Türen ins Nichts: Andrea Breths wirre Collage „Ich hab die Nacht geträumet“

Ensemble-Szene mit (v. li.) Günther Weidmann, Rebecca MacCallion, Frank Michael Jork, Martin Rentzsch, Heidrun Schug, Sonia Wagemans, Tomoya Kawamura, Birgit Heinecke. (Foto: © Ruth Walz / Berliner Ensemble)

In einem alten Volkslied heißt es: „Ich hab die Nacht geträumet / wohl einen schweren Traum, / es wuchs in meinem Garten / ein Rosmarienbaum“. Der Kirchhof wird zum Garten, das Blumenbeet zum Grab, ein goldener Krug zerfällt in tausend Stücke: „Was mag der Traum bedeuten? / Ach Liebster, bist du tot?“ Diese wundersamen Zeilen haben die Regisseurin Andrea Breth bewegt und berührt.

Wäre es nicht spannend, der Welt der Träume, in denen alles möglich, das Leben stets gefährdet und der Tod ein ständiger Begleiter ist, auf den Bühnen-Grund zu gehen und alles, was Dichter und Denker, Musiker und Maler über das Abseitige, Ungefähre und Unerklärliche zu sagen und zu singen haben, mit einer Theater-Collage zu umzingeln und dingfest zu machen?

Eine tolle Idee. Gerade, wenn Andrea Breth, die für einfühlsame Figurenzeichnungen, subtile Spracherkundungen und psychologische Tiefbohrungen bekannt ist, sich der Sache annimmt. Doch leider ist ihr irgendwann die Fantasie abhanden gekommen und die Puste ausgegangen: Aus einem viel versprechenden Abenteuer ins Ungewisse wurde am Berliner Ensemble eine gähnend langweilige und langatmige Schlafkur. „Ich hab die Nacht geträumet“ nennt Andrea Breth, die eine Zeitlang die Berliner Schaubühne leitete und viele Jahre am Burgtheater Wien als Hausregisseurin tätig war, ihren aus Musik- und Literatur-Fundstücken zusammen gebastelten Abend, der kein Zentrum und kein Tempo hat, der weder recht zündet noch irgendwann richtig abhebt.

Alles bleibt klumpig und klebrig, zerfasert und zerdeppert in Einzelteile, die sich nicht miteinander verbinden. Mit Texten, Bildern und Filmschnipseln, die Breth bei Herta Müller und Adorno, Ingeborg Bachmann und Wolfgang Borchert, Meret Oppenheim und Stanley Kubrick, Erich Fried und David Lynch gefunden, mit Musik-Häppchen, die sie bei Robert Schumann und Elvis Presley, Franz Lehár und Gioachino Rossini aufgeschnappt hat, will sie der „widersinnigen Logik von Träumen“ auf die Spur kommen, eine „Kunstpause in einer übermäßig lauten Welt“ erschaffen, offen sein „für das Schöne, Zärtliche und Gemeinsame“.

Klingt super. Nur sieht und hört man davon nichts auf der ganz in Grau gehaltenen Bühne, die einem kafkaesken Alptraum gleicht. Überall Türen, die ins Nichts führen, Gänge, die sich im Nirgendwo verlieren. Johanna Wokalek und Corinna Kirchhoff, Peter Luppa, Martin Jentzsch und Alexander Simon müssen mit gymnastischen Macken und verbalen Marotten, mit viel ironischem Pathos und manieriertem Getue sich durch Text und Musik hangeln. Adam Benzwi bearbeitet dazu das Klavier. Manchmal umschleicht auch ein vielköpfiger Chor das sinnlose Treiben, das immer lethargischer wird und mit seinen aus der Zeit gefallenen Attitüden und Kostümen befremdlich und altbacken anmutet.

Nach nach drei zähen Stunden ist endlich Schluss: „Gib mir den letzten Abschiedskuss“. Aber gern doch. Andrea Breth sagt, sie sei angesichts der aktuellen politischen Probleme „ratlos und sprachlos“ und unterzeichnete das „Manifest für den Frieden“ von Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer. Anstatt der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung und Eigenständigkeit abzusprechen, hätte Breth vielleicht lieber mehr Fantasie in ihre völlig missratene Szenen-Collage stecken sollen.

Berliner Ensemble, nächste Vorstellungen am 28., 29. März, 25., 26. April, Karten unter 030/284 081 55, theaterkasse@berliner-ensemble.de 




„Fang einfach von vorne an“ – Enzensbergers „Leichte Gedichte“

Er war einer der bedeutendsten Dichter und Denker der Gegenwart. Im politisch und kulturell brachliegen Nachkriegsdeutschland erneuerte er die Lyrik und wurde zum Stichwortgeber unzähliger Debatten.

Oft war er Kandidat für den Literaturnobelpreis. Bekommen hat er ihn aber nie. Als er im vergangenen November im Alter 93 Jahren verstarb, hinterließ Hans Magnus Enzensberger ein gigantisches Werk. „Leichte Gedichte“ heißt sein neuer Band: Es ist ein lyrisches Vermächtnis.

Sich selbst verblüffen

Sich auf eine literarische Spielart festlegen, einer politischen Position treu bleiben: uninteressant. Eine Versammlung von „Best-Of“-Gedichten? Langweilig. Lieber etwas Neues, Unerwartetes, sich selbst verblüffen, das Publikum verzaubern mit „Leichten Gedichten“ in einer Zeit schwerer globaler Krisen. Das Kurzweilige und Lehrreiche, Unterhaltsame und Tiefgründige spielerisch verschmelzen, das war sein Ding.

„Lies keine Oden mein Sohn, lies die Fahrpläne: sie sind genauer“, hat er der rebellischen Jugend zugerufen. Aber dazugehören zum Protest: Nein, danke! „Ich bin keiner von uns.“ Schon war er, wie seine Lieblingsfigur, der „Fliegende Robert“, wieder unterwegs in die Freiheit, fabulierte über „Die Geschichte der Wolken“, fühlte sich „Leichter als Luft“.

Grübeln hilft nicht

Auch jetzt, den Tod vor Augen, spannt der Formulierungstänzer noch einmal den literarischen Schirm auf, fliegt los und schreibt ein Gedicht mit dem Titel: „Warum Gedichte leicht sind“: „Kümmere dich nicht / um die allererste und letzte Zeile! / Fang einfach von vorne an, / obwohl zigtausend Verse / dir im Kopf herumspuken. / Es hilft nichts, zu grübeln. / Du mußt keine Epen schreiben, / keinen Roman, keine Manifeste. / Du hast nichts zu erzählen. / Nur die Geschichte redet dir ein, / auf den letzten Satz komme es an, / bloß, weil er der letzte ist.“

Über elitäre Ambitionen kann Enzensberger nur lachen, der Furor der literarischen Weltverbesserer ist ihm zuwider: Schreiben als Therapie oder Anleitung zum Aufstand? „Lieber nicht!“ spottet er mit den Worten des Verweigerungs-Helden „Bartleby“ und meint: „Künstler bilden sich ein, / daß sie etwas Besonderes sind. / Es gibt immer mehr Künstler. / Künstler wollen berühmt sein / und Geld haben, Preise und Orden. / Soviel Andrang ist unangenehm. / Dann doch lieber die Schlange vor der Bäckerei / in einer Hungersnot.“

„Wir sind alle Epigonen“

„Die Tricks der Dichter“, schreibt er in einer Nachbemerkung, „sind so alt und zahlreich, daß ihren heutigen Nachfolgern kaum etwas Neues einfällt. Wir sind alle Epigonen.“ Man sollte „den Nummern der Poeten nicht über den Weg trauen. Wie im Zirkus sind ihre haarsträubenden Attraktionen oft nur ein Blendwerk, mit dem sie dem Publikum imponieren wollen.“

Jan Tripp hat das herrlich schillernde Blendwerk mit kurios-surrealen Bildern versehen: Wir sehen zerrissene Fotos von klassischen Ölbildern, Naturstudien, Porträts, mythologische Fantasien, seltsame Fundstücke. Auch das Bild einer alten Schiefertafel ist dabei, das Gedicht, das dazu passen könnte, folgt viele Seiten später: „Wenn das alles ist, / was du auf dem Herzen hast – / na, wenn schon! / Im Bad findest du einen Schwamm. / Sogar die Mathematiker / greifen zu ihm und zur Kreide / vor der Tafel mit ihren Gleichungen / und löschen alles, / was sie stört, weil es voller Fehler ist.“ Das Leben kostet Nerven und kann schnell vorbei sein, also: „Schwamm drüber“.

Hans Magnus Enzensberger: „Leichte Gedichte“. In Bilder gesetzt von Jan Tripp. Insel Verlag, 88 Seiten, 14 Euro.




Brücken dringend benötigt – „Zwischen Welten“ von Juli Zeh und Simon Urban

Einst studierten Theresa und Stefan Germanistik in Münster, redeten ununterbrochen und tranken nächtelang, wollten die Welt retten oder doch wenigstens die deutsche Literatur. Sie waren wie unzertrennliche Geschwister und haben alles geteilt, nur nicht das Bett. Dann, von einem Tag auf den anderen, trennten sich ihre Wege.

Theresa brach Hals über Kopf ihr Studium ab, flüchtete wie von Furien gehetzt zurück nach Brandenburg, um nach dem Tod ihres Vaters den Bio-Milchhof zu retten und in eine ökologische Zukunft zu führen. Längst ist sie verheiratet und hat zwei Kinder, plagt sich mit einer Bürokratie, die keine Rücksicht nimmt auf den alltäglichen Überlebenskampf von Bauern in Zeiten des Klimawandels, wo die mickrige Ernte auf ausgelaugten Böden verdorrt oder von sintflutartigen Regenfällen weggeschwemmt wird.

Er wurde Starjournalist, sie Bäuerin

Solche schnöden analogen Probleme kennt Stefan nicht. Er hat in Hamburg als Journalist Karriere gemacht, lebt im coolen Schanzenviertel in einer schicken Altbauwohnung, ist stellvertretender Chefredakteur des „Boten“, der meinungsführenden Wochenzeitung der Republik. Während er im globalen Netz recherchiert, über MeToo, Black Lives Matter und Social-Justice-Bewegungen in einer gendergerechten Sprache schreibt, blickt er von seinem Schreibtisch aus über die Elbe hinüber zur Elbphilharmonie. Es scheint, als lebten Stefan und Theresa auf zwei verschiedenen Planeten, doch wohnen sie nur zwei Autostunden voneinander entfernt.

Abgründe tun sich auf zwischen dem Hashtag-Guru und Follower-Junkie Stefan, der den Tag gern mit einem guten Glas Rotwein ausklingen lässt, und der Bäuerin Theresa, die morgens um fünf mit Gummistiefeln im Stall steht und ihre Kühe versorgt, bevor sie ins Büro wankt und nachsieht, ob sie wieder auf Anordnung der Behörden ihre Weiden einzäunen und Äcker stilllegen muss, weil ein totes Wildschwein gefunden wurde, das mit einer Krankheit infiziert ist.

Lässt sich der Riss überhaupt noch kitten?

Lässt sich der Riss noch kitten, der zwischen den Welten dieser beiden Mittvierziger existiert und symbolisch steht für den Gegensatz sozialer Gruppen, deren Lebensweisen nicht kompatibel sind, die keine gemeinsame Sprache mehr haben?

Folgt man Juli Zeh und Simon Urban in ihrem Roman „Zwischen Welten“, sind die Brücken zwischen den sozialen Gruppen nur noch begehbar, wenn man sich aus besseren Tagen kennt und auf einen Fundus von alten Sympathien und (wackligen) Übereinkünften zurückgreifen kann. So wie Stefan und Theresa. Sie treffen sich zufällig nach 20 Jahren wieder und kommen sofort ins Gespräch, führen einen von alter Liebe und neuen Hoffnungen getragenen Streit. Per E-Mail und WhatsApp verhaken sie sich in einen Dauer-Diskurs, der nur unterbrochen wird, wenn Theresa ihren eifersüchtigen Ehemann beruhigen muss oder sich über agrarpolitischen Unsinn erregt, in Aktionen und Prostete versteigt und dabei in die Nähe von Wutbürgern und Rechtspopulisten gerät.

„Das interessiert nur die Akademiker-Blase“

Wenn Stefan seiner Freundin im Oberlehrer-Ton Fortschritt und Gerechtigkeit der digitalen Welt predigt, antwortet sie pampig: „Die Welt wird nicht gerechter, wenn man an der Sprache rumschraubt und alles auf der Meta-Ebene behandelt. Das interessiert nur die Akademikerblase. Außerhalb deiner Welt sind Menschen entsetzt, dass ihre Probleme ignoriert werden, während man Kunstwerke mit Sternchen benennt. Ich würde die Kunst in Ruhe lassen und lieber gucken, was farbige Menschen wirklich für Probleme haben.“ Seine Antwort: „,Farbig‘ sagt man nicht mehr, die Leute sind ja nicht blau oder grün.“

Juli Zeh, die in einem Brandenburger Dorf lebt, hat schon in ihrem Bestseller „Über Menschen“ eine Berlinerin auf der Flucht vor Corona aufs Land geschickt und dort mit den dumpfen Phrasen völkischer Menschenfischer konfrontiert. Weil sie das Gefühl hat, dass große Teile der Gesellschaft sich nicht mehr zu Wort melden, will Zeh ihnen eine Stimme geben. Sie hat sich während der Pandemie gegen die Einschränkung von Grundrechten und gegen eine Impfpflicht ausgesprochen, seit der Beginn der russischen Invasion auch gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und für Verhandlungen mit Putin.

Als soziale Bestandsaufnahme von Belang – nicht als Literatur

Auch in „Zwischen Welten“ lässt Juli Zeh kein Debatten-Thema aus, schreibt sich mit Simon Urban den Frust über Radikalisierung und Orientierungslosigkeit sozialer Gruppen von der Seele. Dass ein Hamburger Star-Journalist und eine brandenburgische Bäuerin monatelang digital über Populismus und Pandemie, Krieg und Klimakatastrophe, Ukraine-Krieg und Energiewende, Digital-Wahn und Gender-Fetischismus kommunizieren, ist eine abwegige, aber charmante Idee.

Irgendwann kommt auch die Erotik ins Spiel und der Wunsch, Versäumtes miteinander nachzuholen. Weil wir aber in einer Welt leben, in der das Wünschen nicht mehr hilft, werden die Träume von der Realität heimgesucht. Stefans E-Mails werden gehackt, seine intimen Bekenntnisse öffentlich und von der digitalen Gemeinde mit Hasstiraden verfolgt. Bei der Neuausrichtung seiner Zeitung zu einer diversen und gendergerechten „Bot*in“ wird er zur Marionette degradiert.

Auf der Titelseite des von Onliner*innen gekaperten Blattes prangt das Foto einer Frau, es zeigt, wie eine wütende Theresa dem Landwirtschaftsminister, der Agrar-Demonstranten mit den üblichen Floskeln abspeisen will, eine schallende Ohrfeige verpasst. Ein Bild für die Ewigkeit, denn das Internet vergisst nicht. Der Riss: nicht mehr zu kitten. Der gesellschaftliche Zusammenhalt: im freien Fall. Adieu, Demokratie!

Literarisch ist der Roman nicht von Belang, aber als sozialpsychologische und demokratie-theoretische Bestandsaufnahme von erschreckender Aktualität und bedrückender Relevanz.

Juli Zeh / Simon Urban: „Zwischen Welten“. Roman. Luchterhand, München 2023, 446 Seiten, 24 Euro.

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Infos:

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, lebt seit Jahren in einem Dorf in Brandenburg. Ihre Romane sind in 35 Sprachen übersetzt. „Über Menschen“ war das meistverkaufte belletristische Hardcover-Buch des Jahres 2021. Im Jahr 2018 erhielt die promovierte Juristin das Bundesverdienstkreuz und wurde zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Am Literaturinstitut Leipzig war sie als Gast-Dozentin tätig. Einer ihrer Studenten: Simon Urban, geboren 1975 in Hagen/Westfalen, der mit dem Werbefilm „#heimkommen“ für Aufsehen sorgte und für seinen Roman „Wie alles begann und wer dabei umkam“ den Hamburger Literaturpreis erhielt. (FD)




Kunst kennt keine Zeit – Ausstellungen in Berlin und Potsdam

Monica Bonvicini: „I do you“, Ausstellungsansicht Neue Nationalgalerie (Courtesy the artist, Tanya Bonakdar Gallery, Galleria Raffaella Cortese, Galerie Peter Kilchmann, Galerie Krinzinger – Copyright © the artist, VG Bild-Kunst, Bonn, 2022 – Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Jens Ziehe)

Monica Bonvicini darf das. Und sie kann es. Die italienische Kunst-Rebellin, die seit vielen Jahren in Berlin arbeitet und eine der wichtigsten Bildhauerinnen der Gegenwart ist, hat sich diesmal vorgenommen, die vielleicht bedeutendste Kunst-Architektur der Moderne zu zu besetzen und neu zu definieren.

Wer sich der von Mies van der Rohe aus Glas und Stahl gebauten Neuen Nationalgalerie nähert, ist überwältigt. Eine riesige Spiegelfassade ist gegen den ikonischen Bau gelehnt, ragt vom Betonboden bis übers Dach hinaus und scheint den Eingang ins Innere des Kunst-Tempels zu verstellen. „I do you“ ist in großen schwarzen Lettern auf die verspiegelte Fläche geschrieben, in der Umwelt und Mensch miteinander agieren: „Ich mach dich“, gemeint als „Ich will dich“. Kampfansage an eine männlich dominierte Domäne und zugleich Liebeserklärung an einen Ort, der transparent und elegant durch das Berliner Alltags-Grau zu fliegen scheint und dessen gläsernes Foyer ungemein schwer zu erobern und zu bespielen ist.

Monica Bonvicini räumt sich den Weg frei. Die meisten ihrer überdimensionalen Arbeiten kann sie seit Jahren nicht zeigen, aber wenigstens herbeizitieren: In einer Wort-Collage erklingen um die 2000 Titel von Werken, die sie bisher geschaffen hat. Sprache wird Kunst, Kunst wird Sprache. Aber auch Erschütterung und Provokation, Rätsel und Geheimnis.

Portrait Monica Bonvicini, (Courtesy the artist – © Monica Bonvicini and VG-Bild Kunst, Bonn, 2022 – Photo: Olaf Heine)

In der verglasten Halle steht ein verspiegeltes Podest, in dem sich alles, Mensch und Kunst, Stadt und Museum, gegenseitig beäugt, reflektiert und überlagert. „DESIRE“ steht in großen Buchstaben darauf: Doch Sehnsucht und Begehren sind ohne ihre Negation und das Nicht-Erfüllen von Hoffnungen nicht zu haben. Die im Raum schwebende Lichtskulptur „Light me back“ ist so grell, das man die Augen schließen möchte. Die zu einer Weltkugel verknoteten Armband-Uhren („Time of my life“) sind hässliche Billig-Fälschungen. In der aus Stahlketten geflochtenen Schaukel („Chainswing bells“) möchte man lieber nicht Platz nehmen. Den auf den Boden gekippten Haufen Bauschutt hat Bonvicini bei der Sanierung der Alten Nationalgalerie abgezweigt. Jetzt liegen Reste der klassizistischen Fassade des Stüler-Baus als Flaschenpost aus der Vergangenheit in der Mies-Moderne herum. Kunst kennt keine Zeit.

Apropos Zeit: Die sollte mitbringen, wer sich auf der Suche nach den aktuellen Tendenzen zeitgenössischer Kunst in den „Hamburger Bahnhof“ wagt. Doch bevor man die in den Seitenflügeln auftrumpfenden Ausstellungen mit Neuerwerbungen („Under Construction“) und Sound-Arbeiten („Broken Music“) in Augenschein nimmt, lohnt ein langes Verweilen im riesigen Eingangsbereich: Wo früher die Dampfloks in dem mit Glaskuppel und Stahlstreben verzierten Kopfbahnhof ankamen und abfuhren, hat Sandra Mujinga einen großen schwarzen Kasten gestellt.

Zu rätselhaften Klängen scheint sich im Inneren des düsteren Monstrums etwas zu bewegen, zu atmen, zu leben. Manchmal flimmern Farben über die Oberfläche, versinken wieder ins Dunkle. Manchmal glaubt man, rissige Haut zu erkennen, Körperteile, die ihr Geheimnis nicht preisgeben wollen. „IBMSWR: I Build My Skin with Rocks“ nennt die Künstlerin ihre visuell-akustische Skulptur, die auf wundersame Weise Außenwelt und Innenleben miteinander verbindet. Immer wieder umkreist man das schwarze Mysterium, spürt die Magie des dunklen Körpers, möchte durch die Haut schlüpfen und auf unbekannte Reisen durch Resonanzräume gehen.

Sandra Mujinga: „I Build My Skin with Rocks“, 2022 (Ausstellungsansicht, Sandra Mujinga. IBMSWR: I Build My Skin with Rocks, 9.12.2022-1.5.2023, Hamburger Bahnhof, Nationalgalerie der Gegenwart – Foto: Jens Ziehe | Courtesy the artist Croy Nielsen, Wien/Vienna and The Approach, London)

Ins Unbekannte und Offene kann man auch im Martin-Gropius-Bau reisen. Im frei zugänglichen Lichthof des Kunst-Baus zeigt Wu Tsang seine großformatige Installation „Of Whales“ – eine Symbiose aus bizarren Wasserwelten und surrealen Klängen. Auf einer riesigen Leinwand schwappen Wellen, tauchen Meerestiere auf und wieder ab, Quallen schweben durch unergründliche Tiefen, Wale ziehen ihre Bahnen. Aus Lautsprechern ertönen rätselhafte, mit orchestraler Musik unterlegte Laute. Wahrnehmung und Wirklichkeit lösen sich auf, Imagination und Meditation fließen ineinander. Wer es sich auf den Liegen bequem macht, dem Meeresrauschen und den Walen zuhört und auf den Wellen surft, weiß irgendwann nicht mehr, ob er noch Mensch ist oder schon ein Wesen des Meeres. Grenzen verwischen sich, Gewissheiten lösen sich auf.

Verwischte Grenzen und aufgelöste Gewissheiten findet auch, wer noch nicht kunstsatt ist und den Weg von Berlins Mitte nach Potsdam einschlägt. Im Museum Barberini wird der Surrealismus aus einer neuen Perspektive gesehen, erforscht und gedeutet. Es geht um Psychoanalyse und Traumdeutung, Zauberei und Okkultismus: „Surrealismus und Magie: Verzauberte Moderne“ präsentiert über 90 Werke von Leonore Carrington und Max Ernst, Salvador Dalí und René Magritte, Leonor Fini, Yves Tanguy, Dorothea Tanning und vielen weiteren ikonischen Künstlern des Surrealen, lässt erahnen, wie tief sie eintauchten in okkulte Riten und magische Mythen, wie sie den Verstand ausschalteten und Denkverbote umgingen, das Verdrängte und Unergründliche zu künstlerischen Gegenwelten ausformten. Alchemie wird zu Kunst, öffnet Augen, Ohren und Sinne. Was will man mehr?

Neue Nationalgalerie: „Monica Bonvicini: I do you“, bis 30. 4. 2023, Mo-So 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr.

Hamburger Bahnhof: „Sandra Mujinga: IBMSWR: I Build My Skin with Rocks“, bis 1. 5. 2023, Sa und So 11-18 Uhr, Di, Mi und Fr 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr, Mo geschlossen.

Martin-Gropius-Bau: „Wu Tsang: Of Whales“, noch bis 29. Januar. 2023, Mo, Mi, Do, Fr 11-19 Uhr, Sa, So 10-19 Uhr, Di geschlossen.

Museum Barberini: „Surrealismus und Magie: Verzauberte Moderne“, noch bis 29. Januar 2023, täglich außer Di 10-19 Uhr, Di geschlossen.

 

 




Gehen, gehen, gehen – aufschlussreiche Einblicke in Tagebücher von Peter Handke

Im Frühjahr 1978 bricht Peter Handke zu einer längeren Reise auf. Der Schriftsteller war mit der „Publikumsbeschimpfung“ in die Pose des rebellischen Wüterichs geschlüpft, hatte den arrivierten Autoren der „Gruppe 47“ wortwörtlich „Beschreibungsimpotenz“ attestiert und sich in den „Elfenbeinturm der Literatur“ zurückgezogen, um die Welt mit Hilfe von Sprache neu zu erfinden.

Von seinem Geburtsort Griffen in Kärnten war Handke hinausgezogen ins Offene, lebte in Salzburg, Berlin und Paris und eckte überall mit immer neuen sprachlichen Fantasiegebilden und literarischen Rüpeleien an. Jetzt kehrt er in seine Heimat zurück, versichert sich seiner Herkunft aus prekären sozialen Verhältnissen und der kulturell umkämpften Region, in der österreichische, slowenische und italienische Einflüsse sich durchmischen.

Nach kurzer Heimkehr bricht Handke auf, durchstreift vom 24. April bis 26. August zu Fuß, mit der Bahn und mit dem Bus das Dreiländereck, wandert durch verlassene Orte, schläft in abgelegenen Gasthöfen, badet in kalten Gebirgsbächen, erkundet den Karst bei Triest. In seiner Hosentasche hat er ein Notizbuch, in dem er seine Gedanken und Empfindungen, Eindrücke und Erlebnisse festhält. Ein wüstes Durcheinander aus Worten und Sätzen, angereichert mit Zeichnungen, die er am Wegesrand anfertigt. Eine Fundgrube für Ideen und Geschichten.

Handke, der sich in die Rolle des Odysseus hineinfantasiert, Zeiten und Räume wahllos ineinander fließen lässt, auf beschwerlichen Umwegen zu sich selbst finden und eine neue Form der Literatur erproben will, wird die Notizen brauchen und benutzen. Viele Einträge wird er, manchmal wortwörtlich, in seine nächsten Romane übernehmen: „Langsame Heimkehr“ und „Die Wiederholung“ basieren in weiten Teilen auf den realen Erlebnissen und literarischen Imaginationen der großen Wanderung.

Wie stark die „Langsame Heimkehr“ des Valentin Sorger von Amerika nach Europa und „Die Wiederholung“ der Kindheitstraumata und Sprachverwirrungen des von Kärnten nach Slowenien aufbrechenden Filip Kobal von Handkes eigener Reise beeinflusst sind, kann man erst jetzt richtig ermessen. Zum 80. Geburtstag gewährt Handke einen Einblick in seine Notizbücher, die er stets bei sich trägt. Das Konvolut umfasst über 35.000 Seiten, es ist das umfangreichste Werk, das er je geschaffen hat.

Handke würde wohl den Begriff „Werk“ dafür nicht gelten lassen, es sind ja „nur“ ein paar lose Gedanken, durcheinander gewürfelte Wörter, angefangene Geschichten, schnell hingeworfene Zeichnungen. Aber darin zu blättern, ist doch für jeden Handke-Leser ein Gewinn, erklärt es doch vieles, was bisher unverständlich war und zu Missverständnissen über Handkes Literatur- und Welt-Verständnis führte.

Wünschenswert wäre es, dass „Die Zeit und die Räume“, in dem alle Einträge und Zeichnungen der Reise von 1978 durchs Dreiländereck abgedruckt sind, den Auftakt zu einer Edition sämtlicher Notizbücher darstellt. Schon jetzt aber begreift man, dass Handke kein Tagebuch im klassischen Sinne führt, sondern das Gehen und Schreiben zu einer literarischen Symbiose verbindet; dass Wahrnehmung und Traum, Reflexion und Fantasie, Innen- und Außenwelt, Zeit und Raum sich auflösen.

Alles kann Gegenstand ästhetischer Formfindung werden, Licht und Schatten, Wind und Mond, Kaffeetasse, Tisch und Jukebox, alles kann eine poetische Form annehmen, alles dient der Spracherkundung und dem Weltverständnis. Handke geht es um ein zeitloses Raumgefühl: Das Gehen durch verschiedene Räume wird zur Poetik der Freiheit. Der Gehende befreit sich von sprachlichen Automatismen, biografischen und nationalen Begrenzungen: Ziel ist das Unterwegs-Sein, das Aufsammeln von Gedanken und Sprachsplittern wie „Allmählich wurde aus dem Nachdenken Sehnsucht“, „Endlich wieder einen ganzen Tag mit einem Traum der Nacht bestreiten“, „In der mondlosen Zeit“, „Totenblass erwachen“,„Endlich allein mit der Ordentlichkeit der Dinge“, „Durch das Gehen: ein Raumgefühl, von überall überall hin zu können.“

Ohne das Gehen, das Räume vermisst und Zeiten durchstreift, ist Handkes Werk kaum vorstellbar. Wenn er „Die Obstdiebin“ sucht, wandert er durch Frankreich, für seinen „Versuche über die Müdigkeit“ durch Spanien, „Die Morawische Nacht“ findet er in den Wäldern und Dörfern des Balkans. Dass er bei seinen Fußmärschen auch durch historisch vermintes Gelände kommt und zu politischen Fehlschlüssen neigt, kümmert ihn kaum.  Als Jugoslawien nach Titos Tod in Gewalt und Bürgerkrieg versinkt, will er sich ein Bild der Ereignisse machen und sich nicht auf die Berichte von Journalisten verlassen, die in Berlin, Paris und anderswo am Schreibtisch sitzen und aus der Ferne die fürchterlichen Massaker beschreiben.

Sein Buch „Die winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morowa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“ bringt Handke den Vorwurf ein, ein Freund und Handlanger des blutrünstigen Serben-Führers Milosevic zu sein. Später wird Handke zum Begräbnis des Diktators anreisen und mit politischen wirren Statements auffallen. Ein Makel, der Handke bis heute begleitet und den Blick auf das schillernde Werk des Literatur-Nobelpreisträgers eintrübt. Vielleicht können seine Notizbücher, seine Reflexionen über „Die Zeit und die Räume“ dazu beitragen, Handkes Welt, die aus Sprache besteht und mit ihr erst geschaffen wird, ein bisschen besser zu verstehen.

Peter Handke: „Die Zeit und die Räume“. Notizbuch. 24. April – 26. August 1978). Hrsg: Ulrich von Bülow u.a., Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 312 S., 34 Euro.




Heimkehr von den Irrfahrten – Christoph Ransmayr und Anselm Kiefer schufen ein Buch, das überdauern wird

Odysseus ist müde und ausgelaugt, viel zu lange war er unterwegs, hat unzählige blutige Schlachten geschlagen, sich auf der Suche nach der verlorenen Heimat heillos verzettelt und ist durch das Labyrinth der Menschheitsgeschichte geirrt. Die sich um ihn und seine endlose Reise rankenden Mythen und Märchen sind ihm nur noch schnuppe und können seine Sehnsucht nicht mehr stillen.

Ausgezehrt liegt der listenreiche Städteverwüster in irgendeinem Krankenhaus, lässt seine Blutwerte noch einmal checken, wartet auf seine Entlassungspapiere und seinen Pass, sieht bereits das Meer wieder vor sich „und auf seinem Spiegel / ein gleißendes Gespinst möglicher Routen, / ein Knäuel von Routen der Heimkehr, / die am Ende vielleicht / alle zurückführen / in die Ruinen von Troja.“

Mit einem durch Zeit und Raum, Realität und Utopie irrlichternden „Odysseus“ eröffnet Christoph Ransmayr seinen neuen Band mit Gedichten und Balladen, in dem Schönheit und Schrecken, Poesie und Politik, Dichtung und Malerei sich vermählen und zu einem göttlichen Kunstwerk vereinen. „Unter einem Zuckerhimmel“ lautet der fast idyllische Titel dieses schillernden Crossover-Projekts, zu dem der renommierte Künstler Anselm Kiefer zahllose Aquarelle beigesteuert hat.

Mit Tusche, Bleistift und Kohle hat Kiefer, dessen Werk schon oft um blutige Abgründe, verdrängte Kriege und vergessene Mythen kreiste, seine Farb-Fantasien den poetischen Visionen gegenübergestellt. Was Kiefer auf Gips und Karton getupft und gespritzt hat, bebildert und kommentiert nicht die Balladen und Gedichte, sondern spricht eine eigene künstlerische Sprache, lässt mal eisig blaue, mal blutig rote Farbe auf einen Malgrund tropfen, zieht schwarze Linien und kindlich gekritzelte Buchstaben durch die erdig und steinig wirkende Landschaft.

Christoph Ransmayr lebte Jahrzehnte aus dem Koffer, machte das Unterwegs-Sein zur Lebens-Philosophie, war stets auf der Suche nach einem überraschenden Gedanken und schönen Gedicht, durchquerte Wüsten, stieg auf hohe Berge und reiste zum Nordpol, war immer ein Reisender und Suchender, der „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ und „Die letzte Welt“ besang, „Eine kurze Geschichte vom Töten“ und den „Atlas eines ängstlichen Mannes“ beschwor.

Jetzt scheint Ransmayr zur Ruhe gekommen und lebt wieder in Wien. Doch umso dringlicher erinnert er an den ruhelos durch die Geschichte irrenden „Odysseus“, sendet uns „Nachrichten aus der Höhe“ und erzählt vom „Trost des Steinschleifers“, der sich oft stundenlang verliert in den Tiefen kristalliner Strukturen und in ihnen „ein geheimnisvolles, laut- und zeitloses Bild der Welt“ sieht, „das ihn alle Sensationen und Schrecken / der Geschichte des organischen Lebens / vergessen lässt / und ihm verspricht: / Etwas von dieser Arbeit / wird überdauern. / Nicht für immer, aber länger, / viel länger als alles, / was welken, faulen / und schmerzen kann.“

Der Dichter als Steinschleifer: Auch die Balladen und Gedichte des heimatlos durch Gedankenwelten reisenden Poeten werden überdauern, noch lange weiter leben und uns den Weg dahin zeigen, wohin wir doch alle immer wieder zurück kehren wollen: nach Hause. In der „Ballade von der glücklichen Rückkehr“ ist der ziellos um den Globus reisende Dichter das Unterwegssein leid:

„Genug! Genug. Eines Tages ist es genug. // So weit sind wir gegangen, / so hoch sind wir hinaufgestiegen, immer höher, / bis uns der nächste Schritt ins Blaue geführt hätte, / in die Wolken, nur noch ins Leere“.  Erduldet hat er „Orkan. Hunger. Wunden. / Höhenwahn. Fieber. Angst. / Die Erschöpfung oder das Heimweh.“

Doch jetzt reicht es: „Eines Tages kehren wir unseren Träumen / den Rücken / und machen uns auf den Weg in die Tiefe, / zurück zu den Menschen“, wollen nur noch „nichts wie weg. / Wir wollen nach Hause!“ Doch das Zuhause muss kein Ort, kann auch eine Erinnerung sein: an die „Buchstabensuppe, deren Lettern auf dem Tellerrand von meiner Mutter zu Zeilen angeordnet wurden“, den Gedanken, dass „Verse und gesungene Strophen die vollendete Form einer Geschichte“ sein und Balladen den Krieg besingen, aber nicht bannen können:

„Wir spielen / unter einem Zuckerhimmel / Krieg, // nennen flackernde / Strohfeuer / Ewigkeit // und jede Katastrophe / einen Sieg. // Was immer auf uns niederfährt: / Wir nehmen es gelassen, / heiter // und spielen / und spielen weiter / unter einem Zuckerhimmel Krieg.“

Dass Autor und Maler sich lange schon kennen und schätzen, Ransmayr dem Freund ein literarisches Denkmal setzte („Der Ungeborene oder Die Himmelsareale des Anselm Kiefer“), der sich jetzt sich mit zeitlos-schönen Bildern revanchierte, darf man getrost einen Glücksfall nennen. Ein Prachtband zum Verweilen und Träumen, ein Buch, das man immer wieder neu lesen und anders betrachten kann. Ein Buch, das überdauern wird.

Christoph Ransmayr: „Unter einem Zuckerhimmel. Balladen und Gedichte“, illustriert von Anselm Kiefer. S. Fischer Verlag, 208 S., 58 Euro.

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Infos:

Christoph Ransmayr, geboren 1954, lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Für seine Romane „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“, „Die Letzte Welt“, „Morbus Kitahara“, „Der fliegende Berg“, „Cox oder Der Lauf der Zeit“, „Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten“ und „Atlas eines ängstlichen Mannes“ erhielt der Autor zahlreiche, auch internationale Auszeichnungen. „Unter einem Zuckerhimmel“ ist der zwölfte Band seiner Buch-Reihe „Spielformen des Erzählens“. (FD)

Anselm Kiefer, geboren 1945, zählt zu den bedeutendsten und innovativsten Künstlern der Gegenwart. Mit Malerei, Bildhauerei, Fotografie, Film und Installation versucht er immer wieder, sich der jüngeren deutschen Geschichte zu stellen, das „Nichtdarstellbare“ zu erfassen und Motive und Themen aus Philosophie und Literatur, Wissenschaft und Religion in Bilder zu verwandeln. 2008 erhielt er (als erster bildender Künstler) den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. (FD)




Mit Volldampf zurück in die Vergangenheit – René Polleschs sinnfreie Volksbühnen-Collage „Und jetzt?“

Szene aus René Polleschs bunter Collage „Und jetzt?“ – mit (von links) Franz Beil, Martin Wuttke und Milan Peschel. (Foto: © Apollonia T. Bitzan / Volksbühne)

Seit man Frank Castorf sein Lieblingsspielzeug weggenommen hat, kommt die Berliner Volksbühne nicht zur Ruhe. Nachfolger Chris Dercon verzettelte sich mit kuriosen Ideen. Interims-Intendant Klaus Dörr musste nach Sexismus-Vorwürfen seinen Stuhl räumen. Die Rückkehr von René Pollesch, des verlorenen, zum Heiland verklärten Sohnes, sollte die Rettung bringen.

Doch bisher ist alles nur Stückwerk, Spielplan und Inszenierungen sind nur matter Abglanz früherer Erfolge. Pollesch wirkt lustlos und ausgelaugt. „Und jetzt?“ heißt seine neue Text- und Regie-Arbeit, die der Volksbühne neues Leben einhauchen könnte.

Pollesch greift in die Theater-Mottenkiste und geht in die Jahre 1968/69 zurück, als die DDR noch an den realen Sozialismus glaubte, die Kunst dem Volk dienen sollte. Damals inszenierte Benno Besson mit dem Arbeitertheater der Erdöl-Werke in Schwedt ein Stück von Gerhard Winterlich: „Horizonte“, basierend auf dem „Sommernachtstraum“ von  Shakespeare. Besson überführte später „Horizonte“ an die Berliner Volksbühne. Warum Pollesch das Projekt reanimiert, welche Lehren er für heute daraus zieht, bleibt aber die große Frage des Abends. Es ist ein Text-Labyrinth, eine Collage aus Literatur-Fundstücken. Auf dem Programmzettel: Hinweise auf Brecht und Bücher über das Katastrophenprinzip, Kybernetik sowie das Theater als Kampf und Kollektiv.

Auf der Bühne ereignet sich eine Theater-Schlacht: Sozialismus-Persiflage und Agitprop-Groteske, Zeitgeist-Satire und Kanzler-Klamauk, alles geschieht mit Wumms und Doppel-Wumms, wird durch den Theater-Fleischwolf gedreht. Winterlichs „Horizonte“ werden zitiert und Shakespeares „Sommernachtstraum“ wird geprobt, die Rolle des Zufalls diskutiert und der Kosmos als Folge von Katastrophen gedeutet. Das ist hanebüchen komisch und unendlich harmlos. Ein Déjà-vu-Erlebnis: alles war schon oft bei Pollesch-Abenden zu erleben, nur ehedem war es viel spannender und provokanter.

Immerhin gibt es ein freudiges Wiedersehen mit den Volksbühnen-Altstars Martin Wuttke und Milan Peschel: Sie spielen in der Weltklasse-Liga der traurigen Clowns, kauzigen Wort-Verdreher und aberwitzigen Grimassen-Schneider, krakeelen ohne Unterlass, machen hinreißend alberne Kunstpausen, verhaspeln sich lustvoll in Stotter-Arien. Manchmal wissen sie wohl selbst nicht, wer und wo sie gerade sind, absolvieren endlose Slapstick-Nummern, lassen sich, immer wenn „Macbeth“ erwähnt wird, vom Blitz der Erkenntnis erschlagen und sinken zitternd zu Boden. Regen prasselt, Schirme gehen in Flammen auf, Textbrocken verkümmern im Lärm lauter Musik: ein heiterer Kindergeburtstag. Da verliert man schnell den Anschluss, braucht die Hilfe der Souffleuse, die das turbulente Tohuwabohu umsichtig beäugt und den gestressten Mimen aus der Patsche hilft.

Bühnenbildnerin Anna Viebrock, die für die bizarren Liederabende von Christoph Marthaler rätselhafte Bühnen-Bunker gebaut hat, erschafft diesmal einen kargen, offenen Raum, eine Referenz an das Brecht-Theater. Ein kleines Podest für eine Wandertruppe, Plastik-Stühle, abgenutzte Tische: Da kann man mal Pause machen und eine Zigarette rauchen, bevor es wieder ins Getümmel geht und man Sätze absondern muss wie: „Der Moment deiner Erscheinung ist die absolute Bedeutungslosigkeit“, oder: „Die Sinnlosigkeit, mit der wir hier alles bereden, das ist so erleichternd.“

Ja, der Abend ist ziemlich sinnlos, verrückt und eine Erleichterung. Ist jetzt alles wieder gut an der Volksbühne? Zweifel sind angebracht. Statt Aufbruch in die Zukunft: volle Kraft zurück in die Vergangenheit. Das Premieren-Publikum amüsierte sich wie Bolle und applaudierte kräftig. Man ist ja so bescheiden geworden.

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: „Und jetzt?“ (Text und Regie: René Pollesch), nächste Vorstellungen am 7. und 15. Januar 2023.




„Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ – Daniela Kriens Roman jetzt endlich auf der größeren Bühne

Das Alte ist in sich zusammengebrochen, das Neue hat noch keine feste Form. In Stein gemeißelte Gewissheiten und Ideologien sind zerbröselt. Wo eben noch alles klar war und die Zukunft rosig schien, herrschen jetzt chaotische Unübersichtlichkeit und nervöse Angst. Manche lecken ihre Wunden, andere wissen nicht, wie es weitergeht.

Maria, die bald 17 wird, die Liebe entdeckt und vor einem kurzen Sommer der Anarchie steht, ist hin und her gerissen zwischen heller Euphorie und dunkler Depression, lautem Aufbruch zu neuen Ufern und schmerzlichem Verlust von Heimat und Herkunft. Ihr Vater hat sich vor Jahren in die Sowjetunion abgesetzt und wird den Kollaps des Kommunismus gut verdauen. Die volkseigene Fabrik ihrer Mutter hat den Fall der Mauer nicht überstanden. Seitdem döst sie im Gartenstuhl vor sich hin und will nur noch weg von hier. Raus aus dem Leipziger Allerlei, wo die Zukunft schon vorbei ist, bevor sie richtig begonnen hat.

Was soll Maria jetzt machen? Weiter zur Schule zu gehen, dazu hat sie keine Lust. Lieber zieht sie zu ihrem Freund Johannes, einem Bauern-Sohn, der noch auf dem Hof der Eltern lebt, aber ständig mit einer Foto-Kamera in der Gegend herum läuft und lieber Künstler werden möchte als Kuhställe auszumisten. Maria mag den sensiblen Johannes. Aber auf dem Hof gegenüber, da haust Henner, ein Eigenbrötler und Außenseiter, notorischer Trinker und begnadeter Büchernarr. Die großen Epen der russischen Dichter kennt er auswendig, natürlich auch Dostojewskijs „Brüder Karamasow“, den Roman, in den Maria gerade eintaucht, um die Irrungen des Lebens, die Verwirrungen der Liebe und ihre von geheimnisvollen Bedürfnissen und dunklen Ahnungen begleitete Selbstfindung in Zeiten der gesellschaftlichen Verwerfungen besser zu verstehen.

„Unbedingt werden wir auferstehen, unbedingt werden wir uns wiedersehen und heiter, freudig einander alles erzählen“, sagt Alexej, der jüngste der Karamasows, zum Schluss. Daran muss Maria oft denken, später, nachdem sie durch einen Tunnel der Ekstase und Erkenntnis getaumelt ist. Dann ist es Zeit für die Wahrheit, denn: „Irgendwann werden wir uns alles erzählen.“

Als die in Leipzig lebende Daniela Krien mit dem Roman „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ 2011 in einem Kleinverlag debütierte, bescherte ihr das einen Achtungserfolg bei der Kritik. Dass die aufwühlende Geschichte der Maria, die im Sommer 1990 vom jungen Mädchen zur erwachsenen Frau wird und (während um sie herum der Staat und alle Gewissheiten zerfallen) existenzielle Erfahrungen macht, zu den wichtigsten literarischen Verarbeitungen der Wendezeit gehört, wurde von den Lesern aber nicht hinreichend gewürdigt

Inzwischen wird die Autorin von einem großen Verlag betreut und ist mit „Die Liebe im Ernstfall“ und „Der Brand“ zur Bestseller-Autorin avanciert. Wenn jetzt der Roman noch einmal neu erscheint, wird ihm das wohl die Aufmerksamkeit bescheren, die er verdient.

Maria kämpft mit ihren widerstreitenden Gefühlen genauso wie mit den Ungereimtheiten der Sprache und den Abgründen ekstatischer Liebe. Die erotischen Experimente, die Maria mit dem doppelt so alten Henner vollführt, gleichen einem sexuellen Schlachtfeld. Das geht bisweilen an die Grenze des Erträglichen. Maria wird den Rausch bis zur bitteren Neige auskosten, den Wahnsinn dann aber abwerfen wie eine alte Haut und endlich bereit sein, sich nicht mehr zu belügen – und uns alles zu erzählen.

Daniela Krien: „Irgendwann werden wir uns alles erzählen.“ Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2022, 260 S., 25 Euro.




Zornige Suada – längst nicht nur gegen die Finanzbehörden: Elfriede Jelineks „Angabe der Person“

Seit Elfriede Jelinek den Literaturnobelpreis erhielt, hat sie sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Es schien, als sei sie in ihrem Werk verschwunden und sie lebe nur noch in ihren Texten. Umso überraschender, dass es Claudia Müller gelang, die scheue Autorin mit der Kamera zu begleiten und das filmische Porträt „Die Sprache von der Leine lassen“ zu realisieren. Kaum ist der Film in den Kinos, legt Elfriede Jelinek nach und veröffentlicht einen neuen Text: „Angabe der Person“. Der Verlag kündigt an, das Buch sei die „Lebensbilanz“ der Autorin. Stimmt das?

Tatsächlich benutzt Jelinek einmal das Wort „Bilanz“ und schreibt: „Ich ziehe Bilanz, obwohl es dafür zu früh ist.“ Sie meint aber damit nicht, dass sie ihr Leben bilanzieren will. Dann müsste sie vieles thematisieren, ihre schwierigen Beziehung zu den Eltern, ihre Nervenzusammenbrüche, ihre zeitweilige Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Österreichs, ihre zornigen Dramen und wütenden Romane, die oft für Skandale sorgten.

Es geht Jelinek um etwas anderes: um den Staat, der willkürlich in das Leben einzelner eingreift, unkontrollierte Steuerbehörden, die sich aus unerfindlichen Gründen an einzelnen Personen festbeißen. Der Satz lautet denn auch vollständig: „Ich ziehe Bilanz, obwohl es dafür zu früh ist, ich zahle also das, was des Staates ist, ich zahle meine Steuern, das wird Ihnen jeder nachweisen können, der Ziffern voneinander unterscheiden kann.“

Es macht sie rasend, dass die Steuer-Behörden sie regelrecht verfolgen und zermürben. Die Autorin pendelt seit Jahrzehnten zwischen Deutschland und Österreich, sie hat zwei Wohnsitze, einen in München, wo ihr kürzlich verstorbener Ehemann lebte, und einen in Wien, wo sie sich zumeist aufhält und in ihre Schreib-Einsamkeit zurückzieht. Die Finanzbehörden unterstellen offenbar, sie habe ihre Einnahmen nicht ordentlich versteuert und eröffnen ein Ermittlungsverfahren gegen sie, beschlagnahmen private Unterlagen, sichten sämtliche Konten, machen eine Hausdurchsuchung bei ihr, schnüffeln sich durch intime E-Mails.

Sie fühlt sich gedemütigt und zur Verbrecherin abgestempelt, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst ist und alle Schulden längst beglichen hat: „Schuld“ und „Schulden“, ihr Lebens-Thema. Es geht ihr nicht um ihre eigenen Geldsorgen oder Steuer-Probleme, sondern um die historische „Schuld“ einer von Nazis verseuchten Gesellschaft, um die „Schulden“ von Steuer-Sündern, die ihre Geschäfte in Steuer-Oasen verlagern, es geht um Sparmodelle, Betrugsskandale, Cum-Ex-Geschäfte. Das macht sie wütend, so wird aus ihrem Zorn über die gegen sie laufenden Ermittlungen ein Nachdenken über globale Kapitalströme und über einen Kapitalismus, der keine Moral kennt, sondern nur den Imperativ des Profits: Wie sehr, fragt sich Jelinek, profitieren bis heute Staaten von enteigneten jüdischen Vermögen? Wie viele Nazi-Größen wurden anstandslos entschädigt, während die Opfer von Terror und Enteignung bis heute vergeblich auf Wiedergutmachung warten?

Elfriede Jelinek hat noch nie so offen und einfühlsam über die Geschichte des jüdischen Teils ihrer Familie gesprochen: Jetzt schreibt sie zum ersten mal über eine in Auschwitz ermordete Tante, einen Onkel, der nach Dachau deportiert wurde und, kaum wieder freigelassen, Selbstmord beging. Sie spricht vom Vater, der im Nazi-Jargon als „Halbjude“ galt und der Vernichtung nur entging, weil er als Ingenieur für die Kriegsindustrie gebraucht wurde: „Hätte das deutsche Land, das damals einfach überall war, noch länger, tausend Jahre mindestens, sich breiter aufgestellt, als meine Eltern es aushalten konnten, dann gäbe es mich nicht. Hätte das Land länger, als es mußte, auf garantiert rassereinem Nachwuchs bestanden, gäbe es mich nicht, meine Rasse ist unrein, ich weiß, ich gehöre nirgends dazu.“

Pandemie, Flüchtlinge, Religion, Philosophie, Kunst, Heidegger, Nietzsche, Freud und Camus. Nichts wird geordnet. Der 190-seitige Text ist eine unaufhörliche Suada der Empörung, ein unablässiger Gedankenstrom. Er öffnet die Tür in surreal anmutende Wirklichkeiten. Vieles klingt grotesk und ist doch fürchterlich wahr, vermischt sich zu einer absurden Collage und einem vielstimmigen Chor. Oft weiß man nicht, wer spricht, die Autorin oder der Geist des toten Vaters, ein Cum-Ex-Betrüger oder ein Jungspund aus der Polit-Riege um Österreichs Ex-Kanzler Kurz. Man weiß nur: Es ist ein schwer lesbarer und schwer verdaulicher, aber ungemein wichtiger und unverzichtbarer Text.

Elfriede Jelinek: „Angabe der Person“. Rowohlt Verlag, 190 S., 24 Euro.

Nachspann:

Elfriede Jelinek, geboren 1946, aufgewachsen in Wien, hat für ihr Werk viele Auszeichnungen erhalten, u. a. 1998 den Georg-Büchner-Preis und 2004 den Literaturnobelpreis. Zu ihren bekanntesten Werken zählen die Romane „Die Klavierspielerin“ (1983), „Lust“ (1989) und „Gier“ (2000) sowie ihre Theatertexte „Raststätte“ (1994), „Ein Sportstück“ (1998) und „Ulrike Maria Stuart“ (2006). Ihr Ehemann, Gottfried Hüngsberg, der früher für R. W. Fassbinder Filmmusiken schrieb und seit Mitte der 1970er Jahre als Informatiker tätig war, verstarb vor wenigen Wochen. (FD)




„Nicht dich habe ich verloren, sondern die Welt“ – Ingeborg Bachmann und Max Frisch, der Briefwechsel

Bis zum Sommer 1958 sind sich Ingeborg Bachmann und Max Frisch nie begegnet. Plötzlich schreibt Frisch der jungen Autorin, die mit ihren Gedichten für Furore gesorgt und in die von Männern dominierte Nachkriegsliteratur die starke Stimme einer auf Emanzipation bestehenden modernen Frau eingefügt hat, einen Brief.

Er ist von einem ihrer neuen Hörspiele so begeistert, dass er ihr schreibt, wie gut es sei, „wie wichtig, dass die andere Seite, die Frau, sich ausdrückt“. Gönnerhaft fügt er hinzu: „Wir brauchen die Darstellung des Mannes durch die Frau, die Selbstdarstellung der Frau.“

Ingeborg Bachmann, die gerade dabei ist, sich aus der unglücklichen Liebe zu Paul Celan zu befreien, lässt sich vom leicht herablassenden Ton Frischs nicht beirren, fühlt sich geschmeichelt: „Verehrter, lieber Max Frisch“, antwortet sie, „Ihr Brief ist mir schon vieles gewesen in dieser Zeit, die schönste Überraschung, ein beklemmender Zuspruch und zuletzt noch Trost nach den kargen Kritiken, die dieses Stück bekommen hat.“ Die Antwort (vom 9. Juni 1958) ist Auftakt zur Jahrhundertliebe eines der berühmtesten Paare der deutschsprachigen Literatur.

Die Liebe beginnt förmlich, nimmt aber schnell leidenschaftliche Fahrt auf und findet schließlich nach wenigen Jahren ein ziemlich unrühmliches Ende: Frisch und Bachmann werden sich nicht nur um die Möbel in ihrer gemeinsamen römischen Wohnung streiten, sondern auch über die Deutungshoheit ihrer Liebe: Frisch wird seine Geliebte in „Mein Name sei Gantenbein“ als kapriziöse Diva porträtieren, Bachmann wird in ihrem Roman „Malina“ ihren Geliebten zum Urbild männlicher Überheblichkeit und Gewalt verzerren.

Viel ist darüber spekuliert worden, was die beiden Liebenden vereinte und warum ihre Leidenschaft so gnadenlos unter die Räder des Alltags kam. Genauere Auskünfte erhoffte man sich von den rund 300 Briefen, die in den Archiven lagerten und eigentlich niemals hätten publiziert werden dürfen. Zwar hatte Frisch in seinem letzten Testament verfügt, dass seine privaten Dokumente 20 Jahre nach seinem Ableben veröffentlicht werden können (also ab 2011). Doch Bachmann hatte es kategorisch abgelehnt, ihre Liebe dem Voyeurismus des Publikums auszuliefern. „Ich will alle meine Briefe zurückhaben“, schrieb sie. „Es ist selbstverständlich, dass ich nichts aufbewahren werde.“ Weil Frisch sich weigerte („Deine Briefe gehören mir, so wie meine Briefe dir gehören“), bat sie, die Briefe zu verbrennen, „damit niemand ein Schauspiel hat eines Tages, denn wir wissen ja nicht, wie lange wir im Besitz von Dingen bleiben, die Dich und mich allein etwas angehen.“

Dass der lückenhafte, oft von Phasen des Schweigens begleitete Briefwechsel der Vernichtung entging und jetzt das Licht der Öffentlichkeit erblickt, ist den Erben Bachmanns zu verdanken. Sie haben recht gehandelt. Denn die Briefschaft legt Zeugnis davon ab, wie sich Leben in Literatur verwandelt, Bewunderung in Rivalität umschlägt, aus reiner Liebe quälende Eifersucht wird, Verlustängste und Fluchtimpulse das Miteinander vergiften.

Kaum haben sich die beiden endlich in Paris getroffen und das erste Mal miteinander geschlafen, notiert Frisch: „Ich bin nicht verliebt, Ingeborg, aber erfüllt von Dir, Du bist ein Meertier, das nur im Wasser seine Farben zeigt, Du bist schön, wenn mann Dich liebt, und ich liebe Dich. Das weiss ich – alles andere ist ungewiss.“ Die zu Undine stilisierte Bachmann seufzt: „Ich will Liebe, eine Unmasse Liebe, sonst kann ich nicht mit Dir leben, sonst bin ich lieber allein.“

Die beiden notorischen Einzelgänger, die von einer Liebesaffäre in die nächste taumeln und schwanken zwischen dem Wunsch nach einem gemeinsamen Heim und der absoluten Freiheit des kreativen Geistes, können im Alltag nicht mit, aber auch nicht ohne einander sein. Gemeinsam in einer Wohnung zu arbeiten, ist ihnen ein Graus. Nach vier Jahren trennen sich (1963) ihre Wege, der 51-jährige Frisch verliebt sich in die 23-jährige Studentin Marianne Oellers und mit reist ihr nach New York, um die Premiere eines seiner Stücke zu sehen.

Bachmann bleibt allein und krank zurück, muss sich in einem Zürcher Krankenhaus die Gebärmutter entfernen lassen: „Ich habe kein Geschlecht mehr, keines mehr, man hat es mir herausgerissen.“ Frisch ist betroffen, bittet um Verzeihung: „Wir haben es nicht gut gemacht“, resümiert er. „Es ist mir das Herz gebrochen“, antwortet sie, unversöhnlich und untröstlich.

Nach einigen Jahren des Schweigens meldet sich Frisch noch einmal bei Bachmann, bittet sie für eine Anthologie um Zusendung einiger Gedichte. Sie schickt ihm fünf Texte, darunter „Eine Art Verlust“, das mit den Worten schließt: „Nicht dich habe ich verloren, / sondern die Welt.“ Die Briefe, versehen mit klugen Kommentaren und seltenen Fotos, sind ein poetisches und erschütterndes Literatur-Dokument. Das Werk der beiden, deren Beziehung ein Verhängnis war, muss man fortan mit anderen Augen betrachten.

Ingeborg Bachmann / Max Frisch: „Wir haben es nicht gut gemacht.“ Der Briefwechsel. Hrsg. von Hans Höller u. a., Piper & Suhrkamp Verlag, 2022, 1040 S., 40 Euro.




Surreale Ästhetik des Untergangs: Perttu Saksas Fotografien vom Raubbau in Afrika

Perttu Saksa ist ein vielfach mit Preisen ausgezeichneter finnischer Foto- und Video-Künstler. In seiner Kunst interessiert er sich vor allem für das schwierige Verhältnis von Mensch und Natur, für die Belastungen der Umwelt durch menschliches Handeln. Seine nicht immer leicht zu entschlüsselnden Arbeiten werden weltweit in Galerien und Museen gezeigt. Jetzt präsentiert er ein Buch mit dem geheimnisvollen Titel „Dark Atlas“. Es enthält eine Auswahl von Fotografien, die bei seinen Reisen durch Afrika entstanden sind.

Im Fokus: Westafrika, vor allem in Nigeria und Togo, Regionen, die wir allzu schnell und mit kolonialem Unterton mit dem Klischee-Begriff „Schwarz-Afrika“ belegen. Der Titel „Dark Atlas“ spielt mit diesen Klischee-Vorstellungen, gibt aber auch einen Hinweis auf Thema und Ästhetik der Foto-Serie, die nichts mit touristischer Neugier zu tun hat, kein fotografisches Tagebuch einer Reise ins „Herz der Finsternis“ ist, die Joseph Conrad einst beschrieb.

Fern von allen Klischees

Auf den Fotos gibt es keine afrikanische Folklore, keine Stammes-Rituale, keinen üppigen Urwald, keine Mega-Citys, kein hektisches Menschen-Gewusel. Nichts, was unser Bild von „Schwarz-Afrika“ ausmacht, wird auf den Fotos irgendwie umkreist, ironisch eingefangen oder sarkastisch entlarvt. Das geheimnisvolle Dunkle ist das „Schwarze Gold“, das Rohöl, das unter katastrophalen Bedingungen gefördert wird. Die Umwelt und alle traditionellen gesellschaftlichen Zusammenhänge werden zerstört.

Gepanschtes Benzin an jeder Straßenecke

Es geht um das Benzin, das von den Bohrfeldern der multinationalen Konzerne von den ausgebeuteten und zu bitterer Armut verdammten Menschen gestohlen wird, die nichts vom Reichtum an Bodenschätzen haben und zu Dieben werden, um überleben zu können. Sie panschen das Benzin zu einer Billig-Ware, verkaufen es an jeder Straßenecke. Das Billig-Benzin, das dort „Kpayo“ heißt und in Kanister, Glas-Behälter und Plastik-Flaschen abgefüllt wird, steht im Zentrum des fotografischen Interesses. „Kpayo“ eröffnet für der Fotografen Gedanken-Räume, um auszuloten, welche Konsequenzen der Raubbau und Hunger nach Energie hat: für Mensch und Natur.

An den Grenzen der Wahrnehmung

Um das Phänomen des geklauten Billig-Benzins und die Auswirkungen des Energie-Raubbaus zu bebildern, wird nicht die unmenschliche Arbeit auf den Bohrfeldern gezeigt, auch nicht die ölverseuchten Flüsse oder die im schwarzen Schlamm verendenden Tiere. Der reale Wahnsinn der Energie-Gewinnung und die spätkapitalistische Zerstörungswut ist genauso fern wie die gesellschaftlichen, politischen, religiösen Verwerfungen in Afrika. Stattdessen erschafft Perttu Saksa surreal anmutende Stillleben, groteske, symbolisch aufgeladene Impressionen, die oft wie abstrakte Malerei aussehen oder wie das Bühnenbild einer rätselhaften Theater-Inszenierung. Er sucht mit der Kamera Licht in der Dunkelheit, konzentriert sich auf Konturen, spielt mit den Grenzen der Wahrnehmung, mit trügerischen Erwartungen.

Keine Analyse, kein Ausweg

Aus dem Halbdunkel schälen sich Umrisse von öligen Kanistern, verkratzten Glas-Behältern und verbeulten Plastik-Flaschen heraus, halb gefüllt mit goldgelb schimmerndem Billig-Benzin. Manchmal geht die Kamera ganz nah heran, tastet kleine Details dieser bizarren Gegenstände ab, nimmt das Auge des Betrachters mit ins Innere der Benzin-Behälter, fast meint man, den Geruch von Benzin in der Nase zu haben und die ätzende Wirkung auf der eigenen Haut zu spüren. Der Fotograf arrangiert und sortiert die Behälter nach Größe, Form und Farbe, erfindet eine ambivalente Scheinwelt aus schön-scheußlichen Sinnes-Täuschungen: hier wird nichts analysiert, keine Problem benannt, kein Ausweg aus dem Kreislauf von Energie-Hunger und Natur-Zerstörung aufgezeigt, sondern es werden ästhetische Pforten der Wahrnehmung geöffnet, Assoziations-Felder, die jeder für sich selbst erkunden, erfahren, erleben, deuten, weiterdenken muss.

Ekel, Tod und Verwesung

Manchmal steht Saksa mit seiner Kamera in einer menschenleeren Landschaft, über einem grauen Fluss ballen sich bedrohliche Wolken zusammen, eine einsame, vom Wind zerzauste Palme behauptet sich gegen das Unwetter. Oder er blickt auf das tiefdunkle Wasser und die an einen einsamen Strand brandenden grünen Wellen des Meeres. Im verwilderten Gestrüpp im Hinterland entdeckt er verlassene Häuser, Fenster und Türen sind entfernt, Hinterlassenschaften einstigen Wohlstandes, jetzt sind überall nur noch modrige Wände, kaputte Fußböden. Einmal sucht sich eine Python-Schlange ihren Weg durch die Ruine, einmal liegt ein toter Vogel auf den Holzdielen, einmal der Schädel eines Tieres. Eine gefangene Eule hockt verängstigt in einem vergitterten Korb, auf einem Foto sieht man die leere Hülle einer verendeten Schildkröte, auf einem anderen abgeschlagene Köpfe von einem Hund und einem Leoparden, zu einem bizarren Kunstwerk übereinander gestapelt. Gewalt und Tod, Ekel und Verwesung liegen in der Luft, man spürt es, aber man sieht nicht, warum das geschieht, wer dafür verantwortlich ist, muss sich selbst einen Reim darauf machen, was das alles bedeuten und wie man das verändern könnte.

Die Apokalypse hat bereits stattgefunden

Kein Mensch, nirgends. Nur auf dem allerletzten Bild sieht man, wie jemand seine Finger unter den Strahl einer goldgelben Flüssigkeit hält, sich mit Billig-Benzin die Hände wäscht und versucht, die schwarzen Öl-Reste von wahrscheinlich irgendeiner illegalen Tätigkeit, dem Stehlen oder Panschen von Benzin zu tilgen. Ansonsten hat man das Gefühl, der Mensch habe es geschafft, sich selbst und die Umwelt komplett zu zerstören. Alles ist menschenleer, die Natur sich selbst überlassen, die Apokalypse hat bereits stattgefunden, jetzt geht es nur noch darum, in der Asche der Energie fressenden kaputten Welt herumzustochern und aus den Ruinen einer Umwelt und Mensch vernichtenden Industriegesellschaft etwas Neues und Besseres aufzubauen.

Der „Dark Atlas“ zeigt uns, in symbolischer Abstraktion und sinnlicher Ästhetik, was die Lust am eigenen Untergang für katastrophale Folgen hat und dass es höchste Zeit und ein drängendes Ziel ist, etwas dagegen zu unternehmen. In Afrika, in Europa. Überall.

Perttu Saksa: „Dark Atlas“. Kehrer Verlag, Heidelberg/Berlin 2022, 96 Seiten, 40 Farbabbildungen, 38 Euro.




Heillos verknäult, filigran entwirrt: Donna Leons 31. Brunetti-Fall „Milde Gaben“

Langsam erwacht Venedig aus dem Tiefschlaf der Pandemie. Die Masken fallen, die Touristen strömen in die Lagunenstadt. In den Bars gönnt man sich einen Blick in die Zeitung, einen Espresso und ein süßes Teilchen, bevor es ins Büro geht. Auch einige Läden, die den Lockdown überstanden haben, öffnen ihre Pforten.

Doch während viele Gewerbetreibende aufgeben mussten, haben andere mit miesen Tricks große Profite gemacht, Scheingeschäfte eröffnet, um Corona-Hilfen abzugreifen. Im „Gazzettino“ kann Commissario Brunetti die ekligen Details über die Folgen der Pandemie nachlesen. Er hat genug Zeit zur Lektüre. Denn Mord und und Diebstahl haben auf das Virus reagiert und gehen gegen Null. Dass sich das schon bald ändern und sein kriminalistischer Spürsinn gefragt sein wird, ahnt Brunetti. Doch bis es so weit ist, lässt er seinen Gedanken freien Lauf, liest seine geliebten griechischen Klassiker und versucht seine Gattin Paola zu beruhigen. Die Spezialistin für englische Literatur ärgert sich darüber, dass an ihrer Universität eine junge Kollegin Karriere macht, die wissenschaftlich wenig leistet, aber die richtigen Kontakte hat und die alten Professoren um den Finger wickelt. Ist das Geplänkel über den Geschlechter-Krieg vielleicht ein erster Hinweis auf kommendes Unheil, dem sich der Commissario wird stellen müssen? Und warum will Tochter Chiara mehr wissen über die „Orestie“ und Klytämnestra, die sich betrogen, verraten und missachtet wähnt und zur blutrünstigen Rachefurie wird?

Donna Leon ist Meisterin der verwischten Spuren und falschen Fährten, des langen Anlaufs, der versteckten Andeutungen und des scheinbar Nebensächlichen, hinter dem sich ein Abgrund an Missgunst und Neid, Hass und Gier auftut. In ihrem neuen Roman „Milde Gaben“ spannt sie die Leser besonders lange auf die Folter. Wir sind bereits auf Seite 32, bis der aus pandemischer Melancholie mühsam erwachende Brunetti aus dem Mund einer ihn in der Questura aufsuchenden alten Bekannten einen Satz hört, der ihn aufhorchen lässt. Elisabetta Foscarini ist besorgt um ihre Tochter Flora, eine Tierärztin, verheiratet mit Enrico, einem Steuerberater und Buchprüfer. Nach einem Streit habe er „etwas gesagt, das sie das Schlimmste befürchten lässt.“ Was genau das sein soll, kann sie nicht benennen. Es dauert weitere 10 Seiten, bis Brunetti seiner Freundin aus verklärten Kindertagen einen Seufzer entlockt: „Ich fürchte, er tut etwas Schlechtes.“

Brunettis Jagdfieber ist geweckt. Aber wonach soll er suchen? Woher nimmt Elisabetta diese nebulösen Anschuldigungen, beruhen sie auf Einbildungen oder konkreten Fakten? Brunetti schart seine Mitarbeiter um sich, den leutseligen Inspektor Vianello, die hartnäckige Kommissarin Griffoni, Computer-Spezialistin Signorina Elettra, die noch jede Datenbank geknackt hat. Bald schon haben sie den Verdacht, dass sie von der sich – angeblich – um ihre Tochter sorgenden Mutter nur benutzt werden, um hinter die Fassade ehrbarer Dienstleistungen zu blicken und kriminelle Machenschaften und menschliche Verfehlungen ans Tageslicht zu fördern, die ihren Stolz und ihre Ehre verletzen, Betrug und Verrat, bei dem sie sich missachtet, ausgeschlossen und zurückgesetzt fühlt.

Brunetti begreift langsam, dass es nicht ums das geht, was gesagt wird und offen zutage liegt, sondern um das, was verschwiegen wird und sich nur dem offenbart, der zwischen den Zeilen zu lesen und Zeichen zu deuten vermag. Als wäre Donna Leon eine Wahlverwandte von Semantik-Deuter Umberto Eco, macht sie Brunetti zu einem Wiedergänger von Mönch William von Baskerville, der in der labyrinthischen Bibliothek eines mittelalterlichen Klosters nach einem verschollenen Buch über die subversive Kraft des Lachens und die Gründe für eine Mordserie fahndet.

Im Labyrinth von Venedigs Gassen und Kanälen findet Brunetti Menschen, die lügen und betrügen und bereit sind, sich selbst und andere zu zerstören. Brunetti folgt der Spur des Geldes. Sie führt ihn zu den „Milden Gaben“, die Elisabettas Ehemann, Bruno del Balzo, den Armen und Notdürftigen zukommen lässt…

Donna Leon weiß, wie man Erzähl-Fäden erst heillos verknäult und dann filigran wieder entwirrt. Ein Genuss, ihr bei der leichthändigen Arbeit am literarischen Fein-Gewebe zu folgen.

Donna Leon: „Milde Gaben“. Commissario Brunettis einunddreißigster Fall. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich 2022, 344 S., 25 Euro. (Das Hörbuch, gelesen von Joachim Schönfeld, erschien gleichfalls bei Diogenes und kostet 18,95 Euro).




Die Landkarte der Liebe neu vermessen – Nicole Krauss‘ Storys „Ein Mann sein“

Es ist Sommer. Ein Mann liegt träge am Strand, beobachtet seine spielenden Kinder und seinen alten Vater. Während die Hitze ihn schläfrig macht, lässt er sein Leben Revue passieren, denkt er an das unmerkliche Älterwerden, all die kleinen Veränderungen, die sich ständig ereignen, an das Leben, „das sich immer auf so vielen Ebenen abspielt, alles zur gleichen Zeit.“

Die Gedanken zerfließen, zerrinnen, sind nicht greifbar. Vielleicht ahnt er, dass gerade jetzt, während er mit seinen Kindern Ferien am Meer macht, seine Frau ihren Liebhaber in Berlin trifft und dabei nicht nur beglückende, sondern auch zutiefst beklemmende Erfahrungen macht.

Ein scharfer Cut. Die Perspektive wechselt, wir hören die freimütigen Bekenntnisse der Frau. Lauschen ihren Worten, mit denen sie den hemmungslosen Sex beschreibt, den sie mit ihrem Liebhaber hat, einem Journalisten und passionierten Amateurboxer. Ein großer, starker Mann mit einem emotionalen Handicap. Er kann es nicht ertragen, neben einer Frau einzuschlafen, sie die ganze Nacht in den Armen zu halten. Nach dem Liebesakt muss er das Bett verlassen und in seinem eigenen Bett zur Ruhe kommen. Seine Frau hat sich deshalb von ihm scheiden lassen. Die Liebhaberin, eine Jüdin aus New York, hat dafür Verständnis. Viel verstörender findet sie, dass der deutsche Mann ihr bei einem Spaziergang durch den Grunewald beichtet, er wäre damals bestimmt ein Nazi gewesen: „Ich bin genau der Typ, den sie für die Napola rekrutiert hätten“, sagt er mit Bezug auf die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten, in denen die Nazis die Elite der starken und gehorsamen Jugend zu SS-Führern herangezüchtet haben. Dass er eine Schwäche für Ruhm und Ehre hat, lässt die Frau noch durchgehen. Aber dass der Mann glaubt, in ihm schlummere ein willfähriger Massenmörder? „Sie würde lieber glauben, dass der Mann, mit dem sie schläft, niemals, unter keinen Umständen, ein Nazi hätte sein können.“

„Ein Mann sein“, heißt diese verstörende Story, sie ist zugleich der Titel des Erzählbands, in dem die US-amerikanische Autorin Nicole Krauss vom Kampf der Geschlechter und den Zumutungen des Zusammenlebens berichtet. Immer geht es um das Wechselspiel von Macht und Sex, Liebe und Gewalt und den Versuch, die Landkarte der Beziehungen neu zu vermessen und zu beschriften. Einmal erzählt sie, wie eine aus New York nach Tel Aviv gereiste Frau in der Wohnung ihres verstorbenen Vaters einen fremden Mann antrifft. Er hat einen Schlüssel, geht hier ein und aus. Wer ist dieser Unbekannte und warum drängt er sich in den Leben der Frau, die irgendwann glaubt, in einem seltsamen Traum gefangen zu sein? Ein anderes Mal erinnert sie sich an eine Mitschülerin, die eine von Gewalt-Lust und Unterwerfungs-Fantasien dominierte Beziehung zu einem älteren, reichen Mann unterhielt. Was wohl aus ihr geworden ist? Und was mag aus dem jungen Mann geworden sein, in dessen Leben die Erzählerin hineinschlüpft: Viele Jahre war er der Sekretär eines bedeutenden Landschafts-Architekten in Südamerika. Hat erlebt, wie die Generäle der Junta ihn zwangen, in einem seiner prächtigen Parks unzählige Leichen zu verscharren. Warum hat der jüdische Architekt, der vor den Nazis aus Deutschland nach Südamerika geflohen war, das still ertragen und erduldet?

Ein rätselvolles, großes Buch einer großen Autorin.

Nicole Krauss: „Ein Mann sein.“ Storys. Aus dem Englischen von Grete Osterfeld. Rowohlt, Hamburg 2022, 256 Seiten, 24 Euro.




Alles bergen, was nicht vergessen werden soll: „Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern“

Als Marcus Antonius in Ägypten ankam, war Rom zwar das Zentrum des größten Reiches im Mittelmeerraum. Aber eigentlich war es nur ein Labyrinth aus schlammigen Gassen. In Alexandria gab es hingegen Paläste, Tempel, Denkmäler – und eine Bibliothek, in der das Wissen der Welt gespeichert und dem Vergessen entrissen wurde.

Marcus Antonius, vom Wunsch beseelt, seiner Geliebten Kleopatra, die Sinnlichkeit und Kultur auf einzigartige Weise verkörperte, ein besonderes Geschenk zu machen, entschied sich für etwas, was die ägyptische Herrscherin nicht mit gelangweilter Mine zur Kenntnis nehmen konnte: Er ließ ihr 200.000 Bände für die Bibliothek zu Füßen legen, denn: „In Alexandria waren Bücher Treibstoff für Leidenschaften.“

Auch das Internet ist eine Bibliothek

Die spanische Autorin Irene Vallejo kennt viele solcher Legenden und Anekdoten, Mythen und Märchen, die sich um Politik und Sex, Geschichte und Literatur drehen, die eine Hymne auf das Buch singen und eine „Geschichte der Welt in Büchern“ erzählen. Das Buch, das viele Formen annehmen und aus Stein und Ton, Schilf und Seide, Leder und Holz gefertigt sein kann, ist zu einem Artefakt der Verständigung und einem Hort des Wissens geworden, hat sich im Laufe der Jahrtausende bewährt, ist unser „Verbündeter in einem Krieg, der in keinem Geschichtsbuch steht“: dem „Kampf um die Bewahrung unserer wertvollsten Schöpfung: der Worte, die kaum mehr als nur ein Lufthauch sind; der Fiktionen, die wir erfinden, um dem Chaos einen Sinn zu geben und in ihm zu überleben.“

Das Gerede vom Aussterben der Bücher, die durch elektronische Geräte ersetzt werden, entlockt Irene Vallejo nur ein müdes Gähnen. In „Papyrus“, ihrer abenteuerliche Reise durch das Universum der Bücher und Bibliotheken, in der Homer und Seneca, Sappho und Aristophanes genauso ihren Platz finden wie Paul Auster und Stefan Zweig, Mary Shelley und Annie Ernaux, sagt sie mit mildem Lächeln, dass das Internet auch nichts anderes ist als eine große Bibliothek, in der sich nur zurechtfindet, wer die Pfade kennt und die Zeichen deuten kann.

Eine Erfindung, die sich nicht mehr verbessern lässt

Eine Bibliothek ist für Vallejo der „Zufluchtsort, an dem wir all das bergen, was wir zu vergessen fürchten. Die Erinnerung der Welt. Ein Damm gegen den Tsunami der Zeit.“ Sie hält es mit Umberto Eco, der meinte, das Buch sei „ein technisch vollendetes Meisterwerk (wie der Hammer, das Fahrrad oder die Schere), das sich, soviel man auch erfinden mag, nicht mehr verbessern lässt.“ Seit die alten Ägypter entdeckten, dass sich aus den am Nilufer wachsenden Schilfhalmen Material zur Beschriftung fertigen ließ und sich die Papyrus-Rolle wunderbar eignete, um mit Feder und Tinte Gedanken zu fixieren (und nicht mehr umständlich in Stein oder Ton zu ritzen), war der Siegeszug des Buches nicht mehr aufzuhalten.

Alexander, der von Makedonien auszog, die Welt zu erobern, schlief stets mit einer Ausgabe von Homers „Ilias“ und einem Dolch unterm Kissen. Sein Verlangen nach dem Abwesenden und Unerreichbaren trieb ihn von einer Schlacht und einer eroberten Region zur nächsten. An Ägyptens Küste, wo sich Sand und Meer trafen und nichts außer Ödnis war, entschied er, eine neue Stadt zu bauen und eine Bibliothek, in der das Wissen der Welt vereint werden sollte. Dass heute niemand mit Gewissheit sagen kann, wie sie gebaut war und was sie beherbergt hat, ist eine andere Geschichte. Auch davon handelt Vallejos Buch. Eine Hommage, so spannend wie ein Abenteuerroman.

Irene Vallejo: „Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern“. Aus dem Spanischen von Maria Meinen und Luis Ruby. Diogenes Verlag, Zürich, 746 Seiten, 28 Euro.




Predigt und Pathos – Amanda Gormans Gedichtband „Was wir mit uns tragen“

„Dieses Buch ist eine Flaschenpost“, schreibt Amanda Gorman im Gedicht  „Schiffsmanifest“, das ihren ersten großen Lyrikband einleitet, und fährt dann fort: „Dieses Buch ist ein Brief. / Dies Buch lässt nicht locker. / Dieses Buch ist wachsam. / Dieses Buch weckt auf.“

Dieses Buch, möchte man vorsichtig einwenden gegen das Übermaß an poetisch-politischem Pathos, ist vieles, aber vor allem eines: ein großes lyrisches Missverständnis. Denn „Was wir mit uns tragen“ legt Zeugnis ab von der literarischen Überforderung einer jungen Dichterin, die mit einem einzigen Auftritt die ganze (westliche) politische Welt verzauberte und zur Ikone des Aufbruchs in eine neue Zeit wurde: Als sie am 20. Januar 2021 zur Amtseinführung von Joe Biden die traurige und zugleich stolze Geschichte ihres von Rassismus gepeinigten Landes in eine poetische Predigt formte, schwer bepackt „Hügel hinauf“ kletterte („The Hill We Climb“) und stellvertretend für alle Gemarterten und Geschundenen, Vergessenen und Verlorenen das von Trump zerrissene Land wieder vereinen und heilen wollte, waren ihre Worte „Balsam für unsere Seelen“, wie Talkshow-Diva Oprah Winfrey begeistert ausrief.

Als Stil-Ikone vereinnahmt

Amanda Gorman ist die Verkörperung des neuen schwarzen Selbstbewusstseins. Wann immer sie öffentlich auftritt: Stets geht es um Gleichheit und Gerechtigkeit und darum, Rassismus und Unterdrückung ein für alle Mal in den Orkus der Geschichte zu verbannen. Dass sie nicht nur religiöse und politische Verheißungen verkünden will, sondern auch ein literarisches Anliegen hat und moderne Lyrik schreiben möchte, geriet ein bisschen in Vergessenheit. Vielleicht auch, weil sie vom Kapitalismus sofort vereinnahmt und mit ihrem gelben Mantel und roten Haarband (die sie bei der Inauguration trug) zur Stil-Ikone avancierte und sich profitträchtig vermarkten ließ.

Natürlich fehlt das coole Outfit auch nicht auf dem Cover des Buchs, das zahllose Texte enthält, aber eigentlich kaum ein Gedicht, das mehr ist als eine religiöse Litanei und politische Variation der immer gleichen Gedanken. Immer spricht aus ihrem Mund ein nicht näher definiertes „Wir“, immer fühlt sie sich als Sprachrohr einer von Leid und Schmerz befallenen Gruppe, die die Hoffnung auf ein besseres Morgen nicht aufgeben will.

Überall findet sich das „Wir“

Welche Seite man auch aufschlägt, welches Gedicht man auch liest, überall findet man solche Zeilen: „Wir haben geweint“, „Wir verschliefen die Tage“, „Wir waren schon tausende / von Toten in diesem Jahr“, „Wir hatten Zuhause satt“, „Wir strebten nach neuen Muskeln“, „Wir mussten uns erst selbst verlieren, / um zu verstehen, wir brauchen kein Königreich“, „Was sind wir, / wenn nicht der Kurs des Lichts“, „Wir gehen in ein Morgen / & tragen nichts / als die Welt.“

Mit Verlaub: das ist nicht Poesie, sondern Kitsch. Keine von sprachlicher Schönheit und gedanklicher Kraft erzwungene Literatur, sondern banales Geschwurbel und billiges Klischee. Kein widerborstiger Einfall, keine aufreizende Fantasie, nur Predigten einer jungen Frau, die jeden aufgeschriebenen Gedanken für ein gelungenes Gedicht hält: „Ein Gedicht hat kein Ende, / nur eine Stelle, wo die Seite / offen & erwartungshungrig glüht, / wie eine erhobene Hand, / gerüstet & gelassen.“

Übersetzung mit Sternchen

Ganz gelassen bemerken wir: Auch hübsch gemalte Kurven und fein gezogene Striche oder ein Gedicht in Form eines Wals (weil es auf Melvilles „Moby Dick“ anspielt), sind noch keine Lyrik, die einen bewegt oder berührt. Dass die deutschen Übersetzerinnen oft ein Gendersternchen (das es im amerikanischen Original nicht gibt) einfügen, versteht sich von selbst.

Amanda Gorman: „Was wir mit uns tragen / Call Us What We Carry“. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem amerikanischen Englisch von Marion Kraft und Daniela Seel. Hoffmann & Campe, Hamburg 2022, 432 Seiten, 28 Euro.




Im Schnee auf den Spuren von Rimbaud – Jon Fosses grandioser Roman „Ich ist ein anderer“

Asle wohnt irgendwo an einem abgelegenen Fjord und blickt jeden Tag über die Nebel verhangene Landschaft. Seine Frau, Alse, ist längst gestorben. Manchmal kommt ein Nachbar vorbei und sorgt dafür, dass Asle etwas isst, den Kamin befeuert und den Hund füttert.

Ein Sessel im Wohnzimmer ist noch immer für Alse reserviert. Denn in Asles Gedanken lebt sie weiter. Er spricht unablässig mit ihr. Vielleicht ist sie es (und nicht die atemlos lauschenden Leser dieses sich in dunklen Erinnerungen verlierenden und in unzähligen Wiederholungen träge dahin fließenden Gedankenstroms), der er sein Leben beichtet.

Immer wieder erzählt er, wie seine Schwester urplötzlich verstarb, die Mutter an allem herummäkelte, der Vater dumpf vor sich hin brütete; wie er seine erste Zigarette rauchte, in einer Band Gitarre spielte, die Musik dann aufgab, um sich der Malerei zu widmen. Jetzt ist er Anfang sechzig. Er ist müde und weiß nicht, ob er noch jemals ein Bild malen kann. Er hat alles, was in ihm verborgen liegt, die Träume und Alpträume, die Verabredung mit dem Tod, den Glauben an Gott und das Gefühl, im Spiegel der Zeit nicht sich selbst, sondern einen anderen Menschen zu erblicken, auf die Leinwand gebracht:

Beredtes Schweigen, rasender Stillstand

„Und ich sehe mich dastehen und das Bild mit den beiden Strichen anschauen, einer ist lila, einer braun, sie kreuzen sich in der Mitte und ich denke, es ist so kalt in der Stube und es ist zu früh zum Aufstehen, also warum bin ich aufgestanden?“

Mit diesen Worten beginnt „Ich ist ein anderer“, der neue Roman von Jon Fosse, der im Titel die Sentenz von Rimbaud aufgreift, mit der die literarische Moderne ihr Verwirrspiel mit der erzählerischen Verunsicherung und der multiperspektivischen Sicht auf eine zerfaserte Welt begann. Fosse, ein Meister des beredten Schweigens und des rasenden Stillstands, wird oft als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Jetzt stapft er mit Rimbaud im literarischen Rucksack durch den norwegischen Schnee und die Gedanken eines Malers, der sich selbst immer fremder wird und in mehreren Versionen zu existieren scheint.

Derselbe Name, dasselbe Gesicht

Immer wieder muss Asle an den anderen Künstler denken, der denselben Namen trägt, genauso aussieht, ähnliche Bilder malt und den er gerade gestern in der Stadt getroffen hat. Da lag „der andere Asle“ betrunken auf der Straße und musste in die Notaufnahme gebracht werden. Aber nicht nur um den anderen, den alkoholsüchtigen Doppelgänger im Krankenhaus zum besuchen, fährt Asle heute wieder in die Stadt. Er will auch seinem Galeristen, mit dem er schon seit Jahrzehnten zusammenarbeitet, seine neuen Bilder bringen. Doch erst einmal muss er es schaffen, aufzustehen, sich das Bild mit den beiden Strichen anzuschauen, das vielleicht sein letztes sein wird. Dann erst wird er sich ins Auto setzen und während der Fahrt sein Leben Revue passieren lassen. An seine tote Schwester, seine unfähigen Eltern, seine schmerzlich vermisste Frau denken. Immer wieder. Die Zeit steht still, verliert sich in einer Endlosschleife aus Erinnerungen.

Bisher eröffnete die dreiteilige (und in sieben Abschnitte unterteilte) Roman-Serie immer wieder mit der gleichen, nur minimal veränderten Szene. Immer wieder drohte der Maler im eigenen Gedankenfluss zu ertrinken. Nirgendwo fand er einen rettenden Punkt. Jeder Satz und jedes Buch blieb ein offenes Rätsel. Nur zum Schluss eines jeden Teils und jeden Romans fand er Halt, nahm seinem Rosenkranz und betete das Vaterunser. Was mit „Der andere Name“ begann, mit „Ich ist ein anderer“ weitergeführt wird und mit „Ein neuer Name“ beendet sein soll will, ist eine literarische Meditation, eine zeitlose Reise durch die literarische Nacht. Verwirrend. Grandios. Einzigartig.

Jon Fosse: „Ich ist ein anderer“. Heptalogie III-V, Roman. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt Verlag, Hamburg, 368 Seiten, 30 Euro.

 




„Wir haben kein Recht auf Ruhe“ – Peter Handke und seine traurigen Engel erzählen weiter

„Genug jetzt ins Leere geschaut“, murmelt der eine. Doch von Leere kann keine Rede mehr sein. Alles hat sich inzwischen bevölkert, die Unsichtbaren wurden sichtbar, die Engel verwandelten sich in Erdlinge.

Doch die Träumer, die einst durch den „Himmel über Berlin“ schwebten und die Wünsche und Hoffnungen der Menschen lenkten, wollen weiter spielen, sich immer wieder aufs Neue eine Welt aus Sprache bauen und eine Wirklichkeit aus Fantasie. „Wahr gesagt, alter Freund: Zwei besondere Narren sind wir, ein jeder auf seine Weise.“ Also beschließen die beiden untoten Mimen, die noch immer die Gedankenwelt ihres Schöpfers bewohnen: „Auf, spielen wir weiter die Narren“, erzählen wir uns und allen, die zuhören, was wir erlebt und erlitten, gesehen und erfunden haben.

Peter Handke schrieb einst das Drehbuch für „Der Himmel über Berlin“: ein Kult-Film, mit dem die Welt-Karriere von Wim Wenders Fahrt aufnahm. Bruno Ganz und Otto Sander taumelten als traurige Engel durch eine damals noch von der Mauer getrennte Stadt, spendeten Trost, verschenkten Liebe, stiegen hinab in die Abgründe des Vergessens.

In diesem literarischen Kosmos muss man sich auskennen

Jetzt sind sie wieder da. Literaturnobelpreisträger Peter Handke hat ihnen sein „Zwiegespräch“ gewidmet und sie als Mit-Erzähler ins Geschehen verwickelt. Aber was geschieht eigentlich? Wovon berichten die beiden reanimieren Engel? Schwer zu sagen, kaum zu entschlüsseln. Jedenfalls nicht für Leser, die sich nicht auskennen im weit verzweigten Handke-Universum. All die Erinnerungen und Bilder, die kurz aufscheinen und wieder verglühen, all die Reminiszenzen an ein vernebeltes Früher, all das Rumoren über literarische Kunstgriffe und filmische Tricks, schauspielerische Finessen und erzählerische Finten: nur zu verstehen, wenn man mit Handke das „Wunschlose Unglück“ ertragen, in der „Niemandsbucht“ geschlafen, das „Gewicht der Welt“ gestemmt, „Die „morawische Nacht“ erkundet, das Summen der „Hornissen“ vernommen, den „kurzen Brief zum langen Abschied“ studiert, die „Obstdiebin“ auf ihrem Weg ins Landesinnere begleitet hat.

Des Dichters Wanderung durchs eigene Gesamtwerk

Handke erinnert sich an ein Theaterbesuch in der Kindheit, nicht an das Stück, sondern nur an Dekor, Kulisse und die „Stunde der wahren Empfindung“, die das Schauspiel in ihm ausgelöst hat. Jetzt wandert er zusammen mit seinen beiden alten Weggefährten noch einmal durch sein Gesamtwerk, führt ein „Zwiegespräch“ mit all den Menschen, die er in Literatur verwandelt hat. Denkt an die Mutter und den Großvater, an die Kindheit als Kärntner Slowene, fantasiert noch einmal „Die winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina“.

Die schnatternden, spielenden Narren sind immer dabei, reden dazwischen, verschieben die Kulissen, halten alles für „Blödsinn“ und „Hirngespinste“. Hört man da etwa so etwas wie Selbstkritik heraus? Man weiß es nicht. Eigentlich weiß man gar nichts. Nur dass Handke und seine zwei zum Leben wieder erweckten Spießgesellen einfach nicht mit dem Spiel der Fragen und des Zweifelns aufhören wollen: „Wir haben kein Recht auf Ruhe. Unsereiner hat auf Ruhe kein Recht.“

Peter Handke: „Zwiegespräch“. Suhrkamp, Berlin 2022, 68 S., 18 Euro.




Dieses ausweglose Leben – „Beyond Caring“: Schaubühne zeigt krasse Sozialstudie über Putzkräfte

Ensemble-Szene aus „Beyond Caring“ mit (v. li.) Kay Bartholomäus Schulze, Hevin Tekin, Jule Böwe, Damir Avdic, Julia Schubert. (Foto: © Gianmarco Bresadola / Schaubühne Berlin)

„Mich interessiert nicht die Repräsentation von Leben, mich interessiert das Leben.“ Mit „Love“ porträtierte der britische Autor und Regisseur Alexander Zeldin Menschen, die Weihnachten in einer Notunterkunft des Sozialamtes zubringen müssen. Jetzt inszeniert er an der Berliner Schaubühne sein Stück „Beyond Caring“, das die prekäre Arbeit und schwierige Lebenssituation von Reinigungskräften thematisiert.

Mit krassem Realismus will er uns eine soziale Klasse, die für die bürgerlichen Schichten der Theaterbesucher sonst ziemlich unsichtbar ist, näherbringen, sie aber nicht als Aussätzige vorführen, sondern als Menschen, die unsere Aufmerksamkeit verdienen, die uns daran erinnern, wie schnell es bergab gehen und unser schönes Leben im Mahlstrom des Turbo-Kapitalismus unter die Räder kommen kann. „Beyond Caring“ ist fundamentale Sozialstudie und Aufruf zur Mitmenschlichkeit, ohne die unsere gespaltene Gesellschaft vollends zerfallen würde.

Nachts in der Fleischfabrik

Wir begegnen den Putzkräften nachts in einer Fleischfabrik, es sind drei Frauen und zwei Männer. Jan ist ihr Vorarbeiter, Michael angestellte Teilzeitkraft, Sonja und Becky sind über eine Fremdfirma als „Sub-Unternehmerinnen“ angestellt, Ava kommt über eine Maßnahme des Arbeitsamtes: Die klassische Arbeitsgesellschaft mit gemeinsamen Interessen und gewerkschaftlicher Vertretung ist längst Schnee von gestern.

Kurze Pause von der Schufterei: Szene mit Kay Bartholomäus Schulze, Hevin Tekin, Jule Böwe. (Foto: © Gianmarco Bresadola / Schaubühne Berlin)

Ab und zu gibt es eine kleine Pause, dann blättern sie in Zeitschriften, essen, trinken, hören Musik, spielen mit dem Handy, reden nur das Nötigste. So geht das tagein, tagaus, immer reinigen sie die blutbesudelten Fleischmaschinen und verschmierten Wände, sammeln Müll ein, führen die gleichen Pausen-Gespräche. Immer hoffen wir vergeblich, dass sich etwas ändern möge, dass sie den Weg aus der sozialen Sackgasse finden, der Tristesse ihres Alttags entfliehen können.

Nur ein Moment der Anarchie

Einmal fallen in purer sexueller Not zwei Putzkräfte übereinander her, reißen sich die Kleider vom Leib, erleben einen kurzen Moment der Anarchie, bevor sie peinlich berührt auseinander driften. Aus dem Jammertal ihrer kaputten Existenz werden sie sich nicht befreien: Kein Ausweg, nirgends.

Spielfläche und Zuschauerraum sind von grellem Neon-Licht permanent ausgeleuchtet, alles ist jederzeit sichtbar, alles starrt vor Dreck und Blut, überall Fett- und Fleischreste, Plastik-Behälter mit Fleischkadavern, Reinigungsmitteln und Putzlappen. Manchmal rennt jemand hinaus auf die Straße, um sich Luft zu verschaffen oder eine Zigarette zu rauchen.

Der Fiesling, gegen den niemand ankommt

Der Vorarbeiter ist ein Wichtigtuer und Schwätzer, der allen das Leben zur Hölle macht. Gegen diesen Fiesling, der, wenn er nicht gerade sein Team mitleidlos zur Sau macht, sich auf seinem Handy an Pornos aufgeilt, kommt niemand an – weder die dünnhäutige Becky, die ihre Tochter so vermisst, noch die duldsame Ava, die sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten kann, und schon gar nicht die still leidende Sonja, die Vorräte hortet und sich zum Schlafen in die Fleischfabrik schleicht, weil sie keine Wohnung hat und eigentlich auch kein richtiges Leben.

Ein niederschmetternder Abend. Nirgendwo ein Funken Hoffnung. Was die fünf Akteure (Damir Avdic, Jule Böwe, Julia Schubert, Kay Bartholomäus Schulze und Hevin Tekin) leisten, verdient großen Respekt. Doch als Zuschauer dieser fast zwei Stunden währenden Tortur hilflos ausgesetzt zu sein, kann man auch, gerade in den emotional ohnehin schwierigen Zeiten von Krise und Krieg, als Bühnen-Qual empfinden.

Schaubühne: „Beyond Caring“, nächste Vorstellungen täglich vom 2. bis 5. Mai und vom 25. bis 29. Mai.

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„Nervös wie ein Rennpferd in der Startbox“ – Paul Auster umkreist Leben und Werk des fast vergessenen Stephen Crane

Die (post)moderne Literatur hat Paul Auster entscheidend beflügelt. Die „New-York-Trilogie“ hat ihm einen Platz in der Weltliteratur gesichert. Mit „4,3,2,1“ schrieb er sein Opus magnum. „In Flammen“ heißt sein neues Buch, das „Leben und Werk von Stephen Crane“ untersucht: die Biografie eines fast vergessenen Autors, der im Jahr 1900 – mit nur 28 – an Tuberkulose starb. Ein früh gereiftes Genie, das vielen ein Rätsel blieb.

Auster will Crane dem Vergessen entreißen, spiegelt sich im geheimnisvollen Leben und disparaten Werk des Autors, ohne den die US-Literatur und seine eigene nicht denkbar wären. Auster hat sich unter Kollegen und Kritikern umgehört und war verblüfft: Kaum jemand kennt heute noch den Namen des Autors, der wie ein Komet am Literaturhimmel erschien und dem Naturalismus und Realismus neue Dimensionen eröffnete. Kaum jemand hat je einen Roman oder eine Novelle des Autors gelesen, der eine zeitlang im tiefsten Elend in den Slums von New hauste und sich, weil er notorisch pleite war, als Kriegsreporter verdingte und mehrmals in Lebensgefahr geriet.

Im Roman „Die rote Tapferkeitsmedaille“ hat Stephen Crane den Krieg auf radikal neue Weise beschrieben. Die vom eigenen Schiffsuntergang und Überlebenskampf handelnde Novelle „Das Offene Boot“ hat später Hemingway zu seiner Erzählung „Der alte Mann und das Meer“ inspiriert. Crane ist „Amerikas Antwort auf auf Keats und Shelley, auf Schubert und Mozart“, sein Werk, so Auster, sei nicht gealtert: „Hundertzwanzig Jahre nach seinem Tod leuchtet die Flamme Stephen Cranes noch immer.“

Gealterter Schriftsteller bewundert junges Genie

Auster umzingelt Crane nicht als Wissenschaftler, sondern als alter Schriftsteller, der das Genie eines jungen Schriftstellers bewundert, der fasziniert ist vom widersprüchlichen Leben, den spontanen Wagnissen, der starrsinnigen Hingabe an die Berufung als Schriftsteller, an der Crane festhielt: vom ersten Gedicht, das er als Kind schrieb, über die ersten Zeitungsreportagen, die er als Jugendlicher verfasste, bis zum letzten Atemzug, den Crane in Deutschland tat: Gestorben ist Crane im Kurort Badenweiler, wo er vergeblich hoffte, die Flamme seines Lebens vor dem Verlöschen zu retten, und wo nur eine kleine Zeitungsnotiz von seinem Tod Kenntnis gab.

Als Joseph Conrad, Henry James und H. G. Wells, die Crane bewunderten, von seinem Tod erfuhren, waren sie tief erschüttert. Und Willa Cather, die mit Crane eine wilde, von einem Schneesturm umtoste Nacht verbrachte, meinte: „Er wirkte so nervös wie ein Rennpferd in der Startbox. Er war ein Mann, der mit einer plötzlichen Abreise rechnet. Nie habe ich einen Mann mit so bitterem Herzen gekannt, wie er es mir in dieser Nacht enthüllte. Es war eine Abrechnung mit dem Leben, eine Anrufung des Hasses.“

Unter Tage und in den Slums von New York

Wenn Crane einen Artikel über die Ausbeutung der Bergbauarbeiter schreibt, fährt er mit ihnen in die Schächte hinunter und atmet Staub. Wenn er seinen Roman über „Maggie, das Straßenmädchen“ schreibt, lässt er sich durch New Yorker Slums treiben. Auster zitiert Crane ausführlich, kommentiert jedes Wort und jedes Stilmittel, verbeugt sich vor der Genialität. Wenn Auster ein Foto abdruckt, ist das nicht bloße Illustration, sondern Anlass, sich in das Kind, den Jugendlichen, den Mann hinein zu fantasieren: Warum sind die Augen so düster, warum ist das Gesicht so grimmig? Was hat er gedacht, wie hat er gelebt, als diese Fotos gemacht wurden?

Auster gräbt sich in die Bücher hinein, liest „Die rote Tapferkeitsmedaille“ nicht als Roman über den Krieg, sondern als Studie über die Auswirkungen des Krieges auf einen jungen Mann, als psychologisches Porträt der Angst, die von Feigheit in Hass umschlägt. Alles, was einen Kriegsroman eigentlich ausmacht, lässt Crane weg: Wer warum und gegen wen kämpft, politische Fakten, militärische Ziele, nichts davon wird berichtet. Von Interesse ist nur das Innenleben von Henry Fleming, was in ihm vorgeht, während die Kameraden sterben, warum er die Flucht ergreift und dann doch voller Scham zurück in die Schlacht stolpert, sich nach einer blutenden Wunde sehnt, eben nach einer „roten Tapferkeitsmedaille“. Auster zeigt, wie Crane eine neue Ästhetik in die Literatur einführt, eine reale Schlacht des amerikanischen Bürgerkrieges in ein mythisches Ritual verwandelt, so wie er auch das reale New York in eine mythische Stadt verwandelt, einen fiktiven Ort des Grauens, durch den das Straßenmädchen „Maggie“ bei ihrem Überlebenskampf ziel- und sinnlos taumelt.

Ein atemloses Kapitel über 600 Seiten

Paul Auster rätselt, wie Crane es schafft, vieles gleichzeitig zu machen: reiten, reisen, schreiben, lesen, sich verlieben, rauchen, trinken, sich prügeln, einen Roman und nebenher unzählige Zeitungsartikel und Gedichte schreiben. Auster versucht, Ordnung ins Chaos zu bringen. Doch dann schreibt auch er alles gleichzeitig und ohne jede Pause: Im Kapitel „Tempo der Jugend“ werden über 600 Seiten atemlos die kreativsten Jahre Cranes und viele seiner Werke abgehandelt. Ohne irgendeine Zwischen-Überschrift. Als Leser versinkt man im Literaturmeer, so wie Crane, als sein Dampfer bei der Überfahrt nach Kuba unterging und er tagelang in einem Rettungsboot übers Meer trieb. Wer mit der Biografie arbeiten, etwas nachschlagen will, hat es nicht leicht. Aber wahrscheinlich will Auster zeigen, dass wir Crane nur verstehen, wenn wir nicht in der Asche herumstochern, sondern die ganze Flamme lodern lassen.

Paul Auster: „In Flammen. Leben und Werk von Stephen Crane.“ Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 1184 Seiten, 34 Euro.

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  • Geboren wurde Paul Auster 1947 in Newark/New Jersey.
  • Seit vielen Jahren lebt der mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt verheiratete Auster in New York.
  • Sein preisgekröntes Werk umfasst zahlreiche Romane, Essays, Gedichte und Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik.
  • Bekannt wurde der Autor, der auch als Filmemacher („Smoke“, „Lulu On The Bridge“) arbeitet, mit einer Serie von experimentellen Kriminalromanen („New-York-Trilogie“).
  • Immer wieder umkreist er in seinen vom französischen Strukturalismus beeinflussten Büchern die Rolle des Zufalls, der unser Schicksal bestimmt: In „4,3,2,1“ nimmt das Leben des Helden, je nachdem, wie der Zufall es will, vier verschiedene Richtungen und wird aus vier verschiedenen Perspektiven erzählt.



Wild wucherndes Roman-Gestrüpp – Hanya Yanagiharas „Zum Paradies“

Berühmt wurde Hanya Yanagihara mit dem Roman „Ein wenig Leben“. Jetzt hat die in New York lebende Autorin mit familiären Wurzeln auf Hawaii, die sich in ihren Büchern mit Missbrauch und Ausbeutung auseinandersetzt, einen 900-seitigen Roman veröffentlicht: „Zum Paradies“, ein wild wucherndes Gestrüpp literarischer Fantasien, eine Reise ins Herz der sozialen Abgründe und sexuellen Tabus.

Die Welt: eine Erfindung, die sich über 200 Jahre (mit Grüßen von Henry James) rund um den New Yorker Washington Square abspielt und drei Romanhandlungen zu einem riesigen Literaturberg aufstapelt. Einige Namen tauchen immer wieder auf, David, Charles, Edward, Bingham, Griffith, Bishop. Ob sie miteinander verwandt sind, bleibt ungewiss.

Die große Freiheit in New York

Der erste Teil spielt im Jahr 1893: New York hat sich von der Union abgespalten, Frauen und Männer, Ethnien und Religionen haben die gleichen Rechte, es ist erwünscht, dass homosexuelle Paare heiraten.

Im Mittelpunkt steht David Bingham, dessen Eltern früh starben und der jetzt bei seinem Großvater Nathaniel lebt, einem Mitbegründer des Freistaats, der für seinen homosexuellen Enkel eine standesgemäße Heirat mit Charles Griffith arrangieren will. Doch David mag den reichen, aufgedunsenen Witwer nicht, er ist verliebt in Edward Bishop, einem mittellosen Klavierlehrer, Luftikus und Lügner, der David überreden will, mit ihm nach Kalifornien zu flüchten, in ein Land, wo Homosexuelle verfolgt werden.

Von 1893 über 1993 bis ins dystopische Jahr 2093

Der zweite Teil spielt im Jahr 1993: Die AIDS-Epidemie fordert in der New Yorker Schwulen-Szene viele Tote: Charles Griffith, ein älterer Rechtsanwalt, lebt mit dem deutlich jüngeren David Bingham zusammen: David kommt aus Hawaii, ist Nachfahre einer verarmten Königsfamilie. Just am selben Tag, als Charles und David eine Abschieds-Party für einen todkranken Freund geben, erhält David einen Brief von seinem Vater, der seit Jahren auf Hawaii in einem Pflegeheim vor sich dämmert und in einem Moment geistiger Klarheit seinem Sohn erklärt, warum er ihn immer lieben wird und es gut heißt, dass er die Familie verlassen und seinen eigenen Weg gegangen ist.

Allgegenwärtige Pandemie, Internet abgeschaltet

Der dritte Teil führt ins Jahr 2093. Pandemien haben die Welt im Würgegriff, Amerika ist ein Überwachungsstaat: Das Internet ist abgeschaltet, es gibt keine Informationen, was in der Welt vor sich geht. Ein junge Frau, Charlie Griffith, berichtet von ihrem Alltag als Angestellte in einem Seuchen-Labor. Ihre Mutter hat die Familie verlassen. Ihr Vater, Mitglied einer Widerstandsgruppe, ist bei einem Anschlag gestorben. Ihr Großvater, Charles Griffith, hat das Regime lange bei der Pandemie-Bekämpfung beraten, bevor er in Ungnade fiel und hingerichtet wurde. Verheiratet ist Charlie mit Edward Bishop, einem Homosexuellen, der die Ehe als Tarnung nutzt, um in dem schwulenfeindlichen Staat nicht verhaftet zu werden. Eines Tages lernt Charlie einen Mann kennen: David, der angeblich von einem Freund ihres getöteten Großvaters geschickt wurde, um sie zu befreien. Alles nur Lüge?

Doch die Hoffnung stirbt zuletzt

Mit überbordender Fantasie führt uns Yanagihara durch einen literarischen Dschungel, beschreibt üppig die Lebensumstände und seelischen Abgründe ihrer Protagonisten, zeigt, wie schmerzlich Einsamkeit ist und Sehnsucht die Menschen auffrisst, dass uns Scham überfällt, wenn wir Familie und Kultur verleugnen und unsere Überzeugungen verraten. Auch wenn (mit Grüßen von Orwell und Huxley) unsere saubere, digitale Welt in einer ärmlichen, verseuchten Dystopie zu enden droht, so könnte doch auch alles ganz anders kommen: Am Ende eines jeden Teils bricht jemand in ein neues, unbekanntes Leben auf, macht einen ersten Schritt hin „zur Freiheit, zur Geborgenheit, zur Erhabenheit – zum Paradies“. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Hanya Yanagihara: „Zum Paradies“. Roman. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Claassen, Berlin 2022, 900 Seiten, 30 Euro.




„…hat es keinen Zweck etwas anzufangen, / nicht einmal einen Satz.“ – „Winterrezepte“ der Nobelpreisträgerin Louise Glück

Die Erinnerung scheint aus einem Traum oder Märchen zu stammen, nicht aus wirklichem Erleben: „Jedes Jahr, wenn der Winter kam, gingen die alten Männer / in den Wald, um Moos zu sammeln, welches / auf der Nordseite mancher Wacholdersträucher wuchs.“

Waren ihre Säcke voll, machten sie sich mühsam auf den Heimweg. Die Frauen fermentierten und präparierten das Moos, bestrichen es „mit wildem Senf und kräftigen Kräutern“, machten daraus ein belebendes Winterbrot. Sie verkauften die „in Wachspapier gewickelten Brote auf dem Marktplatz, / während der Schnee fiel“. Das Buch, in dem sie einst die Zutaten und die Zubereitung der Brote notierten, und das Buch, das die Lyrikerin jetzt mit ihren eigenen Worten nacherzählt, als würde sie einer fernen mythischen Zeit ihre Stimme verleihen, enthält „nur Rezepte für den Winter, wenn das Leben schwer ist. Im Frühling / kann jeder ein feines Mahl zubereiten.“

„Winterrezepte aus dem Kollektiv“ ist das Titel gebende Gedicht der Lyriksammlung, die Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück wie ein sanftes Ruhekissen, gefüllt mit zeitlosen Weisheiten und naturphilosophischen Reflexionen, dem Leser übereignet. Es ist das erste Buch der zurückgezogenen lebenden Dichterin, seitdem sie im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht. In ihrer US-amerikanischen Heimat ist sie längst eine feste literarische Größe, hierzulande aber noch immer ziemlich unbekannt und unverstanden.

Ob sich das jetzt ändern wird, scheint fraglich. Denn die Verse, die Louise Glück mit weltflüchtiger Fantasie und kontemplativer Verdichtung schmiedet, künden von depressiver Verstimmung und existenzieller Verlorenheit, oft nahe am Verstummen. Manchmal verrutschen der Dichterin auf der Suche nach einem Du und einem mitfühlenden Kollektiv auch die Bilder, schrammen nur knapp am Kitsch vorbei. Von Bonsai-Bäumchen („Wir haben sie ihres Ursprungs beraubt, / daher brauchen sie uns jetzt“) ist die Rede, von der untergehenden Sonne, von einer Reisenden, die, als die Freundin sie wortlos verlässt, in einem abgelegenen Hotel strandet und niemals ans Ziel kommt.

Ein „Concierge“ wird zum Zen-Meister des Wartens und der Reise ins eigene Selbst: „Du hast deine eigene Reise begonnen, / nicht in die Welt wie dein Freundin, sondern zu dir und deinen Erinnerungen.“ Als wäre das nicht schon esoterisches Geraune genug, ist die auf Erleuchtung hoffende und sich nach Erlösung sehnende Dichterin vom pseudo-chinesischem Gefasel ihres Meisters regelrecht verzückt: „Alles ist im Wandel, sagte er, und alles ist verbunden. / Auch kommt alles wieder, doch ist, was wiederkommt, nicht, / was ging.“

Immer wieder versucht die Stimme ihre geliebte Schwester und die Gegenwart ihrer verstorbenen Mutter heraufzubeschwören, gräbt aus der verschütteten Kindheit einen Tag im Park aus, hört den Wind rauschen, sieht sich im Blätterhaufen mit der Schwester herumtoben. Doch die Mutter weiß es besser und erinnert sich anders: „Ihr habt nie getobt. / Ihr wart brave Mädchen“. Die Zeit vergeht, die Erinnerung verblasst, die Wahrheit ist nur eine vage Vermutung, das Leben nur ein Warten auf den Tod: „Alles ist zu Ende, sagte ich. / Und ist das der Fall, / hat es keinen Zweck etwas anzufangen, / nicht einmal einen Satz.“

Doch dann beginnt sie wieder von neuem, spricht gegen das langsame Verdämmern an. Oft mit großer poetischer Anstrengung und musikalischem Gespür für den Klang der alltäglichen Sprache. Leider hat Übersetzerin Uta Gosmann kein Gefühl für den Rhythmus des mäandernden Erzähl-Flusses. Steifes Nacherzählen, statt freier Variation sklavische Worttreue. Zum Glück ist die mit chinesischen Schriftzeichen geschmückte Ausgabe zweisprachig. Das englische Original entschädigt für manchen Missgriff der knorrigen deutschen Sprach-Vergeblichkeit.

Louise Glück: „Winterrezepte aus dem Kollektiv“. Gedichte. Zweisprachig. Aus dem amerikanischen Englisch von Uta Gosmann. Luchterhand, München 2021, 80 Seiten, 16 Euro.

 




Trauma der Erinnerung – Anton Kusters‘ Fotografien des blauen Himmels über den Orten der Konzentrationslager

Das Werk des 1974 geborenen belgischen Fotokünstlers Anton Kusters kreist immer wieder um ein zentrales Thema: das Trauma der Erinnerung. Seine Bilder wollen Vergangenes wachhalten, wollen Vergessen und Verdrängen unmöglich machen. Anton Kusters hat sich mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auseinandergesetzt und will mit seinen Fotos an die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern eingesperrten und ermordeten Menschen erinnern: „1078 Blue Skies / 4432 Days“ nennt er sein Projekt, dessen Exponate im Holocaust Memorial Museum in Washington ausgestellt wurden und die jetzt auch in einem großformatigen Buch versammelt sind.

1078 Mal ist im Fotoband der blaue Himmel zu sehen – festgehalten und dokumentiert an exakt 4432 Tagen. Die Zahlen sind erdrückend, aber sie spiegeln die fürchterliche Realität der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie wider: Zwischen 1933 und 1945 existierten 1078 Konzentrationslager, ein perfides und effizientes System aus Gefangenschaft, Zwangsarbeit und Mord. Vom ersten bis zum letzten Tag dieses Vernichtungs-Systems, das Menschen wegen ihrer Religion oder Rasse, ihrer politischen Überzeugung oder sexuellen Neigungen einsperrte und ermordete, vergingen exakt 4432 Tage.

Sechs Jahre lang recherchiert

Anton Kusters ist an jeden Ort in Europa gereist, an dem sich eines dieser Lager befand, hat sich sechs Jahre lang auf Foto-Recherche begeben und präsentiert für jeden einzelnen Tag des nationalsozialistischen Terrors ein Foto, auf dem man nichts sieht als einen „blauen Himmel“. Kusters wollte verstehen, was geschehen war, als 1943 die SS zum Haus seines Großvaters kam und ihn deportieren wollte. Der Großvater konnte fliehen und überlebte, aber er sprach nie von diesem Trauma, bis er starb. Es schien, als würde er sich dafür schämen, überlebt zu haben, im Gegensatz zu den vielen Millionen Menschen, die ermordet und vergessen wurden und nur als ferne Erinnerung in alten Familiengeschichten auftauchen.

Kusters beschloss, zu allen Konzentrationslager zu fahren, sich – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Bild zu machen von den Orten des Schreckens, an denen das Unsagbare geschah. Er kannte, wie wohl die meisten, nur die großen Konzentrations- und Vernichtungslager: Dachau, Auschwitz, Mauthausen. Aber jedes große Hauptlager hatte auch temporäre Nebenlager, die heute kaum noch jemand kennt, an denen es keinerlei Spuren der Erinnerung und des Gedenkens gibt. Oft hat er dort nur einen Parkplatz oder einen Supermarkt gefunden: Wo früher Menschen eingesperrt und ermordet wurden, herrscht heute gedankenloser Konsum-Kapitalismus.

Auf den Fotos, die immer nur ein einziges Motiv zeigen – eben den „blauen Himmel“ – hat er die exakten GPS-Koordinaten der Orte vermerkt, damit niemand sagen kann, er wisse nicht, wo sie waren und wo er sie finden könne. Außerdem hat er die Opferzahlen auf den Fotos notiert. Auf manchen Fotos steht aber nur: „geschätzt“ oder „unbekannt“. Denn trotz intensiver Recherche ist es nicht gelungen, die Zahlen genauer zu bestimmen.

Keine technischen Hilfsmittel

Als Kusters das erst Mal die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau besuchte, war der Schrecken der Vergangenheit, das unfassbare Leid der Menschen, die hier eingesperrt und ermordet wurden, so erdrückend, hat ihn so sprachlos gemacht, dass er nur ein einziges Foto zustande brachte: eine verwackelte, überbelichtete Aufnahme des blauen Himmels über Auschwitz. Diesen Moment der Sprachlosigkeit angesichts des Grauens hat er als methodischen künstlerischen Fingerzeig empfunden und für alle anderen Orte und Fotos beibehalten, die er mit seiner Polaroid-Kamera gemacht hat, ohne weitere technische Hilfsmittel, Belichtungsmesser und Zoom.

Wir sehen immer nur einen schnellen, improvisierten Schnappschuss vom blauen Himmel, mal von Wolken verschleiert, mal im Morgen-, mal im Abendlicht, mal etwas heller, mal etwas dunkler. Der blaue Himmel ist immer von einem kleinen schwarzen Kranz umhüllt, als hätte ein Eingesperrter und dem Tode Geweihter einen verbotenen Blick durch das Schlüsselloch oder durch einen Spalt in der Lager-Baracke ins Freie gewagt. Es sind abstrakte Bilder, sie erzählen von Leere und Unendlichkeit, von der Hoffnung, dass es ein Morgen geben könnte, ein Über- oder Weiterleben, dass da draußen noch etwas existieren möge, das an Vernunft und Humanität erinnert.

Polaroid-Bilder, die schnell verwittern

Mal ist nur ein einziges Foto auf einer Buchseite abgedruckt, mal vier, fünf oder sechs, mal auf weißem, mal auf blauem, mal auf braunem oder schwarzem Hintergrund. Und obwohl alle das selbe Motiv haben, gleicht kein Foto dem anderen. Im Buch sieht man Drucke von Polaroid-Fotos, die schnell verwittern und sich irgendwann ins Nichts auflösen: ein Hinweis, wie Kusters verstanden werden will und wie er sich eine Erinnerungskultur vorstellt. Die Polaroid-Fotos reflektieren das Licht, haben eine spiegelnde Oberfläche: Der Betrachter kann sich in den Fotos spiegeln und sowohl über die Bilder als auch über seine eigenen Gefühle nachdenken. Es gibt keinen erklärenden Kommentar, nur die Fotos und die nackten Zahlen, die GPS-Daten der Orte und die Opferzahlen.

In einem Interview hat Kusters gesagt, er plane, die Polaroids an einem festen Ort zu installieren, dort Klimabedingungen zu schaffen, in denen Bilder innerhalb von 13 Jahren verwittern: Die Installation von 4432 Tagen würde genauso lange existieren wie die Zeitspanne von der Eröffnung des ersten Konzentrationslagers 1933 bis zur Schließung des letzten 1945.

Anton Kusters: „1078 Blue Skies / 4432 Days“. Kehrer Verlag, Heidelberg / Berlin 2021, 1078 Farb-Fotos von Anton Kusters, Texte von Jane E. Klinger, Fred Ritchin, Joan M. Walker, 444 Seiten, 80 Euro.

 

 

 




„Ohne Schreiben hätte es kein Leben gegeben“ – Zum 70. Geburtstag von Hanns-Josef Ortheil

Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Er schreibt Romane, Essays, Reisenotizen und Bücher über Musik. Das Gesamtwerk des am 5. November 1951 in Köln geborenen Hanns-Josef Ortheil umfasst bisher siebzig Werke. Zum 70. Geburtstag des viel gelesenen Autors, dessen Werk mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, kommen zwei weitere Bücher hinzu.

Hanns-Josef Ortheil auf der Buchmesse 2016. (Foto: Released by Verlagsgruppe Random House / Wikimedia) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

„Ombra“ ist der „Roman einer Wiedergeburt“. Denn vor zwei Jahren war der Autor dem Tod näher als dem Leben. Er hatte bereits das Gefühl, von seinen verstorbenen Eltern und toten Geschwistern erwartet und willkommen geheißen zu werden. Dass die toten Familienmitglieder ihm nahe sind, wissen wir aus vielen seiner Bücher. Aber ihnen tatsächlich wieder zu begegnen, war dann doch ein Schock.

Bei einer Routine-Kontrolle hatte sein Hauarzt eine schwere Herzinsuffizienz festgestellt. Die anschließende Operation verlief nicht ohne Komplikationen und dauerte viele Stunden. Danach lag Ortheil mehrere Tage im Koma, sein Leben stand auf der Kippe. Erst als ihn die Ärzte anbrüllen, er solle doch endlich aufwachen, schlägt er verdutzt die Augen auf und fragt in seinem leichten ironischen und larmoyanten Tonfall, den wir so an ihm schätzen: „Warum um Himmels willen schreien Sie denn so?“

Vor und nach der schweren Krankheit

In seinem Roman literarisiert und fiktionalisiert Ortheil, was ihm widerfahren ist, was er erlebt hat im Reich der Toten und wie seine schwierige Wiedergeburt vonstatten ging. Ihn überkommt ein Gefühl der Ohnmacht und Angst. Alles, was sein Leben ausmacht, ist ihm abhanden gekommen: Seit frühester Kindheit hat er jeden Tag Klavier gespielt und jeden Tag einige Sätze aufgeschrieben, viele seiner Romane beruhen auf diesen Kindheitsnotizen, die er immer mit der Hand und mit dem Bleistift auf weißes Papier skizziert, bevor er sie überarbeitet und fein säuberlich abtippt.

Doch nun hat er keine Kontrolle mehr über seine Hände und Finger, er muss alles neu lernen, kann nicht mehr schreiben und Klavier spielen, muss herausfinden, wie es zu der schweren Krise gekommen ist, wer er vor der Krankheit war und wer er in Zukunft – falls es sie überhaupt gibt – sein will. Er zieht ins verwaiste Haus der Eltern im Westerwald und fährt jeden Tag in eine Reha-Klink, treibt dort Sport, Joga und Gymnastik und macht dabei (auch das beschreibt er mit herrlicher Selbstironie) eine ziemlich lächerliche Figur. Außerdem spricht er mit der Reha-Psychologin, die ihn auf seinem Weg in die Abgründe seines Lebens begleitet und manche verdrängte Einsicht zutage fördert.

Nach und nach wird ihm klar, dass er ein Opfer seiner Schreib-Wut ist, dass er allein in den Monaten vor der Krise drei Bücher geschrieben hat, die ihn an tiefe Ängste und Erlebnisse seines Lebens erinnert und ihn regelrecht krank gemacht haben. Eines handelt von der „Mittelmeerreise“, die er als Kind mit seinem Vater unternommen hat, mit dem Dampfer von Antwerpen nach Athen und Istanbul, im Gepäck Homers „Odyssee“, die er heute noch auswendig aufsagen kann, eine Reise, die ihm geholfen hat, das Verstummen zu überwinden. Denn Ortheil wurde von seiner Mutter, die vier Kinder verloren hatte und kein Wort mehr sprach, komplett von der Welt abgeschirmt, so dass er als Kind ebenfalls verstummte und nur durch die zupackende Art seines Vater und die Aufforderung, alles was er sieht und denkt, aufzuschreiben, gerettet wird.

Mit einem Hemingway-Buch in die Krise

Direkt in die Krise geführt, und das wird Ortheil jetzt klar, hat ihn sein Buch über Ernest Hemingway, „Der von den Löwen träumte“: Ortheil reist auf den Spuren von Hemingway, der seit Jahren keinen Roman mehr zustande gebracht hat, nach Venedig, redet mit Zeitzeugen, schippert durch die Lagune, übernachtet in der Herberge, in der Hemingway 1948 schlief. Er rekonstruiert den Roman, den Hemingway hier endlich schreiben konnte: „Über den Fluss und in die Wälder“. Ortheil identifiziert sich mit der Hauptfigur des Romans, einem herzkranken Soldaten, und merkt nicht, dass er selbst eine Herzkrankheit entwickelt, die ihn fast umbringt, und die er nun verstehen und – am besten schreibend – überwinden muss.

Aber weil die Finger ihm nicht gehorchen und er nicht mehr schreiben kann, diktiert er alles, was er in der Reha erlebt und was er ausbaldowert, um ins Leben zurückzufinden, in sein Smartphone. Abschreiben und literarisch umformen kann er es erst, nachdem er (auf Anregung seiner Psychologin) Stifte und Papier besorgt und einfache Malübungen macht, Striche zieht, Buchstaben kritzelt, bis daraus, nach Monaten, wieder so etwas wie eine eigene Handschrift wird.

Hilfreich ist auch, dass er seine Selbst-Isolation aufgibt, mit seinem besten Freund ein paar Kölsch kippt, eine Rembrandt-Ausstellung besucht, versuchsweise den Sendesaal des WDR betritt, in dem er bald aus seinem Hemingway-Roman vorlesen soll. Er stellt sich der Vergangenheit, indem er im Viertel seiner Kölner-Kindheit eine Bleibe sucht und im Ort, wo seine Eltern bis zu ihrem Tod gelebt haben, eine Ladenwohnung mietet und dort alte Möbel, Fotos und Notizen zu einem öffentlich zugänglichen Ortheil-Archiv zusammenstellt. Als er die Reha beendet, rät ihm seine Psychologin, es wäre vielleicht hilfreich, wenn er mit jemandem, der seine Bücher kennt, über sein manisches Schreib-Bedürfnis spricht.

Das Ende des Romans führt deshalb direkt zum nächsten Buch: „Ein Kosmos der Schrift“, ein dreitägiges Gespräch über die Autobiographie seines Schreibens von der Kindheit bis heute, das Ortheil mit seinem Lektor Klaus Siblewski geführt hat und in dem Ortheil zur Erkenntnis gelangt: „Das Schreiben war immer notwendig und existenziell. Ohne Schreiben hätte es kein Leben gegeben. Es war der Kommentar zum Leben, seine Verankerung, seine Vertiefung, seine Deutung.“

Hanns-Josef Ortheil: „Ombra“. Roman einer Wiedergeburt. Luchterhand, München 2021, 299 Seiten, 24 Euro.

„Ein Kosmos der Schrift“. Hanns-Josef Ortheil zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Imma Klemm. btb, München 2021, 364 Seiten, 12 Euro.




Durch Apps die Welt beherrschen – Dave Eggers konstruiert mit seinem Roman „Every“ eine digitale Dystopie

Sie heißen „TellTale“ und „TruVoice“, „OwnSelf“ und „HappyNow“, „Should I“ und „Friendy“: nur einige von unzähligen kostenlosen Apps, die demnächst jeder Mensch auf seinem Smartphone hat. Sie machen aus dem Leben ein Rundum-Sorglos-Paket. Helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen und uns ständig selbst zu optimieren.

Viel mehr noch: Sie beraten uns beim Einkauf, reduzieren das Überangebot und verbannen umweltschädliche Produkte. Sorgen dafür, dass unser CO2-Fußabdruck kleiner wird und wir durch bewussten Verzicht und Ressourcen schonendes Handeln das Klima retten. Verraten uns, ob wir glücklich sind und vermeintliche Freunde uns nur etwas vorflunkern. Sie hören mit und sprechen mit uns, sie wissen, was wir denken und fühlen und geben uns Ratschläge, welche Wörter diskriminierend und tunlichst zu vermeiden sind. Eine App („WereThey?“) kann ermitteln, ob unsere Eltern immer gut zu uns waren, eine andere („FictFix“) ist behilflich, unsympathische Figuren aus Romanen zu entfernen. Mit „EndDis“ können Archivare unangemessene Bilder und Texte für immer löschen.

So sieht sie aus, die schöne neue Welt, die da draußen wartet, nur ein paar Monate oder Jahre entfernt. Oder ist sie vielleicht schon da? Gibt es überhaupt noch ein „Draußen“? Wozu sollten die Menschen noch vor die Tür gehen, wenn ihnen alles ins Haus geliefert wird, wenn sie Urlaubsreisen nur noch per Video-Guide mit dem Smartphone machen, sie auf der Straße oder in der U-Bahn jeden Unbekannten mit einer App taxieren können, ob er ein Vergewaltiger oder Mörder ist?

Alle Konkurrenten geschluckt

„StayStil“ heißt eine zig-millionenfach benutzte App, die von „Every“ entwickelt wurde, dem digitalen Mega-Monopol: größte Suchmaschine, größter Social-Media-Anbieter, größter Software-Entwickler, größtes Onlineversandhaus der Welt. „Every“ hat alle Konkurrenten geschluckt und kauft jede Woche unzählige Start-Ups dazu. Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft: alles Schnee von gestern. „Every“ kontrolliert die Gedanken und die Wünsche. Natürlich auch die Politik. Wer Kritik an „Every“ übt, digitale Regulierungsmaßnahme fordert und die Freiheit des Individuums anmahnt, wird über die sozialen Netzwerke sofort in die Hölle des Vergessens verbannt.

Gegen die gefährliche Machtfülle von „Every“ war die Zukunftsvision von „Circle“ nur ein ein harmloses Vorspiel: der sektenartige „Circle“ ist, so will es Autor Dave Eggers, von „Every“ einverleibt und ausgespuckt worden worden. Weil auch in der realen Welt alles noch viel schlimmer gekommen ist, als er es in seiner (allein im deutschsprachigen Raum über 600.000 Mal verkauften) „Circle“-Science-Fiction prophezeite, hat er jetzt seinen futuristischen Horror weitergedacht, das lockere Fäden-Logo von „Circle“ zum kompakten „Wollknäuel“ verdichtet, aus dessen Zentrum uns ein Auge anstarrt. Es registriert und bewertet alles. Wahrscheinlich auch die Lektüre des Romans.

Nur ein Abklatsch von Orwell und Huxley

Dass wir von Seite zu Seite genervter und gelangweilter sind, wird dem alles sehenden Wollknäuel nicht gefallen. Aber was sollen wir machen: Ein Ziegelstein-dicker Roman, der sich anschickt, Orwells analoge Alpträume ins digitale Zeitalter zu verlegen und uns vor dem endgültigen Sieg von Huxleys furchterregend schöner neuer Welt warnt, kann nur ein matter Abklatsch werden. Vor allem, weil Eggers keine Figuren aus Fleisch und Blut erfindet, die einen mitleiden lassen, keine Handlung, die einen emotionalen Schock entfacht oder einen intellektuellen Denkraum aufschließt, keine Sprache, die einen fasziniert und betört und zum Durchhalten animiert. Stattdessen nur Digital-Talk, endloses Gequassel über neue Apps und weitere Möglichkeiten, den Terror der Transparenz auf die Spitze zu treiben und den gläsernen Menschen zu kreieren, der sich in einer chaotischen, von der Klimakatastrophe Welt bedrohten Welt nach Ordnung und Sicherheit sehnt und bereit ist, seine Freiheit aufzugeben und an „Every“ abzutreten.

Doch wer ist „Every“, was will der neue digitale Welt-Herrscher? Wie könnte man seine Macht brechen und das Monstrum zerstören? Delaney Wells, ehemalige Försterin und unerschütterliche Technikfeindin, will das herausfinden, den Konzern unterwandern und vernichten. Sie schleust sich ins System ein, wird Mitarbeiterin bei „Every“, dessen Zentrale auf einer Insel in der Bucht von San Francisco liegt. Sie füttert die Firma mit Ideen, regt neue Apps an, von denen sie hofft, sie würden die User zum Widerstand anregen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Den Menschen gefällt es, von „Every“ in jeder Lebenslage beraten und bespielt, beschützt und beglückt zu werden: „Geheimnisse sind Lügen“ lautet eine der „Every“-Parolen. Weg also mit allen Geheimnissen, Unsicherheiten und Unwägbarkeiten.

Bevölkert von seelenlosen Mutanten

Glauben Delaney und ihr verträumter Computer-Freund, der zottelige Späthippie Wes Kavakian, wirklich, „Every“ von innen heraus zerstören zu können? Dass es bei „Every“ eine „Widerstandsgruppe“ geben könnte, die nicht schon längst erkannt und infiltriert wurde? Wo Apps herrschen, brauchen keine Bücher und Menschen bei einer Temperatur von Fahrenheit 451 verbrannt werden. Aber natürlich platzen in diesem literarisch völlig substanzlosen Roman alle Träume von einer besseren Welt und enden in der digitalen Dystopie.

Hätte der vom technischen Firlefanz zugleich faszinierte wie erschrockene Autor nicht über unzählige Seiten Dutzende Apps erfunden und beschrieben, wäre ihm vielleicht ein spannender, aufrüttelnder Roman gelungen, bevölkert nicht von digitalen Mutanten, sondern von richtigen Menschen. Keiner, sagt einmal ein „Everyone“, die für das Kürzen und Aktualisieren von Literatur zuständig sind, will einen Roman lesen, der länger ist als 577 Seiten. Hätte fast gepasst. Mit Dank, Inhalt, Hinweis zum Autor und auf den von ihm gegründeten Verlag McSweeey´s sind es denn doch leider ein paar Seiten mehr geworden.

Dave Eggers: „Every“. Roman. Aus dem Englischen von Klaus Zimmermann und Ulrike Wasel. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, 583 S., 25 Euro.

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Dave Eggers und seine Vetriebskanäle

Die Bücher von Dave Eggers, geboren 1970, werden viel und kontrovers diskutiert. Sein Roman „Der Circle“ war weltweit ein Bestseller. Der Roman „Hologramm für den König“ war für den National Book Award nominiert, für „Zeitoun“ wurde ihm der American Book Award verliehen. Die Originalausgabe von „Every“ erscheint in den USA nur in dem von Eggers gegründeten unabhängigen Verlag „McSweeney´s“. Bei Amazon und anderen Handelsketten ist er zunächst nicht verfügbar. Taschenbuch, E-Book und Hörbuch erscheinen einige Wochen später im amerikanischen Verlag Vintage und werden dann auf allen Kanälen verkauft. Da die britische Ausgabe schon jetzt im deutschsprachigen Raum verfügbar ist, kann auch Kiepenheuer & Witsch den Roman vertreiben. (FD)

 




Imaginäre Begegnungen zwischen Ikonen der Geistesgeschichte – Herfried Münklers Buch „Marx, Wagner, Nietzsche“

Herfried Münkler ist einer der bekanntesten Professoren Deutschlands. Wann immer über ideologische Verwerfungen, historische Katastrophen und aktuelle Kriege diskutiert wird, ist seine Meinung gefragt. Ob „Die Deutschen und ihre Mythen“ oder „Der Große Krieg“ – die Bücher des Politik-Wissenschaftlers stehen auf der Bestseller-Liste. Jetzt hat Münkler drei Ikonen der deutschen Geistes- und Kultur-Geschichte vereint: „Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch.“

Die ambivalenten Biografien der drei Geistesgrößen, ihre Alltagssorgen und Geldnöte, ihre politischen Analysen, musikalischen Revolutionen, philosophischen Innovationen: alles scheint längst bis ins letzte dunkle Geheimnis und verwirrendste Detail ausgedeutet. Gesellschaftsanalyse und Kapitalismuskritik von Marx; die Idee des kunstreligiösen Gesamtkunstwerks von Wagner; die Vorstellung von individueller Freiheit und Umwertung aller Werte durch den von Kunst beseelten Übermenschen von Nietzsche: tausendfach durch dekliniert. Das weiß natürlich auch Münkler. Deshalb verwickelt er die drei in ein imaginäres Gespräch.

Für Marx war Bayreuth ein „Narrenfest“

Aber Marx und Wagner sind einander nie begegnet. Nur einmal hat sich Marx, als er 1876 auf dem Weg zur Kur nach Karlsbad war und bei einer Zwischenstation in Nürnberg kein Zimmer bekommen konnte, fürchterlich geärgert, weil die Stadt – wie Marx ätzte – überschwemmt sei von Leuten, „die sich von dort aus zu dem Bayreuther Narrenfest des Staatsmusikanten Wagner begeben wollten.“ Am Kurort angekommen, schreibt Marx an seinen Freund Engels: „Allüberall wird man mit der Frage gequält: Was denken Sie von Wagner?“ Marx dachte nichts über Wagner, er war ihm völlig schnuppe. Der Musikgeschmack von Marx war zu konventionell, um die kompositorischen Neuerungen Wagners auch nur ansatzweise erfassen zu können.

Auch das individualpsychologische und kunstphilosophische Werk Nietzsches hat Marx weder zur Kenntnis genommen noch irgendwo kommentiert. Bei Wagner und Nietzsche liegt der Fall anders: Nietzsche hat Wagner erst glühend verehrt und in ihm den Retter des dionysischen Geistes gesehen, der einen neuen Kunst-Kult erschaffen und Deutschland zu einem aus antiken Ruinen wieder auferstandenen Griechenland machen könnte. Dass sich Nietzsche später von Wagner entfremdete, von seinem großbürgerlichen Lebensstil und seinem Antisemitismus angeekelt war, steht auf einem anderen Blatt.

Posthume Verfälschung der Werke

Münklers Buch ist der Versuch, Marx, Wagner und Nietzsche vom Kopf auf die Füße zu stellen, aufzuzeigen, dass Marx mit dem Realen Sozialismus nichts am Hut gehabt hätte und von Stalins Schergen an die Wand gestellt worden wäre; dass Wagners Antisemitismus zwar etwas Verwerfliches und Nietzsches Kunst-beseelter Übermensch etwas Wahnwitzes hatte, dass beide aber im Grabe rotieren würden, wenn sie wüssten, dass der eine zum Lieblings-Musiker von Hitler und der andere zum Vordenker des Faschismus vergewaltigt wurde.

Münkler konzentriert sich auf so genannten „Knoten“, Punkte, in denen die Biographien der drei sich berühren, Ereignisse, die für alle drei von besondere Bedeutung sind. Einer dieser „Knoten“ ist Bayreuth 1876, wo der vorbei reisende Marx sich über die vielen Wagner-Fans ärgerte und Nietzsche sich von Wagner nicht genügend gewürdigt fühlte, enttäuscht von den Festspielen abreiste und fortan zum Wagner-Hasser mutierte.

Knotenpunkte der Geschichte

Auch der deutsch-französische Krieg von 1870/71 ist ein „Knoten“, der Wagner in seiner Deutschtümelei bestärkte und von der Zerstörung des verhassten Paris träumen ließ, während Nietzsche sich erst freiwillig als Sanitäter meldete und später um das von der Pariser Commune zerstöre kulturelle Erbe fürchtete. Marx dagegen sah als Diagnostiker auf den Krieg und die Niederschlagung des Aufstands und entwickelte aus seinen Analysen eine neue Sicht auf die Rolle der deutschen Arbeiterklasse. Die Revolution von 1848/49 ist ein weiterer „Knoten“: Wagner hat als Hofkapellmeister zusammen mit seinem Anarchisten-Freund Bakunin auf den Dresdner Barrikaden gekämpft, Marx als Chefredakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung“ die Politik mit journalistischen Mitteln begleitet: beide, Wagner und Marx, gingen nach dem Scheitern der Revolution ins Exil.

Für Nietzsche, damals noch ein Kind, blieb die Revolution folgenlos, sie war für ihn nie ein Thema. Der Antisemitismus ist ein „Knoten“ und Anlass, nach entsprechenden Belegen zu suchen, zu zitieren, wie Marx in privaten Briefen seinen Widersacher Lassalle wegen seines „jüdischen Aussehens“ beleidigte; Anlass auch, ausführlich zu diskutieren, ob Alberich im „Ring“, Beckmesser in den „Meistersingern“ und Kundry im „Parsifal“ als Juden-Stereotype anzusehen sind, und was es bedeutet, wenn Nietzsche die Juden als Urheber des „Sklavenaufstands in der Moral“ tituliert.

„Begleiter im 21. Jahrhundert“?

Münkler umkreist Themen wie die Wiedergeburt der Antike, Krankheit und Schulden, gescheitere Revolution und gelungene Reichsgründung, Bourgeoisie und Proletarier, die europäischen Juden und die Umsturzprojekte mittels Kunst und neuer Werte-Ordnung. Er fahndet nach Zitaten und biografischen Daten, versucht das Werk der drei Protagonisten zu entwirren, auf seinen unverfälschten Kern zurück zu führen und als Wegweiser vom 19. Jahrhundert in die Gegenwart zu deuten. Eine Sisyphusarbeit.

Zum Schluss schreibt Münkler, „alle drei miteinander ins Gespräch gebrachten Denker (sind) im 21. Jahrhundert angekommen – und haben hier, nach hochideologischer Auslegung ihrer Werke im 20. Jahrhundert, wieder zu sich selbst gefunden. Einer Welt im Umbruch entstammend, können sie zu Begleitern im 21. Jahrhundert werden, ebenfalls eine Welt im Umbruch.“ Wie diese „Begleitung“ aussehen, welche Themen für die Lösung der heutigen Probleme wichtig sein könnten, das hätte man doch gern etwas genauer gewusst. Doch darüber schweigt sich der sonst so beredte Münkler leider beharrlich aus.

Herfried Münkler: „Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch“. Rowohlt Berlin 2021, 720 Seiten, 34 Euro.

 




„Flüchtiges Begehren“: Mit dem 30. Fall bereitet Donna Leon ihren Commissario Brunetti auf den Abschied vor 

Wir müssen uns Donna Leon als glücklichen Menschen vorstellen. Nachdem die US-Amerikanerin einige Jahre um den Globus getingelt war und sich in verschiedenen Jobs ausprobiert hatte, fand sie in Venedig ihr privates Paradies und beschloss, Schriftstellerin zu werden.

Geschichte und Gegenwart der einstigen Handelsmetropole, das trübe Wasser der Lagune, die verwinkelten Gassen und der schöne Schein der Serenissima: genau der richtige Ort, um über Macht und Mafia und die Verbrechen nachzudenken, die aus Neid und Gier, Liebe und Hass begangen werden. Mit der Erfindung des unbestechlichen Commissario Brunetti, der sich schlafwandlerisch durch das labyrinthische Venedig bewegt, seine Familie abgöttisch liebt und sich in die Lektüre der alten Klassiker vertieft, um die menschlichen Abgründe besser verstehen zu können, gelang ihr auf Anhieb mit „Venezianisches Finale“ der Durchbruch zur Besteller-Autorin.

Um ihren Leidenschaften zu frönen, barocke Ensembles zu alimentieren und der geliebten Musik von Georg Friedrich Händel zu lauschen, wo immer sie zur Aufführung kommt, musste sie „nur“ jedes Jahr einen neuen Brunetti-Krimi schreiben. Die spezielle Melange aus venezianischem Flair, sanfter Ironie und einem Setting mit dem immer gleichen Personal (die kluge und warmherzige Gattin Paola, die engagiert-aufbrausende Tochter Chiara, der rebellisch-pfiffige Sohn Raffi, der beharrlich-bauernschlaue Mitarbeiter Vianello, die Internet-affine Elettra, der dumpfbackig-eitle Vorgesetzte Patta) war stets Garant für gute Unterhaltung. Dass der Autorin allmählich (beim 30. Fall) die Puste ausgeht und sie der Stadt Venedig und ihres sympathischen Commissario überdrüssig scheint, ist ebenso bedauerlich wie verständlich.

Es beginnt mit harmlosen Flirts

Der neue Band „Flüchtiges Begehren“ ist angekränkelt von menschlicher Trübsal und literarischer Trauer: Abschied liegt in der Luft, das Ende scheint nahe. Das spürt auch Brunetti. Er schleppt sich nur noch lustlos ins Büro. Er blättert in den Zeitungen, trinkt einen Espresso nach dem anderen. Wartet auf den Dienstschluss. Dass sich etwas menschlich Fehlbares ereignet, das sich bald zu einem widerlichen Abgrund weiten wird, merkt Brunetti erst, als ihn seine neue Mitarbeiterin, Claudia Griffoni, darauf hinweist. Sie ist kürzlich von Neapel nach Venedig versetzt worden, sorgt für Frauen-Power und verdrängt allmählich den Kollegen Vianello, der nur noch als Nebenfigur schattenhaft durch den Roman geistert.

Die kriminalistischen Verwicklungen beginnen ganz harmlos. Zwei venezianische Burschen flirten auf dem Campo Santa Margherita mit zwei jungen amerikanische Touristinnen, unternehmen mit dem Boot eine Spritztour durch die Lagune. In der Dunkelheit rammen sie einen Pfahl, stürzen durcheinander und verletzten sich schwer. Die verängstigten Männer legen die bewusstlosen Frauen auf einem Steg des Hospitals ab, bevor sie das Weite suchen. Entdeckt werden die Frauen nur, weil ein Krankenhausmitarbeiter nachts auf dem Steg eine Zigarettenpause macht. Die beiden Flüchtigen sind schnell ermittelt. Doch was steckt hinter dem Unfall und dem befremdlichen Verhalten der Männer? Was verschweigen die beiden? Wovor haben sie Angst?

Wer ist überhaupt frei von Mafia-Kontakten?

Um Licht ins Dunkel zu bringen, müssen Brunetti und Griffoni das Leben der beiden jungen Männer durchleuchten, die schon zusammen die Schulbank gedrückt haben und mehr als nur kumpelhafte Freundschaft füreinander empfinden. Der eine, Berto Duso, ist inzwischen Jurist, der andere, Marcello Vio, ist Handlanger seines Onkels, Pietro Borgato, der ein paar Boote besitzt, mit ihnen Waren durch die Lagune schippert und schon öfter ins Fadenkreuz der Hafenpolizei geraten ist. Doch bisher konnte man dem gewalttätigen Borgato nicht stichhaltig nachweisen, dass er Kontakte zur Mafia unterhält und sich als Schmuggler betätigt.

Bis Brunetti das Geheimnis von Berto und Marcello lüften kann und herausfindet, warum sich die beiden vor Borgato fürchten und in welche schändlichen Verbrechen der Bootsbesitzer verwickelt ist, vergehen Tage und Wochen. Aqua Alta, das herbstliche Hochwasser, schwappt durch Venedig, kalter Nebel legt sich wie ein grauer Schleier über die vom Massentourismus verschandelte Stadt. Brunetti verzettelt sich in einfühlsame Gespräche mit den beiden verschreckten Jungs und führt langwierige (und langweilige) Besprechungen mit Küstenwache und Carabinieri der Inseln. Wem kann er trauen und wer ist frei von Mafia-Kontakten?

Ein Wiedergänger des Sisyphos

Es ist ein Buch des Grübelns und Zweifelns. Lange bewegt sich fast gar nichts. Brunetti ist von Gott und der Welt verlassen, er wartet nur noch darauf, entweder sanft zu entschlafen oder endlich den gordischen Knoten des menschlichen Elends durchschlagen zu können. Auf einen langen, zähen Stillstand folgt irgendwann ein kurzes, tödliches Finale. Zurück bleibt Brunetti, der den Stein wieder allein den Berg hinauf rollen muss. Doch als glücklichen Menschen können wir ihn uns kaum mehr vorstellen. Eher als einen melancholischen Wiedergänger von Sisyphos, der kurz davor ist, alles hinzuschmeißen und für immer seinen Abschied zu nehmen.

Donna Leon: „Flüchtiges Begehren“. Commissario Brunettis dreißigster Fall. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich 2021, 315 S., 24 Euro.

(Auch das Hörbuch, gelesen von Joachim Schönfeld, ist bei Diogenes erschienen. Preis: 21,99 Euro in CD-Form, 528 Minuten)




„Ein leuchtender Teil Amerikas“ – Zum 80. Geburtstag von Bob Dylan

Ein geradezu ikonenhaftes Bild aus den alten Zeiten: Bob Dylan mit Joan Baez, am 28. August 1963 beim Civil Rights March nach Washington, D. C. (Foto: Rowland Scherman / U. S. National Archives and Records Administration / gemeinfrei – public domain)

Das Fachmagazin „Rolling Stone“ listet Bob Dylan auf Platz 2 der „größten Musiker“ und auf Platz 1 der „bedeutendsten Songwriter aller Zeiten“. Mit seiner Musik und Poesie hat er Generationen begleitet und geprägt.

Manchen gilt er als Friedensapostel, anderen als Bürgerschreck. Doch für Bob Dylan, der am 24. Mai 1941 als Robert Allen Zimmerman in Duluth/Minnesota geboren wurde, gibt es keine passende Schublade. Er macht, was ihm gefällt, ist nie da, wo man ihn vermutet. Während andere Künstler sich zur Ruhe setzen, ist Bob Dylan, der als erster Musiker den Literaturnobelpreis bekam, seit Jahren auf einer „Never Ending“ Konzert-Tour“. Zum 80. Geburtstag erscheinen zwei Bücher, die sein Leben und Werk würdigen: „Look Out Kid“ und „Forever Young“.

Immer wieder ins Grübeln kommen

„Look Out Kid“ ist eine mehrfach wiederholte Zeile aus dem Song „Subterranean Homesick Blues“. In diesem „Unterirdischen Heimweh-Blues“ werden seltsame Gefahren zu einem Alptraum vermengt, die Zuhörer werden immer wieder gewarnt: „Look Out Kid“, Pass auf! Sieh dich vor! Sei vorsichtig, sonst bekommst du Prügel! So wie mit diesem surrealen Song geht es oft: Man kommt bei den Liedern immer wieder ins Grübeln, erklärt sie sich immer wieder anders, wird sie nie richtig verstehen, bekommt sie aber nicht aus dem Kopf. Deshalb hat Autor Maik Brüggemeyer einige Kollegen gebeten, sich einen Song von Dylan auszusuchen, der sie seit langem begleitet, verzaubert, ärgert. Entstanden sind Texte, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Bekenntnisse, Reiseberichte, Reportagen, Erzählungen, eine Dylan-Hommage mit 20 verschiedenen Stimmen.

Das Dylan-Buch von Stefan Aust und Martin Scholz, erschienen bei Hoffmann und Campe.

Stefan Aust und Martin Scholz gehen einen anderen Weg, um Zeitlosigkeit und Unsterblichkeit von Dylan zu beweisen: Den Song „Forever Young“ kennt jeder, und „Für immer jung“ bleibt Dylan für viele Musiker, Schriftsteller, Politiker, die berichten, warum sie nicht von seinen Liedern lassen können. Zu ihnen gehören T. C. Boyle, Patti Smith, Joan Baez, aber auch Otto Schily und Ursula von der Leyen.

Eine Mundharmonika für Nicolas Sarkozy

Kaum zu glauben: aber Ursula von der Leyen, die ja heute als Inbegriff der garantiert knitterfreien Politikern gilt, hatte früher eine wilde Seite, mit einem kleinen Fiat 500 düste sie durch Europa und hörte dabei gern ihre Lieblings-Songs von Dylan, „Just Like A Women“, „Blowin´ In The Wind“, Lieder, die sie noch heute gern laut singt. Besonders schätzt sie, dass Dylan Fragen stellt, ohne gleich Antworten zu geben, dass er Menschen zum Nachdenken bringen kann und „meiner Generation geholfen (hat), Kritik öffentlich auszusprechen, einfach mal durchzuatmen“.

Bob Dylan im Juni 2010 beim Akzena Rock-Festival in Vitoria- Gasteiz, Spanien (Baskenland, bei Bilbao). (Foto: Alberto Cabello / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz)

Otto Schily, Mitbegründer der Grünen und späterer SPD-Innenmister, bewundert Dylan  als Protagonisten des permanenten Wandels und der Skepsis: „Dylan repräsentiert für mich den Umbruch wie kein anderer“. Die Sängerin Carla Bruni berichtet, wie sie mit ihrem Gatten, Nicolas Sarkozy, nach einem Dylan-Konzert in Paris in die Garderobe gebeten wurde und einen linkischen und schüchternen Dylan erlebte, der zum Abschied Sarkozy seine Mundharmonika schenkte: „Die habe ich sofort an mich genommen“, lacht Carla Bruni. Was auch soll ihr künstlerisch unterbelichteter Mann mit dieser Reliquie eines musikalischen und poetischen Gottes anfangen? So kurzweilig erzählen sie alle von ihren Begegnungen mit Dylan: Für Navid Kermani ist Dylan „ein leuchtender Teil Amerikas, an den man glauben möchte“, und T. C. Boyle, der in seinen Romanen oft musikalische Fährten legt, meint: „Ich höre jeden Tag Bob Dylan, eigentlich höre ich ihn den ganzen Tag.“

Plötzlich die E-Gitarre eingestöpselt

Im Song-Book von Maik Brüggemeyer erfährt man, wie Frank Goosen sich an seine Kindheit und an den Song „It´s All Right Ma (I´m Only Bleeding)“ erinnert, den er bis heute zwar nicht kapiert, aber mit dem langhaarigen Studenten verbindet, der damals im Hause seiner Eltern ein Zimmer unterm Dach bewohnte, ständig Dylan hörte, halbnackte Frauen fotografierte und von seiner Verwandtschaft für einen RAF-Terroristen gehalten wurde.

Maik Brüggemeyers Dylan-Buch, erschienen bei Ullstein.

Tom Kummer erfindet eine Geschichte rund um die Aufnahmen des vielleicht bedeutendsten Albums, „Highway 61 Revisited“ (1965): Dylan verschreckt seine Folk-Fans plötzlich mit E-Gitarren-Rock und spielt Songs für die Ewigkeit: das vom Alleinsein handelnde „Like A Rolling Stone“ und „Ballad Of A Thin Man“, die Ballade vom dünnen Mann, Mr. Jones, dem spießigen Jedermann, der spürt, dass sich irgendwas ändert und vorgeht, der aber nicht weiß, was es ist und soll. Ein visionäres Lied, zu dem sich Tom Kummer eine aberwitzige Geschichte ausgedacht hat, die die Atmosphäre der damals aufgeheizten politischen Zeit einfängt. Enttäuschend dagegen die Geschichte, die sich Benedict Wells zum Song „I´m Not There“ hat einfallen lassen: nämlich gar keine! Durch seinen Kopf rauschen unzählige Gedanken, die er nicht recht fassen kann, deshalb beschließt er, „dass die vielleicht aller-dylanesqueste Weise, über Bob Dylan zu schreiben, ist, nicht über ihn zu schreiben. Sondern ihm nur kurz von Straßenrand aus zuzunicken, während schon die Hand des Lesers kommt, diese Seite umzublättern.“

Wer nach der vielstimmigen Dylan-Hommage den Meister im Original lesen möchte, sollte die Autobiographie aufschlagen, „Chronicles“, die sich wie ein kurzweiliger, spannender Roman liest. Außerdem: „Best Of Lyrics“, eine Zusammenstellung (auf Englisch und Deutsch) von 111 Songs, über die Dylan in seiner Rede zum Literatur-Nobelpreis sagte: „Sie sind etwas anderes als Literatur. Sie sollen gesungen, nicht gelesen werden. So wie die Worte in den Dramen von Shakespeare auf der Bühne gesprochen werden sollen, so sollen die Texte von Songs gesungen werden und nicht auf einer Buchseite gelesen.“ Holen wir also am besten die alten Schallplatten und neuen CDs aus dem Regal, singen wir einfach mit und spüren, wie befreiend das sein kann!

Maik Brüggemeyer (Hrsg.): „Look Out Kid“. Bob Dylans Lieder, unsere Geschichten. Ullstein Verlag, Berlin 2021, 272 S., 18 Euro.

Stefan Aust / Martin Scholz: „Forever Young“. Unsere Geschichte mit Bob Dylan. Hoffmann und Campe, Hamburg 2021, 288 S., 22 Euro.

Die „Chronicles“ sowie „Best of Lyrics“ sind bei Hoffmann & Campe erschienen.

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Hier zur Ergänzung noch ein Link zum Beitrag, der bei den Revierpassagen vor fünf Jahren zu Bob Dylans 75. Geburtstag erschienen ist.




Exotik als schöne Kulisse, fern der Wirklichkeit: „Rembrandts Orient“ im Potsdamer Museum Barberini

Rembrandt Harmensz van Rijn: „David übergibt Goliaths Haupt dem König Saul“, 1627, Öl auf Eichenholz, 27,4 x 39,7 cm (© Kunstmuseum Basel, Vermächtnis Max Geldner, Basel)

Das Gesicht des alten Mannes ist weiß, der Bart gut getrimmt, die Augen leuchten voller Stolz. Wahrscheinlich sieht er selten die Sonne und atmet kaum je frische Luft, sondern treibt sich geschäftig in den Handelskontoren Amsterdams herum.

Gelegentlich schaut er im Atelier von Rembrandt vorbei, damit der Malerfürst ihn vortrefflich in Szene setzen kann, so wie er sich selbst gern sieht und in seinen Träumen gern wäre: ein orientalischer Despot oder fernöstlicher Mogul, dem die Untertanen zu Füßen liegen und die seinen herrlichen Turban und seinen kostbaren Seidenumhang bewundern.

Vielleicht ist der bärtige alte Mann tatsächlich einmal in den Orient und nach Fernost gereist, hat als Vertreter der Niederländischen Ostindien-Kompanie in Syrien oder Persien, Indien oder China Station gemacht und profitable Geschäfte eingefädelt, ein paar exotische Objekte und orientalische Teppiche, pazifische Muscheln oder japanische Schwerter mit nach Hause gebracht. Doch eines ist gewiss: Rembrandt Harmensz van Rijn (1606-1669) hat nie seine holländische Tiefebene verlassen, nie den Orient gesehen und nie unter mongolischem Himmel geschlafen.

Kolonialismus und Sklaverei völlig ausgeblendet

Ob Rembrandt den „Mann in orientalischem Kostüm“ oder die „Büste eines alten Mannes mit Turban“ malte, eine „Junge Inderin“ oder ein „Selbstbildnis in orientalischer Kleidung mit Pudel“ auf die Leinwand brachte: Was er auf seinen orientalisch anmutenden Bildern festhielt, ist pure Fantasie, einem eurozentristischen Weltbild geschuldet. Das Fremde ist nur Kulisse, das Kostüm nur ein Traum, das Exotische nur Projektion. Mit der Wirklichkeit hat das alles nichts zu tun.

Rembrandt Harmensz van Rijn: „Büste eines alten Mannes mit Turban“, um 1627/29, Öl auf Eichenholz, 26,7 x 20,3 cm (© The Kremer Collection)

Sklaverei und Gewalt, Ausbeutung, Kolonialismus, Handelskriege: Nichts davon ist zu sehen in der Ausstellung, die im Potsdamer Museum Barberini gezeigt wird und in ihrer Ausblendung des politisch-historischen Kontextes völlig aus der Zeit gefallen scheint. „Rembrandts Orient. Westöstliche Begegnung in der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts“, lautet der Titel. Doch es begegnen sich hier nicht Kulturen auf Augenhöhe und die europäischen Wünsche treffen nicht auf orientalische Wirklichkeit. Stattdessen wird die Welt gesehen, wie sie nie war, die Realität verhüllt, die Ungleichheit verkleidet, die Macht verborgen.

Biblische Gestalten in Fantasie-Kostümen

Gezeigt werden 110 Exponate, darunter 33 Werke von Rembrandt, außerdem Gemälde von Ferdinand Bol, Jan Lievens, Jan Victors und vielen anderen. Perlen der niederländischen Malerei. Doch nirgendwo ein Hauch von Kritik oder Selbstbefragung. Die Künstler, die im Hafen von Amsterdam gelegentlich Menschen aus der Fremde erblickten, den Orient als Mode auffassten und sich in ihrem schicken Heim mit fernöstlichen Accessoires umgaben, verdienten gutes Geld damit, niederländische Kaufleute in orientalische Gewänder zu hüllen und sie darzustellen, als würden sie durch fernen Fantasie-Landschaften flanieren. Der Orient war eine geografische Fata-Morgana und erstreckte sich von Ägypten bis nach Japan.

Rembrandt Harmensz van Rijn: „Daniel und Kyros vor dem Götzenbild des Bel“, 1633, Öl auf Holz, 23,5 x 30,2 cm (© The Paul Getty Museum, Los Angeles)

Kein Problem bereitete es Rembrandt und seinen Schülern, biblische Motive („Die Steinigung des heiligen Stephanus“, „Das Festmahl der Ester“, „Juda und Tamar“) umzudeuten und die Beteiligten in orientalische Fantasie-Kostüme zu stecken. Oder, wie bei der „Taufe des Kämmerers“, die „schwarze Seele“ des demütig knienden dunkelhäutigen Mannes von einem „weißen Mann“ reinigen und bekehren zu lassen. Und auf dem „Markt von Batavia“ (wie ihn ein Kopist mit den Initialen J.F.F. sieht, der ein Bild von Andries Beckmann bearbeitet) tummelt sich buntes Volk unter Palmen. Fröhlich wird gehandelt, gewerkelt, getanzt. Unterdrückung der Einheimischen? Existiert nicht. Die Welt ist schön, die Geschichte ein Abenteuer.

Ab 22. Mai wieder geöffnet

„Rembrandts Orient“. Museum Barberini, Potsdam (wieder geöffnet ab Samstag, 22. Mai, Zeitfenster-Tickets ab 20. Mai erhältlich). Bis 27. Juni. Katalog (Prestel Verlag): im Museum 30 Euro, im Buchhandel 39 Euro.

Nähere Infos unter  0331/236 014 499 oder www.museum-barberini.de

info@museum-barberini.de

besucherservice@museum-barberini.de




Die Sehnsucht nach Bleibe und die Furcht davor – Judith Hermanns Roman „Daheim“

„Wir haben eine neue Autorin bekommen, eine hervorragende Autorin. Ihr Erfolg wird groß sein“, rief Marcel Reich-Ranicki aus, als Judith Hermann 1998 mit ihrem Erzähl-Band „Sommerhaus, später“ ein fulminantes literarisches Debüt hinlegte. Der Literaturpapst sollte recht behalten.

Jedes ihrer Bücher stieß seitdem bei Publikum und Kritik auf große Resonanz. Interesse und Erwartungen waren jeweils riesig, weil die Autorin nicht gerade als Vielschreiberin bekannt ist und lange Pausen einlegt. Ihr neuer Roman „Daheim“ wurde bereits vor der Veröffentlichung für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Keine Bange: Judith Hermann ist nicht unter die Heimat-Dichterinnen gegangen, sie verteilt keine literarisch fein gehäkelten Spitzendeckchen und singt keine folkloristischen Lieder. Aber ihre Figuren haben sich schon immer nach einem Ort gesehnt, an dem sie sich wohlfühlen und zur Ruhe kommen können. Es sind seelisch Verletzte, von unerfüllbaren Wünschen Getriebene, sie sind heimatlos, traurig und melancholisch, rauchen und schweigen viel: Das Wichtigste steht oft in den Leerstellen zwischen den Wörtern.

Wo es kein richtiges Zuhause gibt

Die Figuren bleiben rätselhaft, auch für die Autorin, die sich ihnen annähert, ihnen aber Raum lässt zum Atmen und Flüchten. Ob sie sich ein Sommerhaus erträumen oder in einem Vorstadt-Reihenhaus versauern, ob sie im vergammelten „Lettipark“ ihre Kindheit vertrödeln oder auf einem Trip durch die USA ihren verlorenen Hoffnungen hinterher hecheln: Sie suchen immer nach dem einen Moment, der das ganze Leben verändert, nach dem richtigen Wort für das Unsagbare: „Wouldn´t it be nice / if we could live here / make this the kind of place / where we belong.“ Diese Zeile (aus einem Song der Beach Boys), die Judith Hermann ihrem Roman „Gespenster“ vorangestellt hat, könnte auch das Motto von „Daheim“ sein: Die Menschen wollen einen Platz finden, wo man hingehört und bleiben möchte. Doch kann es ihn überhaupt für eine Judith-Hermann-Figur geben?

Die (namenlose) Ich-Erzählerin ist eine Frau von Ende vierzig, sie raucht und schweigt, hat einen Ex-Ehemann, Otis, dem sie immer noch ihre Gedanken und Wünsche anvertraut, der aber nur mit sich selbst und dem Weltuntergang beschäftigt ist, in seiner Wohnung alles, was er findet, aufbewahrt, repariert und einsatzbereit hält für den Fall, dass die Gesellschaft kollabiert oder der Atomkrieg ausbricht. Ihre Tochter, Ann, hat mit 18 die Schule geschmissen, ist seitdem auf einem Erlebnis- und Erkenntnis-Trip rund um die Welt und meldet sich nur sporadisch. Wenn die Erzählerin sie fragt, wann und ob sie denn mal wieder „nach Hause“ kommt, ist das schon deshalb schräg, weil es weder für die Tochter noch die Mutter ein richtiges Zuhause gibt.

Aus der Stadt in ein Dorf am Meer

Die Erzählerin hat früher in einer (namenlosen) Großstadt gewohnt und lebt jetzt in einem (namenlosen) Dorf an einem (namenlosen) Meer, sie hat sich dort ein kleines Haus gemietet und arbeitet als Kellnerin bei ihrem älteren Bruder, Sascha, den es ebenfalls dorthin verschlagen hat. Er hat sich eine Kneipe gekauft und bewohnt ein möbliertes Haus, das einem Museum gleicht. Mit fast 60 Jahren hat er sich in ein 20-jähriges Mädchen verknallt, Nike, die den verknitterten Lover mit ihrer frechen Jugendlichkeit zur Weißglut treibt.

Die Erzählerin möchte in dem Kaff Wurzeln schlagen. Behilflich ist Nachbarin Mimi, eine Künstlerin, die nach mehreren gescheiterten Ehen in ihr Dorf zurückgekommen ist, ihre Leinwände ins Watt legt, von der Flut überrollen lässt und schaut, welche Spuren das Meer hinterlassen hat, wenn die Ebbe die Leinwände wieder freigibt. Mimi hat einen Bruder, Arild, ein Bauer, der Schweine züchtet. Er war nie woanders, würde niemals weggehen und weckt das Interesse der Erzählerin. Die beiden können gut miteinander schweigen, zwischen ihnen funkt es, auch erotisch.

Vielleicht könnte jetzt alles gut werden, wäre da nicht die Marder-Falle, die bei der Erzählerin verschüttete Ängste freilegt. Dass nicht der im Hause rumorende Marder, sondern andere Tiere in die Falle gehen, Katzen und Vögel, macht die Sache nicht leichter. Die Falle erinnert die Erzählerin an das Eingesperrt-Sein in einer Kiste.

Vom Magier in eine Kiste eingesperrt

Mit der Rückblende auf ein traumatisches Erlebnis beginnt denn auch der Roman: Als junge Frau arbeitete sie in einer Zigarrenfabrik, wohnte an einer Ausfallstraße, ging abends oft hinüber zur Tankstelle, um sich ein Eis zu kaufen. Einmal wird sie von einem älteren Mann angesprochen, einem Zauberer, der eine schöne Frau sucht, die den Mut hat, sich in eine Kiste zu legen, zum Schein zersägen zu lassen und mit ihm auf eine Schiffsreise nach Singapur zu gehen. Die Erzählerin ist von der Idee fasziniert, besucht den Zauberer in seinem abgelegenen Haus, klettert in die Kiste und übt mit ihm den Zaubertrick: Noch heute, viele Jahre später, graust es ihr, wenn sie an die Enge und den muffigen Geruch in der Kiste denkt.

Nach Singapur ist sie nicht gereist, dafür hat sie Otis kennengelernt und Ann bekommen und lebt jetzt in einem knarzenden Haus am Meer. Die Befreiung von Abhängigkeit und Fremdbestimmung ist seitdem zu ihrem Lebens-Antrieb geworden. Außerdem fühlt sie sich zeitlebens ausgesperrt und ausgestoßen.

Vielleicht alles nur geträumt

Ausgelöst durch die Marder-Falle erinnert sie sich, dass sie mit ihrem Bruder oft stundenlang im dunklen Treppenhaus ausharren und warten musste, bis die Mutter nach Hause kam und die Tür aufschloss, oder die Mutter, die allein sein wollte, die Kinder endlich in die Wohnung ließ: „Daheim“ ist bisher ein Ort der Angst und des Grauens gewesen. Vielleicht beruht alles aber auch nur auf Erfindung und Einbindung: Denn sowohl Ex-Ehemann Otis wie auch Bruder Sascha haben ganz andere Erinnerungen, und einmal räumt auch die Erzählerin ein: „Möglicherweise träume ich und habe alles geträumt, ich habe Ann geträumt und Otis, ich träume das Wasser, meine Kindheit, mich.“

Judith Hermann hat diesen leisen, poetischen, unverwechselbaren Sound, der das Schwere leicht und das Leichte schwer macht. Die Sprache schillert vor Schönheit, die Menschen dürfen sich ein wenig öffnen, aber doch ihre kleinen Geheimnisse bewahren.„Daheim“ spricht davon, wie das Alte vergeht, aber das Neue noch nicht greifbar ist, wie wir uns nach Heimat sehnen, aber uns doch davor auch fürchten. Die kämpferische Künstlerin Mimi erzählt die Legende der „Nixe“, die von Fischern einst aus dem Wasser gezogen, vergewaltig und wieder ins Meer geworfen wurde. Die Rache der „Nixe“ war grausam: sie entfachte eine gigantische Sturmflut, die alles überrollte. Die Welt der alten Männer, sagt uns Judith Hermann, ist längst zerstört, aber eine neue Welt, in der wir alle „Daheim“ sein können, lässt noch auf sich warten.

Judith Hermann: „Daheim“. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 191 Seiten, 21 Euro.




Zwischen Agitation und Innerlichkeit – Vor 100 Jahren wurde der Dichter Erich Fried geboren

Erich Fried 1988 bei einer Lesung – als Gast des Literaturbüros Ruhr im Mülheimer Theater an der Ruhr. (Foto: Jörg Briese)

Viele Jahre hatte der vor den Nazis aus Wien nach London geflohene Erich Fried als kritischer Journalist und politischer Dichter Texte für ein eher kleines Publikum geschrieben. Als er 1979 einen Band mit Liebesgedichten veröffentlichte, wurde er einem größeren Publikum bekannt. Dem im November 1988 verstorbenen Dichter blieben nur noch wenige Jahre des späten Ruhms. Am 6. Mai jährt sich sein Geburtstag zum 100. Male.

Sein vielleicht bekanntestes Liebesgedicht heißt „Was es ist“, es geht so:

„Es ist Unsinn / sagt die Vernunft / Es ist was es ist / sagt die Liebe // Es ist Unglück / sagt die Berechnung / Es ist nichts als Schmerz / sagt die Angst / Es ist aussichtslos / sagt die Einsicht / Es ist was es ist / sagt die Liebe // Es ist lächerlich / sagt der Stolz / Es ist leichtsinnig / sagt die Vorsicht / Es ist unmöglich / sagt die Erfahrung / Es ist was es ist / sagt die Liebe.“

Typisch für Fried ist die Beharrlichkeit, mit der ein einfacher Gedanke mehrfach umkreist wird, es werden Argumente ausgetauscht und Bedenken vorgebracht: Jemanden zu lieben ist unsinnig, aussichtslos, lächerlich, leichtsinnig, unmöglich und hinterlässt nur Unglück und Schmerz. Gegen die Liebe sprechen Vernunft, Vorsicht und Erfahrung, doch es nützt nichts: „Es ist was es ist“, die Liebe ist zu groß, um sich gegen sie zu wehren.

Keine Scheu vor Selbstentblößung

Etwas gebetsmühlenartig zu wiederholen, suggestiv vorzutragen, lakonisch zu beenden, ist typisch für Fried, dazu eine simple literarische Form, reimloses Sprechen, alltägliche Erfahrungen, keine Scheu davor, sich selbst als verletzlichen Menschen zu entblößen, sich mit allen Schwächen und Stärken, Hoffnungen und Enttäuschungen mit ins Gedicht zu nehmen, sich nicht hinter anderen Figuren oder fremden Stimmen zu verstecken: Das Ich, das hier spricht, der ältere Mann, der in den oft erotisch stark aufgeladenen und sexuell ziemlich freizügigen Liebesgedichten erzählt, wie schön es ist, die Brüste seiner Frau zu streicheln oder ihren Schoß zu küssen, ist immer Erich Fried, der Lust und Sehnsucht offen ausspricht, kein Bedürfnis verschweigt, sich aber auch selbst nicht so ernst nimmt und seine erotischen Obsessionen ironisiert. In seinem Gedicht „Als ich mich nach dir verzehrte“ schreibt Fried: „Wenn ich mich / nach dir / verzehre / heißt das / ich habe zuerst / als Hauptgericht / dich verzehrt / und mich dann / als Nachtisch / oder warst du / die Suppe / und ich / bin das Fleisch?“

Fried hatte zum richtigen Zeitpunkt den richtigen literarischen Ton getroffen, hatte gespürt, dass die Zeit der knallharten Politisierung vorbei war und seine links-alternative Klientel sich danach sehnte, eine neue Beziehung zwischen Kopf und Bauch, Politik und Leben herzustellen und literarisch widergespiegelt zu sehen.

Eine Zuflucht für Rudi Dutschke

Bis Mitte der 1970er Jahre hatte Fried das Gedicht als Mittel zur Verbreitung von Erkenntnissen und des Aufrufs zur Rebellion verstanden: purer Agitprop, vorgetragen bei Versammlungen und Demonstrationen. Fried hatte Rudi Dutschke bei sich in London aufgenommen, als der Studentenführer vom Attentat halbwegs genesen war und sich in Deutschland nicht mehr sicher fühlte. Als Hausbesetzer Georg von Rauch von der Polizei erschossen wurde, bezeichnete Erich Fried die Tat als „Vorbeuge-Mord“ und wurde dafür vor Gericht gezerrt.

Fried hat sich eingemischt, gegen den Krieg in Vietnam genauso angeschrieben wie gegen den Radikalenerlass, das Wettrüsten der Supermächte, die atomare Bedrohung: Es sind Lehr- und Lerngedichte, die über Ausbeutung und Unterdrückung aufklären, zur Solidarität und zum Kampf aufrufen, sie sind der Zeit verhaftet und lesen sich heute wie politisch-historische Dokumente einer hochpolitisierten Epoche, die im Terror der RAF ihren degenerierten Tiefpunkt und ihr blutiges Ende fand.

Manchmal haarsträubend banal

Doch wer eben noch auf den Barrikaden stand und die Weltrevolution predigte, wollte nun in einer Landkommune leben, sich gesund ernähren, grüne Pläne schmieden und sich den eigenen Gefühlen widmen: Die Neue Innerlichkeit griff um sich und Erich Fried wurde ihr literarisches Sprachrohr.

Die Liebesgedichte sind lyrischer Ausdruck einer Ära, in der Liebe und Politik eins sein sollten. Aber worüber und wie die Gedichte sprechen, ist oft haarsträubend banal und auf fast peinliche Weise selbstverliebt. Sprachlich subtil und gedanklich von zeitloser Schönheit sind die Gedichte nur selten. Doch die Liebesgedichte immer mal wieder hervorzukramen und zu lesen, ist bestimmt besser, als sie zu vergessen und nicht zu lesen. Oder?

Erich Fried: „Liebesgedichte.“ Wagenbach, Berlin 1979 (16. Auflage 2013, 18 Euro)

Erich Fried: „Es ist was es ist.“ Wagenbach, Berlin 1983 (19. Auflage 2021, 18 Euro)

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Eine andere Sicht auf Erich Fried offenbart ein 2018 zum 30. Todestag des Dichters entstandener Beitrag, den Gerd Herholz für die Revierpassagen verfasst hat.

 

 




„Hiermit trete ich aus der Kunst aus“ – ein Buch zum 100. von Joseph Beuys

Immer im Gespräch: Joseph Beuys (re.) im Jahr 1973. Foto: Rainer Rappmann / www.fiu-verlag.com / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

„Jeder Mensch ist ein Künstler“, meinte Joseph Beuys, der mit seinen Aktionen und Installationen die Kunst aus dem Elfenbeinturm des Elitären befreien wollte – und damit zu einem der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts wurde. Filz und Fett, Honig und Hirschgeweihe waren Materialien, aus denen er Kunst machte und das Publikum zum Nachdenken anregte.

Am 12. Mai würde der ebenso legendäre wie umstrittene Künstler, der die menschliche Kreativität zur „einzig revolutionären Kraft“ erklärte, 100 Jahre werden. Landauf, landab werden sich zahllose Ausstellungen mit seinem Leben und Werk beschäftigen. In Zeiten von Pandemie und Lockdown bietet sich alternativ ein jetzt erscheinendes Buch an: „Hiermit trete ich aus der Kunst aus.“

Zu lesen sind 25 höchst unterschiedliche Texte: Interviews, Statements, Notizen, Vorträge und Reden. Kunst und Politik, Lernen und Lehren, das war für Beuys nie zu trennen: Er lebte für die Kunst, kam als Professor täglich, auch in den Semesterferien, an die Düsseldorfer Akademie und stand seinen Studenten jederzeit zum Gespräch zur Verfügung. Das Sprechen und Diskutieren war für ihn bereits Teil der Kunst.

Viele Themen und Thesen klingen an

Sein erweiterter Kunstbegriff umfasste alle Bereiche des Daseins, sein Konzept von der „Sozialen Plastik“ als Gesamtkunstwerk schließt alle Menschen und Ideen mit ein. Es gilt, die Kreativität im Menschen freizusetzen, um eine freie Gesellschaft zu erschaffen. Dazu war ihm jedes Mittel recht. Ob er Fett in Zimmer-Ecken schmierte oder sich in Filzmäntel hüllte; ob er sich tagelang mit einem Kojoten einschloss; ob er – nach dem Rausschmiss aus der Düsseldorfer Akademie – eine „Freie Universität“ gründete; ob er (um gegen Entfremdung und Naturzerstörung zu protestieren) die „Grünen“ mitbegründete: alles diente dazu, das Leben zur Kunst zu erklären, den elitären Kunstbegriff einzureißen, die Zuschauer zum Denken und Mitmachen zu zu ermuntern.

Das Buch versucht, den disparaten Charakter und die provozierende Kunst von Beuys abzubilden, möglichst viele Themen und Thesen anklingen zu lassen. Vorangestellt ist die Rede zur Verleihung des Wilhelm-Lehmbruck-Preises, die Beuys am 12. Januar 1986, wenige Tage vor seinem Tod, gehalten hat: die Hymne auf Lehmbruck ist ein Schlüssel zu seinem Werk und zugleich sein Vermächtnis.

Geprägt von Wilhelm Lehmbruck und Rudolf Steiner

Die Begegnung mit Lehmbrucks Werk war für ihn eine Art Erleuchtung und Erweckung. Der überzeugte Hitlerjunge Beuys hatte bei den Bücherverbrennungen 1938 ein Heft in die Hände bekommen, in dem auch ein Foto mit einer Skulptur von Lehmbruck abgebildet war: In Beuys reifte der Entschluss, Kunst zu studieren und sich mit Skulptur und Plastik auseinanderzusetzen, die Flamme, die er in dem Foto sah, zu schützen, die Fackel der Skulptur, die er spürte, weiterzutragen. Nicht bei Picasso oder Arp, Giacometti oder Rodin: nein, bei Lehmbruck lernte Beuys, „dass Plastik alles ist, dass Plastik schlechthin das Gesetz der Welt ist“.

Weil er die Anthroposophie von Rudolf Steiner verinnerlicht hatte, meinte Beuys, dass „plastisches Gestalten“ sich nicht auf „physisches Material“ beschränkt, sondern auch „seelisches Material“ einbezieht. Die Formel von der „Sozialen Plastik“ und die Vorstellung einer „Plastik der Moderne“, in der das „plastische Prinzip zur Umgestaltung des sozialen Ganzen“ dient, beruht darauf, wie Beuys seine Vorbilder – Lehmbruck und Steiner – interpretierte oder für sich neu erfand.

Das Märchen von den Krim-Tataren

Die Geschichte mit dem zufällig entdeckten Lehmbruck-Foto könnte – wie so vieles, was Beuys gesagt und getan hat – nur eine Nebelkerze und pure Erfindung sein. Immer wieder wird Beuys gebeten, seine Aktionen und Installationen sowie die biografischen Bezüge zu erklären: Dann raunt er dunkel und tischt das Märchen auf, dass er, nachdem er als deutscher Soldat und Stuka-Kampfpilot über Russland abgeschossen wurde, schwerverletzt von Krim-Tataren aus dem Trümmern gezogen wurde, dass sie seine Wunden mit Fett eingerieben und seinen Körper mit Filz warm gehalten haben…

Heute wissen wir: alles Fantasie und Selbst-Suggestion. Ein Suchtrupp der deutschen Wehrmacht hat ihn nach einem Tag gefunden und ins nächste Lazarett gebracht, kurze Zeit später hat Beuys wieder als Soldat weitergekämpft. Aber die Idee von Fett und Filz als Energie- und Wärme-Spender und Kunst-Material lässt sich mit dem Tataren-Märchen natürlich viel besser begründen. Dass sein ganzes Leben nur eine Erfindung war, hätte man schon 1964 merken können: da verfasst Beuys für ein Kunst-Festival einen Lebenslauf und bezeichnet alles als „Ausstellung“, auch seine Geburt 1921 in Kleve ist eine „Ausstellung einer mit Heftpflaster zusammengezogenen Wunde“.

Als ob man einen Pudding an die Wand nagelte

Der bizarre „Lebenslauf“ könnte behilflich sein, Beuys zu entmystifizieren. Im Buch wird über alles, was sein Leben und Werk bestimmt, geredet: Die „ideale Akademie“, das „Museum als Ort der permanenten Konferenz“, wieso „jeder Menschen ein Künstler ist“, was Filz und Fett, Hirschgeweihe, Schiefertafeln, Honig und Kreuze für seine „Sozialen Plastiken“ bedeuten, warum das Christentum für ihn elementar ist, sich durch den Tod Jesu das eigentliche Leben erst vollzieht und den Menschen zur Ich-Erkenntnis befähigt.

Aber bei allem, was Beuys sagt, bleibt das Gefühl, als würde man versuchen, einen Pudding an die Wand zu nageln, alles ist seltsam schwammig, redundant und unverständlich: Nichts wird erklärt oder begründet, vieles ist bloße Behauptung, manches reine Erfindung. Beuys hat über seine Ideen und Installationen permanent geredet, aber eine fundierte Theorie mit klar definierten Begriffen hat er nie geliefert: alles, auch dieses Buch, ist nur die Kunst und der Stoff, aus dem die Träume sind.

Joseph Beuys: „Hiermit trete ich aus der Kunst aus.“ Vorträge, Aufzeichnungen, Gespräche. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Wolfgang Storch. Edition Nautilus, Hamburg 2021, 160 Seiten, 15 Euro.




Lasst uns Luftschlösser bauen – Peter Handkes Dämonen-Geschichte „Mein Tag im anderen Land“

Eigentlich ist er Obstgärtner. Seine ganze Leidenschaft zielt darauf, die alten Apfelsorten zu veredeln, „Jonathan“, „Boskoop“, „Ontario“, die „Gravensteiner“. Doch dann wird er von „Dämonen“ heimgesucht, verfällt in einen lallenden Singsang, pöbelt alle und jeden grundlos an, brabbelt unverständliches Zeug und spricht in Zungen. Von Wahn und Raserei gepackt stapft er umher, macht sich überall Feinde und wird von allen gehasst.

Abends kehrt er, müde und zerschlagen, zurück auf den Friedhof, auf dem er sein Zelt aufgeschlagen hat und die Nächte mit Alpträumen verbringt. Irgendwann ist er nicht mehr der einzige Mensch, der in der Rolle des Besessenen herumtobt. Andere tun es ihm nach und werden, aus Verachtung und Furcht und weil manche glauben, der „Dämon“ und seine Anhänger würden der Gesellschaft den Spiegel vorhalten, mehr schlecht als recht geduldet. „Zuletzt“, so erzählt der wie durch ein Wunder eines Tages Geläuterte, „bestand ich, vom Morgen bis in die Nacht, nur noch aus Geschrei. Es war das freilich ein Schreien, das nicht aus mir herauskonnte, statt Aufschreie „Inschreie“, und zwar in einem fort, ohne ein Absetzen. Und niemand, der mich hörte, oder mir zuhörte.“

Heilung durch den „guten Zuschauer“

Plötzliche Heilung: Mit seiner Schwester, der einzigen Person, die zu ihm hält, steht er am Ufer eines Sees. Ein paar Männer ziehen ein Fischerboot aus dem Wasser, bilden einen Halbkreis: in der Mitte ein Mann, der den „Dämon“ sanft anblickt. Sein „Zuschauen“ ist zugleich ein „Hinschauen“ und ein „Hinhören“. „Da bist du ja wieder, mein Freund!“ begrüßt der „Gute Zuschauer“ den schlagartig von Wahn und Raserei befreiten Erzähler, der sich gern einreihen in den „Chor der Seefischer“ und dem „Guten Zuschauer“ als Bruder folgen würde. Aber: „Nein. Du gehörst nicht zu uns, Freund. Du hast hier nichts zu suchen. Weg mit dir. Und auf der Stelle, dalli-dalli. Hinüber ins Land hinterm See mit dir, Nachbar. Und dort drüben wirst du erzählen und den Leuten (…) weitergeben, was dir geschehen ist, verstanden?“

Nein, wir verstehen es nur schwer. Denn was uns Literaturnobelpreisträger Peter Handke in einer „Dämonengeschichte“ von seinem „Tag im anderen Land“ berichtet, ist kaum zu entziffern. Man könnte die wundersame, mit Bibel-Motiven und Heilands-Erlebnissen gezwirbelte und mit einer Mischung aus altväterlichem Gemurmel und modischem Kauderwelsch gewürzte Erzählung für eine verkappte Selbstbiografie halten, für ein ironisches Spiel mit allem, was Handke lieb und heilig und manchmal vielleicht auch ein bisschen peinlich ist.

Anspielungen auf eigene Werke

Das fröhliche Wandern und freie Herumschweifen spielt, wie fast immer bei Handke, eine große Rolle. Kaum ein Buch, das sich nicht dem Wandern verdankt, einmal auch zu einer heftig umstrittenen Pilgerreise durch ein vom Bürgerkrieg zerstörtes Ex-Jugoslawien ausartet und ihn sogar als Redner ans Grab eines Massenmörders geführt hat. Doch lassen wir den alten Streit. Folgen wir Handkes Spiel, das diesmal sogar ein wenig selbstkritisch daherkommt und manche seiner Derwisch-artigen rhetorischen Irrläufer korrigiert und einige seiner Werke lächelnd verballhornt.

Wer beim pöbelnden Dämon an den frechen Jungspund denkt, der seinen arrivierten Schriftsteller-Kollegen der „Gruppe 47“ „Beschreibungs-Impotenz“ attestierte und mit seiner „Publikumsbeschimpfung“ das Theater aufmischte, liegt wohl nicht verkehrt. Wer auf beiläufig in den Erzähl-Fluss eingestreute Signalworte achtet, wird Hinweise auf Handkes „Versuch über die Jukebox“ finden, auf „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, „Die Geschichte des Bleistifts“, den „Versuch über die Müdigkeit“, „Die Hornissen“, „Die Obstdiebin“, „Die Unvernünftigen sterben aus“.

Die Kasperle-Frage: „Seid ihr alle da?“

Lange scheint es auch so, als würde der von seinen Dämonen befreite Obstgärtner, der „im anderen Land“ die Liebe findet, ein Kind zeugt und von den Menschen gegrüßt wird, zur Ruhe kommen. „Einzig zählte: Ich bin woanders. Und: Nur jetzt nicht heim. Nie mehr nachhause!“ Das wünscht sich der Erzähler im Namen von Handke, der einst seiner Heimat Österreich entfloh, in einem verwunschenen Haus bei Paris lebt und, wenn er nicht gerade mit dem Bleistift seine Gedanken fixiert und eine Welt aus Worten erfindet, im seinem Garten die Apfelbäume pflegt.

Im Traum aber kehrt er zurück nach Hause, auf seinen alten Friedhof, und ist zutiefst erschüttert. Im Spiegel erblickt er einen müden Mann, der, „so gar nichts von glühenden Augen, gesträubten Haaren, geblähten Nüstern“ mehr hat. Doch keine Bange, beruhigte sich der Erzähler, das „unausrottbar Widerständische“ lebt noch, „ohne es WIRD nichts“, ist „nichts als Dasein, und Dortsein, und ewig seelenloses Sein.“ Lasst uns „Luftschlösser“ bauen und „Salz“ streuen ins Buch des Lebens, ruft der zum vorlauten Kaperle mutierende Autor und fragt schelmisch: „Seid ihr alle da?“

Peter Handke: „Mein Tag im anderen Land. Eine Dämonengeschichte“. Bibliothek Suhrkamp, 93 Seiten, 18 Euro.




Nach Aufregung um #MeToo-Vorwürfe: Weibliche Doppelspitze soll die Berliner Volksbühne in ruhiges Fahrwasser bringen

Unter neuer Interims-Leitung für eine schwierige Übergangszeit: die Berliner Volksbühne. (Foto: Stefan Müller / Volksbühne)

Das ging jetzt aber sehr schnell. Kaum hatte sich Volksbühnen-Intendant Klaus Dörr im Dickicht der #MeeToo-Debatte verlaufen und war aufgrund schwerer Vorwürfe, seine Amtsführung sei von sexueller Belästigung und verbalen Entgleisungen geprägt, holterdiepolter zurückgetreten, da kann Kultursenator Klaus Lederer bereits eine plausible Lösung präsentieren: Eine weibliche Doppelspitze übernimmt vorübergehend die Leitung des leckgeschlagenen Theatertankers, das seit dem Abgang von Frank Castorf einfach nicht in ruhiges Fahrwasser kommen will.

Sabine Zielke, langjährige Dramaturgin am Hause, und Gabriele Gornowicz, Geschäftsführerin bis 2014, bilden das Frauen-Duo, das die lähmende Zeit überbrücken und die Volksbühne aus den Schlagzeilen bringen soll, bis der designierte Intendant René Pollesch im Sommer dorthin zurückkehrt, wo er seine Karriere einst begann, um die legendäre Bühne am Rosa-Luxemburg-Platz wieder mit neuem, möglichst provokantem und inspirierendem Theaterleben zu erquicken.

Weil zwei Frauen an der Front vielleicht nicht ausreichen, um den aufgestauten Ärger zu kanalisieren, die erzürnten Mitarbeiter zu beruhigen und – falls mal wieder in Zeiten der Pandemie gespielt werden sollte – die Zuschauer und die Kritiker zu besänftigen, ist auch gleich noch ein Interims-Direktorium installiert worden: Dazu gehören Thomas Walter (Geschäftsführer von 2014-2018), Klaus Michael Aust (Chefdisponent), Stefan Pelz (Technischer Direktor), Schauspieldirektor Thorleifur Örn Arnarsson sowie je ein Mitglied des Ensembles und des Personalrats. Hoffentlich geht das gut und der vielstimmige Leitungs-Chor kann sich gegen Kakophonie und Intrigen rechtzeitig wappnen.

Probleme begannen mit Castorfs Abschied

Was war geschehen? Nachdem Patriarch Frank Castorf gegen seinen Willen die Volksbühne (nach über 25 Jahren!) aufgeben musste, sollte der filigrane Chris Dercon dem Haus ein neues Image verleihen: jünger und performativer, interdisziplinärer und interaktiver sollte alles werden. Doch es wurde ein Reinfall. Zwischenzeitlich war das Theater sogar von rebellierenden Kunst-Aktivisten besetzt.

Dann sollte Klaus Dörr, der schon Regisseur und Intendant Armin Petras am Berliner Maxim-Gorki-Theater und am Schauspiel Stuttgart als Manager den Rücken frei gehalten hatte, den Riesentanker retten, einen Spielplan entwickeln. Plötzlich aber titelte die „taz“: „#MeToo an der Volksbühne“ und schrieb: „Mehrere Mitarbeiterinnen der Berliner Volksbühne erheben schwere Vorwürfe gegen Intendant Klaus Dörr.“

Warten auf René Pollesch

Zehn Frauen legten bei der Beschwerdestelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt Beschwerde ein. Dörr, so heißt es, habe Mitarbeiterinnen unangemessene SMS geschickt, sexistische Bemerkung gemacht, Frauen im Gespräch erniedrigt und beleidigt, anzüglich angestarrt und körperlich berührt. Kaum hatte Dörr das als „halt- und substanzlose Anschuldigungen“ abgetan und rechtliche Schritte angekündigt, ging er von Bord. Hinter den Vorwürfen, heißt es, stünden keine strafrechtlich relevanten Vergehen.

Was man einem bekennenden Macho wie Frank Castorf noch hat durchgehen lassen (denn er zahlte mit Aufsehen erregenden Inszenierungen zurück), wurde nun einem alerten Kunst-Manager (der sich vor allem mit Zahlen und Geld auskennt) zum Opfer.

Das neue Frauen-Duo muss jetzt die Scherben wegräumen, Ruhe bewahren, leise treten. Ein eigenes Programm und Profil sollen und wollen sie nicht entwickeln. Bald schon kommt ja Pollesch. Alle warten auf ihn, als wäre er der Heiland. Wenn sich da mal niemand täuscht.

 

 

 




„…weil man keine Wahl hat“ – ausgewählte Essays von Paul Auster aus 50 Jahren

„New-York-Trilogie“, „Brooklyn-Revue“, „Buch der Illusionen“, „Nacht des Orakels“: Die Liste der Romane, mit denen der amerikanische Schriftsteller Paul Auster seit Jahrzehnten ein großes Publikum erreicht, ist lang. Zuletzt veröffentlichte Auster unter dem Titel „4,3,2,1“ sein 1200-seitiges Opus Magnum. Jetzt hat er „Ausgewählte Essays und andere Schriften aus 50 Jahren“ zusammengestellt. Titel: „Mit Fremdem sprechen“.

Zwar sind einige Texte bereits im Band „Die Kunst der Hungers“ (2000) hierzulande veröffentlicht worden, aber die Hälfte (22 von 44) sind „Deutsche Erstveröffentlichungen“. Mit dem Begriff „Essay“ sollte man großzügig sein, denn eigentlich versucht Auster in den meisten kein Problem oder Thema einzukreisen, sondern sich selbst als Leser und Autor in Beziehung zu setzen zu einem anderen Künstler. Er überprüft Leben und Werk dieser Künstler darauf, was sie für ihn und für seine Art des Denkens und Schreibens bedeuten, was er dabei gelernt hat und für sein Werk fruchtbar machen konnte, das ja vor allem auf zwei Grundpfeilern steht: Das Leben besteht aus Zufällen und Literatur spiegelt nicht die Welt und erklärt nicht die Realität, sondern schafft mit Sprache eine eigene Wirklichkeit.

Auster ging nach seinem Literatur-Studium an der Columbia University in New York von 1971 bis 1974 nach Frankreich, versuchte sich als Lyriker und Übersetzer, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und entdeckte die europäische Literatur. In den Beiträgen, die er damals für Zeitschriften und Anthologien schrieb, beschäftigt er sich mit Baudelaire und Mallarmé, Apollinaire und Artaud, Samuel Beckett, Franz Kafka, Paul Celan, Hugo Ball, Knut Hamsun. Manchmal auch schaut er auf die amerikanischen Klassiker, Nathaniel Hawthorne, Edgar Allen Poe, Henry David Thoreau.

Schreiben ist Askese und manchmal Raserei

Leben und Werk von Frauen scheinen ihn nicht zu interessieren, um sich als ein Autor zu definieren, der in der Tradition der europäischen Moderne steht, der mit Postmoderne, Poststrukturalismus und Psychoanalyse bestens bekannt ist und sich im „Hungerkünstler“, wie er bei Hamsun oder Kafka auftaucht, wiedererkennt. Schreiben ist für ihn Ausdruck von Askese und Verzicht, ist schiere Notwendigkeit und trägt Züge des Irreseins, transportiert Momente der Raserei. Kunst ist ein ständiger Kampf mit der Einsamkeit, Schreiben ist ein Überlebensmittel. Sprache ordnet die Erfahrung und schafft eine eigene Wirklichkeit: „Von Sprache entfremdet zu sein“, schreibt er, „ist nichts anderes, als seinen Körper zu verlieren. Wenn dir die Worte versagen, zerfällst du in ein Bild von Nichts. Du verschwindest.“

Politische Beobachtungen nur am Rande

Der politische Beobachter Paul Auster kommt nur am Rande vor. Es gibt nur ein paar kleine Zwischenrufe. Einmal betet er für Salman Rushdie und ruft zur Solidarität mit dem damals von islamischen Fundamentalisten mit dem Tode bedrohten Autor auf; ein anderes Mal beobachtet er einen Mann, der durchs soziale Raster gefallen ist, der alles verloren hat und in einem Pappkarton haust; einmal erinnert er sich an den damaligen New Yorker Bürgermeister Giuliani, der eine provokative Ausstellung britischer Kunst verbieten lassen will, daran, dass Amerika eine Demokratie ist, in der Meinungs- und Kunstfreiheit herrscht.

Am Tage der Terroranschläge vom 11. September sitzt Auster nachmittags wie betäubt in Brooklyn am Schreibtisch und notiert: „Der Wind weht heute Richtung Brooklyn, und der Brandgeruch hat sich in allen Zimmern des Hauses festgesetzt. Ein entsetzlicher, beißender Gestank: brennende Kunststoffe, Stromkabel, Baumaterialien, eingeäscherte Leichen. (…) Es gibt kein Beispiel für das, was heute geschehen ist, und die Folgen dieses Anschlags werden zweifellos furchtbar sein. Mehr Gewalt, mehr Tod, mehr Schmerz und Leid für alle.“ Auster sollte recht behalten.

„Zweifellos eine seltsame Art, sein Leben zu verbringen“

„Mit Fremden sprechen“ hat Auster seine Rede überschrieben, die er zur Verleihung des Prinz-von-Asturien-Preises 2006 in Oviedo gehalten hat. Er versucht zu ergründen, was ihn um- und antreibt, warum er mit den Lesern, die er meistens gar nicht kennt und ihm völlig fremd sind, meint sprechen zu müssen: „Ich weiß nicht“, schreibt Auster, „warum ich tue, was ich tue. (…) Zweifellos eine seltsame Art, sein Leben zu verbringen: Allein in einem Zimmer sitzen, einen Stift in der Hand, Stunde um Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr, mühsam Worte zu Papier bringen, um etwas entstehen zu lassen, das es nicht gibt – außer im eigenen Kopf. Warum nur sollte jemand so etwas tun wollen? Die einzige Antwort, die ich darauf gefunden habe, lautet: weil man muss, weil man keine Wahl hat.“

Wir aber haben die Wahl: Wir können, indem wir seine Bücher lesen, ein Zwiegespräch mit ihm beginnen. Wir sollten es tun. Denn es gibt kaum einen anderen Autor, der uns so viel zu sagen hat und uns auf so viele neue Ideen bringt.

Paul Auster: „Mit Fremden sprechen.“ Ausgewählte Essays und andere Schriften aus 50 Jahren. Aus dem Englischen von Werner Schmitz, Robert Habeck, Andrea Paluch, Alexander Pechmann und Marion Sattler Charnitzky. Rowohlt Verlag, 412 Seiten, 26 Euro.




Die Leute sind oft anders, als wir meinen – Juli Zehs neuer Roman „Über Menschen“

Dora muss raus. Einfach weg von allem. Irgendwo neu beginnen. Raus aus dem hysterisch überdrehten Berlin, der Endlosschleife immergleicher Gespräche über gesunde Ernährung und korrekte Mülltrennung. Weg von ihrem Freund Robert, der sich vom Klima-Aktivisten zum Corona-Schamanen gewandelt hat und Gefolgschaft erwartet.

Seit die Pandemie da ist und die Menschen Masken tragen, kommt alles ins Rutschen. Beziehungen und Gewissheiten lösen sich auf. Die Werbe-Agentur, in der sie eben noch als Star-Texterin verehrt und gut bezahlt wurde, verdonnert Dora zum Homeoffice und wird ihr später per Mail die Kündigung aussprechen. Da ist Dora aber längst schon abgehauen, hat die Café-Latte-Schickeria, die Cancel-Culture- und Gender-Sternchen-Debatten abgeschüttelt wie lästige Fliegen, hat schnell ein paar Sachen und ihren Hund eingepackt und ist nach Bracken gefahren, einem (fiktiven) Kaff in der Prignitz.

Hier, in diesem Landkreis von Brandenburg, wo die Arbeit ausstirbt sind und die Zukunft keine Perspektive hat, die Fremdenfeindlichkeit zum Alltag gehört und die AfD besonders viele Wählerstimmen einheimst, hat sich Dora vor einiger Zeit ein altes Haus gekauft. Aus einer Laune heraus. Vielleicht auch, weil sie schon vor der Corona-Katastrophe ahnte, dass demnächst alles den Bach runter gehen und ihr bisherigen Leben zerbröseln wird wie ein trockener Keks.

„Ich bin hier der Dorf-Nazi“

Jetzt ist Dora in Bracken, allein mit sich, einem langsam dahin schmelzenden Bankkonto und einem verwilderten Garten, den sie schweißtreibend beackern muss. Und mit einem Nachbarn, Gottfried, genannt Gote, der jetzt, wo sie gerade die Sense schwingt und sich überlegt, wo sie Tomaten pflanzen könnte, seinen stiernackigen Glatzkopf über die Mauer reckt, sie anblafft, er werde ihren Hund platt machen, wenn er noch einmal seine Saatkartoffeln ausgräbt, um dann grinsend hinzuzufügen: „Ich bin hier der Dorf-Nazi.“

In ihrem neuen Roman „Über Menschen“ zerfleddert Juli Zeh genüsslich Vorurteile, kratzt beharrlich an fest getackerten Deutungsmustern, zeigt auf hinterhältig-heitere und kurios-komische Weise, dass es sich lohnt weiterzumachen, trotz Krise und Katastrophe, apokalyptischem Geraune und populistischer Propaganda. Die Welt ist schillernder und vielfältiger, als wir sie uns mit unserem simplen Schubladenken ausmalen, die Menschen widersprüchlicher und liebenswerter, als wir uns eingestehen, wenn wir mit unserem Schwarz-weiß-Denken Freund und Freund von einander scheiden und uns den Kontakt und das Gespräch mit Leuten ersparen, die anders ticken und denken als wir.

Zwei AfD-Typen sind schwul und pflanzen Cannabis

Alle haben Dora vor den dickschädeligen Menschen und dem dumpfen Rechtsradikalismus in der Provinz gewarnt. Aber dann geschehen Dinge, die Doras Weltbild ins Wanken bringen. Gote mag ein Nazi sein, aber er ist auch der fürsorgliche Vater eines kleinen Mädchens, ein sensibler Vogelkundler und ein Nachbar, der zupackt, für Dora Möbel schreinert und Wände streicht, einfach so, ohne irgendeine Gegenleistung zu fordern oder zu erwarten. Und die beiden Typen von gegenüber, die einen AfD-Aufkleber auf ihrem Pick-Up haben und sich über die blöden Politiker und weltfremden Entscheidungen im fernen Berlin aufregen, sind in Wahrheit ein schwules Paar und pflanzen nicht nur Blumen, sondern auch Cannabis.

Juli Zeh, die selbst mit ihrer Familie im Havelland lebt, weiß, wovon sie schreibt. Sie kennt ihre Provinz-Pappenheimer genau. Als sprachgewandte Schriftstellerin, die als Gast im Literarischen Quartett sitzt, durchschaut sie die Eitelkeiten und Einbildungen des intellektuellen Betriebes, als Richterin am Verfassungsgericht im Land Brandenburg weiß sie um  Schwächen und Ängste, Befangenheit und Fehlbarkeit von Mensch und Politik.

Im Roman „Unterleuten“ gelang ihr 2016 eine garstige Posse über Berliner Aussteiger und Selbstgerechtigkeit, über Verlierer und Gewinner der Wende, die das Leben dort, wo ländliche Idylle sein könnte, in eine selbst gezimmerte Hölle verwandeln. „Über Menschen“ fokussiert sich noch mehr auf die Nöte und Sorgen der so genannten kleinen Leute, die man heute nicht mehr ungestraft als „normal“ bezeichnen darf, wenn man nicht (wie Wolfgang Thierse) von Sprach-Polizisten als „identitätsfeindlich“ abgekanzelt werden und sich den Vorwurf einhandeln will, man würde andere gesellschaftliche Gruppen diskriminieren.

In der Provinz bleiben, weil es die Heimat ist

Natürlich gibt es bei Juli Zeh auch Nazis, die sich als „Übermenschen“ verstehen (aber keine Ahnung haben, wer Nietzsche war und was er mit dem Begriff meinte). Aber vor allem zeichnet sie satirisch zugespitzt und hart am Rande des Klischees Menschen, die uns berühren und bewegen, weil sie als allein erziehende Mütter (wie Nachbarin Sadie) nachts zur Arbeit ins ferne Berlin pendeln, um ihre Kinder ernähren zu können, oder mal eben (wie Nachbar Heinrich) mit einer Landmaschine vorbeikommen, um Doras verkrauteten Acker in eine blühende Landschaft zu verwandeln.

Es sind Menschen, die in der Provinz ausharren, weil es ihre Heimat ist, die bleiben, auch wenn die Landarzt-Praxen dichtmachen und die nächste Einkaufsmöglichkeit 18 Kilometer entfernt ist. Sie tragen keine Masken und fürchten sich nicht vor Corona. Aber sie sind genauso viel wert wie der sich im Berliner Biotop in Selbstmitleid verzehrende Gutmensch Robert. Oder der kultivierte Vater von Dora, der bei einem Rotwein gern über „Anspruchsdenken“ philosophiert und meint, das sei die wahre Pandemie. Das Gefühl der Leute, ein Anrecht zu besitzen auf mehr Sicherheit und mehr Komfort führe, weil man nie bekommt, was man will, zu Wehleidigkeit, Apokalypse-Ängsten und Verschwörungs-Theorien. Vielleicht hat er recht. Aber hilft das Dora, die jetzt zwar ein Haus auf dem Lande, aber keinen Job mehr hat? Oder Gote, der manchmal wüst herumpöbelt, aber dringend jemanden braucht, wenn sein Tumor aufs Gehirn drückt und er bewusstlos im Gras liegt? Mehr miteinander reden und einander besser zuhören: Das wäre vielleicht ein Anfang.

Juli Zeh: „Über Menschen“. Roman. Luchterhand, München 2021, 416 S., 22 Euro.




Finsteres Fazit: Cees Nootebooms „Abschied. Gedicht aus der Zeit des Virus“

Als Journalist und Lyriker, Romancier und notorisch Reisender ist Cees Nooteboom ständig unterwegs, beobachtet, beschreibt, erfindet sich und die Welt neu. In Venedig sucht er Schönheit und Vergänglichkeit, in Berlin ist er dabei, wenn die Mauer gebaut wird und wenn sie wieder fällt. Das verlorene Paradies findet er mal gleich nebenan, mal auf den Traumpfaden der Aborigines in Australien. „Abschied“ heißt das neue Buch des inzwischen 87-jährigen Autors. Der Untertitel lautet „Gedicht aus der Zeit des Virus“.

Doch Nooteboom macht sich keinen Reim auf die Pandemie, sie ist nur als Bedrohung im Hintergrund wahrnehmbar: eine Metapher für das Verschwinden und Vergehen, das ihn als Mensch und Autor erwartet. Ein Gedicht über das Leben und den Tod. Das Virus war noch nicht in der Welt, als Nooteboom auf Menorca damit beginnt, sein „Abschieds“-Gedicht zu schreiben, sich auf Zeitreise durch sein Leben begibt, mit vorsokratischen Texten von Empedokles spielt.

Dann bricht die Pandemie aus, er reist nach München, wo er sich einer Operation unterziehen muss und – kaum aus der Narkose erwacht – die leergefegten Straßen und Masken tragenden Menschen sieht und überall eine große Angst und Verwirrung spürt. Er fährt nach Holland, will am „Abschieds“-Zyklus weiterschreiben, doch die Notizen liegen unerreichbar auf Menorca, dazu die Pandemie, die alles ins Wanken bringt, neue Bilder und Gedanken hervorruft, seine Verse in eine ganz andere Richtung lenkt, bis er sich und uns fragt: „Das Ende vom Ende, was könnte das sein?“

„…und werde dann langsam / niemand.“

Nooteboom wählt für seine melancholischen Reflexionen über das Ende der Zeit und den Abschied vom Leben eine von Visionen und Fantasien, Andeutungen und Erinnerungen durchsetzte Sprache, die man nur schwer dechiffrieren kann. Das Langgedicht hat eine strenge, klassische Form: drei Teile, jedes Kapitel besteht aus 11 kleinen Gedichten, die auf drei Vierzeilern und einem kurzen Vers basieren und mit der nicht eben heiteren Erkenntnis schließen: „Jetzt ist Stille / der Rest der Strecke, / ohne Erinnerung / kein Leben. // Ich höre meine Schritte / nicht länger, / was mich umringt, / ist verborgen. // Blind lauf ich weiter, ein fahler Hund / in der Kälte. Hier muss es sein, / hier nehme ich Abschied von mir selbst / und werde dann langsam / niemand.“

Die beigefügten Zeichnungen von Max Neumann zeigen Gesichter mit aufgerissen Augen und zerfaserten Mündern, mit nervösen Strichen angedeutete Menschen, archaisch-zeitlose Kreaturen aus traumloser Zeit. Sie tragen schweres Gepäck und stapfen durch eine schwarz befleckte Welt, rufen nach Erkenntnis und Erlösung. Wie die verstörenden Zeichnungen künden auch Nootebooms Verse von „dunklen Wolken“ und vom „Krieg“, der die Erinnerungen auffrisst, von „Einsamkeit“ und „Leere“, vom „Verschwinden der Worte“ und der „Kloake der Evolution“, vom „Palaver der Welt“ und den „verkauften Visionen“, von „Verrat“ und „Verstümmelung“, von der „Vertreibung aus dem Paradies“ und vom „Trugbild“, das sich Leben nennt und sich manchmal ausdrückt in einem geglückten Gedicht.

Das Leben ist oft kaum zu ertragen, der Dichter ist nicht besser als alle anderen, ein erbärmliches Wesen, ein erfundenes „Genie, das seine Kotze verkauft / und die Seele dazu.“ Ein fürchterliches Fazit, ein endgültiger Abschied. Man kann sich kaum vorstellen, dass Nooteboom noch ein weiteres Buch schreiben könnte.

Cees Nooteboom: „Abschied. Gedicht aus der Zeit des Virus“. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Niederländischen von Ard Posthuma. Mit Bildern von Max Neumann. Suhrkamp, Berlin 2021, 88 S., 22 Euro.

 

 




Bedeutsam wie eh und je: George Orwells „Farm der Tiere“ gleich in zwei neuen Übersetzungen

„Kein Tier soll seinesgleichen je tyrannisieren. Schwach oder stark, schlau oder schlicht, wir sind alle Brüder. Kein Tier soll je ein anderes töten. Alle Tiere sind gleich.“ Mit diesem Schlachtruf beginnt der Aufstand der Tiere gegen die Unterdrückung der Menschen. Doch schnell gerät die Revolution aus dem Gleis.

Die Manesse-Ausgabe (Übersetzung: Ulrich Blumenbach). (© Manesse)

Statt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gibt es Terror, „Säuberung“ und Diktatur auf der „Animal Farm“, auf der die Schweine die Macht ergreifen und alle anderen Tiere versklaven: George Orwells „Farm der Tiere“ ist ein böses Märchen, eine Abrechnung mit der stalinistischen Pervertierung des Sozialismus. Jetzt sind gleich zwei neue deutsche Übersetzungen des 1945 veröffentlichten Romans erschienen.

Weltliteratur von gnadenloser Präzision

Wenn wir die „Farm der Tiere“ nur als wütende Abrechnung eines frustrierten Sozialisten mit der Einparteien-Diktatur Stalins lesen und hinter jedem Tier nur das Abbild eines realen Menschen suchen, dann bräuchte es wohl auch keine neue Übersetzung. Aber die „Farm der Tiere“ ist ein großes Stück Weltliteratur: perfekt konstruiert, sprachlich schillernd, politisch visionär, zeitlos aktuell. Orwell zeigt uns mit gnadenloser Präzision, wie schnell die schönsten Träume zerplatzen, die buntesten Wunschbilder von skrupellosen Demagogen in ihr Gegenteil verkehrt werden, wie Populismus funktioniert und Propaganda die Hirne vernebelt, wie sich Angst und Anpassung ausbreiten, wenn Gehirnwäsche und Säuberungswellen jeden Widerstand im Keim ersticken und Verschwörungstheorien die Wirklichkeit ersetzen.

Natürlich steht der fiese Eber „Napoleon“ für Stalin, das kluge Schwein „Schneeball“ für Trotzki, das arbeitssame Pferd „Boxer“ und der duldsame Esel „Benjamin“ stehen für die gutgläubige Arbeiterklasse, die blutlechzenden Hunde für die Geheimpolizei, die blökenden Schafe für das leicht manipulierbare Fußvolk: aber sie sind nicht nur Fabelwesen, sondern stimmige Archetypen, prägnante Charaktere, die uns glaubhaft von Machtmissbrauch und Lüge, Verrat und Mord erzählen. Es ist der wohl wichtigste politische Roman des letzten Jahrhunderts und zugleich das Buch der Stunde, das sprachlich immer geschliffen und geschärft und auf den neuesten Stand gebracht werden sollte.

Die dtv-Ausgabe (Übersetzung: Lutz-W. Wolff). (© dtv)

Als Kritik an Stalin in England verpönt war

Orwell hatte eigene Erfahrungen mit dem langen Arm Stalins und war der Überzeugung, dass der Sozialismus nur zu retten ist, wenn man bereit ist, Fehler einzugestehen und die Sowjetunion rücksichtslos zu kritisieren: „Seit gut einem Jahrzehnt habe ich den Eindruck“, schrieb Orwell in einem Essay, „dass das jetzige russische Regime überwiegend böse ist, und ich bestehe auf dem Recht, das laut zu sagen, auch wenn die UdSSR unser Verbündeter in einem Krieg ist, in dem ich unseren Sieg herbeisehne.“

Genau das aber war das Problem: Die meisten englische Intellektuellen, Verleger und die Politiker wollten keine Kritik an Stalin zulassen, niemand mochte den Verbündeten verärgern, man hatte sich wehrlos der sowjetischen Propaganda ausgeliefert und wollte von Säuberungen und Schauprozessen nichts hören.

Orwell wusste, wovon er sprach. Als Freiwilliger hatte er am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen und in einer trotzkistischen Miliz gegen die Faschisten gekämpft. Aber der Einfluss Stalins reichte bis nach Barcelona und führte dazu, dass alle Trotzkisten von ihren sowjettreuen Mitkämpfern verfolgt, vertrieben, ermordet wurden. Orwell konnte sich in letzter Minute nach England retten, doch keiner wollte ihm glauben, niemand wollte seinen Augenzeugenbericht „Hommage an Katalonien“ lesen, und auch als er seinen Roman „Farm der Tiere“ seinem Verleger zeigte, lehnte der auf Anraten der Zensurbehörden ab, ihn zu drucken. Orwell war geschockt von der intellektuellen Feigheit in England und wollte den Roman auf eigene Faust im Selbstverlag herausbringen, doch dann war der Heiße Krieg vorbei und wurde schnell zum Kalten Krieg – und der Roman konnte endlich erscheinen.

Eine Fassung ist deutlich eleganter

Es ist Geschmacksache, welche der beiden neuen Übersetzungen man bevorzugt, manche mögen es exakt, andere poetisch, mache bestehen auf Worttreue, andere schätzen den freien Umgang mit der Vorlage. Man muss nicht gleich tief ins sprachliche Unterholz des politisch komplexen Romans kriechen, es reicht schon, sich den ersten Absatz anzusehen, also den letzten friedlichen Moment, bevor der Aufstand der Tiere losbricht.

In der Version von Lutz-W. Wolff liest man: „Mr Jones von der Manor Farm hatte die Hühnerställe für die Nacht abgesperrt, aber er war zu betrunken, um daran zu denken, die Auslaufklappen zu schließen. Der Lichtkreis seiner Laterne tanzte von einer Seite zur anderen, als er über den Hof schwankte und an der Hintertür seine Stiefel abschüttelte. Er zapfte sich noch ein letztes Bier vom Fass in der Spülküche und machte sich auf den Weg nach oben ins Bett, wo Mrs Jones bereits schnarchte.“

Bei Ulrich Blumenbach heißt es dagegen: „Mr. Jones von der Herrenfarm verriegelte die Hühnerställe zur Nacht, er war so betrunken, dass er vergaß, die Klappen zu schließen. Der Lichtkegel seiner Laterne sprang hin und her, als er über den Hof torkelte, an der Hintertür die Stiefel abstreifte, sich am Fass in die Spülküche ein letztes Bier zapfte und die Treppe hoch ins Bett ging, wo Mrs. Jones schon schnarchte.“

Die Fassung von Ulrich Blumenbach ist eleganter, moderner, flüssiger als die etwas holzige und beflissene von Lutz-W. Wolff. In der Ausgabe von dtv schreibt Ilija Trojanow ein Vorwort, reist in Gedanken auf die schottische Insel, auf der Orwell zurückgezogen lebte und am Roman schrieb. Trojanow macht einen Nachfahren von Esel Benjamin ausfindig und diskutiert mit ihm über die Revolution, die für viele Beteiligte im Gulag endete: Der Kunstgriff soll keck und witzig sein, ist aber selbstverliebt und nervig.

Einfühlsames Nachwort von Eva Menasse

Beim Manesse-Verlag (Blumenbach-Übersetzung) verfasste Eva Menasse ein Nachwort,  sie stellt sich ganz in den Dienst des Buches, beschreibt einfühlsam die Faszination des Romans, die Leiden des Autors und die zeitlose Aktualität des tierischen Märchens. Während dtv noch viele Anmerkungen und eine Zeittafel mit Lebensdaten und Werken von Orwell auflistet, präsentiert der Manesse-Verlag zwei spannende Aufsätze: einen Essay über die von Selbstzensur und Opportunismus bedrohte Pressefreiheit sowie einen subversiven Text, den Orwell für eine ukrainische Ausgabe verfasst hat.

Doch für welche Aufgabe man sich auch entscheidet: Wenn die Tiere mitansehen müssen, wie ihre schweinischen Anführer wieder mit den verhassten Menschen gemeinsame Sache machen, hat der Roman nichts von seinem Schrecken verloren,: „Die Geschöpfe draußen sahen von Schwein zu Mensch, von Mensch zu Schwein und wieder von Schwein zu Mensch, aber es ließ sich schon nicht mehr sagen, wer was war.“ Da kann einem angst und bange werden.

George Orwell: „Farm der Tiere“. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Nachwort von Eva Menasse. Manesse Verlag, München 2021, 192 Seiten, 18 Euro.

George Orwell: „Farm der Tiere“. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. Vorwort von Ilija Trojanow. dtv, München 2021, 192 Seiten, 20 Euro.




Die schmerzliche Wahrheit zulassen – Patrick Modianos Roman „Unsichtbare Tinte“

Als Patrick Modiano 2014 den Nobelpreis für Literatur erhielt, hieß es in der Begründung der Jury, sein Werk stehe für „die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der deutschen Besatzung sichtbar gemacht hat.“ Auch in Modianos neuem Roman „Unsichtbare Tinte“ dreht sich alles um das Emporziehen von Ereignissen und Einbildungen aus den Tiefen des Unbewussten – und darum, ob Erkenntnis überhaupt möglich ist.

Ging es Modiano früher eher darum, gegen das Verdrängen und Vergessen von Nazi-Verbrechen anzuschreiben und das Schicksal von jüdischen Menschen zu rekonstruieren, die während der Nazi-Zeit spurlos verschwanden, so umkreist er jetzt die Frage, ob die Erinnerung und die Suche nach der verlorenen Zeit überhaupt Wirklichkeit abbilden und Wahrheit ans Licht bringen kann.

Studentenjob in der Detektei

Es ist die Geschichte von Jean Eyben, der seit vielen Jahren ein Rätsel mit sich herumschleppt: Jean war Mitte der 1960er Jahre knapp zwanzig, ein Student auf der Suche nach einer Bestimmung und Aufgabe in seinem Leben, als er für ein paar Wochen in einer Pariser Detektei anheuerte und auf den Fall einer verschwundenen jungen Frau angesetzt wurde, Noelle Lefebvre. Damals konnte er den Fall nicht lösen, die Frau war wie vom Erdboden verschluckt: Jean ist dann auch bald aus der Detektei wieder ausgestiegen und hat einen anderen Lebensweg eingeschlagen, sich mit Literatur und Kunst beschäftigt.

Doch das schmale Dossier zum Fall Noelle Lefebvre hat er damals mitgehen lassen und immer bei sich getragen. Es dient ihm jetzt, viele Jahre später, dazu, sich alles noch einmal zu vergegenwärtigen und aufzuschreiben: wie er durch Paris irrte, Bekannte und Arbeitskolleginnen der Verschwundenen ausfindig machte und befragte, dabei auf seltsame Widersprüche stieß und ihm schwante, dass Noelle eine Art Luftgeist war, ein geheimnisvolles Wesen, über das sich alle ihre eigenen Wahrheiten und Lügen zurechtgelegt hatten.

Das Tagebuch von Noelle, das Jean in ihrer Wohnung gefunden hat, bringt ihn nicht weiter, denn es ist mit „unsichtbarer Tinte“ geschrieben: Seiten, auf denen damals gar nichts vermerkt war, offenbaren jetzt plötzlich, weil die Tinte inzwischen wieder sichtbar wurde, Bemerkungen von Noelle, die Jean aber nicht entschlüsseln kann. Er bemüht sich zwar, den Nebel zu lichten, seine Erinnerungen mit Fakten zu füllen, aber alles bleibt – damals wie heute – verschwommen und rätselhaft.

Meister der literarischen Wendungen

Modiano ist ein Meister der poetischen Täuschung und der literarischen Wendungen. Wenn sich Jeans Erinnerungen als falsch erweisen, er beim Schreiben der Geschichte das Gefühl hat, alles sei bereits längst mit „unsichtbarer Tinte“ von irgendwem irgendwo aufgeschrieben, sein Schreiben diene nur dazu, sich seiner Geschichte zu stellen und sich einzugestehen, was ihn wirklich mit Noelle verbindet, dann bekommt alles noch einmal einen unerwarteten Dreh, wird die Erzähl-Perspektive verändert, werden alle Erinnerungen in ein anderes Licht gestellt, erhalten alle Fakten eine neue Bedeutung: Es kommt immer darauf an, welche Erinnerungen man zulässt, welche man lieber im Verborgenen belässt. Ob man bereit ist, der Wahrheit ins Auge zu sehen.

Die Wahrheit über den Fall der verschwundenen Noelle schlummerte schon immer in seinem Unbewussten, Jean muss sie nur zulassen. Und der Erzähler, der jetzt nicht mehr Jean ist, muss sich als jemand erweisen, der Schreiben als Suchbewegung begreift, als ein Herantasten an das, was passiert ist oder sein könnte. Die schmerzliche Wahrheit hat etwas mit der verdrängten Kindheit und problematischen Jugend von Jean zu tun, mit seiner Herkunft und damit, dass Erkennen meistens ein plötzliches Wieder-Erkennen ist.

Die Geschichte von Noelle, ihr Leben und ihr Verschwinden, wird sich – Simsalabim! – als ziemlich unspektakulär entpuppen. Die Lösung des Rätsels kennt nur Jean, der mit dem Schreiben eine Wirklichkeit erfinden kann, die es gar nicht gibt. Der Roman hat magische Züge, lässt manches aufscheinen, bevor es wieder verblasst, sich auflöst und vielleicht später wieder in anderem Licht eine neue Bedeutung bekommt. Es scheint, als habe Modiano seinen Roman selbst mit „unsichtbarer Tinte“ geschrieben.

Patrick Modiano: „Unsichtbare Tinte.“ Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2021, 126 S., 19 Euro.

 

 




Gespenster der Vergangenheit: Joanne K. Rowling sucht unter Pseudonym nach einer verschwundenen Frau

Eigentlich haben Privatdetektiv Cormoran Strike und seine Partnerin Robin Ellacott alle Hände voll zu tun. Weil sie einige Aufsehen erregende Kriminalfälle gelöst haben, wird ihre Agentur mit Aufträgen überschüttet.

Dass Kriegsveteran Strike, der in Afghanistan ein Bein verloren hat, ständig von Schmerzen geplagt und von einer selbstmordgefährdeten ehemaligen Geliebten bedrängt wird, dass seine an Krebs erkrankte Pflegemutter bald sterben wird und sein zeitlebens abwesender Vater, ein szenebekannter Alt-Rocker, plötzlich um die Sympathie und Vergebung seines Sohnes buhlt, macht den Alltag nicht leichter. Robin wird unterdessen bei der Scheidung von ihrem Ehemann in einen Rosenkrieg verwickelt und muss sich überdies gegen einen sexuell übergriffigen neuen Mitarbeiter zu Wehr setzen.

Nach 40 Jahren die Spur neu aufnehmen

Als wäre das nicht genug, werden Cormoran und Robin von einer Frau gebeten, ihre Mutter, Margot Bramborough, ausfindig zu machen, die vor 40 Jahren spurlos verschwunden ist. Die Polizei hat längst alle Ermittlungen eingestellt. Die Annahme, Margot sei Opfer eines psychopathischen Serienkillers geworden, der damals in der Gegend sein Unwesen trieb und seit Jahren hinter Gittern sitzt, hat sich nie beweisen lassen. Margots Leiche jedenfalls wurde nie gefunden. Und der Mann, der seine grausamen Taten ausführlich beschrieb und seine Opfer vor Gericht mitleidlos verhöhnte, hat sich nie zum Mord an Margot geäußert.

Nach so vielen Jahren die Spur wieder aufzunehmen, die alten Akten zu durchforsten, nach Zeugen zu suchen und aus dem Wust getrübter Erinnerungen und hartnäckiger Lügen die verborgene Wahrheit auszugraben: ein aussichtsloser Fall. Also genau das Richtige für Strike und Ellacott, die sich am liebsten von ihren Alltagssorgen befreien, indem sie dem Unerklärlichen nachjagen und die Gespenster der Vergangenheit ans Licht zerren.

Mit 1200 Seiten ein literarischer „Ziegelstein“

„Böses Blut“ ist bereits der fünfte Roman, den Joanne K. Rowling (die mit ihrer siebenbändigen Saga um den Zauberlehrling Harry Potter zu Weltruhm kam) unter dem Pseudonym Robert Galbraith verfasst hat. Das Buch ist mit 1200 Seiten ein literarischer „Ziegelstein“ und eine kriminalistische Zumutung.

Doch die Autorin ist eine Meisterin ihres Faches. Nie kommt Langeweile auf, nie weiß der Leser, zu welchem Ergebnis die Schnitzeljagd führen wird. Archive werden durchstöbert, unzählige Personen befragt, Möglichkeiten erwogen. Jeder hat etwas zu verbergen. Fast alle frühere Aussagen zum Verschwinden von Margot führen ins Leere, was die noch lebenden Angehörigen, Freunde und Praxismitarbeiter der früheren Ärztin aus ihren Erinnerungen hervorkramen, ist ein Abgrund an Verdrängung, Schuld und Scham. Dass der seinerzeit ermittelnde Kommissar einen fatalen Hang zu bizarren Horoskopen hatte, macht die Sache nicht leichter.

Vom Brexit zurück bis in die Hippie-Zeit

Um der Wahrheit näher zu kommen und die Geheimnisse zu lüften, unternimmt der Roman eine Zeitreise, pendelt  hin und her zwischen dem Großbritannien von gestern und heute, vom konservativen Rollback und dem nahenden Brexit zurück in die Spät-Hippie-Ära der 1970er Jahre. Hat die lebenslustige Margot, die eine Liaison mit einem ausgeflippten Künstler hatte, damals Ehemann und Tochter verlassen, weil sie das bürgerliche Korsett nicht mehr ertrug? Oder ist die erklärte Feministin vielleicht ermordet worden, weil sie Frauen behilflich war, Abtreibungen vorzunehmen?

Der Kriminalfall weitet sich zur soziologische Studie, zum philosophischen Exkurs, zur literarischen Suche nach den verdrängten Erinnerungen und der verlorenen Zeit. Auf der Folie von Musik und Mode, Politik und Geschichte werden Fragen der Geschlechts-Identität und der sexuellen Orientierung gestellt, wird ironisch mit Rollen-Klischees gespielt.

Heillos in den Gender-Diskurs verstrickt

Doch weder die psychologischen Tiefbohrungen noch die Einlassungen auf den Gender-Diskurs werden der Autorin, die neuerdings in den sozialen Netzwerken sogar mit dem Tode bedroht wird und deren Bücher in ekelhaften Videos auf dem Scheiterhaufen landen, bei der Beurteilung des Romans etwas nützen: Das liegt an Dennis Creed, dem kranken Serienmörder, der mit Identitäten jongliert und sich seinen Opfern, um sie in Sicherheit zu wiegen, in Frauenkleidern nähert. Schon als erste Roman-Details durchsickerten, wurde Rowling unterstellt, sie würde Vorurteile gegen transsexuelle Menschen haben und sie als perverse Monster darstellen.

Zorn und Wut hatte Rowling schon auf sich gezogen, als sie auf einen Zeitungsartikel, in dem Frauen als „Menschen, die menstruieren“ bezeichnet wurden, mit einem höhnischen Kommentar versah. In einem Essay berichtete sie von eigenen Erfahrungen mit sexueller Gewalt und sagte, sie habe Angst vor Männern, die, in Frauenkleider gehüllt, in die Toiletten und Umkleidekabinen von Frauen gelangen und dort ihre sexuellen Gelüste befriedigen. Es hat ihr nicht geholfen, ihre Kritiker zu besänftigen. Genauso wenig wie ihre Beteuerung, die Wahl ihres Pseudonyms sei aus einer puren Laune heraus entstanden und habe rein gar nichts mit dem amerikanische Psychiater Robert Galbraith Heath zu tun, einem notorischen Schwulen-Hasser, der Homosexuelle mit umstrittenen Folter-Methoden von ihrer vermeintlichen „Krankheit“ heilen wollte.

Dennis Creed, so viel sei verraten, ist jedenfalls ein perverser Fiesling, der Strike in abgründige Gespräche verwickelt…

Robert Galbraith (Joanne K. Rowling): „Böses Blut – Ein Fall für Cormoran Strike“. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Wulf Bergner, Christoph Göhler, Kristof Kurz. Blanvalet Verlag, München. 1200 Seiten, 26 Euro.




Keine Lust auf Endzeitstimmung – Ian McEwans Essays über „Erkenntnis und Schönheit“

Seine Bücher sind Weltbestseller, die Verfilmungen seiner Romane werden – wie „Abbitte“ mit Keira Knightley oder „Kindeswohl“ mit Emma Thompson – zu großen Kinoerfolgen. Jetzt hat Ian McEwan, der immer wieder auch als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, ein Buch mit dem Titel „Erkenntnis und Schönheit. Über Wissenschaft, Literatur und Religion“ veröffentlicht. Der britische Autor kann freilich nichts für den blumigen deutschen Titel: Im englischen Original heißt das Buch schlicht „Science“(Wissenschaft).

Die fünf Essays basieren auf Vorträgen, die McEwan zwischen 2003 und 2019 bei verschiedenen Gelegenheiten gehalten hat. Dabei geht es nie darum, seine eigenen Romane in einem wissenschaftlichen Kontext zu interpretieren. Er will zeigen, dass Erkenntnis schön und Schönheit erkenntnisreich sein kann. Dass Wissenschaft sich viel schneller als neue Wahrheit in der Gesellschaft verbreitet, wenn sie elegant formuliert ist. Dass Neues in Literatur und  Wissenschaft vor allem eines braucht: intellektuelle Neugier, Risikobereitschaft, den Mut zum Scheitern.

Kaum jemand wäre besser dafür geeignet, einen Blick in die Geschichte der Wissenschaft zu werfen, ihre Triumphe und Verirrungen zu beschreiben, ein Plädoyer für Vernunft und Neugier zu halten, interessiert sich McEwan doch brennend für juristische Probleme, politische Konzepte, religiöse Abgründe. In „Solar“ verhandelte er nicht nur das Schicksal eines abgehalfterten Nobelpreisträgers, sondern auch noch Grundfragen der Physik, der Umwelt-Politik und Klima-Wissenschaft. „Kindeswohl“, ein Roman über einen an Leukämie erkrankten Jungen, machte McEwan zu einem poetischen Traktat über Vernunft und Religion. In „Maschinen wie ich“ verknüpfte er ethische Probleme der künstlichen Intelligenz und Neurologie mit einer spannenden Romanhandlung über Liebe und Tod.

Einstein und Darwin als elegante Schriftsteller

In einem seiner Essays verhandelt er nun die Frage, was Literatur und Wissenschaft verbindet und was sie über die menschliche Natur aussagen. Am Beispiel von Einsteins Essay über die „Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie“ sowie Darwins Berichte „Über die Entstehung der Arten“ und den „Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren“ beschreibt McEwan, wie Wissenschaftler nicht nur den Mut haben, das Welt- und Menschenbild ihrer Zeit zu revolutionieren, sondern auch in der Lage sind, ihre neuen Erkenntnisse in elegante Literatur zu verwandeln.

Einstein hat gleichsam Gott vom Thron gestoßen und unser Universum aus den Wirkungsweisen von Raum und Zeit neu definiert. Darwin hat den Menschen nicht als Krönung der göttlichen Schöpfung, sondern als Ergebnis einer natürlichen Auslese und Teil einer Evolution neu definiert, die uns mit unseren direkten Verwandten verbindet: den Tieren, die uns in Mimik und Gestik ähneln und Scham und Schmerz, Angst und Freude auf ähnliche Weise ausdrücken wie der Mensch, über Generationen und Gesellschaften hinweg, so wie auch die Literatur, über Generationen und Gesellschaften hinweg, auf einen zeitlosen Fundus von Verständnis, Emotion und Intellekt zurückgreifen kann. Wie sonst könnte man erklären, dass die „Odyssee“ oder „Anna Karenina“ überall verstanden und genossen werden?

Wissenschaftler unter Zeit- und Erfolgsdruck

In einem anderen Aufsatz beschreibt McEwan, warum es für Wissenschaftler so wichtig ist, der Erste zu sein, warum Einstein und Darwin jahrelang herumtrödelten und erst einen Gang zulegten, als Konkurrenten am Horizont auftauchten, die zu ähnlichen Ergebnissen zu kommen schienen. Nur der Erste heimst allen Erfolg ein, nur über ihn wird geredet. Da haben es Schriftsteller einfacher: Zwar gibt es ein Copyright und ein Plagiats-Verbot, aber jeder Autor weiß, dass er auf den Schultern von Riesen steht und mit seinem neuen Gedicht oder Roman nur die Tradition fortschreibt, es sei denn, man heißt James Joyce und erfindet mit einem tausendseitigen Roman, der an einem einzigen Tag spielt und Erlebtes und Erdachtes sprachlich durch den Fleischwolf dreht, die Literatur völlig neu.

„Niemand wird uns retten, wenn wir es nicht tun“

Unter dem Titel „Endzeitstimmung“ versucht McEwan zu verstehen, warum immer noch Menschen an übernatürliche Kräfte und strafende Götter glauben, obwohl die Wissenschaft ständig Fortschritte macht und die Welt wie ein offenes Buch vor uns zu liegen scheint. Wie kann es sein, dass in den USA, die „weltweit für mehr als 4/5 der wissenschaftlichen Forschung verantwortlich“ sind und die meisten Nobelpreisträger stellen, „nur zwölf Prozent der Bevölkerung“ glauben, „das Leben auf der Erde habe sich durch natürlich Selektion ohne Intervention einer übernatürlichen Instanz entwickelt“? Die monotheistischen Religionen, schließt McEwan, basieren auf Endzeit-Visionen und der Lust auf die Apokalypse. McEwan schüttelt nur den Kopf: „Wir haben keinen Grund zu der Annahme, das irgendwelche Daten im Himmel oder in der Hölle vorgemerkt sind. Vielleicht vernichten wir uns selbst; vielleicht kommen wir davon. Uns dieser Ungewissheit zu stellen, ist ein Gebot der Reife und unser einziger Ansporn zu klugem Handeln. Niemand wird uns retten, wenn wir es nicht tun.“

Ian McEwan: „Erkenntnis und Schönheit. Über Wissenschaft, Literatur und Religion.“ Aus dem Englischen von Bernhard Robben und Hainer Kober. Diogenes Verlag, Zürich. 180 Seiten, 20 Euro.