flaneur ohne weiteres in die Tasche stecken kann. Und die Lektüre ist ein müheloses Vergnügen für ein Stündchen im Café, denn Proske hat einige kurze Beispiele aus der Flaneur-Literatur zusammengestellt. Das geht vom alten Pariser Charles Baudelaire, der „inmitten dieses in Kittel und Kattun gekleideten Volkes“ eine „große, hoheitsvolle Frau“ entdeckte, bis zum Wiener Karl Kraus: „Dagegen zog mich von jeher das Leben der Straße an…“ Ideale Lektüre für ein müßiges Stündchen im Straßencafé. (Stefanie Proske: Flaneure – Begegnungen auf dem Trottoir. Edition Büchergilde, 198 Seiten, 14,90 Euro)

„Stadttagebücher“
Als Bühnenbildner reiste der oberschwäbische Architekt, Zeichner und Autor Hans Dieter Schaal in viele Städte von Venedig bis Kuala Lumpur. Das Flanieren wird bei ihm auch immer zum Analysieren. Was er entdeckte und bedachte, sammelte Schaal in umfangreichen „Stadttagebüchern“, die mal historische Abhandlung, mal persönliche Anekdote sind. Man kann und muss das schwere, mit eigenen Fotos illustrierte Buch nicht komplett lesen – aber man kann dem Flaneur Schaal in die eine oder andere Stadt folgen. (Hans Dieter Schaal: Stadttagebücher. Edition Axel Menges, 647 Seiten, 79 Euro).




Mein kleiner flacher Geselle

Der flache Geselle und ich. (Bild: Privat)

Der flache Geselle und ich. (Bild: Privat)

Noch vor einem Jahr gehörte ich zu jenen ehrenwerten Menschen, die sich dem Digitalmonster Facebook verweigern. Mit sogenannten Friends banales Zeug austauschen? Niemals! Jetzt bin ich drin – und liebe es.

Ja, mein Bedürfnis an perlenden Tischgesprächen und guten Büchern hat tatsächlich gelitten. Sogar ins Café nehme ich anstelle der Tolstoi-Dünndruckausgabe das iPad mit, meinen kleinen flachen Gesellen. Denn ich muss immer erst mal gucken, was so läuft.

Aha, Friend Simon (den ich im wahren Leben sieze) hat in Brüssel eine Tüte Fritten fotografiert, und Lydia (die ich überhaupt nicht kenne) beneidet ihn darum. Das ist vielleicht nicht wirklich wichtig – aber es beruhigt. Genau wie die blauen Augen eines Weimaraner Vorstehhundbabys, das demnächst zur Familie von Friend Hans gehören wird. Ein Labsal fürs einsame Gemüt sind auch die Retro-Songs („Stand by me“) und japanischen Kunstfotografien, die meine Tochter im fernen Paris so postet. Friend Bernd mag wie ich die lieblich-lahmen Chansons von Francoise Hardy und zeigt der Welt skurrile Currywurstbudenschilder („Kumpelschale“) oder den Dortmunder Mondschein zwischen kahlen Zweigen. Damit ergattert er tagtäglich lebhafte Kommentare und Dutzende von „Gefällt mir“-Klicks. Schließlich hat er 321 Friends.

Ich habe nur 87, und höchstens zwei bis drei finden meine Hervorbringungen toll. Das ist schlapp. Von den allermeisten höre und sehe ich überhaupt nie etwas auf meiner Facebook-Startseite. Haben die mich etwa weggeklickt – oder was? Einige pflegen die Karriere durch Chefschmeicheleien oder retten die Welt durch politisch korrekte Links. Dazu fehlt mir der Impuls. Seufz. Facebook kann auch ein Quell des Zweifels werden, bigger than life. Ich tröste mich, indem ich bei Anderen etwas Freundliches kommentiere – wofür ich prompt ein Händchen mit erhobenem Daumen bekomme. So läuft’s Business, ich verstehe.

Man darf die Welt auch zur Gefallenskundgebung einladen, das ist kurioserweise nicht peinlich. Ich soll zum Beispiel das Frauenmuseum Bonn mögen. Aber ich kenne das Frauenmuseum Bonn gar nicht. Nach Ansicht meiner Tochter kann ich trotzdem mal auf „Gefällt mir“ klicken. Und überhaupt sollte ich nicht immer so kritisch sein und ein You-Tube-Video mit animierten Gemälden als „Digitalkitsch“ bezeichnen. „Öffentliches Gemotze ist peinlich, Mama“, wurde ich belehrt.

Das irritiert mich schon – genau wie die Tatsache, dass in der Reklamespalte auf meiner Startseite für Senioren-Websites („Bist du 55 oder älter?“), „Schicke Big Size Kleider“ und Haartransplantationen geworben wird. Ich glaube, heute Abend versuche ich’s mal wieder mit einem perlenden Tischgespräch und leibhaftigen Friends. Aber der kleine flache Geselle wartet. Und nachher, da guck ich wieder, was so läuft.




Keine Dichtung, nur Wahrheit – Rüdiger Safranskis Goethe-Biografie

Dieses Buch ist ein Gegenentwurf zur Kurzbotschaft des Digitalzeitalters. Es fordert, was wir gewöhnlich vernachlässigen: Aufmerksamkeit und Geduld. Auf 752 eng bedruckten Seiten erzählt der in Rottweil geborene und in Berlin lehrende Philosoph, Germanist und Autor Rüdiger Safranski (65) von Johann Wolfgang Goethe (1749-1832), dem Gottvater unserer Literatur, und einem, wie Safranski sagt, „Ereignis in der Geschichte des deutschen Geistes“.

zgbdc5-6bgishpkjyo17vwthkyo-original-2-Endloses wurde bereits über den Dichter geforscht und geschrieben, immer noch lädt er den Alltag der Nation mit Bedeutung auf. Kein Abreißkalender kommt ohne Goethe-Spruch aus, und irgendein Fetzchen seines Werks ist wohl in jedem Kopf hängengeblieben: „Über allen Gipfeln / Ist Ruh, / In allen Wipfeln / Spürest Du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / Ruhest Du auch.“ Auch Safranski zitiert das berühmte kleine Gedicht, das der von Amouren und Zweifeln wieder einmal aufgewühlte junge Wanderer Goethe im September 1780 an die Wand einer Jagdhütte auf dem Kickelhahn in der Ilmenau schrieb – und das er am Tag vor seinem 82. Geburtstag 1831 wiederentdeckt, tief gerührt. „Tränen flossen über seine Wangen“, verrät der ortskundige Verwaltungsbeamte Johann Christian Mahr, der dem rüstigen Prominenten als Pfadfinder diente.

Safranski berichtet nur, was er aus ersten Quellen belegen kann. Er verzichtet auf romanhafte Ausschmückungen. Dass er flüssig und allgemeinverständlich formuliert, heißt nicht, dass er fabuliert. Als unbeirrbarer Wissenschaftler bleibt er stets auf der Spur des Nachweisbaren, sämtliche Zitate werden im Anhang sorgsam zugeordnet. Wer schwärmen will von der Lovestory zwischen dem Lockenköpfchen Lotte Buff und dem verkrachten Jura-Studenten Goethe, der sollte sich lieber Philipp Stölzls rasanten Spielfilm „Goethe!“ angucken. Und in die unerfüllte, etwas peinliche Leidenschaft des alten Dichters für die 17-jährige Ulrike vertieft man sich besser mit Martin Walsers nachfühlender Erzählung „Ein liebender Mann“.

Bei Safranski landet die Empfindung immer wieder auf dem trockenen Feld der unumstößlichen Fakten, die er allerdings mit einmaliger Souveränität zu einem Ganzen fügt. Was er dem fleißigen Leser dabei vorführen will, ist nicht nur Goethes Rang als Denker und Literat, sondern auch die Fähigkeit, ein gelungenes Leben zu führen – in einer sich dramatisch verändernden Zeit zwischen dem Rokoko bis zum Einbruch der Moderne.

In 34 Kapiteln folgt Safranski seinem Idol – von der Frankfurter Kindheit als „Hätschelhans“ einer temperamentvollen Mama über das vom Vater misstrauisch gelenkte Jura-Studium bis zu den großen literarischen Erfolgen, die Goethe allerdings nie von anderen Beschäftigungen abhielten. Mit schwankender Vehemenz war er auch Politiker und Geheimrat, Zeichner und Theaterleiter, Bergbau- und Militärexperte, Naturwissenschaftler, Farbenforscher – und Abenteurer. „Meine Schriftstellerei subordiniert sich dem Leben“, stellte er selbst nüchtern fest. Und Safranski schildert nicht nur den jungen Goethe als einen Menschen, „der nach Lust und Laune vieles anfing, manches Unfertige liegen ließ“. Obgleich er ständig seine Kladden mit Eingebungen füllte, hätte Goethe, der Heißsporn, vermutlich nicht den Nerv gehabt, ein solch gewissenhaftes, dienendes Werk wie Safranskis Biografie zu erarbeiten.

Tatsächlich hat er ein ganzes Leben gebraucht, um aus dem alten Kasperletheater vom Gelehrten, der sich mit dem Teufel verbündet, seinen zweiteiligen „Faust“ zu machen, das bekannteste deutsche Drama schlechthin. Philosophie und Fantasy, Liebeswahn und Todesfurcht, Lyrik und Action, das Banale und das Erhabene werden mit diesem Gedankenspiel in einmaliger Dichte abgehandelt. Dabei betont Safranski, dass der Freigeist Goethe so wenig an den Teufel glaubte wie an einen „überweltlichen Gott“. Mephisto, „der Geist, der stets verneint“, bewahre lediglich den Menschen vor Erschlaffung. „Das Prinzip Mephisto gehört also zum Menschen“, stellt Safranski fest. Goethes Gott war die Natur in ihrer schöpferischen Kraft. „Tätigkeit ist deshalb der wahre Gottesdienst“, schreibt Safranski. Goethe formulierte dazu in der Tragödie zweitem Teil einen seiner unsterblichen Sätze: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“, flöten die Engel und retten den alten Sünder vor dem Höllenschlund.

Immer weitermachen, arbeiten, schöne Frauen lieben, Freundschaften schließen und Teltower Rübchen essen – das war vielleicht auch Goethes Art, dem Schicksal zu trotzen. Wie die meisten seiner Zeitgenossen hatte er bedrohliche Krankheiten und ungeheure Verluste zu verkraften. Von fünf Geschwistern überlebte nur die Schwester Cornelia. Vier seiner eigenen fünf Kinder wurden nur wenige Tage alt, und Christiane, seine sinnenfrohe, tolerante und nicht ganz standesgemäße Ehefrau, starb früh nach langer Krankheit. Trotz gewisser Rivalitäten hatte Goethe auch der Tod seines Freundes und Kollegen Friedrich Schiller 1805 tief getroffen. Aber er wandte sich immer wieder neuen Menschen, neuen Eindrücken zu. „Er liebte das Lebendige“, schreibt Safranski. Alles wurde dem Dichter zur Inspiration. „Ein Augenblick, in eine Form gebracht“, so Safranski, „ist gerettet.“

Was Goethe hemmungslos tat – Dichtung und Wahrheit vermischen – ist für Safranski tabu. Doch so streng er das Biografische auf Beweisbares reduziert, so frei entfaltet sich der Professor in seinen Interpretationen ausgewählter Goethescher Werke. Da hätte man die eine oder andere vorlesungsartige Passage getrost straffen können. Aber zum Glück macht die klare, mit Stichworten versehene Gliederung des Buchs auch ein gezieltes Lesen nach Interessenslage möglich. Eine Chronik am Ende schafft Ordnung. Wer immer strebend sich bemüht, wird viel von diesem Buch haben.

Rüdiger Safranski: „Goethe – Kunstwerk des Lebens“. Biografie. Hanser Verlag. 752 Seiten, 27,90 Euro.