„Bis zur Neige“: Polit-Krimi zwischen Wirt und Winzer, Wien und Berlin

Was haben ein Edelwinzer aus dem österreichischen Weinviertel und der Betreiber eines angesagten Berliner Szenelokals gemeinsam? Auf dem ersten Blick nicht viel, außer dass der joviale, mit Politik und Kultur gut vernetzte deutsche Wirt seinen Gästen die hochpreisigen Tropfen des Österreichers kredenzt.

Aber irgendeine tiefere Verbindung muss es zwischen Wirt und Winzer geben. Denn innerhalb kurzer Zeit werden beide Männer ermordet. Spielt sich da jemand als Racheengel auf und sühnt auf mörderische Weise eine fast vergessene Schuld?

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Wahrscheinlich wäre es kaum jemanden bei den ermittelten Behörden aufgefallen, dass die grenzüberschreitenden Morde zusammenhängen. Aber zum Glück gibt es da seit kurzem das Autorenduo Bielefeld & Hartlieb, das sich darauf spezialisiert hat, mit Berliner Schnauze und Wiener Schmäh eine Brücke zwischen den beiden Hauptstädten zu schlagen. Beide Autoren haben viele Jahre als Literaturkritiker gearbeitet und jetzt die Seiten gewechselt. Sie gehen ein hohes Risiko ein, denn der Literaturbetrieb kann gnadenlos sein und rächt sich liebend gern für verletzte Eitelkeiten.

Der in Berlin lebende Claus-Ulrich Bielefeld ist für den deutschen Kommissar Thomas Bernhardt zuständig, der, Mitte fünfzig und vom Leben gegerbt, genauso ein Misanthrop sein kann wie sein (am Ende ohne „t“ geschriebener) austriakischer Namensvetter. Die in Wien lebende Petra Hartlieb betreut die ungleich symapthischere und lebensfreudigere Kunstfigur der österreichischen Kommissarin Anna Habel, sie ist Ende dreißig, zäh und temperamentvoll. Wie der literarische Zufall es will, schätzen sich beide Polizisten nicht nur, sie kommen sich auch immer wieder bei ihren Ermittlungen in die Quere, streiten und versöhnen sich, wissen alles über menschliche Abgründe, politischen Machtmissbrauch und kulturelle Intrigen: ein intelligentes Paar, dem man gern zuhört, wenn es lustvoll sämtliche zwischen Deutschen und Österreichern bestehenden Vorurteile durch den Kakao zieht.

Nach der Krimi-Prämiere mit „Auf der Strecke“, einem mörderischen Spiel im gehässigen Literaturzirkus, folgt jetzt die Reifeprüfung: „Bis zur Neige“ verknüpft auf elegante und spannende Weise Politik und Verbrechen. Um die Morde an Edelwinzer Freddy Bachmüller und Lokal-Größe Ronald Otter aufzuklären, muss man in die Vergangenheit hinabsteigen, in die Zeit, als bewaffnete Desperados den revolutionären Kampf in die westeuropäischen Metropolen tragen wollten, als Terroristen sich zu Befreiungskämpfern stilisierten, Banken überfielen, Industrielle entführten und Gesinnungsgenossen aus dem Gefängnis freipressten.

Lange vorbei, aber nicht vergessen. Jedenfalls nicht von den Opfern und Hinterbliebenen. Sie können nicht verstehen, wieso viele Ex-Terroristen auf freiem Fuß sind oder nie angeklagt wurden, weil sie den Geheimdiensten Informationen zuspielten und einen Deal mit den Staat haben. Bei ihren Recherchen müssen Bernhardt und Habel durch einen Sumpf aus Verdrängen, Vergessen und Vertuschen waten und erkennen, dass jemand, der früher die Vertreter des „Schweinesystem“ abknallte, heute durchaus ein hoch angesehenes Mitglied der feinen Gesellschaft sein kann. Manchmal tut es weh und macht einen ratlos, was die beiden unermüdlichen Polizisten ausgraben. Aber gut geschrieben und oft überraschend ist es allemal.

Bielefeld & Hartlieb: „Bis zur Neige. Ein Fall für Berlin und Wien.“ Roman. Diogenes Verlag, Zürich, 472 Seiten, 16,90 Euro.




Ein russischer Alptraum: Vladimir Sorokins Roman „Der Schneesturm“

Landarzt Garin kommt einfach nicht vom Fleck. Seine eigenen Pferde sind total erschöpft und machen schlapp. Und der einfältige Brotkutscher Kosma, dessen Gefährt von unzähligen winzigen Pferchen gezogen wird, scheint weder die Gegend noch die einzuschlagende Richtung wirklich zu kennen. Dabei müsste Garin so dringend nach Dolgoje.

Denn in dem kleinen Dorf, das irgendwo in der weiten Steppe Sibiriens liegt, ist eine seltsame Krankheit ausgebrochen, die die Menschen in fleischfressende Zombies verwandelt. Der Landarzt hat das Serum in der Tasche, das man den Infizierten einimpfen muss, um sie vom Werwolfsyndrom zu heilen. Doch Garin und sein Begleiter stecken immer wieder im Schnee fest. Und wenn sie mal vorankommen, dann verlieren sie im unaufhörlichen Schneegestöber die Orientierung. Manchmal kommt es ihnen vor, als würden sie ständig im Kreis fahren, und die Menschen, die sie in den abgelegenen Dörfern treffen, sind auch keine Hilfe.

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Außerdem sehen einige eher aus wie Zwerge, andere gleichen Riesen. Diese Menschen-Mutanten stopfen sich mit Drogen voll und zerren den verwirrten Landarzt ins Lotterbett. Und was machen eigentlich diese arroganten Chinesen hier in Russlands Kältekammer? Wieso verfügen sie über neueste Apparate und technische Wunderwaffen? Haben die Chinesen vielleicht inzwischen die Macht übernommen, ohne dass irgendjemand im fernen Kreml davon etwas mitbekommen hat?

Es ist eine bizarre und skurrile, manchmal auch märchenhafte und unwirkliche Welt, in die Vladimir Sorokin die Leser seines Romans „Der Schneesturm“ entführt. Nicht nur Landarzt Garin, ganz Russland scheint in einer Art Zeitschleife gefangen zu sein. So sehr sich Garin auch bemüht, er erreicht nichts, dreht sich im Kreis, findet einfach nicht den Weg in die Zukunft. Im Gegenteil. Es scheint eher, als führe er rückwärts, immer weiter in eine von Despotismus und Gewalt, von archaischen Riten und absolutistischer Willkür geprägte Vergangenheit.

Sorokin ist ein gewiefter Erzähler und baut ein absurdes Erzähllabyrinth. Stil und Tonfall lassen für Momente vermuten, wir wären im 19. Jahrhundert. Nicht nur der Titel des Romans verweist auf die gleichnamige Novelle von Puschkin, in der ein verzweifelter Bräutigam im Schneesturm die eigene Hochzeit nicht finden kann. Auch die Hauptfigur erinnert stark an jene Landärzte, die Tschechow und Turgenjew beschrieben haben und die für ihren meist aussichtslosen Kampf gegen die Lethargie und Melancholie der Russen berühmt wurden. Für Momente mag man auch glauben, Sorokin, dieser zynische Beobachter und beissende Kritiker der gelenkten russischen Demokratie, die sich immer mehr als Diktatur erweist, sei milde geworden und habe sich in ein vom Schneegestöber bemänteltes Märchenland geflüchtet. Doch weit gefehlt!

Sorokin, der 1955 in Bykowo bei Moskau geborene Autor, der in seiner Heimat angefeindet wird und dessen Bücher von Vladimir Putins Jugendorganisation schon einmal in einem riesigen Klo öffentlich verbrannt wurden, macht da weiter, wo er zuletzt mit „Der Tag des Opritschniks“ und „Der Zuckerkreml“ aufhörte. Diese Romane spielen in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der Russland sich vom Westen abschottet und sich in China mit High-Tech-Produkten versorgt – und sich vielleicht auch schon ganz der chinesischen Übermacht ausgeliefert hat. In einem Russland, in dem Mord und Vergewaltigung, Drogenexzesse und Liquidierung der Opposition an der Tagesordnung sind. Diesmal mag das alles etwas versteckter, dezenter, märchenhafter daher kommen. Doch für den, der die Symbolik und den Schnee beiseite räumt, wird die ätzende Systemkritik Sorokins auch am grotesk-imaginär beschrieben Russland deutlich erkennen.

Erst allmählich merkt man: Landarzt Garin muss wieder die Pferde anspannen, weil die Erdölvorkommen versiegt, Autos und Elektroschlitten unbrauchbar geworden sind. Garin kämpft gegen seltsame Krankheiten, weil die Biotechnologie völlig aus dem Ruder gelaufen ist und zu tödlichen Epidemien führt. Arbeitslosigkeit und Armut haben ganze Landstriche entvölkert. In diesen Todeszonen und aufgegebenen Arealen scheinen sich nur noch Mutanten aufzuhalten oder Chinesen, die mit ihren Riesenschlitten durch den Schnee sausen und ihre eigenen Interessen haben. Garin wird dagegen nichts ausrichten können. Eine wilde Liebesnacht, ein ausgeflippter Drogenrausch, das ist alles, was bei seinem Trip durch den Schnee herauskommt. Ein russischer Don Quixote, der gegen die Windmühlen der russischen Diktatur kämpft und in der tödlichen Kälte auch noch seinen Sancho Pansa verliert.

Vladimir Sorokin: „Der Schneesturm“. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 207 S., 17,99 Euro.




Enzensberger rät: „Nur keine Panik!“

Er ist der Tausendsassa unter den deutschen Schriftstellern. Er ist Lyriker und Herausgeber, Erzähler und Zeitschriftengründer: Wenn man Hans Magnus Enzensberger auf eine Position festnageln will, hat er sie garantiert schon wieder verlassen und ist aufgebrochen zu neuen intellektuellen Ufern.

Den Marxismus benutzt er als Baukasten, die Mathematik als Denkmodell. Jetzt beruft sich der inzwischen 82-jährige Autor, der immer schon ein Faible für Diderot und die französischen Aufklärer hatte, auf Michel de Montaigne. Schon der Ahnherr des Essays wusste, dass man große Themen auch auf wenigen Zeilen abhandeln kann.

„Gründlichkeit ist nicht meine Stärke“, witzelt Enzensberger und entwirft ein Panoptikum kultureller Kuriositäten und politischer Abnormitäten. In seinen „Zwanzig Zehn-Minuten-Essays“ geht es mal um die „Tücken der Transparenz“, mal um das „köstliche Unbehagen an der Kultur“. Alexander von Humboldt wird als Kronzeuge im „Stammeskrieg zwischen Macht und Intelligenz“ herbeizitiert, und selbst die Frage „Muss Sex sein sein, und wenn ja, wie?“ wird vom ironischen Flaneur augenzwinkernd umkreist.

Ob Geheimdienste, ob Rentenangst: Enzensberger hat auf alles einen unkonventionellen Zugriff. Weil er weiß, dass kein System ohne Chaos und keine Diktatur ohne Nischen denkbar ist, nimmt er uns auch die Angst vor der digitalen Überwachung: „Nur keine Panik! Auch in Zukunft wird jeder, der es nicht lassen kann, relativ unbeachtet, sorglos und analog essen und trinken, lieben und hassen, schlafen und lesen können.“

H. M. Enzensberger: „Enzensbergers Panoptikum. Zehn Zwanzig-Minuten-Essays.“ Suhrkamp, Berlin, 141 S., 14 Euro.




Abstieg in die Hölle – Richard Fords Roman „Kanada“

Wenn die ersten Sätze eines Romans wirklich gut sind, fangen sie den Leser sofort ein, geben sie den Takt vor, deuten an, wohin die Reise gehen wird und wie der Autor seine Expedition in unbekanntes Gelände anpacken will.

Richard Ford, der mit seinen Romanen über den Sportreporter und Immobilienhändler Frank Bascombe Literaturgeschichte schrieb und seit Jahren als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, weiß um die Kraft und die Faszination des Anfangs. Aber so frontal wie in seinem neuen Roman „Kanada“ ist auch Ford noch nie in einen Roman eingestiegen: „Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben. Dann von den Morden, die sich später ereigneten. Der Raubüberfall ist wichtiger, denn er war die entscheidende Weichenstellung in meinem Leben und in dem meiner Schwester. Wenn von ihm nicht als Erstes erzählt wird, ergibt der Rest keinen Sinn.“

Ein Anfang wie ein episches Theaterlehrstück von Brecht: Die wichtigsten Ereignisse werden laut ausposaunt, jetzt geht es um Erkenntnisgewinn und Anleitung zum Handeln. Doch seltsam, wer glaubt, die Spannung würde beim Leser sogleich auf den Nullpunkt sinken, täuscht sich gewaltig: Dringend will man erfahren, wie alles passierte und welche Auswirkungen der Raubüberfall und die Morde auf das Leben des Ich-Erzählers hatten.

„Der Sportreporter“, „Unabhängigkeitstag“, „Die Lage des Landes“: Schon das waren große Romane, in denen Richard Ford das ebenso moderne wie archaische, ebenso faszinierende wie widersprüchliche Amerika literarisch vermessen hat. „Kanada“ ist sein Meisterstück. Es handelt von Angst und Verlust, von der Zerstörung einer Familie und davon, dass wir aufhören sollten, unaufhörlich nach dem Sinn des Lebens zu suchen.

Sich anpassen an die Gegebenheiten, das Gute in den alltäglichen Dingen suchen, nach Niederlagen immer wieder aufstehen und wie Sisyphos den Stein auf den Berg hinauf rollen: Das ist die Grundhaltung, die den 16-jährigen Dell Parsons überleben lässt. Jetzt, 50 Jahre später, berichtet er, welche Folgen es hatte, dass seine Eltern nicht zusammenpassten, der Vater nach seinem Militärdienst im bürgerlichen Leben nicht Fuß fassen konnte, seine Mutter sich als Lehrerin durchschlug und eigentlich lieber Künstlerin geworden wäre. Weil das Geld für ein auskömmliches Leben in der der Kleinstadt Great Falls/Montana nicht reicht, überfallen Dells Eltern im Jahr 1960 eine Bank und werden verhaftet: für Dell und seine Schwester Berner das Ende aller Gewissheiten und der Aufbruch ins Ungewisse. Der Vater nimmt das Schicksal gefühllos und fatalistisch hin, die Mutter legt in einem Tagebuch Rechenschaft ab und begeht im Gefängnis Selbstmord.

Um nicht ins Heim gesteckt zu werden, flieht Berner nach San Francisco, nimmt Drogen, wohnt in besetzten Häusern. Dell wird von der Freundin seiner Mutter zu einem Verwandten nach Kanada gebracht. Doch was für Dell die Rettung werden soll, wird zum Abstieg in die Hölle. Denn der Junge landet bei dem Hotelbesitzer Arthur Remlinger, einem Mann mit dunkler Vergangenheit, einem glühenden Fanatiker und gewaltbereiten Weltverbesserer. Vor Jahren hat er in Detroit bei einem Terroranschlag getötet. Und er wird wieder morden. Kalt und zynisch wird er zwei eigens aus den USA angereist Detektive abknallen wie streunende Hunde.

Dell kann sich nicht allein aus den Fängen dieses diabolischen Mörders befreien, er braucht – wieder – die Hilfe einer Frau, die ihn rettet und sein Leben in die Hand nimmt. Während die Männer, die Väter und Ersatzväter, gewissen- und gedankenlos agieren, behalten die Frauen klaren Kopf und eindeutige moralische Positionen. Es ist, als wandle Dell durch einen surrealen Albtraum. Wie in Trance erlebt er das Trauma des Unbehausten, das Drama des Verwaisten. Richard Ford zeigt, wie schnell die Normalität in Wahnsinn umkippen kann und wie der Zufall darüber bestimmt, welche Richtung das Leben nimmt. Es ist ein lebenspraller und weiser, ein überwältigender und bei aller Melancholie doch auch befreiender Roman.

Dell, der nach dem Tod seiner Schwester auf die Launen des Schicksals und die unabwendbaren Katastrophen blickt, tröstet sich mit dem Gedanken, dass man bessere Überlebenschancen hat, wenn man mit Verlusten umgehen kann und es schafft, das Gute im Ganzen zu suchen: „Wir versuchen es. Wir alle. Wir versuchen es.“

Richard Ford: „Kanada“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Hanser Berlin, 464 Seiten, 24,90 Euro.




John Irvings Roman „In einer Person“: Ein junger Mann sucht seine sexuelle Identität

Schauspieler leben gefährlich. Vor allem wenn sie jung sind, fast noch ein Kind, und nicht nur früh den Verlockungen des Theaters, sondern sich auch der Vielfalt der Rollen erliegen.

Dass Männer in Frauenkleider schlüpfen (und umgekehrt) und dass eine faszinierend schöne Schauspielerin in Wirklichkeit ein hormonbehandelter ehemaliger Mann ist, lernt der pubertierende William Abbott jedenfalls schon sehr früh. Seine Mutter arbeitet als schlecht bezahlte Souffleuse am Theater der (fiktiven) Kleinstadt „First Sister“. Sein Großvater trägt auf der Bühne gern Frauenkostüme und warnt den jungen, ebenfalls zum Theater drängenden William, dass es für einen Schauspieler manchmal schwer ist, bei all den Rollen und Identitätsvariationen den Überblick zu behalten und noch zu wissen, wer und was man eigentlich ist.

Miss Frost, seine Lieblingsbibliothekarin, die William mit den Romanen von Dickens und den Dramen von Ibsen vertraut macht, verliert ihren Job, als bekannt wird, dass die große Diva der Laien-Theatertruppe des Ortes früher ein Mann war und heute junge Knaben sexuell verführt. Was für William eine durchaus erregende Erfahrung ist, wird im Ort zum riesigen Skandal. Spätestens da weiß William, dass er das miefige Provinzkaff erst einmal für eine Weile verlassen und herausfinden muss, was er vom Leben und der Kunst erwartet und wie er es schaffen könnte, seine sexuellen Leidenschaften für Mann und Frau, die sich bei ihm „In einer Person“ zu einem explosiven Amalgam vermischen, ausleben zu können.

„In einer Person“ ist nun bereits der dreizehnte Roman von John Irving. Und wie die meisten seiner Vorgänger verarbeitet auch das neue Buch wieder viele biografische Erfahrungen des Autors zu einer weit ausgreifenden literarischen Fiktion. Denn ob in „Garp“ oder in „Owen Meany“, „Zirkuskind“, „Bis ich dich finde“ oder „Letzte Nacht in Twisted River“: Immer ist auch ein Stück fiktionalisiertes eigenes Leben in den Romanen des Autors versteckt. Auch Irvings Mutter war Souffleuse am Theater, auch Irving liebt Dickens und Ibsen, auch Irving wurde als Jugendlicher von einer älteren Frau ins Sexleben eingeführt. Auch Irving ist Scheidungskind und hat viele Jahre gebraucht, bis er seinen leiblichen Vater wiedergefunden hat. Auch Irving ist, wie sein Held William Abbott, passionierter Ringer. Man könnte ewig so weitermachen.

Aber was besagt das schon über die Qualität und die Sprengkraft von „In einer Person“, diesem vorwitzig und freizügig erzählten Roman über die Faszination des Theaters, die Schwierigkeit individueller Identitätsbildung und die sexuelle Prüderie im Amerika der 50er und frühen 60er Jahre? Der Held und Erzähler William Abbott, der auf sein bewegtes Leben als Bisexueller zurückblickt, nimmt den Leser mit auf eine Reise ins Herz der Finsternis sexueller Befreiung: Denn auf die große sexuelle Sause der Schwulenbewegung der 70er Jahre folgte in den 80ern mit der Aids-Epidemie das große Sterben. Für William, der alle sexuellen Spielarten erprobt und das hippe Leben in New York und San Francisco genossen hat, wird es Zeit, wieder nach Vermont, in seine Heimat, zurückzukehren und dort, ganz im Stillen und Kleinen, zu versuchen, seine Träume von der der großen Liebe zu verwirklichen.

Dass Irving genauso so alt ist wie sein Erzähler und sich ebenfalls gern in den Naturschönheiten und Weiten Vermonts verliert, sollte den Leser nicht zum Kurzschluss verleiten, er sei mit William identisch. Im Gegenteil. Der Roman, das verriet Irving in einem Interview, sei eine Hommage und eine Liebeserklärung an seinen Sohn Everett. Der hatte sich 2009, gerade als Irving mit dem Schreiben des Buches begann, seinem Vater gegenüber als Schwuler geoutet. Vielleicht hat das dazu beigetragen, dass der filigran konstruierte und mit deftigem Humor erzählte Roman den Leser nicht nur glänzend unterhält und amüsiert, sondern auch, wenn Freiheit und Vorurteil, Lust und Tod eng beieinander sind, zutiefst berührt.

John Irving: „In einer Person“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Hans M. Herzog und Astrid Arz. Diogenes-Verlag, Zürich, 725 Seiten, 24,90 Euro.




Vorwärts in die Vergangenheit: Verrückte Verlockung in Martin Suters „Die Zeit, die Zeit“

Schon immer hatte der Mensch das Bedürfnis, die Zeit zu besiegen und, wer weiß, vielleicht unsterblich zu sein. Von der Faszination, mal in die Vergangenheit, mal in Zukunft zu reisen, die Fehler von einst zu korrigieren und die Aussichten auf ein besseres Morgen zu verbessern, handelt ein ganzes literarisches Genre. Und wissen wir nicht spätestens seit Albert Einstein, dass Zeit und Raum nicht nur gekrümmt, sondern auch ziemlich relativ sind?

Der Schweizer Autor Martin Suter, dessen Romane seit Jahren auf den Bestenlisten stehen und der zuletzt mit den ersten Bänden der pfiffigen Krimi-Serie über den halbseidenen Dandy „Allmen“ bei den Lesern punkten konnte, nimmt sich jetzt in seinem Roman „Die Zeit, die Zeit“ nicht nur der Relativitätstheorie an. Er nutzt auch die Sehnsucht der Menschen, mit dem Wissen von heute in die Vergangenheit hinabzusteigen, um die Zukunft freudiger gestalten zu können, für ein furioses kriminalistisches Spiel.

Peter Taler wird seines Lebens nicht mehr froh. Vor einigen Monaten ist seine Frau ermordet worden, direkt vor ihrer Wohnung. Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Ein Motiv ist nicht erkennbar. Hätte Taler, der sich kurz zuvor mit seiner Frau gestritten hatte und dann die beleidigte Leberwurst spielte, schneller auf das verzweifelte Klingeln seiner Frau reagiert, die Verblutende wäre vielleicht noch zu retten gewesen. So aber bleibt dem Trauernden nur, Tag für Tag aus dem Fenster zu schauen und seine Nachbarschaft zu beobachten.

Denn irgendetwas hat sich verändert, da draußen auf der Straße und in den Gärten und Häusern der anderen. Vor allem beim alten Knupp von gegenüber scheinen sich seltsame Dinge abzuspielen. Nur was und warum? Taler ahnt nicht, dass nicht nur er den 80-jährigen Knupp beobachtet, sondern der grimmige Kauz auch ein Auge auf Taler geworfen hat und alle seiner Regungen registriert. Denn auch Knupp hat seine Frau verloren, allerdings schon vor 20 Jahren. Seitdem ist sein Leben zerstört. Er kann und mag nicht allein leben, deshalb will er seine Frau wieder zum Leben erwecken und wie einst Orpheus ins Totenreich hinabsteigen, um die Geliebte zurückzuholen. Um seine Pläne in die Tat umsetzen zu können, sucht er einen Bruder im Geiste, einen Verbündeten für ein waghalsiges Experiment: Knupp will die Zeit besiegen, indem er die Umwelt, das Haus, den Garten, die Wohnung, eben alles so rekonstruiert und gestaltet, wie es zum Zeitpunkt des Todes seiner Frau aussah.

Taler sperrt sich lange gegen die Verführungskünste des Alten. Doch irgendwann erliegt er den verrückten Verlockungen, auch weil der Zeitreisende ihm verspricht, durch ein Loch in der Zeit den Gang der Welt verändern zu können und den Mord an seiner Frau ungeschehen zu machen. Was für ein hanebüchener Blödsinn, denkt vielleicht der Leser. Aber dann folgt man doch atemlos der spannend erzählten und filigran konstruierten Geschichte. Suter schafft es, den Leser vollends zu verwirren und zu faszinieren und dafür zu sorgen, dass wir das Unmögliche für machbar halten.

Martin Suter: „Die Zeit, die Zeit“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich, 297 S., 21,90 Euro.




Sommernachtstraum im Park von San Francisco

Im Buena-Vista-Park von San Francisco spielen tagsüber die Kinder. Vielköpfige Familienclans bevölkern die Grünflächen. Des Nachts treffen sich hier im Schutz der Bäume und Büsche die Verliebten, es streifen einsame Herzen auf der Suche nach ein bisschen Glück durch den im Dunklen liegenden Ort.

Dass die Menschen ihre Lebens- und Liebesspiele direkt unter den Augen von Elfen, Zwergen und Kobolden vollbringen, auf diese Idee kann man kommen, wenn man Shakespeares „Sommernachtstraum“ als zeitlose Geschichte über die Freiheit der Fantasie und das Ineinander von Wunsch und Wirklichkeit liest und als immer wieder frische Parabel auf die Nähe von Lust und Leid und die Allgegenwärtigkeit des Todes versteht.

Chris Adrian gilt als neuer Stern am US-amerikanischen Literaturhimmel. Der 1970 in Washington geborene und heute in San Francisco lebende Autor studierte Theologie und Medizin. Er arbeitet als Arzt auf einer Station für krebskranke Kinder. Den Roman „Die große Nacht“, in dem Adrian die Grenzen zwischen Zeit und Raum, Traum und Realität verwischt und Shakespeares „Sommernachtstraum“ in die Gegenwart holt, hat er den langen, schlaflosen Nächten abgerungen, der Verzweiflung und Hilflosigkeit, die ihn überfällt, wenn er das Dahinsiechen und Sterben seiner kleinen Patienten mitansehen muss. Der „New Yorker“ wählte ihn jüngst zu einen der wichtigsten jungen amerikanischen Autoren dieser Tage. ZDF-Journalist Wolfgang Herles pilgerte eigens mit seinem „Blauen Sofa“ nach San Francisco, um den neuen Literaturstar zu interviewen.

Erstaunlich, wie leichthändig der hochtalentierte Adrian mit dem mythenbeladenen und auf den Bühnen dieser Welt beinahe zu Tode inszenierten Stoff umgeht. Dass ihm bei seiner modernen Shakespeare-Version Botho Strauß und dessen Sommernachtstraum-Variation „Der Park“ behilflich gewesen sein könnte, ist mehr als wahrscheinlich. Denn wie bei Strauß dampft es auch in Adrians nächtlichem Park vor sehnsuchtsvoller Sinnlichkeit und purem Sex. Und wie bei Strauß streiten sich auch diesmal das sich unters gemeine Menschenvolk mischende Elfenkönigspaar Titania und Oberon um einen sterblichen Knaben. Oberon hat das Kind einer Menschenmutter geraubt und seiner Titania ins Bett gelegt. Die hat sich so sehr an den fröhlichen Wonneproppen gewöhnt, dass sie unendlich leidet, als das Kind an Leukämie erkrankt und weder von ihrem Elfenzauber noch von den Medikamenten und Apparaten der Ärzte zu retten ist. Zorn und Verzweiflung sind so groß, dass Titania nicht nur Oberon beleidigt und verstößt, sondern auch noch den hinterhältigen Dämon Puck von seinem Sklavendasein befreit und zu einem Monster macht, das in seinem Hass mordend durch den Park wütet.

Pucks Blutrausch und das Gezeter der um ihr Leben flüchtenden Elfenbande hat erheblichen Einfluss auf die nachts durch den Park irrenden Menschen. Vor allem Molly, Will und Henry werden arg in Mitleidenschaft gezogen. Eigentlich suchen die drei, die alle gerade einen geliebten Menschen verloren haben und nun mit der Liebe und dem Leben hadern, nur die Villa eines Freundes, der in seinem verwilderten Garten eine seiner legendären Feste veranstaltet. Sie wollen endlich einmal wieder fröhlich sein, die Einsamkeit und den Tod vergessen. Doch nun werden sie von Elfen verwirrt und verzaubert. Sie wissen nicht mehr, ob sie träumen oder wachen. Im verwunschenen Park warten dunkle Erinnerungen und peinigende Ängste genauso wie seltsame erotische Begegnungen und neue befreiende Hoffnungen. Und was hat es eigentlich mit dieser merkwürdigen Truppe von Laiendarstellern auf sich, die im schummrigen Mondlicht ein Polit-Musical probt und mit ihren Songs dagegen protestiert, dass in San Francisco angeblich Obdachlose verschwinden, zu Menschenfleisch verarbeitet und den Armen und Bedürftigen zur kostenlosen Speisung vorgesetzt werden?

Sehr undurchsichtig und gefährlich, aber auch sehr komisch und fantastisch ist diese „große Nacht“, die Adrian vor den staunenden Augen des Lesers ausbreitet. Wenn das erste Tageslicht den Park erhellt, wird die Welt eine andere und der Leser um einige köstliche Erlebnisse reicher sein.

Chris Adrian: „Die große Nacht“. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Piltz. Rowohlt-Verlag, 445 S., 14,95 €




„Der Augentäuscher“: Ist die Fotografie eine Erfindung aus der Barockzeit?

Ein arbeitsloser Kunsthistoriker ist auf der Suche nach dem ganz großen Coup. Wäre es nicht eine Sensation, wenn er Bilder von Silvius Schwarz auftreiben und beweisen könnte, dass der Künstler tatsächlich gelebt hat?

Denn hartnäckig hält sich das Gerücht, dieser Silvius Schwarz hätte im Dresden des 17. Jahrhunderts ein ausschweifendes Leben geführt und mit seinen Werken die Kunst revolutioniert. Manche meinen, er habe nicht nur Stillleben gemalt, sondern optische Apparate gebaut und mit fotografischen Visionen experimentiert.

Einer anderen Legende zufolge ist Silvius Schwarz ein Magier und Gotteslästerer gewesen, der in blutige Ritualmorde verwickelt war. Doch leider existiert kein einziges Dokument, das diese Legenden mit Leben füllen könnte. Bis zum großen Elbhochwasser im Jahr 2002. Da fischt der brotlose Mythenjäger aus dem Brackwasser der Elbe ein paar durchgeweichte und verklebte Papiere. In ihnen berichtet der stumme Setzer Leopold vom Leben und Sterben seines Freundes Silvius Schwarz. Doch das ist nur ein Baustein in der Beweiskette, die der kunsthistorische Luftikus plötzlich in den Händen hält. Der Zufall spielt ihm nicht nur weitere Papiere des Bleisetzers zu, sondern auch einen verschollen geglaubten Briefroman, in dem die Mathematikerin und Gambenvirtuosin Sophie von Schlosser von ihrer Liebesaffäre mit Silvius Schwarz berichtet.

Und dann ist da noch diese geheimnisvolle Metallplatte, die der Legendensammler bei einem Dresdner Antiquar findet: Zeigt die dunkel angelaufene Metallplatte, in die die Jahreszahl 1673 eingeritzt ist, nicht die Reste eines Fotos? Doch wie kann das sein, wurde die Fotografie doch angeblich erst im 19. Jahrhundert erfunden?

In seinem Roman „Der Augentäuscher“ treibt Mathias Gatza ein furioses Spiel mit kunsthistorischen Visionen, mörderischen Fantasien und schriftstellerischen Finten. Wer Umberto Ecos „Der Name der Rose“ liebt, wird auch den ebenso brillant konstruierten und elegant erzählten „Augentäuscher“ goutieren.

Gatza, 1963 in Berlin geboren, versteht etwas vom Bücherhandwerk. Er hat bei Wagenbach als Volontär und bei Suhrkamp und im Berlin Verlag als Lektor gearbeitet. Bevor er selbst zum Autor wurde, hat er sich als Verleger zeitgenössischer Literatur versucht. Nachdem er mit „Der Schatten der Tiere“ ein gelungenes Debüt feierte, zieht er nun im „Augentäuscher“ alle literarischen Register. Gatza fungiert als Herausgeber fingierter Dokumente. Zwischen dem aufgedrehten Wissenschaftsbetrieb der Gegenwart und dem barocken Leben des 17. Jahrhunderts pendelt er aberwitzig hin und her und nimmt den Leser mit auf eine literarische Abenteuerreise.

Ob er sich als kunsthistorischer Lügner und Betrüger, als Setzer Leopold oder als frühemanzipierte Sophie von Schlosser verkleidet: für alle Figuren und Erzähler findet Gatza einen eigenen Ton. Außerdem weiß er alles über Malerei und Sehgewohnheiten, gefälschte Dokumente und spannende Krimis, ironisches Flunkern und satirische Verballhornung historischer Romane und wissenschaftlicher Sensationslust. Atemlos folgt man den Berichten über dieses von seinem hilflosen Vater in den Schnee geworfene Baby, das von einem in Dresden lebenden Muslim aufgelesen und erzogen wurde und aus dem später der Kunstrebell Silvius Schwarz werden sollte. Wir trauen diesem gegen Neid und Missgunst kämpfenden und nach absoluter Erkenntnis strebenden Künstler alles zu. Aber sollte er wirklich, nur weil die Umkehrung des Bildes ein Prinzip der Fotografie ist, zum teuflischen Mörder geworden sein, der 13 Kastraten des Dresdner Opernhauses kreuzigt, verstümmelt und auf den Kopf stellt?

Mathias Gatza: „Der Augentäuscher“. Roman. Graf Verlag, München 2012, 383 S., 19,99 Euro.




„Krawomm, Tatatat, Zischzasch“ – der deutsche Afghanistan-Einsatz als Comic

Seit 10 Jahren verteidigen deutsche Truppen unsere Freiheit am Hindukusch. Doch der Einsatz der Bundeswehr ist hierzulande umstritten und wird mit jedem toten Soldaten in Frage gestellt. Ob das Buch, das jetzt unter dem Titel „Wave and Smile“ erschienen ist, eine Argumentationshilfe in der Debatte um das Für und Wider des Bundeswehr-Einsatzes sein kann, scheint auf den ersten Blick zweifelhaft. Denn der Autor und Zeichner Arne Jysch thematisiert den Afghanistan-Krieg mit den Mitteln der Graphic Novel und der Ästhetik von Comics.

„Wave and Smile“ („Winken und Lächeln“), das war lange Zeit die Strategie der ISAF-Truppen in Afghanistan, wenn sie ihre militärischen Camps verließen und sich unters afghanische Volk mischten: Das hat sich als ziemlich naiv und tödlich erwiesen, denn die Taliban sind längst nicht besiegt. Im Gegenteil. Die Sicherheitslage hat sich dramatisch verschlechtert, auch im nördlichen Afghanistan, in der Region um Kunduz, also dort, wo die Geschichte der Graphic Novel spielt und die Bundeswehr stationiert ist, die sich heute nur noch in gepanzerten Wagen und schwer bewaffnet vor die Tür wagt und ein ständiges Ziel von terroristischen Attacken ist. Schon der Titel „Wave and Smile“ ist ein ironischer Abgesang auf die verlogene Kriegsstrategie und ein erster Hinweis, dass da etwas schief läuft mit der Bundeswehr in Afghanistan.

Arne Jysch hat sich eine dramatische, von Tod und Terror, von Liebe und Verrat handelnde Geschichte ausgedacht. Die drei Hauptpersonen, Hauptmann Chris, Hauptfeldwebel Marco und Fotoreporterin Anni, erdulden die Tristesse und Einsamkeit des Alltags im Bundeswehrcamp in Kunduz und werden bei ihren Einsätzen in blutige Kampfhandlungen verwickelt. Bei einem Gefecht wird Marco von den Taliban entführt, Chris traumatisiert und zur Heilung nach Deutschland geschickt. Doch dort wartet nur die Scheidung von seiner Frau auf ihn und die quälende Frage, was aus seinem Freund geworden sein mag. Also entschließt sich Chris, als Privatperson nach Afghanistan zurückzukehren und auf eigene Faust und mit Hilfe von Fotografin Anni nach Marco zu suchen.

Jysch erzählt in der Bildsprache eines realistischen Comics: die Zeichnungen der Soldaten, der Waffen, der Saufgelage im Camp und des Verhaltens Kampf wirken authentisch, jede Figur hat eine eigene Kontur, man merkt deutlich: Jysch hat sich Rat geholt bei Fotografen und Filmemachern. Auch hat er wohl viele Informationen bekommen von der Presseabteilung der Bundeswehr. Die immer wieder eingeflochtenen Debatten über die Kampfstrategien und Kriegsziele versuchen ein möglichst großes Argumentationsspektrum abzudecken und verzichten auf billige Phrasen. Der Comic versammelt ca. 1000 einzelne Bilder, bietet knallige Sprechblasen, deftige Wortfetzen und Lautmalereien. Vor allem wenn geschossen wird und Bomben krachen, fliegen riesige Buchstaben mit viel Krawomm, Tatatat und Zischzasch durchs Bild.

Aber eine Auftragsarbeit oder ein Gefälligkeitsbuch ist es nicht, denn der Einsatz der Bundeswehr und die Gesamtstrategie der ISAF wird in all ihren Widersprüchen und Ungereimtheiten geschildert. Wer sich als potentieller Rekrut am Ballern labt, kommt zwar auf seine Kosten, muss aber mit ansehen, dass er als Soldat für politisch zweifelhafte Zwecke missbraucht und verheizt wird. Und wenn Hauptmann Chris einem an seiner Mitarbeit interessierten Amerikaner entgegnet: „Nein, Ihren Krieg, den dürfen Sie ohne mich verlieren“, ist die Anti-Kriegs-Botschaft des Comics auch mehr als deutlich. Jysch hat kein geschmackloses Rekrutierungspamphlet verfasst und gezeichnet, sondern einen durchaus kritischen, wenn auch nicht klischeefreien Comic zum Krieg in Afghanistan. Auf welche Leserschaft er abzielt, ist allerdings ein kleines Rätsel.

Arne Jysch: „Wave and Smile“. Carlsen Verlag, Hamburg. 208 S., 24,90 €




„Nullzeit“ von Juli Zeh: Thriller mit Tauchgang

Gleich nach dem Examen schwant dem angehenden Juristen Sven, dass er keine Lust hat, Menschen zu beurteilen, zu bewerten, zu bestrafen. Zusammen mit Antje, seiner Freundin, packt er seine Siebensachen, sagt Deutschland Adieu und eröffnet auf Lanzarote eine Tauchschule.

Sven begleitet seine Kunden nicht nur bei ihren Tauchgängen unter Wasser, er vermietet ihnen auch Appartements und ist rund um die Uhr für sie da. Wer bereit ist, eine ziemliche Stange Geld zu zahlen, kommt bei Sven auf seine Kosten. Oberstes Gebot des Aussteigers ist es, sich keinesfalls in das Leben seiner Gäste hineinziehen zu lassen. Doch bei Theo, dem versoffenen Schriftsteller, der seine besten Tage hinter sich hat, und Jola, der attraktiven TV-Serien-Schauspielerin, will ihm das nicht gelingen. Das deutsche Künstlerpaar verhält sich nicht nur unter Wasser etwas seltsam. Ständig streiten sich die beiden, um sich dann um so inniger zu versöhnen.

Als Theo beim Tauchen die Luft weg bleibt und beinahe kollabiert, muss Sven feststellen, dass Jola ihrem Geliebten die Druckflasche mutwillig abgedreht hat. Will die Schauspielerin den Schriftsteller umbringen? Und warum macht sie ihrem Tauchlehrer ständig schöne Augen und beschreibt in ihrem Tagebuch ausführlich den tollen Sex, den sie angeblich mit Sven hat? Spielt sie ein Spiel, dass Sven nicht versteht oder sind die sich häufenden Psychokriege und Mordanschläge nur Ausgeburten der liebeskranken Fantasie eines verwirrten Tauchlehrers?

Mit „Nullzeit“ hat Juli Zeh eine eigenwillige und spannende Mischung aus Psychothriller und Unterwasserabenteuer, Aussteigersatire und Wohlstandskritik, Kunstpersiflage und Beziehungsdrama geschrieben. Die Autorin nimmt nichts richtig ernst. Die Psychologie ihrer gelegentlich zum Klischee verfremdeten Figuren ist ihr ziemlich schnuppe. Nur das Tauchen ist ihr wirklich wichtig, da will sie mit Wissen und (wahrscheinlich) eigener Erfahrung glänzen. Und so erfahren die Leser, wie man sich für einen Tauchgang präpariert und dass die „Nullzeit“ die Anzahl der Minuten ist, die man unter Wasser verbringen darf.

Aber irgendwann müssen die Leser ja auch wieder auftauchen und nachschauen, ob noch alle am Leben sind. Sven, so scheint es, kann noch so weit reisen und noch so tief tauchen, er wird keinen Frieden, keine Liebe und keinen Sinn im Leben finden. Der ohnmächtig von Sven aus dem Wasser gefischte Theo könnte endlich seine Schreibblockade überwinden und einen Roman über seine mordlüsterne Schauspiel-Freundin schreiben. Jola, die sich mit ihren Unterwasserabenteuern auf eine Film-Rolle vorbereiten wollte, die dann doch nicht sie, sondern ihre größte Feindin bekommt, müsste zur Strafe in ihrer TV-Soap versauern und alt werden. So oder so ähnlich könnte der mit unzähligen falschen Fährten und Finten hantierende Roman weitergehen.

Juli Zeh setzt auf die Fantasie des Lesers, der sich zwischenzeitlich immer wieder fragt, ob Ich-Erzähler Sven nur besonders naiv oder dumm ist und einfach nicht begreifen will, in welches Netzwerk aus Lug und Trug er sich da verheddert. Dass ihm die stille Antje, das einzig Wichtige und Konstante in seinem verpfuschten Leben, abhanden kommt, geschieht diesem Sven wohl ganz recht.

Juli Zeh: „Nullzeit“. Roman. Schöffling & Co., Frankfurt am Main, 256 S., 19,95 Euro.




Potsdamer Provinzposse: SAP-Gründer Hasso Plattner als Mäzen einer DDR-Kunstsammlung

Am Neuen Markt in Potsdam ist preußische Geschichte allgegenwärtig. In Rufweite liegt Schinkels Nikolaikirche und der Marstall, der heute ein Filmmuseum beherbergt. Der Blick schweift von hier aus zum Wiederaufbau des im Krieg arg mitgenommenen und von den Baubrigaden der DDR abgerissenen Hohenzollernschlosses. In zwei Jahren soll im rekonstruierten Preußenschloss der brandenburgische Landtag einziehen.

Ob bis dahin für die sich derzeit in Potsdam abspielende kultur- und kunstpolitische Provinzposse, die viel über die nach wie vor offenen Wunden der deutschen Vereinigung und die antikapitalistischen Vorurteile in den Neuen Bundesländern erzählt, eine vernünftige Lösung gefunden wird, bleibt abzuwarten. Eine kleine Ausstellung mit gerade einmal 28 Bildern, die jetzt im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte am Neuen Markt präsentiert wird, könnte behilflich sein, die Gemüter etwas zu beruhigen. Im ehemaligen Kutschstall, wo gerade unter dem Titel „Kunst & Kartoffel“ eine Ausstellung zu Friedrich dem Großen und die preußische „Tartuffoli“ läuft, wurde der Konferenz- zum provisorischen Ausstellungsraum umfunktioniert, um „Einblick und Ausblick“ zu geben auf die Werke aus der Sammlung von Hasso Plattner.

Werner Tübke: "Der Narr und das Mädchen", Öl auf Leinwand, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind/Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Werner Tübke: "Der Narr und das Mädchen", Öl auf Leinwand, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind/Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

In der viel zu eng und unübersichtlich gehängten Bilderschau sind vor allem Werke des realsozialistischen Spätexpressionismus zu sehen, grelle Farbballungen von Bernhard Heisig, naive Romanzen und Idyllen von Wolfgang Mattheuer, auch Plakatives von Willi Sitte, Altmeisterliches von Werner Tübke, Mythologisches von Arno Rink, also Bilder von Künstlern, die der „Leipziger Schule“ angehören und zu Repräsentanten der DDR-Kunst wurden. Dazwischen geschmuggelt ist aber auch ein erst 2004 gemaltes abstraktes Bild von Gerhard Richter, der einst von Dresden nach Düsseldorf floh und heute der bedeutendste zeitgenössische deutsche Künstler ist. Und was ein Bild von dem in Velbert am Rhein geborenen Klaus Fussmann in einer Sammlung zu suchen hat, die sich dem Ziel verschrieben hat, die Kunst der DDR zu dokumentieren, bleibt genauso ein Rätsel wie die Tatsache, dass viele der gezeigten Werke vielleicht noch den Geist des untergegangenen Sozialismus atmen, aber tatsächlich von Heisig, Sitte, Tübke und Co. erst nach der Wende geschaffen wurden. Wie kann es nur sein, fragt sich der aus dem nahen Berlin angereiste Betrachter, dass diese eher stille und gut gemeinte, aber künstlerisch noch unausgereifte Sammlung von ziemlich konventionellen Bildern einen solch lauten Streit hervorrufen kann?

Arno Rink: "Lots Töchter", Öl auf Leinwand, 2007 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Arno Rink: "Lots Töchter", Öl auf Leinwand, 2007 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Der 1944 in Berlin geborene Unternehmer Hasso Plattner wurde mit seiner in Walldorf beheimateten Software-Schmiede SAP nicht nur zum reichen Mann, sondern auch zum Stiftungsgründer und Mäzen. Der Universität Potsdam hat er ein Institut für Software-Systemtechnik finanziert, für den Wiederaufbau des Potsdamer Schlosses mehrere Millionen Euro locker gemacht. Jetzt wollte Plattner der Stadt nicht nur seine noch im Aufbau befindliche Kunst-Sammlung schenken, sondern auch noch gleich den Neubau des dazu gehörigen Museums bezahlen. In Absprache mit Potsdams Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) wollte Plattner das Museum dort errichten, wo seit einigen Jahrzehnten ein 17-stöckiger DDR-Plattenbau steht und das historische Ambiente Potsdams verhöhnt. Das architektonische Monster war früher ein „Interhotel“, in dem Gäste aus dem Westen überwacht und abgehört wurden. Doch Plattners Plan, den amerikanischen Investoren das heutige Hotel „Mercure“ abzukaufen und es auf eigene Kosten abreißen zu lassen, rief unerwarteten Widerstand hervor. Die in Brandenburg stark vertretene „Linke“ versammelte DDR-Nostalgiker um sich und machte mit Protestaktionen und Unterschriftenlisten mobil. Auf einer Gegendemonstration – unter dem Motto: „Plattner statt Platte“ – versicherten Prominente wie TV-Moderator Günther Jauch, Schauspielerin Nadja Uhl und Modeschöpfer Wolfgang Joop dem von der „Linken“ als „Kolonisator“ und „Kapitalist“ verunglimpften Sponsor ihre Sympathie. Doch es nützte nichts. Plattner zog sein Angebot öffentlichen Mäzenatentums zurück und verkündete gleichzeitig, er werde auf seinem Privatgrundstück am Potsdamer Jungfernsee eine kleine Kunsthalle bauen und dort allen Interessierten seine Sammlung zugänglich machen.

Erich Kissing: "Claudia", Tempera und Öl auf Hartfaser, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Erich Kissing: "Claudia", Tempera und Öl auf Hartfaser, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Abgesehen davon, dass der Streit um Plattners Mäzenatentum ein peinliches Licht auf Potsdam wirft, beantwortet auch die Ausstellung „Einblick und Ausblick“ (bei deren Vernissage Plattner demonstrativ fern blieb) nicht, welche Motive und Ziele die Sammlung zur DDR-Kunst eigentlich verfolgt. Wird sie auch Nonkonformisten wie Gerhard Altenbourg und Kunstrebellen wie Cornelia Schleime berücksichtigen? Und neben Gerhard Richter gibt es auch noch „Republikflüchtlinge“ wie A. R. Penck und Georg Baselitz. Fragen über Fragen.

Ausstellungsort: Kutschstall am Neuen Markt in Potsdam (Foto: Hagen Immel / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Ausstellungsort: Kutschstall am Neuen Markt in Potsdam (Foto: Hagen Immel / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Infos:

+ Hasso Plattner wird am 21.1.1944 in Berlin geboren.

+ Zusammen mit Dietmar Hopp und anderen gründet Plattner 1972 das Software-Unternehmen SAP.

+ Seit dem Rückzug aus dem Tagesgeschäft engagiert sich Plattner als Kunstmäzen und Wissenschaftsförderer.

+ 1998 gründet er das Hasso-Plattner-Institut für Software-Systemtechnik in Potsdam.

+ „Einblick und Ausblick – Werke aus der Sammlung Prof. Dr. Hasso Plattner“, bis 16. September im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Am Neuen Markt 9, Potsdam (Di-Do 10-17 Uhr, Fr 10-19 Uhr, Sa-So 10-18 Uhr).




Eine Schiffsreise als Schule fürs Leben – Michael Ondaatjes Roman „Katzentisch“

Schreiben heißt, sich erinnern. Daran, wie wir wurden, was wir sind. Warum unsere Wünsche verloren gingen und was wir lange verdrängt haben, bis es aus den Tiefen des Vergessens wieder empor steigt und zeigt, dass manches, was wir als Kinder erlebt haben, unser ganzes Leben geprägt hat. Solche privaten Erinnerungen sind noch keine Literatur. Wenn sie sich aber verbinden mit der Fantasie eines Autors, der seine Biografie zur Grundlage eines frei fabulierten Romans machen kann, dann liegt Großes in der Luft.

So ist es bei Michael Ondaatje. Der Autor, der 1943 in Ceylon (heute Sri Lanka) geboren wurde, seine Jugend in England verbrachte und heute im kanadischen Toronto lebt, konnte mit „Der englische Patient“ einen Welterfolg feiern. Mit den folgenden Büchern („Buddy Boldens Blues“, „Anils Geist“, Divisadero“) konnte er nie wieder an diesen hoch dekorierten und genial verfilmten Roman anknüpfen. Auch „Katzentisch“ wird sicherlich kein Weltbestseller werden. Dafür ist der Erzählhorizont vielleicht zu eng und das Personal im wahrsten Sinne des Wortes zu klein. Aber der Roman, in dessen Mittelpunkt drei halbwüchsige Jungen stehen, die zu Beginn der 1950er Jahre eine Schiffsreise von Ceylon nach England machen, ist doch so berührend und klug konstruiert, dass ihm zumindest literarische Aufmerksamkeit und ein Achtungserfolg zuteil werden sollte.

Während das britische Empire zerbröselt und Ceylon sich auf unsichere Zeiten vorbereitet, werden Michael, Cassius und Ramadhin, drei Jungen im Alter von 11, 12 Jahren, von ihren Familien nach England geschickt. Die Jungen, die an Bord des Ozeanriesen „Oronsay“ in einige gefährliche Abenteuer verwickelt und in manche Geheimnisse eingeweiht werden, wissen noch nichts von den politischen Problemen der Welt. Sie sind vom Kapitän im Speisesaal an einen „Katzentisch“ verbannt worden, sind einfach nur neugierig und beobachten das gesellige und für ihre kindlichen Augen oft rätselhafte Treiben an Bord des Schiffes. Ist der elegante Baron in Wahrheit ein Dieb? Wird der Multimillionär seine tödliche Krankheit besiegen? Und was hat es mit dem Gefangenen auf sich, der tagsüber im Bauch des Schiffes eingekerkert ist und nachts schwer bewacht und in Ketten frische Luft schnappen darf?

Musiker und Kartenspieler, Wahrsager und Alltagsphilosophen, Verzweifelte und Liebende, sie alle sind an Bord und vermitteln den Jungen eine neue, verwirrende Sicht auf die Welt. Sie kiffen und trinken Alkohol, sie stromern durch die Maschinenräume, belauschen die Passagiere, werden Zeugen von Tod und Verderben. Ohne dass sie es merken, ist das, was sie in den wenigen Wochen auf offenem Meer erleben, eine Schule fürs Leben, eine Initiation ins Erwachsenendasein. Hinterher wird nichts mehr so sein wie bisher und die Kindheit schon fast vergessen. Und auch, wenn das Trio sich später aus den Augen verliert und sich kaum je wieder trifft, wissen sie, dass ihre gemeinsamen Erlebnisse sie für immer verbunden haben.

Michael, der Junge von einst, ist inzwischen alt geworden und ein bisschen melancholisch. Als Erzähler erinnert er sich in kurzen schlaglichtartigen Sequenzen an einzelne Momente der Reise, versucht, manche Rätsel von damals zu entziffern und will verstehen, warum die Träume der Jugend längst verschüttet sind. Es ist eine Reflexion über bittere Erfahrungen, Verlust und Exil. Aber auch ein märchenhaftes Buch über die Schönheit des Lebens. Wer sich davon nicht verzaubern lässt, war nie wirklich Kind.

Michael Ondaatje: „Katzentisch“. Roman. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Hanser Verlag, München. 301 Seiten, 19,90 Euro.




Labyrinth aus Liebe und Lügen – William Boyds Roman „Eine große Zeit“

Wien ist nicht nur die Hauptstadt des galanten Selbstmordes und der morbiden Friedhofskultur. Die österreichische Metropole ist auch der Geburtsort der Psychoanalyse. Wenn Anfang des vorigen Jahrhunderts ein an traumatischen Kindheitserlebnissen und erotischen Unpässlichkeiten leidender junger Engländer dorthin flüchtet, wo Sigmund Freud gerade über Traumdeutung, Totem und Tabu nachdenkt und die auf seiner Couch liegenden Patienten auf ihrer Reise ins verdrängte Innerste ihrer Seele begleitet, so ist das eine einleuchtende Idee.

Für William Boyd, den 60jährigen britischen Autor, der seine Leser mit einem fein ausgetüftelten psychoanalytischen Spionagethriller begeistern will, liegt die Idee jedenfalls auf der Hand. Sein Held wider Willen, der englische Jungschauspieler Lysander Rief, hält sich im Jahr 1913, also am Vorabend des Ersten Weltkrieges und des katastrophalen Zivilisationsbruchs, in Wien auf. Eigentlich will er in der (gleich bei Freud um die Ecke liegenden) psychoanalytischen Praxis von Dr. Bensimon nur seinen Macken und Marotten auf den Grund gehen. Doch dann steigt er nicht nur in die Abgründe seiner Ängste hinab, er verfällt auch den unergründlichen Augen und den erotischen Reizen einer sexbesessenen Frau. Hettie Bull, so heißt die rätselhafte Schöne, blendet, betört und heilt den kopflos Verliebten, aber sie verwickelt ihn auch in eine brisante politische Affäre und stößt ihn in einen Strudel aus Lug und Betrug, Geheimnis- und Landesverrat.

William Boyd, der hierzulande mit „Ruhelos“ und „Einfache Gewitter“ zwei veritable Erfolge hatte, liebt das literarische Spiel mit Erzählweisen und Perspektiven. Dichtung und Wahrheit liegen bei ihm oft ununterscheidbar beieinander. In der fiktiven Künstlerbiografie über den Maler „Nat Tate“ hat er das Verwirrspiel so weit getrieben, dass viele Leser und Künstler beschwören wollten, den erfundenen Nat Tate und seine Bilder gekannt zu haben. In seinem neuen Roman „Eine große Zeit“ erfindet er nicht nur eine abenteuerliche Spionagestory, er führt den Leser auch in eine von Mythen und Märchen, Lügen und Legenden bis zur Unkenntlichkeit durchdeklinierten Epoche des wissenschaftlichen Fortschritts und politischen Irrsinns. Es geht, wie immer bei Boyd, um Unruhe und Rastlosigkeit, Identitätssuche und Selbstbetrug – und um den schmalen Grat, der aus einem brillanten ein gescheitertes Leben machen kann.

Lysander Rief ist neugierig und intelligent, aber auch naiv und leicht zu beeinflussen: ein gefundenes Fressen und gefügiges Opfer für sexuelle und politische Manipulation. Nicht nur Hettie Bull treibt ihr Spiel mit dem jungen Schönling, auch der britische Geheimdienst weiß, wie man sich die Schauspieltalente Lysanders zu Nutzen machen kann. Kaum ist der Krieg ausgebrochen, wird man den Mimen zum Agenten umformen und ihn an die Spionagefront schicken. Das allein wäre vielleicht ein spannender, doch noch kein großer Roman. Aber Boyd weiß um seine literarischen Stärken und entwickelt, parallel zum immer komplizierter werdenden Labyrinth aus Liebe und Verrat, ein schillerndes Spiel mit Erzählweisen. Neben dem allwissenden Erzähler gibt es auch den Ich-Erzähler Lysander Rief. Auf Anregung seines Psychoanalytikers führt er ein Tagebuch seiner geheimsten Wünsche. Diese Tagebuchpassagen sind voller poetischer und zweifelnder Gedanken, manchmal erweitern, manchmal konterkarieren sie die vom allwissenden Erzähler vorangetriebene Handlung. Ist das, was geschieht, vielleicht nur ein literarisches Spiel des Autors oder eine Einbildung des psychisch lädierten Ich-Erzählers? Um dem Geheimnis dieses sich zwiebelartig häutenden Erzählwerkes auf den Grund zu kommen, braucht der Leser Geduld. Aber die Lösung ist eigentlich ganz einfach. Sie liegt offen zutage. Man muss nur den Mut haben und in der Lage sein, sie zu sehen und wahrzunehmen.

William Boyd: „Eine große Zeit“. Roman. Aus dem Englischen von Patricia Klobusiczky. Berlin Verlag, 446 Seiten, 22,90 Euro.




Der Familie entgeht man nicht – Zeruya Shalevs Roman „Für den Rest des Lebens“

Auch wenn man selbst schon Kinder hat und in der Mitte des Lebens steht: Solange die eigenen Eltern leben, bleibt man ein Kind. Ein Kind, das von der Erziehung und den Erwartungen und Enttäuschungen der Eltern geprägt ist, ein Kind, das den Tod der Eltern verkraften muss, während man selbst Kinder erzieht und sie vor dem Tod beschützen will.

Vor allem davon, dass Eltern uns „Für den Rest des Lebens“ prägen und die Familienbande stärker sind als alle Versuche, diese emotionalen Abhängigkeiten aufzulösen, handelt der neue Roman von Zeruya Shalev. Es ist ein meisterlicher und oft versponnener, von Rückblenden und Erinnerungen durchwirkter Roman, ein feinfühliges, psychologisch aufgeladenes Erzählkonstrukt, das niemanden kalt lassen kann. Und ein Buch, mit dem die israelische Autorin ein eigenes Trauma bearbeitet.

Zeruya Shalev, international berühmt geworden mit Romanen wie „Liebesleben“, „Mann und Frau“ und „Späte Familie“, wurde 2004 bei einem Terroranschlag in Jerusalem schwer verletzt. Noch heute leidet sie seelisch und körperlich unter den Folgen. Doch weil sie sich nicht in ihren Schmerz verkriechen, sondern der sinnlosen Gewalt ein Zeichen des Lebens entgegensetzen wollte, entschied sie sich, einen kleinen russischen Jungen zu adoptieren.

Dina, eine der Hauptfiguren des Romans „Für den Rest des Lebens“, ist beileibe nicht identisch und kein schlichtes Abziehbild von Zeruya Shalev, aber auch Dina will ihrem ins Stocken geratenen Leben einen Ruck geben und dem politischen Stillstand in Israel etwas entgegenhalten: Auch wenn ihre Ehe fast daran zerbricht und ihre schon erwachsene Tochter ihre Mutter nicht verstehen kann, wird Dina nach Russland reisen, um einen kleinen Jungen zu adoptieren. Als sie dem Jungen das erste Mal begegnet und in seine traurigen Augen schaut, weiß sie, dass sie den Tod besiegen und vielleicht auch die verschüttete Liebe ihres Mannes zurückgewinnen kann. Da schließt sich der Kreis des Lebens: Denn im selben Moment klingelt ihr Mobiltelefon und Dina erfährt, dass Chemda, ihre seit langem schwer kranke Mutter, soeben gestorben ist.

Die mit dem Tod ringende Chemda ist das erzählerische Zentrum des Romans. Während ihr Bewusstsein sich trübt, lässt sie noch einmal ihr Leben Revue passieren, denkt an ihre Kindheit im Kibbuz, an ihre Ehe und ihre zwei Kinder. An ihren Sohn Avner, den sie viel zu sehr verhätschelte und den die überbordende Liebe der Mutter fast unfähig machte, eigene Beziehungen zu Frauen einzugehen. Chemda denkt auch an Dina, die vernachlässigte Tochter, die nur ein bisschen Liebe und Verständnis bei ihrem lebensfremden und melancholischen Vater finden konnte. Der Roman ist randvoll mit ödipalen Konstellationen und Konflikten der Kindheit, die das weitere Leben bestimmen. Da wundert es auch kaum, dass Dina mit ihrer eigenen erwachsenen Tochter hadert und sich nach einem kleinen Jungen sehnt.

Wer das alles als Variation altbekannter psychologischer Gemeinplätze und Klischees abhaken möchte, wird dem äußert vielschichtig und elegant erzählten Roman nicht gerecht. Immer wieder werden neue Türen aufgestoßen, kämpfen die sich in Erinnerungen verkriechenden Familienmitglieder gegen Wut und Enttäuschung, sehnen sie sich nach ein bisschen Glück und Zufriedenheit. Shalevs breit angelegter, über viele Jahre reichender Erzählhorizont weitet sich zu einer filigranen Topografie seelischer und politischer Landschaften. Wahrlich keine leichte, aber eine lohnende Lektüre.

Zeruya Shalev: „Für den Rest des Lebens“. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag, 521 Seiten, 22,90 Euro.




Wie geht es weiter mit „Occupy“?

Vielleicht wird das Jahr 2011 in die Geschichte eingehen als Beginn einer neuen politischen Zeitrechnung. Denn nicht nur in den von Armut und Willkür beherrschten arabischen Diktaturen, auch in den Zentren des westlichen Turbokapitalismus, in denen Banken und Börsen schrankenlos walten können, haben Massenproteste die Straßen und Plätze erobert.

Nach revolutionären Umwälzungen in Tunis, Tripolis und Kairo, nach jugendlichen Aufständen und Zusammenrottungen in Madrid und London, hat sich eine globale Welle der Empörung breitgemacht. Seit die „Occupy“-Wall-Street-Bewegung den Zuccotti Park im New Yorker Finanzzentrum besetzt hat, zelten überall in der Welt Aktivisten gegen den Kapitalismus. Unter dem Motto „We are the 99 percent“ kämpfen sie für soziale Gerechtigkeit und die strikte Trennung von Wirtschaft und Politik, entwerfen sie Modelle für eine lebenswerte und menschliche Gesellschaft. Wie „Occupy“ entstand und welche Perspektiven diese neue antiautoritäre Bewegung haben könnte, davon berichtet jetzt eine mit flinken Fingern erstellte Dokumentation.

Neben atmosphärisch dichten und emotional aufgeladenen Reportagen sowie Tagebuchnotizen über den heißen Herbst in New York, versammelt der Band auch intellektuell anregende Essays über die ökonomischen Hintergründe und politischen Aussichten des Aufstands. Marco Roth, Mitbegründer des „Occupy“-Magazins „n+1“, schreibt bittere „Abschiedsbriefe an den amerikanischen Traum“; Anwältin und Schriftstellerin Marina Sitrin reflektiert über die Kraft der „neuen horizontalen Bewegungen“; Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz legt Zahlen über die immer größere Kluft zwischen arm und reich in Zeiten der globalen Finanzkrise vor; und Philosoph Slavoj Zizek meint, es gehe jetzt, nach dem lauten Nein, um die Formulierung von Zielen: „Welche Gesellschaftsordnung kann den bestehenden Kapitalismus ablösen? (…) Welche Organe, einschließlich derer zur Kontrolle und Repression, brauchen wir?“

Anstelle eines Nachworts formulieren die Herausgeber ein paar Vorschläge: „Verstaatlicht die Banken“ und „Verbot aller Parteispenden von Unternehmen“ liest man da, aber auch: „Kostenlose Fahrräder für alle“, und: „Nie wieder Arbeitsessen!“ Klingt, als hätten die „Occupy“-Unterstützer ziemlich viel Spaß.

Wer es ernsthafter mag, dem sei das Fazit von Ökonom Stiglitz empfohlen: „Die oberen Zehntausend besitzen die schönsten Häuser, Zugang zu den besten Bildungseinrichtungen und den Top-Kliniken, sie führen das bestmögliche Leben, doch es gibt etwas, das sie mit Geld offenbar nicht kaufen konnten: die Einsicht, dass ihr Schicksal untrennbar an das der übrigen 99 Prozent geknüpft ist. In der gesamten Geschichte der Menschheit habe die Führungsschichten diese Tatsache am Ende immer eingesehen. Allerdings zu spät.“

„Occupy! Die ersten Wochen in New York“. Eine Dokumentation. Hg. von C. Blumenkranz u.a. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2012, 94 Seiten, 5,99 Euro.




Der „Alte Fritz“ in ungeahnter Vielfalt

Friedrich in Öl und mit dem Dreispitz in der Hand. Friedrich als Schlachtenlenker und als volksnaher Staatsdiener im Gespräch mit den Bauern. Friedrich in Porzellan und in stolzer Herrscherpose. Friedrich in Holz und als Tabaklade. Friedrich auf Papier und als politisches Plakat. Friedrich als reitender Bote für Berliner Bier. Friedrich als Erinnerungsplakette an den „Tag von Potsdam“, flankiert von Bismarck und Hitler. Friedrich im Heimatfilm und Friedrich als Teddybär. Friedrich als Kinderspielzeug und als Karikatur. Soviel Friedrich in so vielen Varianten und Ausformungen, Deutungen und Zurichtungen wie jetzt im Deutschen Historischen Museum war nie.

Filmzeitschrift zum Ufa-Spielfilm "Das Flötenkonzert in Sanssouci" (August Scherl GmbH/Film-Kurier GmbH, Berlin 1930). Berlin, DHM, Foto Angelika Anweiler-Sommer

Filmzeitschrift zum Ufa-Spielfilm "Das Flötenkonzert in Sanssouci" (August Scherl GmbH/Film-Kurier GmbH, Berlin 1930). Berlin, DHM, Foto Angelika Anweiler-Sommer

Und das will etwas heißen. Denn zum 300. Geburtstag vom „Alten Fritz“ werden Leben und Wirken des Preußenkönigs landauf, landab, in vielen Büchern, auf manchen Bühnen und in allen Medien auf seine Bedeutung für Deutschlands Geschichte untersucht und bewertet. Doch noch immer ist man sich nicht einig, warum sich Friedrich II. so sehr ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegraben hat und worin die eigentliche Leistung des widersprüchlichen Mannes mit den vielen Facetten bestehen könnte: Mal gilt er als Militarist und Hasardeur, mal als erster Diener des Staates und Anhänger von politischer Vernunft und philosophischer Aufklärung. Manche sehen ihn als musikalischen Intellektuellen, andere als knorrigen Misanthropen und verklemmten Schwulen. Weil sich die Historiker und Psychologen nicht auf ein eindeutiges Bild einigen können, will man im schicken Pei-Bau des Berliner Museums nicht die ausgetretenen Ausstellungs-Pfade gehen und zum x-ten Male Leben und Werk Friedrichs bebildern. Vielmehr geht es diesmal unter dem Titel „Friedrich der Große – verehrt, verklärt, verdammt“ um das Nachleben und Nachwirken des ebenso schwierigen wie heiß geliebten Preußenkönigs.

Teddybär "Friedrich der Große" (Sonderedition für Sammler, Nr. 112 von 1000, Margarete Steiff GmbH, 2011). Berlin, DHM, Foto Sebastian Ahlers

Teddybär "Friedrich der Große" (Sonderedition für Sammler, Nr. 112 von 1000, Margarete Steiff GmbH, 2011). Berlin, DHM, Foto Sebastian Ahlers

Es ist ein manchmal bizarrer und kurioser Ausflug in die deutsche Erinnerungskultur, die vor heldenhafter Mythologisierung genauso wenig zurück schreckt wie vor kitschiger Banalisierung. Auf einer Fläche von 1100 Quadratmetern veranschaulichen rund 450 Exponate die wechselvolle Rezeptionsgeschichte. Verehrung, Verklärung und Verdammnis beginnen bereits mit dem Tod. Die Ausstellung startet folgerrichtig als Totenmesse in einer Gruft. Kerzen flackern, wir sehen voller Ehrfurcht auf die knochig-karge Totenmaske und das einfache Sterbehemd Friedrichs. Danach wird es bunt und laut. Vom riesigen Öl-Schinken mit Friedrich in Uniform bis zu der von Andy Warhol mit flinkem Pinsel gemalten Pop-Ikone, von der Replik eines von Johann Gottfried Schadow geschaffenen Friedrich-Standbildes bis zum Ufa-Spielfilm „Das Flötenkonzert von Sanssouci“, vom Foto sanften Plüschtier bis zum veralberten Konterfei gibt es Friedrich in allen Farben und Formen, in allen politischen Vereinnahmungen und alltäglichen Verhunzungen.

Die Zahl der Ausstellungstücke und medialen Möglichkeiten ist beeindruckend, aber auch schier erdrückend. Außerdem hat die opulente Schau vieles, nur eines nicht: eine These. Statt einer eindeutigen Meinung versteckt sie sich hinter enzyklopädischer Vielfalt. Aber vielleicht ist es genau das, was den Mann, der im Museum mal als Wachsfigur und mal als Holzspielzeug, mal als Parteigänger der nationalistischen Rechten und mal als Argumentationshilfe der Linken herhalten muss, bis heute so spannend macht: dass wir ihn nicht wirklich verstehen und fassen können.

Berlin, Deutsches Historisches Museum, bis 29. Juli 2012, tägl. 10-18 Uhr, Katalog 24 Euro.




Peymann inszeniert „Dantons Tod“: Posen mit Standbein und Spielbein

Rebellion – so weit das Auge reicht. In den arabischen Ländern werden Diktaturen hinweg gefegt. In den kapitalistischen Metropolen besetzen Aktivisten Banken und Börsen. Das Gespenst der Revolution geht um, und während sich Marx im Grab die Hände reibt, meckert der olle Brecht, dass ein Gespräch über Bäume derzeit schon fast ein Verbrechen ist. Wer in dieser Situation Georg Büchners Revolutionsdrama „Dantons Tod“ aus dem Theaterfundus holt, hat Großes, auf jeden Fall Politisches im Sinn. Sollte man meinen. Vor allem wenn der Regisseur Claus Peymann heißt. Schließlich will er doch mit seinem Berliner Ensemble zeitgenössisch brisantes Theater liefern, das zum „Reißzahn im Hinterteil der Herrschenden“ werden soll.

So die Theorie. In der Praxis unternimmt Peymann zusammen mit seinem langjährigen Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann einen nächtlichen Ausflug ins Kunstmuseum und fuchtelt ein bisschen mit der Theatertaschenlampe im Dunkeln herum. Infiziert vom artifiziellen Bühnendesign eines Robert Wilson und der expressionistischen Stummfilmästhetik eines Friedrich Wilhelm Murnau, agieren die französischen Revolutionshelden in manieristischen Standbein-Spielbein-Posen auf einer halsbrecherischen Schräge. Die kargen Stühle und Tische wirken mit ihren schief abgesägten Beinen wie Zeichenstriche in einer fragilen Kunstlandschaft.

Danton (Ulrich Brandhoff, links) und Robespierre (Veit Schubert). (Foto: BE / Monika Rittershaus)

Danton (Ulrich Brandhoff, links) und Robespierre (Veit Schubert). (Foto: BE / Monika Rittershaus)

Ob der tugendhafte Robespierre (Veit Schubert) mit schneidender Stimme Schrecken und Tod verbreitet oder der von Lebensekel erfasste Danton (Ulrich Brandhoff) der Revolution überdrüssig ist und sich in den Untergang fügt, alles geschieht im Lichtkegel scharf geschnittener Lichtbahnen und in grellem Schwarz-Weiß. Die Gesichter der revolutionären Massen clownesk geschminkt, die Gebärden ein stiller Schrei. Robespierre und seine verbiesterten Anhänger tragen tödlich-schwarze, Danton und seine genussfreudigen Freunde weiße Kleidung. Alles ist hübsch übersichtlich, jede Geste vorausschaubar und jedes Wort ein offenes Geheimnis. Und wenn im Konvent die Abgeordneten den Revolutionshymnen Robespierres ergeben lauschen, rühren sie ihre weiß behandschuhten Hände zum nur angedeuteten, stummen Applaus.

Die Revolution frisst ihre Kinder. Das tut weh. Und wir erleben es gerade wieder aufs Neue in Ägypten und anderswo. Doch was Peymann an diesem blutigen Abgesang auf die Entgleisungen der Revolution und die Lügen der Weltverbesserer interessiert haben könnte, bleibt unklar. Alles nur Theater, garniert mit sanfter, leer laufender Ironie. Doch dann gibt es doch noch ein, zwei berührende Momente. Der von Todesangst gepeinigte Danton kuschelt sich wie ein kleines Kind in den Schoß seiner Gattin Julie (Katharina Susewind) und lässt sich trösten. Und wenn Angela Winkler sich in die schlampige Hure Marion verwandelt und den Revolutionskitsch einfach verlacht und vernuschelt, wird man Zeuge eines kleinen Schauspielwunders. Es ist allerdingsz zu wenig für einen fast dreistündigen Abend.

Berliner Ensemble, nächste Vorstellungen am 16., 21. Januar, Karten unter 030/28408155.




Von der Schönheit zum Schrecken: Die Deutschen und ihr Wald

Walter Leistikow "Abendstimmung am Schlachtensee" (Öl auf Leinwand, um 1900). Copyright: Stiftung Stadtmuseum Berlin. Foto: Hans-Joachim Bartsch, Berlin

Walter Leistikow "Abendstimmung am Schlachtensee" (Öl auf Leinwand, um 1900). Copyright: Stiftung Stadtmuseum Berlin. Foto: Hans-Joachim Bartsch, Berlin

Der deutsche Wald ist mehr als die bloße Summe seiner Bäume. Mit 800.000 Beschäftigten und 108 Milliarden Euro Umsatz ist er ein riesiger Wirtschaftszweig und ein Wunderwerk der Ökologie. Vor allem aber ist er ein Ort der Mythen und Märchen, der Freizeitgestaltung und Kunstbetrachtung, der nationalen Selbstvergewisserung und Verblendung.

Seit Heinrich von Kleist die „Hermannsschlacht“ im Teutoburger Wald zur Geburtsstunde deutscher Größe und Widerstandskraft stilisierte, seit die feingeistigen Romantiker mit des „Knaben Wunderhorn“ sehnsuchtsvoll seufzten und unter grünen Bäumen Geborgenheit suchten, hat der deutsche Wald symbolische und spirituelle Kraft. Dass er auch politisch und ideologisch aufgeladen ist, wissen wir nicht erst seit dem vermeintlichen „Waldsterben“ der 1980er Jahre. Schließlich hatten bereits die Nazis den Wald zum „Kraftquell“ des deutschen Volkes und zur semitischen Sperrzone erklärt: „Juden sind in unseren deutschen Wäldern nicht erwünscht.“

Das steht auf einem antisemitischen Schild, das der Arbeiterfotograf Eugen Heilig 1936 in einem Waldstück bei Mittenwalde aufgenommen hat. Das ungeheuerliche Foto belegt, wie der deutsche Wald zur Projektionsfläche nationalen Wahnsinns und rassistischer Verblödung wurde. Es ist eines von 550 Exponaten, welche das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin zusammengetragen hat, um der Deutschen Lust und Last mit ihrem ebenso realen wie märchenhaft verklärten und ideologisch besetzteb Wald zu dokumentieren. „Unter Bäumen“ heißt die Ausstellung, die den deutschen Wald von allen Seiten künstlerisch, politisch und wissenschaftlich einkreisen will.

"Rast im Wald" (Fotografie, um 1930). Voller Ernst Gbr, Berlin

"Rast im Wald" (Fotografie, um 1930). Voller Ernst Gbr, Berlin

Es ist die erste Ausstellung, die Alexander Koch, der neue Chef des DHM, verantwortet. Der 45-Jährige hat vorher das Historische Museum der Pfalz in Speyer geleitet und sich einen Ruf als unkonventioneller Denker erworben, der keine Scheu hat vor populären Inszenierungen. „Wir wollen neue Kontexte schaffen“, meint Koch zum Antritt seines „Traumjobs“. Und: „Wir müssen vielgestaltiger werden“, hat er seinen Kuratoren mit auf den Weg gegeben.

Otto Geiger "Wandern mit 'Kraft durch Freude'" (Plakat der NS-Organisation "Kraft durch Freude", um 1935). Copyright: Deutsches Historisches Museum, Berlin. Foto: Arne Psille

Otto Geiger "Wandern mit 'Kraft durch Freude'" (Plakat der NS-Organisation "Kraft durch Freude", um 1935). Copyright: Deutsches Historisches Museum, Berlin. Foto: Arne Psille

Auf 1100 Quadratmetern Fläche werden deshalb mehr Fragen gestellt als vorschnelle Antworten gegeben. Das Spektrum der Exponate reicht von der romantischen Malerei eines Caspar David Friedrich bis zum „Spiegel“-Cover über besagtes „Waldsterben“, von den röhrenden Hirschen in deutschen Schlafzimmern bis zum deutschen Heimatfilm („Der Förster vom Silberwald“), von guten Jägern und bösen Wilderern bis zur großformatigen „Hermannsschlacht“ eines Anselm Kiefer. Es gibt Bäume aus Holz und aus Plastik, Filmvorführungen und Lesungen, Volkslieder und einen Raum, in dem der deutsche Wald zum kriminalistischen TV-„Tatort“ wird: Immer ist der Wald ein Ort der Schönheit und des Erschreckens, der Geheimnisse und der Vergänglichkeit. Denn: Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus!

Dass die Deutschen ein Bundeswaldgesetz haben, wundert kaum. In Paragraph 14, Absatz 1 heißt es: „Das Betreten des Waldes zum Zwecke der Erholung ist gestattet.“ Dann steht eigentlich nichts im Wege, damit jeder Besucher den aus viel Kunst und noch mehr Kitsch geformten Wald-Parcours für sich zu einem sowohl echten wie metaphysischen Natur-Erlebnis machen kann.

Deutsches Historisches Museum (DHM): „Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald.“ Unter den Linden 2, Berlin-Mitte, bis 4. März 2012, täglich von 10-18 Uhr. Eintritt 6 Euro (Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre frei). Katalog (320 S., ca. 250 Abb., 25 Euro). Weitere Infos unter Telefon 030/20 30 44 44 oder http://www.dhm.de/ausstellungen/unter-baeumen/

 

"Die Wilderer" (Chromolithographie, um 1880). Copyright: Staatliche Museen zu Berlin - Museum Europäischer Kulturen. Foto: Ute Franz-Scarciglia

"Die Wilderer" (Chromolithographie, um 1880). Copyright: Staatliche Museen zu Berlin - Museum Europäischer Kulturen. Foto: Ute Franz-Scarciglia




Siegfried Lenz: Gaukelspiel der Masken

Nachdem das Unwetter sich gelegt hat, liegt ein metallgrauer Container am Strand der kleinen Nordsee-Insel. Der Container, im Sturm über Bord gegangen, muss auf einem Schiff nach Hamburg unterwegs gewesen sein: Adressat ist das Museum für Völkerkunde der Hansestadt. Einige Neugierige brechen die Fracht auf, finden darin Masken verschiedener Tiere. Hier die Maske eines Frosches, dort die eines Bären, einer Ente, eines Schweins, eines Tigers oder eines Drachen.

Als die Menschen, wie eigentlich an jedem Abend, in der Inselkneipe „Blinkfeuer“ gemütlich beisammen hocken, fangen einige der angetrunkenen Gäste an, sich die erbeuteten Masken aufzusetzen. Aus einer spontanen Laune heraus nimmt so ein seltsames Experiment seinen Lauf. Denn die Menschen haben ihre Gesichter zwar hinter den Papier-Masken verborgen, sie lassen aber zugleich ihre emotionalen Masken fallen. Inselbewohner, die seit langem im Streit liegen, versöhnen sich, Fremde tanzen miteinander, junge Paare gestehen sich ihre Liebe. Doch was wird geschehen, was wird von der Intimität der entstellenden Verstellung bleiben, wenn der alkoholselige Abend vorbei ist, die Masken vom Gesicht genommen sind, der Alltag wieder einkehrt? Und wie werden die für einen Moment aus ihrer Haut geschlüpften und sich selbst erkennenden Menschen reagieren, wenn die Polizei vor der Kneipentür steht und die Masken zurückfordert?

„Die Maske“ ist nicht nur die (vom Umfang her) längste und (von der gedanklichen Verstrickung) vielleicht am schönsten schillernde literarische Perle in Siegfried Lenz´ neuem Erzählband. Sie ist auch, aus gutem Grund, die Titelgeschichte des schmalen Buches, das auf 123 Seiten fünf neue Erzählungen des literarischen Altmeisters vereint. In der Geschichte über das Spiel mit den Masken kommen viele Motive und Themen noch einmal noch einmal zum Vorschein, die seit Jahrzehnten das Werk des inzwischen 85jährigen Autors prägen. Immer wieder hat Lenz, als diskreter Beobachter und stiller Gedächtnisarbeiter, in deutscher Geschichte gestöbert, gegen das Vergessen und Verdrängen angeschrieben, über das Leben als einen unendlichen Prozess des Verlierens, Suchens und Findens fabuliert. Ob in „Deutschstunde“, „Heimatmuseum“ oder „Fundbüro“: Bei Lenz geht es immer um die Literatur als kollektives Gedächtnis der Menschen. Literatur, so scheint es, ist für Lenz das ebenso genaue wie ironische, ebenso stille wie beharrlich Fragen aufwerfende und nach Wahrheiten suchende Zwiegespräch mit dem Leser.

In der Maskierung kommt das Unbewusste und Verdrängte ans Tageslicht, verschwimmen Realität und Utopie, werden Wünsche wahr, zeigt die Fantasie der Wirklichkeit die Zunge. Jedenfalls für einen schönen Moment tröstlicher Erkenntnis. Danach ist die Welt anders, aber nicht immer besser. Und so muss auch der Erzähler jener seltsamen Maskengeschichte erkennen, dass die vermeintlich große Liebe seines Lebens nur eine Illusion war, dass Abschied und Aufbruch das Leben nicht nur erschüttert, sondern auch erweitert. Lenz erzählt von all dem, wie man es von ihm kennt: ruhig und besonnen, unaufgeregt und heiter. Seine Erzählungen sind von Menschen bevölkert, die noch komplizierte Gedanken denken und grammatisch stimmige Sätze formulieren. Sie bellen nicht in Mobiltelefone, hantieren nicht mit Laptops, sind nicht ständig Online. Manche werden das als ein wenig altbacken abtun, aber darf Literatur nicht auch der „Entschleunigung“ des hektischen Alltags dienen und Geschichten erzählen, die sich dem modischen Zeitgeist verweigern?

Da ist zum Beispiel „Ein Entwurf“, die Geschichte über den jungen Sven, der mit dem Leben nicht klar kommt und auf einen Selbstmord zutreibt: Der Erzähler liegt im Krankenhaus neben dem Schriftsteller Fred Haller und wird Ohrenzeuge, wie Haller seiner heftig weinenden Gattin Anja den Entwurf für die traurige Geschichte des unglücklichen jungen Mannes vorliest, der bei einer Schiffstour in den Fluten versinkt. Der Ohrenzeuge hält die Geschichte für wahr und autobiografisch. Doch auf seine Frage: „War es so? Ist Sven ertrunken?“, antwortet der Autor: „Unser Sven ist bei der Geburt gestorben.“ Die Literatur ist eben mehr als Abbild und Beschreibung der Realität, sondern deren Überwindung und Veränderung.

Siegfried Lenz: Die Maske. Erzählungen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2011, 123 S., 17,99 Euro.

Infos:
+ Siegfried Lenz, geboren am 17. März 1926 im ostpreußischen Lyck, zählt zu den bedeutenden und meistgelesenen Schriftstellern der Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur.
+ Seine Werke werden in viele Sprachen übersetzt, sind oftmals verfilmt worden und haben mittlerweile eine Auflage von rund 30 Millionen Exemplaren.
+ Wichtige Bücher: „Es waren Habichte in der Luft“ (1951), „So zärtlich war Suleyken“ (1955), „Der Mann im Strom“ (1957), „“Deutschstunde“ (1968), „Heimatmuseum“ (1978), „Exerzierplatz“ (1985), „Fundbüro“ (2003), „Schweigeminute“ (2008).
+ Siegfried Lenz hat viele wichtige Preise erhalten, u. a. den Goethe-Preis, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, den Lew-Kopelew-Preis.




Allen Krisen zum Trotz: Jürgen Habermas will das Projekt Europa retten

Die Euro-Krise scheint kein Ende zu nehmen. Die zögerlichen und halbherzigen, oft populistischen Reaktionen der Politik lassen ein Scheitern des europäischen Projekts als reale Möglichkeit erscheinen. Da kommt ein Buch von Jürgen Habermas gerade recht. Der bekannteste lebende Philosoph Deutschlands – wenn nicht sogar der ganzen Welt – hat einen Essay („Zur Verfassung Europas“) geschrieben, mit dem er in die Debatte um die Zukunft des Kontinents eingreifen und der sich ausbreitenden Europa-Skepsis einen philosophischen Antikrisenplan entgegensetzen will.

Wenn allerdings „Die Zeit“ meint, es sei „das Buch der Stunde“, werden falsche Erwartungen geweckt: Denn Habermas gibt keine Handlungsanweisung zur Rettung des angeschlagenen Euro. Es geht ihm nicht um Rettungsschirme oder Eurobonds, sondern, im doppelten Sinne, um die Verfassung Europas: Wie haltbar ist die europäische Idee und wie sollte eine europäische Verfassung im Sinne umfassender Demokratisierung und Transparenz aller Entscheidungsprozesse aussehen? Habermas will Denkblockaden beiseite räumen und dazu animieren, in der größten Krise auch die größten Chancen für eine Neugestaltung und Weiterentwicklung Europas zu sehen: Ein Scheitern der europäischen Idee, da hat Habermas Recht, würde die Demokratisierung Europas um mindestens ein Jahrhundert zurückwerfen.

Mit Blick auf die politische Klasse kann der Philosoph geradezu polemisch werden: Er spricht von „hinhaltendem Taktieren“, „selbstdestruktivem Verhalten“, bizarren Auftritten „nationaler Potentaten“, die keine verbindliche Idee mehr von Europa haben und, gemessen an überzeugten Europäern wie Willy Brandt oder Joschka Fischer, nur noch „europäische Schandflecken“ sind. Mag da jemand ernsthaft widersprechen?

Zentraler Kritikpunkt ist die zunehmende, sich verselbständigende Macht des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs: Das sei „postdemokratische Herrschaftsausübung“. Mit der Idee umfassender, transparenter Demokratie habe das, was in Brüsseler Hinterzimmern und Kungelrunden beschlossen wird, nichts zu tun. Da ist er sich mit Hans Magnus Enzensberger einig. Beide haben fast gleich lautende Bücher veröffentlicht (Habermas: „Ach, Europa“, Enzensberger: „Ach Europa!“). Doch während Enzensbergers jüngster Essay („Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas“) sich wie eine politische Satire auf Demokratiekrise und bürokratische Uniformierung liest und darauf spekuliert, dass Europa an seinen inneren Widersprüchen zugrunde geht, träumt Habermas von einer „transnationalen Demokratie“. Mehr noch: Er entwirft die Utopie einer Verfassung, die nicht nur die europäischen Völker und Menschen versöhnt, sondern Grundlage einer „kosmopolitischen Gemeinschaft“ wird. Für alle, die es vergessen haben, zeigt Habermas noch einmal, welche Fortschritte Menschenrechte und Menschenwürde von der amerikanischen und französischen Revolution bis in die europäischen Einigungsverträge genommen haben. An die politische Klasse appelliert er, das bisher hinter verschlossenen Türen betriebene europäische Projekt endlich auf den „hemdsärmeligen Modus eines lärmend argumentierenden Meinungskampfes der breiten Öffentlichkeit umzupolen.“

Doch so richtig und wichtig die Vorschläge sind, so wenig Einfluss werden sie auf die aktuellen Entscheidungen haben. Die politischen Eliten haben sich längst vom intellektuellen Diskurs abgekoppelt, sie schielen nur noch auf Umfragewerte und Wahlen. Wenn Habermas früher über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ philosophierte oder eine „Theorie des kommunikativen Handelns“ entwarf, ging ein Raunen durch die politischen Denkfabriken: vorbei und vergessen. Wahrscheinlich wird man in 50 oder 100 Jahren den Essay als Meilenstein der demokratischen europäischen Verfassung preisen. Einstweilen aber werden die europäischen Träume eines Habermas an der fantasielosen Realpolitik von Merkel und Sarkozy ungehört und ungelesen abprallen. Leider.

Jürgen Habermas: „Zur Verfassung Europas“. Ein Essay. Suhrkamp, 130 Seiten, 14 Euro.




Als Joseph Beuys nach Japan kam

29. Mai 1984: Joseph Beuys lächelt gequält und sieht ein bisschen verloren aus. Ein Suchender und Staunender, einer, der noch nicht recht weiß, was ihn dort, wo er gerade mit dem Flugzeug gelandet ist, erwartet. Von Kameras begleitet und beäugt, bahnt sich der erstmals von Düsseldorf nach Tokio gereiste Künstler seinen Weg durch die mit Koffern und Menschen verstopfte Ankunftshalle.

Beuys trägt, was ihm zur zweiten Haut geworden ist: den grauen Filzhut, die multifunktionale Weste, weißes Hemd, dunkle Hose, grobe Schuhe mit dicken Gummisohlen. Der Kunstprofessor, der schon mit Studenten Räume der Düsseldorfer Kunstakademie besetzt hielt und mit seinem Konzept ökologisch-ganzheitlicher Kunst für Aufsehen sorgte, ist freundlich, freut sich über die roten Rosen, die ihm seine Gastgeber überreichen. Ein harmloser, fast heimeliger Auftakt eines achttägigen Aufenthalts, der es in sich hat und in der kulturpolitischen Landschaft Spuren hinterlassen wird.

Beuys wird im Seibu Museum of Art in Tokio eine Ausstellung mit seinen Werken einrichten und eröffnen, er wird Pressekonferenzen geben und vor erregten und verstörten Studenten sein Konzept einer antikapitalistischen Kunst-Utopie vorstellen. Beuys wird eine Manufaktur besuchen und zusammen mit Videokünstler Nam June Paik eine legendäre Performance veranstalten.

Joseph Beuys: Coyote III, 1984, Videostill. Copyright: VG Bild-Kunst Bonn 2011

Joseph Beuys: Coyote III, 1984, Videostill. Copyright: VG Bild-Kunst Bonn 2011

Das dreißigstündige Filmmaterial, das Zeugnis von einer seltsamen Begegnung zwischen Ost und West ablegt und in Wort und Bild die meisten Schritte und Aktionen festhält, die Beuys vom 29. Mai bis zum 5. Juni 1984 in Japan unternahm, galt lange Zeit als verschollen. Vor einem Jahr tauchten die Film-Dokumente wieder auf und wurden in Japan gezeigt. Jetzt sind sie, in einer überwältigenden Ausstellung, erstmals in Deutschland zu sehen: „Joseph Beuys: 8 Tage in Japan und die Utopie EURASIA“ ist der Titel der Berliner Schau, die im Hamburger Bahnhof, dem „Museum für Gegenwart“, präsentiert wird.

Im Westflügel des Museums, dort, wo ohnehin eine große Beuys-Sammlung beheimatet ist, die einige aus Kunstklassiker mit Schiefertafeln, Filzmatten und Fettecken beherbergt, ist eine ganze Etage für die überraschende Wiederentdeckung und großzügige Präsentation der japanischen Film-Sequenzen frei geräumt worden. Im Zentrum: eine dunkle Video-Höhle. Auf einer riesigen Leinwand wird ein 3-stündiger Mitschnitt der „Coyote III“- Performance nebst anschließender Diskussion gezeigt. Während Nam June Paik auf einem Klavier klimpert, hechelt Beuys Hundelaute ins Mikrofon.

Joseph Beuys in Japan, 1984, Videostill (Copyright I&S BBDO)

Joseph Beuys in Japan, 1984, Videostill (Copyright I&S BBDO)

Um die Video-Höhle herum ist ein Kunst-Parcours mit zehn TV-Bildschirmen installiert. Dokumentiert werden, in unkommentierten und umfangreichen Filmsequenzen, sowohl Ankunft wie Abreise, Debatten und Diskussionen, Interviews und Museumsbesuche. Und immer wieder muss ein leicht genervter Beuys seinen fernöstlichen Gastgebern sein Kunstkonzept erklären. Man will verstehen, warum Beuys bereits 1963 die Partei EURASIA gegründet hat und vom Zusammenschluss östlicher und westlicher Kulturen träumt. Man will wissen, was es mit seinem ätzenden Anti-Kapitalismus auf sich hat und warum er Sätze sagt wie: „Ein Eisenwalzwerk muss zugleich eine Universität sein.“

Das Konzept des universellen Künstlers ist den Zuhörern noch fremd: „Jeder Mensch ist ein Künstler. Jeder Mensch ist ein Superstar. Jeder Mensch ist ein elitäres Wesen.“ Wenn Beuys seine kunstpolitischen Visionen in Japan ausbreitet, schaut er in viele fragende Gesichter, gebetsmühlenartig muss er dann seine Theorien darlegen. Japan mag für Beuys ein lang ersehntes Reiseziel und ein utopischer Kunsttraum gewesen sein. Dass ihn zwar japanische Kultur und Mentalität erregten und interessierten, ihm aber letztlich durchaus fremd blieben, auch davon erzählt diese Ausstellung, für deren Besuch man vor allem eines braucht: sehr viel Zeit.

Joseph Beuys: 8 Tage in Japan und die Utopie EURASIA,
Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart Berlin, Invalidenstraße 50-51, 10557 Berlin, bis 1. Jan. 2012,
geöffnet Di-Fr 10-18 Uhr, Sa 11-20 Uhr, So 11-18 Uhr, Mo geschlossen,
Eintritt 12 Euro, ermäßigt 6 Euro.

Weitere Infos unter http://www.hamburgerbahnhof.de




Raffaels Madonnen in Dresden vereint

Raffael: Madonna di Foligno, 1511/1512 (Copyright: Vatican Museums)

Raffael: Madonna di Foligno, 1511/1512 (Copyright: Vatican Museums)

Der deutsche Papst hat es möglich gemacht. Fast fünfhundert Jahre lang haben sich die von Raffael fast zeitgleich gemalten Altarbilder nicht mehr getroffen, jetzt kann man sie nebeneinander betrachten.

Zuletzt standen die „Madonna von Foligno“ und die „Sixtinische Madonna“ im Jahre 1512 zusammen im Atelier des italienischen Renaissance-Malers. Dann trennten sich die Wege der Bilder, die auf eindringliche Weise die himmlische Erscheinung der Maria mit dem Jesuskind thematisieren.

Auf verschlungenen Pfaden und verschiedenen Zwischenstationen kam die „Sixtinische Madonna“ 1754 nach Dresden, um die ohnehin prächtige Sammlung von August III., dem sächsischen Kurfürst und König von Polen, mit einem ebenso unzweifelhaften wie bedeutenden Raffael-Gemälde nochmals aufzuwerten und zu schmücken.

Die „Madonna von Foligno“ wurde, nachdem napoleonische Truppen sie beschlagnahmt und restaurierten hatten, im Jahr 1816 nach Italien zurückgebracht, um in der Vatikanischen Pinakothek ein gut behütetes und viel umschwärmtes Dasein als Ikone der Kirchenkunst zu führen. Zwei Jahrhunderte lang wurde das Bild nicht ausgeliehen, nie ging es auf Reisen. Dass aus Anlass des Deutschland-Besuches von Papst Benedict XVI., die „Madonna von Foligno“ den Vatikan verlassen und in der Gemäldegalerie der Alten Meister in Dresden ihr Schwesterbild treffen darf, ist eine Geste eines Kirchenführers an seine deutsche Heimat – und es ist eine Kunst-Sensation.

Die beiden kostbaren Raffael-Bilder sind nicht allein in Dresden. Zu ihnen gesellen sich knapp 20 weitere Werke, Gemälde, Zeichnungen, Kupferstiche, Bücher und Dokumente. Skizzen Raffaels zu seinen „Madonnen“, korrespondierende Werke von italienischen Malern wie Corregio und Garofalo sind zu sehen, aber auch Arbeiten deutscher Künstler, Albrecht Dürer und Lucas Cranach d. Ä., die „Stuppacher Madonna“ von Matthias Grünewald.

Raffael: Sixtinische Madonna, 1512 (Copyright: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alter Meister - Foto: Estel/Klut)

Raffael: Sixtinische Madonna, 1512 (Copyright: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alter Meister - Foto: Estel/Klut)

„Himmlischer Glanz“, so der Titel der Ausstellung, ist wahrlich keine opulente und ausufernde, aber dennoch bedeutende Kunstschau. In klaren Konturen und beispielhafter Deutlichkeit zeigt sie nicht nur klassische Beispiele der Madonnen-Darstellung aus der Zeit Raffaels. Sie belegt auch, wie Werke wichtiger Künstler – auch über die Alpen hinweg – miteinander kommunizierten, wie sie sich in Bildsprache und Themengestaltung, Malweise und Farbgebung aufeinander bezogen. Das ist spannend und lehrreich, kann aber den Blick des faszinierten Betrachters nicht vom magischen Zentrum der Bilderschau lenken: den beiden großformatigen, von zeitloser Schönheit, ästhetischer Erhabenheit und göttlicher Gnade kündenden Madonnen-Bildern.

Hier die „Sixtinische Madonna“, die wahrscheinlich von Papst Julius II. in Auftrag gegeben wurde und für die Klosterkirche San Sisto in Piacenza bestimmt war, quasi als Geschenk dafür, dass die oberitalienische Stadt dem Kirchenstaat beigetreten war: In der Mitte schreitet Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm in Richtung der irdischen Welt. Der kniende Papst Sixtus II. und die Heilige Barbara weisen ihr den Weg. Unten lümmeln sich zwei schelmische und sympathische Engelchen, die, aus dem Bild tausendfach herauskopiert, längst zu Pop-Ikonen der Alltagskultur geworden sind.

Und nur eine Armlänge in Dresden entfernt nun die „Madonna von Foligno“: Die Muttergottes, auf Wolken sitzend vor einer Sonnenscheibe, mit dem Kind auf dem Arm. Links Johannes der Täufer und Franziskus, rechts der Heilige Hieronymus und Auftraggeber Sigismondo dei Conti. Und alles strahlt, nach mehreren Restaurierungen, in Rot, Blau und Gold. Gegen die satten und knalligen Farben nimmt sich die matt und grünstichig erscheinende, seit vielen Jahren nicht mehr aufgefrischte „Sixtinische Madonna“ geradezu kleinlaut aus. Gleichwohl verheißt auch dieses Bild ein großes Versprechen, und jeder Betrachter spürt, hier zwei der bedeutendsten Meisterwerke der Renaissance ansichtig zu werden und Zeuge eines einmaligen historischen Moments zu sein: Denn wohl nie wieder werden die beiden Schwestern sich begegnen.

Infos:

+ „Himmlischer Glanz. Raffael, Dürer und Grünewald malen die Madonna“. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alter Meister, bis zum 8. Januar 2012
+ Öffnungszeiten: tägl. 10 – 18 Uhr, Mo geschlossen
+ Eintritt: 10 Euro, ermäßigt 7,50 Euro.
+ Informationen und Anmeldungen von Führungen unter 0351/49142000 oder besucherservice@skd.museum
+ Katalog, herausgegeben von Henning und Arnold Nesselrath, Prestel Verlag, München, 128 S., 80 Farbabbildungen, 24,95 Euro.
+ Mehr über Raffael und die Renaissance: Giorgio Vasari: „Das Leben des Raffael“, neu übersetzt und kommentiert, Wagenbach Verlag, Berlin 2004, 204 S., 12,90 Euro.




Schokoladensüße Liebeskomödie

Angélique und Jean-René haben einiges gemeinsam: Sie sind beide sensibel und schüchtern, sie sind romantische Träumer und nicht ganz von dieser Welt, sie haben eine große Leidenschaft für Schokolade – und sie sind Singles. Eigentlich die besten Voraussetzungen, um sich ineinander zu verlieben und endlich den Partner fürs Leben zu finden.

Doch was beide miteinander verbindet, trennt sie zugleich. Angélique und Jean-René können zwar über neue Pralinen-Kreationen und gaumenfreundliche Raffinessen reden, sich auch insgeheim anschmachten. Aber ihre Gefühle können sie einfach nicht offen legen. Da helfen keine Psychologen, und auch die Leidensgenossen, die sich allwöchentlich bei den „Anonymen Romantikern“ treffen, wissen keinen Rat. Es sind also noch einige emotionale Klippen zu meistern und manche Widerstände zu überwinden, bis die schokoladensüße Liebeskomödie ein gutes Ende findet.

Dass es ein Happyend gibt, daran besteht natürlich von vornherein kein Zweifel. Doch was schön ist für Angélique (Isabelle Carré) und Jean-René (Benoit Poelvoorde), bringt den Kinozuschauer eher zum Gähnen. Es gibt einfach keine Überraschungen, alles läuft wie am Schnürchen, sogar die eingebauten Hindernisse sind so klein, dass man sie mit ein bisschen Fantasie leicht überwinden kann. Und so wird der von Regisseur Jean-Pierre Améris mit leichter Hand erzählte und von wunderbaren Komödianten gespielte Film leider zu einem überschaubaren Vergnügen.

Filmplakat (Delphi-Verleih)

Filmplakat (Delphi-Verleih)

Wundert sich jemand, dass die Schokoladenmanufaktur von Jean-René, diesem sympathischen Kauz mit dem dümmlichen Grinsen, kurz vor dem Ruin steht – und dann nur von der kokett lächelnden Angélique und ihren raffinierten neuen Kreationen gerettet werden kann? Bleibt nur noch die Frage zu klären: Was geschieht, wenn die beiden endlich aus dem Kreis der „Anonymen Romantiker“ ausbrechen und sich das Jawort geben wollen? Die Hochzeit, das darf man hier ruhig verraten, verläuft nicht ganz nach Plan. Aber auch das hätte sich der schmunzelnde Zuschauer denken können.

Ein charmanter Film über die amüsanten Verklemmungen empfindsamer Menschen, nicht mehr, aber auch nicht weniger.




Eine Liebe im Schatten der Ideologie

Das erste, was der Leser des neuen Buches von Barbara Honigmann wahrnimmt, ist das Bild eines schlanken und großen Radfahrers. Im Hintergrund scheint sich, der Wolkenbildung nach zu urteilen, ein Gewitter anzukündigen. Die rechte Hand hält der direkt auf den Betrachter zuradelnde Mann an die Stirn. Wahrscheinlich hat er, wie die Autorin später im Buch mutmaßen wird, wieder einmal Kopfschmerzen.

Vor allem daran erinnert sich Barbara Honigmann, die das von ihr selbst gemalte Bild ihres früheren Geliebten auf dem Cover ihres Buches zeigt: dass der Mann so dürr und lang war, oft Migräne hatte und sich schnell aus dem Staub machte, wenn es ernst wurde und die Frauen, die ihn umschwirrten wie Motten das Licht, seine intellektuelle Abkapselung durchdringen wollten. „Wenn ich an A. denke“, schreibt Honigmann, „bin ich verletzt, beleidigt, fühle mich abgewiesen und ausgenutzt, er ist mir fern, fremd, unverständlich, und ich liebe ihn. Wir sind, wie man so sagt, im Bösen auseinander gegangen. Unversöhnt. A. ist jetzt tot.“

„Bilder von A.“ heißt das Buch. Es ist, wie alle Bücher der jüdischen Autorin, die 1984 die DDR verließ und ins französische Straßburg zog, ein auf das Nötigste komprimiertes Bändchen. Es gibt kein überflüssiges Wort, keine erklärenden Umschreibungen. Nur die flüchtigen Erinnerungen, die Bilder und Briefe, die sie noch von jenem Mann hat, den sie A. nennt, spielen eine Rolle.

A., das ist nicht allzu schwer zu dechiffrieren, ist Adolf Dresen, der im Jahre 2001 verstorbene Theater- und Opern-Regisseur, Vater von Filmregisseur Andreas Dresen. Die beiden, was Temperament und Alter angeht, völlig verschiedenen Künstler lernten sich bei einem Kleist-Projekt kennen. Barbara Honigmann war damals eine junge, unbekannte Dramaturgin, Dresen ein in der DDR hoch angesehener Bühnenguru. Zusammen entwickelten sie Ideen für mehrere Kleist-Inszenierungen, Text-Abende und Konzerte. Doch während die von Dresen arrangierten Inszenierungen („Prinz von Homburg“, „Der zerbrochene Krug“) den Beifall der Zensoren fanden und noch jahrelang auf dem Programm standen, wurden die von Honigmann eingeübten Aufführungen (ein Kinder-Kleist-Stück und ein musikalisch-kritischer Kleist-Abend) nach den ersten Vorstellungen abgesagt. Die aufmüpfige Jung-Regisseurin wurde gefeuert. Damit war zwar die Theater-Karriere von Honigmann beendet, die Liebesaffäre mit dem verheirateten Dresen aber noch lange nicht.

Ausführlich und ungeschminkt von den Schwierigkeiten und Verletzungen dieser Liebesgeschichte zu erzählen, würde vielleicht voyeuristische Neugier wecken. Doch das interessiert Barbara Honigmann keinen Moment. Ihr geht es darum, das exemplarische Scheitern einer Liebe vor dem Hintergrund der ideologischen Katastrophen und religiösen Widersprüche zu zeigen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben.

Barbara Honigmann hat schon mehrfach („Damals, dann und danach“, „Roman von einem Kinde“, „Eine Liebe aus nichts“, „Alles, alles Liebe!“) ihre Lebensgeschichte für fiktive Verwirrspiele benutzt, hat davon erzählt, wie ihre kommunistischen Eltern aus dem englischen Exil in die DDR kamen, um den Sozialismus aufzubauen – und dafür ihre jüdischen Geschichte über Bord warfen und verdrängten. Honigmann hat berichtet, wie sie ihr Judentum wiederentdeckte, antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt war und schließlich nach Frankreich auswanderte. Seitdem blickt sie von dort, kritisch und mahnend, auf Deutschland.

Wer die Zukunft gestalten will, muss die Vergangenheit verstehen. Für die Autorin heißt das: sich vergegenwärtigen, warum der Kommunist Dresen seiner Geliebten das Judentum ausreden wollte, warum er ihr, damals in Ostberlin genauso wie später in unzähligen Briefen, unterstellte, sie hätte sich nur aus Unzufriedenheit mit dem realen Sozialismus der DDR, quasi als antisozialistische Attitüde zum Judentum bekannt. „Warum reitest Du immer auf den jüdischen Dingen herum“, hat A. in einem Brief gefragt. Doch da war die Liebe zwischen den beiden schon längst zerbrochen, hatte sich die junge Frau längst aus den Fängen der intellektuellen Bevormundung befreit und auf den Weg in ein eigenes Leben gemacht. Spätestens da wusste Barbara Honigmann auch, dass die Deutschen und die Juden noch lange brauchen würden, bis sie den anderen verstehen.

Barbara Honigmann: „Bilder von A.“ Hanser Verlag, München. 137 Seiten, 16,90 Euro.




Ins Herz der juristischen Finsternis

Zunächst scheint alles ganz klar: Der seit Jahren in Deutschland lebende und arbeitende Italiener Fabrizio Collini erschießt in einem Berliner Luxushotel den Großindustriellen Hans Meyer. Der Mörder ruft selbst die Polizei und gesteht die Tat.

Danach aber verfällt er in tiefes Schweigen. Vor allem zum Motiv seiner Mordtat will er sich nicht äußern. Wenn Anwalt Caspar Leinen, dem die Pflichtverteidigung des vermeintlichen Mörders zugewiesen wird, gehofft haben könnte, „Der Fall Collini“ sei ein leicht abzuwickelnder juristischer Selbstläufer, sieht er sich schnell getäuscht. Doch nicht nur, dass die Motive der Tat im Dunkeln liegen, macht ihm zu schaffen. Auch dass der Anwalt das Mordopfer kannte und Hans Meyer in seiner Jugend verehrt hat wie einen Vater, wird für Caspar Leinen zu einer schweren Belastung. Denn er ahnt bald, dass ihm im Fall Collini einige unangenehme Wahrheiten bevorstehen, die ihn in die Abgründe der eigenen Biografie und der deutschen Geschichte führen werden.

Natürlich sind die Romanfigur Caspar Leinen und der Autor Ferdinand von Schirach nicht identisch. Aber sie haben doch einiges gemein. Der 1964 in München geborene von Schirach arbeitet seit 1994 als Strafverteidiger in Berlin, verteidigt Mörder und Drogendealer, kleine und große Wirtschafts- und Polit-Kriminelle. Dass von Schirach genauso akribisch an der Wahrheitsfindung interessiert ist wie seine literarischen Figuren, davon zeugen die Erzählbände „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010), mit denen der schreibende Anwalt die Bestseller-Listen stürmte, den angesehenen Kleist-Preis erhielt und sich schlagartig in die erste Reihe deutscher Literaten katapultierte. Der lakonische Ton, die kühle Distanz und die Genauigkeit seiner wie mit einem Seziermesser aufs Papier geritzten Erzählungen erinnern an die Short-Stories von Raymond Chandler. Gespannt durfte man sein, wie er sein literarisches Besteck auf der Langstrecke eines Romans beherrscht. Und in welche juristischen und menschlichen Labyrinthe er sich wohl diesmal begibt.

Dass sich der Autor auf ein Gebiet wagt, das ihm wie ein biografischer Klotz am Bein hängt und über das er öffentlich nur ungern spricht, ehrt ihn. Es muss ihm zugleich wie eine Befreiung vorgekommen sein. Denn mit dem „Fall Collini“ taucht nicht nur die literarische Figur Caspar Leinen, sondern auch der schreibende Enkel des verurteilten NS-Verbrechers Baldur von Schirach in die Zeit des Nationalsozialismus, des Hitler-Krieges und des Massenmordes ein. Der von Fabrizio Collini erschossene Hans Meyer war nämlich, wie Caspar Leinen nach beschwerlichen Recherchen und staubigen Exkursionen in deutschen Archiven herausfindet, nicht nur der von ihm geliebte gutmütige alte Mann und der in Wirtschaftskreisen hoch angesehene Industrielle. Er hatte auch eine mörderische Nazi-Vergangenheit. Als „SS-Sturmbannführer“ hatte Meyer in Italien Erschießungen veranlasst und Schuld auf sich geladen. Aber er hatte, obwohl Collini ihn schon vor Jahrzehnten als Mörder seiner Familie angezeigt hatte, nie dafür büßen müssen. Die Tat galt als verjährt, die Schuld als unerheblich. Dafür hatten die von ehemaligen Nazis ins bundesdeutsche Gesetzbuch geschmuggelten Bestimmungen gesorgt.

Ferdinand von Schirach nimmt den Leser mit auf eine Reise ins Herz der juristischen Finsternis. Denn seinem Alter Ego Caspar Leinen geht es darum, die Mordmotive aufzuklären und die Schwere der Schuld seines Mandanten zu eruieren. Wenn es um die Beschreibung der juristischen Fallstricke und die Aufklärung der Nazi-Verbrechen geht, ist der Autor in seinem Element. Doch so präzise er hier ist, so klischeehaft geraten ihm die menschelnden Einschübe in seine Mord- und Rache-Geschichte. Caspar Leinen erinnert sich an seine unbeschwerten Kindertage mit Philipp, seinem früh verstorbenen Freund und Enkel von Hans Meyer. Und daran, wie er sich in Philipps Schwester Johanna verliebte, dieselbe Johanna, die jetzt nicht verstehen kann, warum Caspar den Mörder ihres Großvaters verteidigt, die ihm schwere Vorwürfe macht – und dann doch mit ihm ins Bett geht. Der Leser könnte gut auf diese banalen Erinnerungssequenzen und erotischen Gemeinplätze verzichten. Aber dann wäre aus dem Roman vielleicht doch nur wieder eine Erzählung geworden.

Ferdinand von Schirach: „Der Fall Collini“. Roman. Piper, München, 2011, 197 S., 16,99 Euro.

Als Hörbuch: Ungekürzte Lesung von Burghard Klaußner. Osterwold, 3 CD, 19,99 Euro.

Infos:
+ Ferdinand von Schirach, geboren 1964 in München, Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach.
+ Seit 1994 Strafverteidiger in Berlin.
+ Betrat mit den Erzählbänden „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010) die literarische Bühne.
+ „Der Fall Collini“ ist der erste Roman des Autors.
+ Kleist-Preis für „Verbrechen“ 2010.
+ Doris Dörrie arbeitet an der Verfilmung einer Geschichte aus „Verbrechen“.
+ Das ZDF plant eine Serie mit Filmversionen der Erzählungen.
+ Unter dem Titel „Einspruch“ schreibt von Schirach regelmäßig Kolumnen im „Spiegel“.




Träumen ohne Sigmund Freud

Psychoanalytiker und Patienten, die hofften, auf der Couch verquasten Träumen und verdrängten Wünschen auf die Spur zu kommen, müssen dieser Tage ganz tapfer sein. Nicht genug, dass der französische Philosoph Michel Onfray meint, Sigmund Freuds Lehre sei bloß ein auf Hirngespinsten und Obsessionen basierendes Konstrukt und der Ödipus-Komplex eine Legende. Jetzt haben auch noch Neurologen und Psychologen der Universität Zürich Freuds Traumdeutung entzaubert.

Freuds These, wir würden in unseren Träumen einen Weg zum Unbewussten finden und, symbolisch verschlüsselt, unsere geheimsten Wünsche und Aggressionen bearbeiten, ist für die Zürcher Wissenschaftler reiner Humbug. Nach Verkabelung und Untersuchung hunderter Schlafpatienten fanden sie heraus, dass Träume sehr wenig mit der Verarbeitung von Realität zu tun haben: Der Traum ist eine Form kreativen Denkens, der Träumende löst sich von eingefahrenen Denkmustern und erlebt und verarbeitet Themen in neuen Zusammenhängen: Nicht ohne Grund hat Paul McCartney behauptet, er habe die Melodie von „Yesterday“ geträumt.

Träume, so die Zürcher Erkenntnis, sind „die Wächter des Schlafes“. Mit den Worten eines von den Schlafforschern befragten jungen Mädchens kann man auch sagen: „Wir träumen, damit uns im Schlaf nicht langweilig wird.“

(Teaser-Foto: Bernd Berke)




Erhabene Schönheit der Renaissance

Diese Schönheit und Anmut, dieser Stolz, dieses Selbstbewusstsein, diese Eleganz. Seit Wochen beherrschen die von zeitloser Erhabenheit erzählenden „Gesichter der Renaissance“ das Berliner Stadtbild. Überall hängen Plakate und Transparente.

Jetzt endlich ist die Zeit des neugierigen Wartens vorbei. Und das Ergebnis lässt den Betrachter vor Ehrfurcht in die Knie gehen: Das auf der Berliner Museumsinsel gelegene Bode-Museum öffnet die Pforten zu einer opulenten Bilderschau und zeigt mehr als 170 Hauptwerke der Renaissance, Gemälde, Zeichnungen, Medaillen und Büsten, die erstmals zusammen zu sehen sind. Zu den Leihgebern der fragilen und nur selten auf Reise geschickten Kunstwerke gehören die Florentiner Uffizien und der Pariser Louvre, die National Gallery in London und die Sammlung Czartoryski aus Krakau.

Leonardo da Vinci: "Dame mit dem Hermelin" (Portrait der Cecilia Gallerani), 1489/90, Copyright bpk/Scala

Leonardo da Vinci: "Dame mit dem Hermelin" (Portrait der Cecilia Gallerani), 1489/90, Copyright bpk/Scala

Ob Sandro Botticelli oder Filippo Lippi, Domenico Ghirlandaio oder Gentile Bellini, Antonio del Pollaiuolo oder Andrea d´Assisi: Kaum einer der großen italienischen Meister, die im 15. Jahrhundert die Kunst revolutionierten, sie aus den Zwängen der Kirche befreiten und das selbstbewusste Antlitz des Finanzadels künstlerisch veredelten, fehlt in der grandiosen Schau. Natürlich auch nicht Leonardo da Vinci. Seine „Dame mit Hermelin“ (1489/90) ist Höhe- und Schlusspunkt der Kunst-Exkursion, die zu einem ästhetischen Erlebnis wird. Dass das Bildnis der etwas spöttisch und missgelaunt über ihre Schulter in eine abstrakte Ferne schauenden Cecilia Gallerani überhaupt von Krakau nach Berlin reisen durfte, ist eine Sensation: leider eine von begrenzter Dauer. Denn schon Ende Oktober (vier Wochen vor Ende der Ausstellung) muss das Bild zur großen Leonardo-Schau nach London reisen. Und ins Metropolitan Museum of Art darf die schöne Dame schon gar nicht: Für die zweite Station der Ausstellung über die „Gesichter Renaissance“ in New York (19.12. 2011-18.3.2012) wird es ein neues Glanzstück geben müssen.

Sandro Botticelli "Profilbildnis einer jungen Frau" (Simonetta Vespucci?), um 1476, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Sandro Botticelli "Profilbildnis einer jungen Frau" (Simonetta Vespucci?), um 1476, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Trotzdem: Für Michael Eisenhauer, Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, ist das, was in Berlin seinen Anfang nimmt und in New York weitergeführt wird, die „weltweit größte und bedeutendste Ausstellung zur Portrait-Kunst der italienischen Renaissance“. Da hat er Recht.

Den Ausgangspunkt bildet Florenz, weil dort das autonome Portrait erstmals in großer Zahl auftritt. Danach richtet sich der Blick auf die Höfe von Ferrara, Mantua, Bologna, Mailand, Neapel und des päpstlichen Rom. Schließlich geht es nach Venedig, wo sich die Portrait-Kunst erst mit Verspätung etablierte. Der durch ein schummriges Halbdunkel flanierende Betrachter macht überall wunderbare Entdeckungen, sieht inszenierte Machtfülle (Botticellis „Bildnis des Giuliano de´Medici“) und überirdische Schönheit (Pollaiuolos „Bildnis einer Dame“).

Andrea Mantegna: "Bildnis des Kardinals Ludovico Trevisano", um 1459, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Andrea Mantegna: "Bildnis des Kardinals Ludovico Trevisano", um 1459, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Der Kunstflaneur wird Zeuge, wie sich das Einzelportrait, das früher nur Herrschern und historischen Persönlichkeiten vorbehalten war, zur autonomen, vielgestaltigen Kunstform entwickelt. Doch wer Italiens künstlerischen Beitrag zur Erfindung von Individualität und Identität miterleben will, braucht Geduld. Aus konservatorischen und ästhetischen Gründen werden immer nur 300 Besucher auf einmal zugelassen. Da werden sich lange Schlangen bilden.

Filippo Lippi: "Bildnis eines Mannes und einer Dame", um 1440, Copyright The Metropolitan Museum of Art, New York

Filippo Lippi: "Bildnis eines Mannes und einer Dame", um 1440, Copyright The Metropolitan Museum of Art, New York

Die Wartezeit kann man sich dann mit einer aufs Mobiltelefon herunter geladenen kostenlosen Online-Applikation versüßen: Die „App“ hat unzählige Kunstwerke und Kommentare, Künstlerbiografien und Videos im Angebot. Ob der Kunstliebhaber allerdings auch Statements von Hair-Stylist Udo Walz oder Modemacher Wolfgang Joop hören und sehen will, sei dahin gestellt. Diesen zeitgeistigen Firlefanz hat die zeitlos schöne Ausstellung gar nicht nötig.

Infos:

+ „Gesichter der Renaissance – Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst“, bis 20. November 2011, Fr – Mi 10 -18 Uhr, Do 10 – 22 Uhr.
+ Bode-Museum, Museumsinsel Berlin, Am Kupfergraben 1, 10117 Berlin,
+ Rund 170 Meisterwerke der italienischen Renaissance (Gemälde, Zeichnungen, Medaillen, Büsten), zusammengetragen aus über 50 Museen.
+ Danach im New Yorker Metropolitan Museum of Art, 19.12. 2011-18.3.2012,
+ Service und Tickets unter www.smb.museum/gesichter,
+ Eintritt: 14 Euro, ermäßigt 7 Euro,
+ Katalog: In der Ausstellung 29 Euro, im Buchhandel 47,50 Euro




„Fliegende Fische müssen ins Meer“: Zauberhafte Kino-Komödie aus der deutschen Provinz

Noch gar nicht lange her, da spielte Meret Becker junge Frauen, die, auf dem Weg zu sich selbst, viele Irrungen und Wirrungen auf sich nehmen und manch emotionalen Umweg gehen mussten. Jetzt, ein paar Jahre später, ist sie zwar zur Leinwandmutter dreier Kinder geworden, aber eigentlich ist sie immer noch so überdreht und verrückt, Probinzunberechenbar und komisch wie ehedem. Irgendwie nicht von dieser Welt. Das ist auch gut so. Denn sonst wäre „Fliegende Fische müssen ins Meer“, der von Güzin Kar (Drehbuch und Regie) in Szene gesetzte Film über Lust und Leid des Lebens einer allein erziehenden Mutter in tiefster deutscher Provinz, wohl kaum zu dem geworden, was er ist: eine wunderbar leichte Komödie darüber, dass das Leben einfach kompliziert ist und doch spannend und schön sein kann.

Szenenbild (Foto: movienet)

Szenenbild (Foto: movienet)

Eine karge Inhaltsangabe (arbeitslose Mutter, drei Kinder von drei verschiedenen Männern, bedrängt von humorlosen Behörden, beäugt von miefigen Nachbarn) würde nach verdrießlichem Sozialdrama klingen. Das Gegenteil ist der Fall. Roberta (Meret Becker) stolziert mit roten Pumps und rotem Kleid durchs graue Dorf, verdreht dickbäuchigen Männern den Kopf und infiziert allmählich sämtliche Frauen mit erotischen Träumen. Das ist nicht weit vom Klischee, aber trotzdem lustig.

Wer etwas mehr Tiefgang möchte und miterleben will, wie sich Jugend und Intelligenz paaren und Wunsch und Wille zu einer praktikablen Lebensstrategie verbinden, sollte sich die junge Elisa Schlott ganz genau ansehen. Sie ist die Sensation des ebenso witzigen wie anrührenden Films. Elisa Schlott ist die 15-jährige Nana, Tochter von Roberta. Sie jobbt als Schleusenwärterin beim Wasserkraftwerk, würde aber gern das Leben und die Liebe erkunden, loslaufen in die Welt und Schiffskapitänin werden. Doch meistens muss sie auf ihre ausgeflippte Mutter aufpassen und ihre kleinen Geschwister versorgen. Und dann verknallt sich Nana auch noch in Eduardo (Barnaby Metschurat), diesen schönen, rätselhaften neuen Arzt, den es aus unerfindlichen Gründen in das abgelegene Dorf am Rhein verschlagen hat. Eduardo ist der halbseidene, geheimnisvolle Zauberer, der direkt aus einem alten Shakespeare-Stück in den neudeutschen Film entsprungen zu sein scheint – und wieder verschwinden wird, wenn seine Arbeit getan ist und jeder bekommt, was er braucht: eine Zukunftsperspektive.

Bilder und Dialoge balancieren gekonnt zwischen satirischer Wirklichkeit und magischem Realismus. Ein kleiner Film mit großer Wirkung. Ein Juwel.

(Kinostart: 25. August)




Als Brecht bei Feuchtwanger klingelte – Klaus Modicks Roman „Sunset“

Winter 1918. Der Krieg geht zu Ende, in München wird die Räterepublik ausgerufen. Das lässt auch den Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der sich bisher eher für buddhistische Weisheiten und historische Themen interessierte, nicht kalt.

Gerade arbeitet er an seinem Theaterstück „Thomas Wendt“, einem „dramatischen Roman“ über einen Künstler, der sich zum politischen Engagement bekennt und sich in die Revolution einmischt. Da klingelt es an der Hautür und ein abgerissen wirkender junger Mann mit Stoppelbart, Schiebermütze und abgewetzter Lederjacke begehrt Einlass in die Wohnung des arrivierten Schriftstellers. Er habe ein Stück geschrieben und hoffe, dass der über beste Bühnen-Kontakten verfügende Feuchtwanger in der Lage sei, eine Aufführung zu erwirken, „weil ein Stück“, so der selbstbewusste Jungdichter, „das nicht aufgeführt wird, nichts wert ist.“

Das Drama, das der freche Dichter dem älteren Kollegen auf den Schreibtisch pfeffert, trägt den Titel „Spartakus“. Ein Geniestreich, einer, der Feuchtwanger fast das Leben kostet. Denn als die konterrevolutionären Freikorps seine Wohnung plündern und das Manuskript finden, vermuten sie, nicht ganz zu Unrecht, Feuchtwanger würde mit der Räterepublik sympathisieren. Nur durch einen Zufall entgeht Feuchtwanger dem Erschießungskommando. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine, die vielleicht ein andermal etwas genauer erzählt und zu einer Novelle ausgeschmückt werden sollte.

In Klaus Modicks Roman „Sunset“ hat der süffisante Hinweis auf das lebensbedrohliche „Spartakus“-Manuskript eine andere Funktion: er soll zeigen, dass die Freundschaft, die in jenem Revolutionswinter zwischen Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht entstand und sich im Berlin der 20er genauso fortsetzte wie im kalifornischen Exil der 30er und 40er Jahre, von vornherein nicht frei war von bizarren Umgangsformen und kuriosen Streitereien. Wie sollte es auch anders sein, begegneten sich doch hier zwei Schriftsteller, die unterschiedlicher nicht sein konnten und doch zeitlebens miteinander aufs Innigste verbunden waren: Hier der bürgerliche Erfolgsautor, der mit seinen historischen Romanen gigantische Auflagen erzielte und selbst im Exil eine riesige Villa bewohnte. Dort der marxistische Intellektelle, der zwar stets viele Frauen um sich scharte, aber ständig am Hungertuch nagte und dessen Stücke in Amerika niemand spielen wollte. Ohne Feuchtwangers finanzielle Hilfe, das kann man ruhig einmal laut sagen, wäre Brecht in Hollywood vor die Hunde gegangen.

Klaus Modick weiß das natürlich alles. Schließlich hat er vor über 30 Jahren bei Hans-Albert Walter, den Mentor der Exil-Literatur-Forschung in Deutschland studiert und über Feuchtwangers Leben und Literatur promoviert. Durch die Romane Modicks spukt seither ein von Feuchtwanger inspirierter, historisch fundierter, von Aufklärung und Humanismus geprägter Erzählgestus. Eigentlich war es längst überfällig, dass Modick seinen Lieblingsautor zur Romanfigur macht. Ein schwieriges Unterfangen, musste er doch die sich in seinem Kopf angehäuften Fakten zu einer fiktiven Geschichte komponieren. Es ist ihm wunderbar gelungen.

Denn Modick verdichtet die Handlung auf einen einzigen Tag im August 1956: Feuchtwanger ist einer der letzten im kalifornischen Exil verbliebenen deutschen Dichter. Selbst die Kommunistenhysterie der McCarthy-Ära konnte ihn nicht vertreiben. Feuchtwanger ist allein in seiner „Villa Aurora“, es ist heiß, Gattin Marta macht auswärtige Besorgungen, die Sekretärin ist verreist. Da erreicht ihn ein von Johannes R. Becher geschicktes Telegramm aus Ost-Berlin: „Bertolt Brecht gestorben.“ Natürlich kann er der Einladung Bechers zum bereits am nächsten Tag angesetzten Staatsakt im Berliner Ensemble nicht nachkommen. Statt sich über den stalinistischen Kulturminister zu ärgern, erinnert sich Feuchtwanger lieber an seine Zeit mit Brecht. Wie er sich als väterlicher Freund und Ruhepol des jüngeren, aufbrausenden Kollegen empfand. Wie sie zusammen an Feuchtwangers „Warren Hastings“-Drama arbeiteten oder am „Spartakus“-Manuskript von Brecht, das unter dem Titel „Trommeln in der Nacht“ Bühnengeschichte schrieb.

Wenn der Tag zu Ende geht und die Sonne im Stillen Ozean versinkt, hat der von Magenkrämpfen gequälte Feuchtwanger nicht nur wichtige Stationen seiner Freundschaft mit Brecht abgeschritten, er hat auch eine Lebensbilanz gezogen. Modick hat dabei vieles frei erfunden. Aber eine gut erfundene Geschichte, das wusste niemand besser als Feuchtwanger, ist allemal besser als Langeweile in der Wirklichkeit.

Klaus Modick: „Sunset“. Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt, 192 S., 18,95 Euro.




„Humboldt-Box“: Temporäres Raumschiff mitten in Berlin

Nach der Wende wurde Berlin nicht zur Hauptstadt der Deutschen, sondern auch zur Metropole des Temporären und Unfertigen.

Keine Kunst, kein Neubau ohne Infobox und Eventprogramm. Die Baustelle am Potsdamer Platz konnte man von einem auf Stahlstelzen stehenden riesigen roten Container aus verfolgen. Weil ein Haus für moderne Kunst fehlte, baute man einen „White Cube“ vors Rote Rathaus.

Jetzt ist in der historischen Mitte Berlins, in direkter Nachbarschaft zu Lustgarten, Museumsinsel und Dom, ein außerirdisch anmutender Würfel aus Glas und Beton gelandet. Wo einst das vom Krieg zerstörte und von Walter Ulbrichts Baubrigaden weggeräumte Hohenzollernschloss stand und nach dem Abriss des asbestverseuchten Palastes der Republik ein städtebauliches Loch gähnt, steht nun die „Humboldt-Box“: 28 Meter ist sie hoch, auf fünf Etagen und 3000 Quadratmetern gibt es Ausstellungsflächen und Erlebnisräume, Veranstaltungsbereiche und Museums-Shops. Und ganz oben wartet nicht nur nicht nur ein schickes Restaurant, sondern auch ein fantastischer Rundblick über Berlins Mitte.

Die „Humboldt-Box“ soll Appetit machen und einen Überblick ermöglichen über das, was auf der daneben liegenden architektonischen Wüste einmal entstehen soll: Das Humboldt-Forum, das im wieder aufgebauten Berliner Schloss zur Heimstatt für ein multikulturelles Projekt aus ethnologischen Sammlungen, Universitätsforschung, Bibliothek und Debattenforum werden soll.

Wenn es denn entsteht. Denn seit der Bundestag 2002 ein parteiübergreifendes Bekenntnis zum Wiederaufbau des Berliner Schlosses ablegte, ist viel architektonisches und politisches Porzellan zerschlagen worden. Der Wettbewerb, aus dem der italienische Architekt Franco Stella mit seinem Entwurf (drei barocke und eine postmoderne Fassade) als Sieger hervorging, hatte ein juristisches Nachspiel. Außerdem wurde der für 2011 geplante Baubeginn wegen der Finanzkrise auf 2013 verschoben. Ob die wieder aufgebaute Schlosshülle mit einer nach historischem Vorbild rekonstruierten Glaskuppel versehen wird, steht in den Sternen: Die dafür anfallenden 28 Millionen Euro will niemand berappen.

Überhaupt wird mehr um das liebe Geld als um das noch immer nebulöse museale und künstlerische Konzept des Humboldt-Forums gestritten. Bisher galt: 440 Millionen Euro kommen vom Bund, 32 Millionen vom Land Berlin, 80 Millionen aus Spenden, die ein von Wilhelm von Boddien gegründeter Förderverein auftreiben soll. Derzeit sind aber erst 15 Millionen in der Kasse, für 7 Millionen gibt es unverbindliche Zusagen. Boddien: „Ich hoffe, dass mit der Humboldt-Box der Spenden-Knoten platzt!“ Ob die vom Berliner Architekturbüro „Krüger Schuberth Vandreike“ und von der Firma Megaposter (Neuss) betriebene Box auch den Bund ermuntern wird, den wegen des späteren Baubeginns anfallenden Inflationszuschlag von 28 Millionen Euro auszugleichen, entscheidet sich in den kommenden Tagen.

Hermann Parzinger, als Leiter der Stiftung Preußischer Kulturbesitz oberster Schlossherr, freut sich über die mit Architekturmodellen, ethnologischer Kunst und interdisziplinären Büchern voll gestopfte Box. Kritikern, die über das futuristische Raumschiff die Nase rümpfen, tröstet er: „Je schneller das Schloss kommt, desto schneller ist die Box wieder weg!“ Wenn alles gut geht, der Bau termingerecht abgewickelt wird und die versprochenen Gelder tatsächlich fließen, könnte das im Jahr 2019 der Fall sein. Ernsthaft glaubt daran aber niemand.

Humboldt-Box, Schlossplatz 5, 10178 Berlin, täglich 10-18 Uhr, Do bis 22 Uhr, Eintritt 4 Euro, ermäßigt 2,50 Euro, Kinder bis 12 Jahren freier Eintritt, Humboldt-Terrassen: täglich bis 23 Uhr. http://www.humboldt-box.com

(Bild = Simulation: Megaposter GmbH, Neuss)




Die Fassade bröckelt

Eigentlich kreisen alle seine Bücher seit vier Jahrzehnten um die Lust auf Sex, Rausch und Drogen, den Hang zu kernigen Typen und rauflustigen Boxern. Wolf Wondratschek (Jahrgang 1943) ist vielleicht der letzte Macho der deutschen Literatur.

Doch jetzt, immerhin sind die besten Jahre vorbei und die Lebensuhr rückt unbeirrbar weiter, bröckelt die selbst gezimmerte Fassade. Der harte Kerl wird nostalgisch, lässt sein Leben Revue passieren und wird, wenigstens ein bisschen, gefühlig. Das liegt vor allem daran, dass Chuck, sein literarisches Alter Ego, in späten Jahren Vater eines Sohnes geworden ist und nun, mit Mitte 60, schwer ins Grübeln kommt. Zwar liebt Chuck seinen pubertierenden Sohn abgöttisch, aber er erreicht ihn nicht. Und verstehen kann er ihn schon gar nicht. Wie sollte er auch, ist der Sohn doch das Ebenbild seines Vaters als junger Mann: ein aufmüpfiger Mensch, der von den autoritären Erziehungsmethoden der Alten nichts hält und seine eigenen Erfahrungen machen will.

In „Chuck´s Zimmer“, einer 1974 im Alternativverlag „Zweitausendeins“ erschienenenen Sammlung mit Gedichten und Liedern, hatte Wondratschek sich zu einem drogen- und sexsüchtigen Intellektuellen stilisiert, der gegen alle politischen Ideologien und festen Beziehungen rebelliert. Das Gedicht „Warum Gefühle zeigen?“ endete mit den Zeilen: „Chuck, der sein Kind liebt, / das nie zur Welt kommen wird.“ Das wäre wohl auch zeitlebens so geblieben. Doch irgendwann hat der Zufall zugeschlagen. Weil Chuck mal wieder pleite war und kein Geld hatte, um in die Suchtklinik zu fahren, ging er in eine Bar und lernte eine Frau kennen, die ihm „Das Geschenk“ eines Sohnes machte.

Nun hockt Chuck alias Wondratschek am Schreibtisch und weiß nicht recht, was er mit diesem Geschenk anfangen soll. Weil Chuck seinen bei der Mutter lebenden Sohn selten sieht und sich zwischen ihnen emotionale Abgründe auftun, möchte der Vater sich dem Sohn durch Erzählen nähern. Er greift tief in die Erinnerungskiste, gräbt verschüttete Erlebnisse aus, versucht dem Sohn zu zeigen, dass auch der strenge Vater nicht immer nur ein alter Sack, sondern einmal ein junger Spund war. Dabei entstehen ein paar wunderbar witzige literarische Miniaturen. Der Besuch bei einer attraktiven Urologin: eine kabarettistische Glanznummer. Das Ansinnen, bei einem Treffen der Pharmaindustrie als Dichter aufzutreten: ein Abgesang auf die Rolle des Schriftstellers als Weltveränderer. Der Exkurs über Donald Duck als Genie des Scheiterns: eine an Samuel Beckett anknüpfende, absurde Kapriole.

Doch den hintergründig-humorvollen Sentenzen und aufgekratzten Selbstbespiegelungen haftet auch etwas Trauriges und Melancholisches an: ein eitler Pfau spreizt sich noch einmal und mutiert vom Macho zum nostalgischen Rentner. Der merkt denn auch gar nicht, dass ihm der Sohn als Zuhörer schon längst entflohen ist. Chuck spricht eigentlich nur noch mit sich selbst und benutzt den Sohn als Projektionsfläche seiner Reminiszenzen. Kein großes Buch, aber auch kein schlechtes.

Wolf Wondratschek: „Das Geschenk“. Hanser Verlag, München. 173 S., 17,90 Euro.