Wie Isabel Allende die Vorgeschichte vom „Geisterhaus“ erzählt

Sie ist seit vielen Jahren ein Star der internationalen Literatur. Die Bücher von Isabel Allende, die 1982 mit „Das Geisterhaus“ ein fulminantes Debüt feierte, haben Bestseller-Garantie und sind in mehr als 40 Sprachen übersetzt worden. Ihr neuer Roman, „Mein Name ist Emilia del Valle“, erscheint bei uns in einer Startauflage von 100.000 Exemplaren.

Erzählerin Emilia ist die Tochter einer bibelfesten Irin, die sich auf das Leben als Nonne vorbereitet, dann aber den erotischen Avancen eines chilenischen Aristokraten aus dem Hause del Valle erliegt: ein Luftikus und Lebemann, der sein Erbe in den Bordellen und an den Spieltischen der Welt wegwirft und sich aus dem Staube macht, wenn es Probleme gibt.

Emilia muss mit dem Zorn ihrer Mutter auf den faulen und feigen Erzeuger leben, aber in ihrem Stiefvater, der sich ihrer annimmt, findet sie einen weisen Ratgeber, der sie stets ermutigt, ihren eigenen Weg zu gehen. Sie macht Karriere mit Groschenromanen, in denen starke Frauen sich an erbärmlichen Männern rächen. Als Star-Reporterin erkundet sie die Welt und setzt alles daran, die Geheimnisse ihrer Familiengeschichte zu lüften, um ihre wahre Identität und eigentliche Heimat zu finden: eine spannende Mischung aus Abenteuer- und Emanzipation-Roman und ein Buch über entfesselten Bruderhass und sinnloses Töten.

Auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln reist sie als Kriegsreporterin in das von politischen Unruhen und sozialen Missständen erschütterte Chile, erlebt einen Alptraum aus Bürgerkrieg und Blutrache, gerät zwischen die Fronten, wird verletzt und gefoltert, muss mit ansehen, wie die siegreiche Partei, die angeblich die Demokratie retten und das Land modernisieren will, zum mordenden und brandschatzen Mob mutiert.

Es ist die Geschichte einer Frau, die sich von Konventionen befreit und gegen gesellschaftlichen Vorurteile und beruflichen Widerstände rebelliert, sich gegen die Konkurrenz männlicher Kollegen behauptet, sich sexuell freizügige Liebesabenteuer gönnt und es mit den Mächtigen aus Medien und Politik aufnimmt. Überraschend ist,  dass Isabel Allende das, was so zeitgeistig anmutet, in eine über 100 Jahre zurückliegende Vergangenheit transferiert: in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und in eine Epoche des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Umbruchs.

Der Goldrausch ist vorbei, bittere Armut herrscht in San Francisco, als Emilia 1866 dort zur Welt kommt. Aber früh entdeckt sie ihr Schreibtalent und erstreitet sich, erst noch unter männlichem Pseudonym, später unter ihrem richtigen Namen, ihren Platz in der von Männern beherrschten Welt von Literatur und Journalismus. Isabel Allende schildert diesen Kampf um berufliche Anerkennung und individuelle Freiheit mit aufrüttelnder Klarheit. Wenn es aber um die erotischen Obsessionen von Emilia oder um ihre Exkursion in die chilenische Wildnis geht, wo sie in absoluter Einsamkeit auf den Grund ihrer verletzten Seele schauen will, erhält der Roman eine Schlagseite ins Kitschige und Banale.

Zum Glück hat die Autorin überraschende Momente und raffinierte Varianten im Köcher: Immer wieder würfelt sie geschickt die Zeit- und Erzähl-Ebenen durcheinander, spult vor und zurück, vervielfacht die Fiktion, indem sie den Gang der Handlung mit Zeitungs-Artikeln aus der Feder von Emilia collagiert, schließlich noch Briefe von Emilias Bekanntschaften und Liebhabern einstreut.

Fast vergisst man, dass hier eine durch Zeit und Raum geisternde Stimme am Werk ist, die es den Lesern überlässt, ob sie merken, dass man ihren Bericht auch als Epilog zum „Geisterhaus“ lesen kann. Hatte doch Isabel Allende darin die Geschichte der Familie del Valle vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Zeit der faschistischen Pinochet-Diktatur ausgebreitet und auf der Folie der literarischen Fiktion Momente ihrer eigenen Familiengeschichte berührt.

Emilia gibt keinen Hinweis auf die Zukunft, die sie nicht kennen kann, die sich aber im „Geisterhaus“ offenbaren wird. Dass der Verlag die Verwandtschaft der beiden Romane im Klappentext und in der Werbung verschweigt, ist allerdings etwas seltsam.

Isabel Allende: „Mein Name ist Emilia del Valle“. Roman. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Suhrkamp Verlag. 359 S., 28 Euro.

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Info: Geboren wird Isabel Allende 1942 in Lima als Tochter eines chilenischen Diplomaten. Weitläufig verwandt ist sie mit dem von der faschistischen Militär-Junta 1973 gestürzten chilenischen Präsidenten Salvador Allende. Ihr Roman-Debüt „Das Geisterhaus“ wurde vom dänischen Regisseur Bille August 1993 erfolgreich verfilmt. Für ihr umfangreiches Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.




„Die Besessenheit“ – Annie Ernaux‘ Selbsterforschung zur Eifersucht

Die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux sieht sich als „Ethnologin ihrer selbst“. Ihre Romane und Erzählungen kreisen immer um ihr eigenes Leben, berichten von schmerzlichen Kindheitserinnerungen, privaten Nöten, erotischen Obsessionen: eine oft quälende, aber immer ungemein aufschlussreiche Lektüre. Leider werden ihre Bücher zumeist mit großer Verspätung ins Deutsche übersetzt: „Die Besessenheit“ (Originaltitel „L’occupation“) ist bereits 2002 in Frankreich herausgekommen.

In klaren Sätzen und fast klinischen Worten beschreibt Annie Ernaux, wie sie von der Wucht einer Eifersucht ergriffen wurde, die sie an den Rand der Selbstauflösung und Selbsterniedrigung führte. Jeder Gedanke drehte sich um eine Frau, von der sie zunächst nichts wusste, außer dass sie die neue Geliebte ihres Liebhabers ist: „Das Sonderbarste an der Eifersucht ist, dass man eine Stadt oder die ganze Welt mit einem Menschen bevölkert, dem man vielleicht nie begegnet.“

Sie will wissen, wie die fremde Frau heißt, wo sie wohnt, was sie beruflich macht. Sobald ihr (ehemaliger) Geliebter, mit dem sie sich immer noch gelegentlich im Café trifft, nur eine kleine Andeutung über die fremde Frau macht, begibt sie sich auf Spurensuche, versucht sich ein Bild dieser geheimnisvollen Fremden zu machen, sieht in jeder Frau, die ihr zufällig auf der Straße oder in der Metro begegnet, ein Spiegelbild der Anderen. „Die Frau füllte meinen Kopf, meine Brust und meinen Bauch, begleitete mich überallhin, diktierte mir meine Gefühle. Gleichzeitig ließ mich diese ständige Anwesenheit intensiver leben.“ Die aus dem Nichts aufgetauchte „Besessenheit“ schärft ihre Sinne, befähigt sie, sich schreibend zu analysieren. Das Schreiben führt zu psychoanalytischer Erkenntnis und seelischer Katharsis: „Ich schreibe über die Eifersucht, so wie ich sie durchlebt habe, indem ich meine damaligen Wünsche, Gefühle und Handlungen aufspüre und erforsche. Schreiben ist im Prinzip nichts anderes als eine Eifersucht auf die Wirklichkeit.“

Nachdem sie einiges über die fremde Frau in Erfahrung gebracht hat, begreift sie, dass sie selbst nicht einzigartig, sondern nur Teil einer Serie im Liebesleben ihres ehemaligen Geliebten ist, der mit Anfang dreißig sich stets zu älteren Frauen hingezogen fühlt: Frauen, die (wie Annie Ernaux und die neue Geliebte) finanzielle Unabhängigkeit mitbringen, vielfältige erotische Erfahrungen und die Fähigkeit zu zärtlicher Bemutterung.

Sich schreibend von der „Besessenheit“ zu befreien, heißt für Annie Ernaux, ihre Scham zu überwinden, ihre Obsessionen zu benennen: „Ich will nur die Fantasien und Verhaltensweisen der Eifersucht erforschen, die in mir am Werk war, will etwas Individuelles, Intimes zu einer greifbaren, verständlichen Substanz machen, zu etwas, das fremde Menschen sich vielleicht aneignen können.“ Genau dieses Kunststück gelingt Annie Ernaux: Denn sie beschreibt nicht nur ihr Verlangen und ihre Eifersucht, sondern ein Verlangen und eine Eifersucht, gibt sich selbst preis und zeigt ihre Wunden, um anderen zu sagen, dass man sich, wenn man radikal ehrlich ist, selbst aus dem Sumpf der „Besessenheit“ emporziehen kann: Ein Buch von großer gedanklicher Klarheit und bedrückender sprachlicher Schönheit.

Annie Ernaux: „Die Besessenheit“. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp, 2025, 68 Seiten, 20 Euro.




Wenn alles verloren geht – Marlene Streeruwitz‘ Roman „Auflösungen“

Marlene Streeruwitz ist eine der politisch profiliertesten Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ihr neuer Roman heißt „Auflösungen“.  Denn alles löst sich auf: gesellschaftliche Zusammenhänge, soziale Strukturen, politische Gewissheiten, kulturelle Übereinkünfte, familiäre Beziehungen.

Der Soziologe Andreas Reckwitz hat kürzlich den „Verlust“ als „Grundproblem der Moderne“ beschrieben. Der Roman von Marlene Streeruwitz ist der Versuch, das Gefühl des Verlusts literarisch einzufangen und zu demonstrieren, wie ein Individuum komplett aus der Bahn geworfen wird, zu einem modernen weiblichen Odysseus mutiert und nirgendwo mehr Halt und Heimat findet.

In den Ruinen ihres Lebens

Nina Wagner lebt als Lyrikerin in Wien und steht vor den Ruinen ihres Lebens. Ihre Ehe ist geschieden, ihre Tochter will kaum noch etwas von ihr wissen. Ihre Versuche, sich als bisexuelle Freu mit erotisch wechselnden Interessen wieder frisch zu verlieben, scheitern kläglich. Die Marotten und Moden der Kunst-Schickeria gehen ihr genauso auf die Nerven wie der Sumpf aus Korruption und Vetternwirtschaft in der Politik. Sie will einen Neuanfang, nimmt im März 2024 einen Lehrauftrag an der Uni in New York an, hofft, ihrem Leben eine Wendung zum Positiven geben zu können. Doch sie kommt vom Regen in die Traufe: Denn auch Amerika ist längst in Auflösung begriffen und reißt sie in einen aberwitzigen Strudel aus Verlust und Angst, bringt sie in einen Zustand wahnhafter Verwirrung, der ihre Gedanken untergräbt und auch ihre Sprache regelrecht auflöst.

Irrfahrt durchs höllische Labyrinth

Die Suche nach ihrem Apartment gleicht einer Irrfahrt durch ein höllisches Labyrinth. An der Uni herrscht seit dem Massaker der Hamas und dem Krieg in Gaza ein Klima der Angst und Überwachung. Durch ihren Kopf flackern Erinnerungen an ihre schwierige Kindheit und ihre kaputte Ehe, sie vermischen sich mit sexuellen Träumen und erotischen Obsessionen, werden übermalt von den aktuellen Erlebnissen. Freunde haben sich ins Private zurück gezogen, ihre Studenten fürchten sich, offen ihre Meinung zu sagen.

Wochenlang versucht Nina, ihrem neuen Alltag einen festen Rahmen zu verleihen. Dann stürzt sie abrupt ins absolute Chaos und gerät, nachdem sie auf der Straße überfallen wurde, in einen bizarren Höllentrip, auf dem ihr kuriose Typen begegnen und sie vor Schmerzen kaum denken kann.

Sturzflut aus Gedanken und Gefühlen

Die Erzählerin ist immer ganz nah bei Nina, scheint in ihrem Kopf zu leben. Die Sprache ist so abgehackt und brüchig wie alles, was gerade ungefiltert durch Ninas Gedankenwelt und Gefühlschaos rauscht. Die Sätze bestehen manchmal aus nur einem einzigen Wort. Oft haben sie keine Verben und keine Richtung. Dann muss der Leser der Sturzflut aus krausen Gedanken und ambivalenten Gefühlen einen Sinn abringen. Eine mühsame, aber lohnende Lektüre, spürt man doch, dass die Autorin uns sprachlich fragil und intellektuell ungeschützt mit den Grundproblemen der Moderne konfrontieren will. Man braucht starke Nerven und großes Durchhaltevermögen.

Marlene Streeruwitz: „Auflösungen“. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2025, 417 Seiten, 28 Euro.




Die Wahrheit hinter der Wahrheit – Ralf Rothmanns „Museum der Einsamkeit“

Als Prosaautor debütierte Ralf Rothmann 1986 mit der Erzählung „Messers Schneide“, sein erster Roman, „Stier“, kam 1991 heraus und wurde gleich im „Literarischen Quartett“ besprochen. Seitdem sind 20 weitere Bücher des in Schleswig geborenen, im Ruhrgebiet aufgewachsenen und seit vielen Jahren in Berlin lebenden Autors erschienen. Jetzt legt er unter dem Titel „Museum der Einsamkeit“ eine Sammlung von Erzählungen vor.

Menschen hadern mit ihrem Leben, brechen auf in neue Ungewissheit, fürchten sich vor dem Tod, verfallen in existenzielle Einsamkeit. Rothmann erzählt von den Mühen des Alltags, der Furcht vor dem Alter, dem Ärger mit Berufskollegen und Nachbarn, der Trauer um eine kaputte Ehe, von Ratlosigkeit und Verzweiflung eines Jungen, der allein zu Hause ist und auf seinen kleinen Bruder aufpassen muss, während seine Eltern sich eine Auszeit vom Arbeitsalltag gönnen und die Nacht durchtanzen.

Einmal beschreibt Rothmann, wie jemand zeitlebens von den Furien einer Kindheits-Erinnerung geplagt wird, sich nach 50 Jahren aufmacht, um einen einst von ihm drangsalierten Mitschüler um Verzeihung und Vergebung zu bitten – und damit eine Kette von Ereignissen lostritt, die nur neues Leid und neue Schuld bewirken. Oder er schildert das Leben einer enttäuschten Frau, die aus der Einsamkeit der Provinz in die Anonymität der Großstadt geflohen ist. Jetzt, an der Schwelle zum Alter, begleitet sie ihre greise Mutter beim Kauf eines Apartments in einer Senioren-Residenz mit Meeres-Blick: Die Mutter hat nach dem Tod ihres Mannes ihr Haus in Süddeutschland verkauft und hofft, die Einsamkeit des Alters in einer idyllisch verklärten Umgebung am Meer vertreiben zu können, natürlich vergeblich.

Kleine Episoden aus dem Leben einzelner Protagonisten, verdrängte Erinnerungen, kurz und knapp erzählt; Stories, die einen romanhaften Schatten werfen und genügend Freiraum und Luft für die Fantasie des Lesers lassen. In der finalen Erzählung, „Psalm und Asche“, geht es dann um viel mehr: die Vernichtung der europäischen Juden, darum, wie die Opfer in Vieh- und Güterwagen in die Vernichtungslager transportiert werden, die Mörder später ihre Taten leugnen, verdrängen und schön reden. Die Verteidigungsrede des Nazi-Täters, der meint, immer nur seine Pflicht getan und Befehle ausgeführt zu haben, wird collagiert mit der Stimme einer jüdischen Frau, die auf dem Transport in den Tod ist und sich um das Baby einer Verstorbenen kümmert, die Reste einer Schokolade mit ihrem Speichel verdünnt und dem greinenden Baby als süßlichen Ersatz für fehlende Muttermilch in den zahnlosen Mund gibt.

Einer anderen Frau im Waggon, die sich immer noch von irgendwo her Hilfe erhofft, entgegnet sie: „Wieso sollte uns jemand helfen? Nichts und niemand wird das tun. Auch Klagen hilft nichts. Es raubt dir die Kraft, die du dafür brauchst, das Ende zu akzeptieren. Das Letzte im Innern, die Wahrheit hinter der Wahrheit, kann dir sowieso niemand nehmen. Wenn du das verstehst, bist du frei, und das Leben ist wieder wunderbar, auch hier, auch in diesem Moment.“ Wen das kalt lässt, dem ist wahrlich nicht zu helfen. Rothmann ist ein Meister der sprachlichen Magie, ein großer Erzähler, der ein tief-trauriges, wunderbares Buch geschrieben hat.

Ralf Rothmann: „Museum der Einsamkeit“. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025, 268 Seiten, 25 Euro.




Flaschenpost aus finsteren Zeiten – Sebastian Haffners Roman „Abschied“

Ob Männer oder Frauen, alle umschwirren die geheimnisvolle Teddy wie Motten das Licht. Vor den strengen Eltern ist sie von Berlin nach Paris entflohen. Hier haust sie in einer Mansarde, flaniert auf den Boulevards, streift durch Museen, feiert mit Freigeistern und Lebenskünstlern das Jetzt.

Um seiner früheren Geliebten wieder nah zu sein, hat sich Rechtsreferendar Raimund Pretzel ein paar Tage von seinem tristen Berliner Alltag losgeeist und sich auf den Weg nach Paris gemacht, genießt das Glück des Augenblicks und freut sich über jeden Kuss, den er von seiner Angebeteten erbetteln kann. Die Zeit fliegt nur so dahin. So viel gäbe es noch zu erleben in dieser Stadt der Liebe und der Kunst! Doch der Zug, der Raimund zurück nach Berlin bringen wird, wartet nicht. Die Stunde des Abschieds naht, und beide wissen, es wird ein Lebewohl für immer sein. Denn am Horizont lauert bereits der Zivilisationsbruch, der das Böse an die Macht bringen, die Welt ins Kriegs-Chaos stürzen und den Untergang einer ganzen Epoche herbei führen wird.

Aus den Tiefen der Archive ist jetzt ein Manuskript aufgetaucht, eine Flaschenpost aus der Vergangenheit, eilig hingeworfen im Herbst 1932 von einem vierundzwanzigjährigen Autor, der sein eigenes Leben in Literatur verwandelt, mit prophetischer Gabe die große Katastrophe kommen sieht und „Abschied“ nimmt von allem, was ihm bis dahin lieb und teuer war.

Raimund Pretzel, den Erzähler des bisher unveröffentlichten Romans, hat es wirklich gegeben. Und alles, was er so temporeich und freizügig beschreibt, auch seine unerwiderte Liebe zur lebensfrohen Teddy, beruht auf realen Erlebnissen. Wir kennen ihn heute besser als Sebastian Haffner, also unter jenem Namen, den der ehemalige Jurist, der den Nazis nicht länger dienen wollte und sich lieber mit journalistischen Arbeiten durchschlug, annahm, nachdem er 1938 Deutschland verließ und seiner jüdischen Frau nach Großbritannien folgte. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil wurde er ein zentraler und meinungsstarker Publizist der Bonner Republik und entschlüsselte mit seinen „Anmerkungen zu Hitler“ auf der Folie gesellschaftlicher Verwerfungen die politischen Abgründe und massenpsychologischen Dimensionen des Faschismus.

Teddy, die im Roman die Vielfalt des Lebens feiert und jede Engstirnigkeit verabscheut, hieß im wahren Leben Gertrude. Als Jüdin ahnte sie früh, was auf sie zukommen würde und kehrte Berlin 1930 den Rücken. Nur einmal noch, 1933, kehrte sie kurz nach Berlin zurück und nahm Abschied von Deutschland und von Raimund, den sie noch einmal mit ihrem Pariser Duft und ihrer französischen Freiheitsliebe verzauberte.

Bis ins hohe Alter haben die beiden, die im Roman gemeinsam durch Paris irrlichtern, bevor sie Abschied nehmen und in den Höllenschlund der Vernichtung blicken, lockeren Kontakt gehalten.

Sebastian Haffner: „Abschied“. Roman. Mit einem Nachwort von Volker Weidermann. Hanser, 192 Seiten, 24 Euro.




Zum Schunkeln und Mitsingen: „Carmen“ als Comic in Berlin

Szene aus „Carmen“ am Berliner Maxim Gorki Theater – mit (v. li.): Catherine Stoyan, Till Wonka, Lindy Larsson, Via Jikeli, Marc Benner. (© Foto: Ute Langkafel / MAIFOTO)

In einem pinkfarbenen, mit Rüschen verzierten und lässig über den Boden schleifenden Flamenco-Kleid bringt Carmen stolzen Schrittes und flammenden Blickes die zur Wachablösung versammelten Soldaten um den Verstand und die militärisch ohnehin ziemlich schlappe Parade völlig aus dem Tritt.

Die in zitronengelben Uniformen und mit kalkweißen Gesichtern wie computergesteuerte Wesen der Künstlichen Intelligenz fremdgesteuert herum zappelnden Soldaten haben nur noch Augen für die hünenhafte Drag-Queen, die da gerade im feinsten Fummel zur Mittagspause aus der Zigarettenfabrik schlendert und es auf José, den kleinen Kerl, abgesehen hat, der sich sichtlich unwohl fühlt in seinem knallgelben Outfit und mit ängstlichen Glupsch-Augen zu Carmen hinüber linst. Dass ausgerechnet diese von allen Machos umschwärmte Diva dem mickrigen Männlein erotische Avancen macht, ihm kokett eine Blume vor die Füße wirft und mit kräftigem Gesang davon trällert, dass die „Liebe bunte Flügel“ hat, erregt José, macht ihn fassungslos und zieht ihn in einen von Eifersucht und verletzter Männlichkeit beherrschten Liebesrausch, der, wir wissen es alle, tödlich enden wird.

Christian Weise bringt seine ganz eigene Sicht auf George Bizets „Carmen“ auf die Bühne des Berliner Maxim Gorki Theaters. Der Regisseur, der seit einigen Jahren auch am Nationaltheater Mannheim spielerisch und bildgewaltig, komödiantisch und musikalisch die Klassiker des Musik- und Sprech-Theaters zerfleddert, macht auch mit der 1875 in Paris uraufgeführten Oper das, was er immer macht: Er liest sie gegen den Strich, streut Fremdtexte ein, reibt sich an Klischees, zerstört tradierte Rollen und entwirft neue Identitäten.

Raus aus der alten männlichen Ordnung

Der Schwede Lindy Larsson, hoch gewachsener Schauspieler-Sänger und Abkömmling umherziehender Roma, schlüpft in die aufreizenden Kostüme der geheimnisvollen Carmen, die man einstmals diskriminierend als „feurige Zigeunerin“ bezeichnete und zur Projektionsfläche gefährlicher erotischer Versuchungen aufbaute: Wenn José sie in rasender Eifersucht tötete, war das zwar bedauerlich, stellte aber die alte männliche Ordnung wieder her.

Davon mag die von Christian Weise auserkorene Carmen nichts wissen. Lindy Larsson unterbricht immer wieder die sich erstaunlich nahe an Bizets Vorlage entlang schlingernde Handlung und setzt dann zu englischsprachigen Monologen an, erzählt von seinem Alltag als Roma und erklärt, sie sei es müde, seit 150 Jahren immer wieder alle Männer durch einen Märchenwald aus Liebe und Hass lotsen zu müssen und schließlich nur, weil sie ein freies, emanzipiertes Leben führen wolle, mit dem Messer abgestochen zu werden. Deshalb nimmt sie ihr Schicksal jetzt selbst in die Hand und erscheint zum blutigen Finale ganz in Schwarz. Sie wirkt wie eine Witwe, die ihren eigenen Tod schon betrauert, bevor sie ihn erleiden muss, fordert José auf, endlich sein Messer zu zücken und die ganze leidige Carmen-Show ein für alle Mal zu beenden.

Natürlich tut José, wie ihm geheißen. Er ist Wachs in Carmens Händen und fühlt sich erbärmlich in seiner Rolle. Kein Wunder: Er ist eine Frau, heißt mit bürgerlichem Namen Via Jikeli und ist eine wunderbar-wandelbare Schauspiel-Sängerin. Sie agiert linkisch wie Charlie Chaplin und singt herrlich-schräg und zittrig-schön. Fast könnte man bei all der parodistischen Verballhornung vergessen, dass einst Opern-Größen wie Maria Callas und Agnes Baltsa einer Carmen ihre silbrig schillernden Stimmen liehen, Enrìco Caruso und Placido Domingo als José brillierten.

Schnelle Lachnummern und Gassenhauer

Aber von „großer Oper“ hält Weise nicht viel. Seine Slapstick-Komödie zielt auf schnelle Lachnummern und einen bunten Unterhaltungs-Reigen. Deshalb schleppt auch der abgehalfterte Stierkämpfer Escamillo (Till Wonka) einen dicken Bierbauch durch die Gegend und muss immer wieder sein kerniges Trinklied „Auf in den Kampf“ wie einen fröhlichen Gassenhauer intonieren. Da möchten manche gern schunkeln und mitsingen. Oder mit Carmens Widersacherin Michaela (Riah Knight), die mit ihren bodenlangen Zöpfen aussieht wie Rapunzel und die Unschuld vom Land gibt, ein kesses Tänzchen wagen.

Musiker Jens Dohle (Schlagwerk, Vibraphon und Klavier) und seine beiden Mitstreiter (Cello, Kontrabass und Akkordeon) verwandeln Bizets komplizierte Arien und erotisierenden Duette in poppige Schlager, schleimige Schnulzen und schlüpfrige Chansons. Dazu passend gestalten Julia Oschatz und Felix Reime die Bühne zum Comic-Heft, in dem man lustvoll blättern kann. Auf die weißen Wände werden schwarze Wörter, Sätze, Skizzen und Regieanweisungen projiziert. Alles sehr komisch. Wie die ganze kurzweilige Bizet-Persiflage. Intellektuellen Mehrwert aber hat das ganze muntere Treiben eigentlich nicht.

Weitere Aufführungen am 17. und 18. Juni sowie am 11. Juli (jeweils 19.30 Uhr). Maxim Gorki Theater, Am Festungsgraben 2, 10117 Berlin. Kartentelefon: 030/20221115. www.gorki.de

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Zur Person

Christian Weise wurde 1973 in Eisleben geboren. Er studierte 1992-1996 Puppenspiel an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin, arbeitete danach als Puppenspieler und Schauspieler. Seit 2002 ist er freier Regisseur, inszenierte in Stuttgart und Köln, Halle und Dessau, Düsseldorf und Darmstadt, Weimar und Berlin. Als Hausregisseur brachte er am Nationaltheater Mannheim u. a. „Die Räuber“ (2018) und „Die Möwe“ (2019) auf die Bühne, außerdem inszenierte er „Das Floß der Medusa (2021), „Was ihr wollt“ (2023), „Die Dreigroschenoper“ (2024) und für die 22. Internationalen Schillertage „Wilhelm Tell“ (2023).

 

 

 

 




„Exil“ für die Kunst – Meisterwerke aus Odesa in Berlin (und später in Heidelberg)

Antwerpener Meister (Umkreis des Frans Floris): „Lot und seine Töchter“, um 1550. (Odesa, Museum für Westliche und Östliche Kunst)

Auch Helden haben ihre schwachen Momente. Überwältigt von allzu ausschweifendem Weingenuss, gerät sogar Herkules, verehrt wegen seiner übermenschlichen Kräfte, in eine hilflose Lage. Er kann sich kaum auf den Beinen halten und wird von einem Satyr und einer Nymphe gestützt. Keule und Löwenfell, die Attribute seiner Stärke, sind in den Händen eines Fauns, der sich die Löwenhaut übergeworfen hat, ein feistes Grinsen aufsetzt und freche Grimassen schneidet.

Peter Paul Rubens hat das lasterhafte Bild gemalt und damit sein 1612 erworbenes Privathaus in Antwerpen geschmückt. Das Original hängt zwar heute im „Zwinger“, der Gemäldegalerie der Alten Meister in Dresden. Aber der geschäftstüchtige Rubens hatte nichts dagegen, dass in seiner Werkstatt von seinen Schülern täuschend echte Kopien hergestellt wurden, die gegen gutes Geld ihren Weg in die Herrschaftshäuser und Museen dieser Welt fanden.

Gemälde werden im temporären „Exil“ restauriert und neu gerahmt

Eine dieser Versionen logiert seit Jahrzehnten im „Museum für Westliche und Östliche Kunst“ in Odesa (in Anlehnung an die ukrainische Schreibweise). Doch mit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 entschloss sich die Museumsleitung, die ebenso kunst- wie wertvolle Rubens-Kopie sowie etliche weitere Werke ihrer Sammlung vor der Zerstörung durch Bombardierungen zu schützen und in Sicherheit zu bringen. Weil die Gefahr bestand, dass die zunächst in einem Notlager unter schlechten klimatischen Bedingungen untergebrachten Kunstwerke zu Schaden kommen, nahm man Kontakt zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin auf und fand in der Gemäldegalerie auf dem Kulturforum einen Partner, der bereit war, den Werken ein temporäres Zuhause zu geben, sie zu restaurieren, neu zu rahmen und der Öffentlichkeit in ganzer Breite zu präsentieren.

Emile Claus: „Sonniger Tag“, 1895. (Odesa, Museum für Westliche und Östliche Kunst)

„Von Odesa nach Berlin. Europäische Malerei des 16. bis 19. Jahrhunderts“ heißt die Schau, die unter Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht. Zu den Werken, die ihren Weg aus der südukrainischen Hafenstadt und dem erst vor 100 Jahren gegründeten Museum in Odesa nach Berlin fanden, gehören Bilder bedeutender Künstler wie Andreas Achenbach, Francesco Granacci, Frans Hals, Cornelis de Heem, Roelant Savery, Bernardo Strozzi, Alessandro Magnasco und Frits Thaulow.

Liberaler Geist mit Neigung zur westlichen Welt

Johann Baptist von Lampi d. Ä.: „Porträt von Admiral Joseph de Ribas“, um 1769. (Odesa, Museum für Westliche und Östliche Kunst)

Die Ausstellung ist in neun Kapitel gegliedert und beginnt mit einer Einführung zu dem Projekt und seinem zeitgeschichtlichen Kontext. Neben einem Foto der von russischen Bomben zerstörten Kultur- und Prachtbauten in Odesa hängen zwei Ölgemälde, die das ganze politisch-kulturelle Dilemma der noch jungen Stadt zeigen: Von oben herab richtet der sich stolz in ordensgeschmückter Uniform präsentierende Joseph de Ribas (1749-1800) auf einem Bild von Johann Baptist von Lampi seinen Blick auf den Betrachter. Aus katalanischem Adel stammend, diente er im Rang eines Admirals der russischen Marine und bekam von Zarin Katharina II. 1794 den Auftrag zur Gründung der Stadt Odesa. Daneben hängt das von Thomas Lawrence gemalte Porträt des russischen Grafen Michail Woronzow (1782-1856), der eine Zeitlang Generalgouverneur von Neurussland mit Sitz in Odesa war, sich als aufgeklärter, liberaler Geist für die kulturelle und wirtschaftliche Anbindung an die westliche Welt einsetzte, Bibliotheken, Gymnasien, wissenschaftliche Gesellschaften gründete, aber heute wegen seiner unrühmlichen Rolle beim Kolonialkrieg gegen die muslimischen Bergvölker des Nordkaukasus in der Ukraine stark umstritten ist.

Immer wieder werden die politisch-kulturellen Fallstricke in die Schau einbezogen und in umfangreichen Kommentaren den Werken in deutscher, englischer und ukrainischer Sprache zur Seite gestellt. Das Auge des Kunstflaneurs entdeckt herrliche Landschaften und idyllische Stillleben, biblische und mythologische Historien und das in die Moderne weisende Spiel mit Licht und Farbe.

Die Irrungen und Wirrungen der Kunst

Unter dem Stichwort „Porträts und Charakterköpfe“ finden sich auch zwei Bilder von Frans Hals, der neben Rembrandt und Vermeer zu den herausragenden Malern des 17. Jahrhunderts zählt. Niemand weiß, warum Frans Hals, der sonst kaum je religiöse Werke schuf, eine kleine Serie von vier Evangelisten-Darstellungen gemalt hat, von denen zwei, die Bilder von Lukas und Matthäus, auf verschlungen Pfaden nach Odesa kamen. Lange hielt man sie dort für Werke eines unbekannten russischen Künstlers und verbannte sie ins Depot. Erst 1959 identifizierte man die Bilder mit den sehr lebendig wirkenden, zottelbärtigen und rotwangigen Evangelisten, die sich weise lächelnd in dicke Bücher vertiefen, als Hals-Originale. Die Schätze der Kunst geben uns mit ihren Irrungen und Wirrungen immer wieder Rätsel auf.

Gemäldegalerie Kulturforum Berlin: „Von Odesa nach Berlin. Europäische Malerei des 16. bis 19. Jahrhunderts.“ Bis 22. Juni 2025. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Mo geschlossen, Eintritt 16 Euro, ermäßigt 8 Euro. Freier Eintritt für Geflüchtete. Infos unter www.smb.museum/odesa, Katalog (Hirmer Verlag), 244 Seiten, 139 Abb., Preis im Museum 32 Euro, im Buchhandel 39,90 Euro.

Unter dem Titel „Meisterwerke aus Odesa. Europäische Malerei aus dem 16. bis 19. Jahrhundert“ wird die Ausstellung vom 19. Oktober 2025 bis zum 22. März 2026 im Kurpfälzischen Museum der Stadt Heidelberg gezeigt.

 




Haschisch, DDR, CSU und Afghanistan – Polit-Satire von Jakob Hein

Der damalige CSU-Chef Franz-Josef Strauß besuchte gern Diktatoren, um die Weltpolitik aufzumischen. 1983 verhandelte er mit DDR-Devisenhändler Schalck-Golodkowski auf einem Landgut im Chiemgau, reiste danach zu Honecker an den Werbellinsee und brachte als Geschenk einen Milliardenkredit mit. Als Gegenleistung versprach Honecker, die Selbstschuss-Anlagen abzubauen.

Es war ein Husarenstück mit Fragezeichen: Gerüchten zufolge bekam Strauß eine satte Provision für den Deal. Außerdem hatte die DDR längst ohnehin damit begonnen, die Selbstschuss-Anlagen abzubauen, weil sie unkontrolliert in der Gegend herumballerten und die eigenen Grenzsoldaten verletzten. Bis heute ist es ein Rätsel, was Strauß und Kanzler Kohl wirklich bewogen hat, der DDR den Kredit und damit noch eine Gnadenfrist bis zum endgültigen Zusammenbruch zu gewähren.

Der Schriftsteller Jakob Hein spürt mit einer Polit-Satire dem deutsch-deutschen Geheimnis hinterher. „Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste“ schaut mit literarischer Raffinesse hinter die bröckelnde Fassade der DDR und entlarvt das ideologische Brimborium als dreistes Lügengespinst. Seinem Helden Grischa geht es nicht um historische Wahrheit, sondern um die Macht der Fantasie. Grischa arbeitet in der „Staatlichen Planungskommission“ und ist für die Zusammenarbeit und den Handel mit den „kleinen Bruderländern“ zuständig, zu denen auch das damals von der Sowjetunion besetzte Afghanistan gehört. Das Problem: Afghanistan hat eigentlich nichts, womit es handeln könnte.

Als subversiver Freigeist brütet Grischa dann aber doch eine Idee aus, die seine vorgesetzten Genossen erst verschreckt, dann zum Nachdenken und schließlich zum Handeln bringt. Da Afghanistan auf den Anbau von Drogen spezialisiert ist: Wäre es nicht ungemein profitabel, daran teilzuhaben und Cannabis legal zu verkaufen? Man könnte es als „Medizinalhanf“ deklarieren und im Niemandsland der Grenzstellen an Westbürger gegen harte D-Mark verkaufen.

Der Probelauf wird zum Verkaufsschlager: Westbürger passieren die Grenze, zahlen den Mindestumtausch, kaufen im „Deutsch-Afghanischen Freundschaftsladen“ ein Tütchen „Schwarzen Afghanen“ bester Qualität und reisen sofort wieder nach Westberlin zurück. Die Westberliner Polizei kommt ins Rotieren, die Bonner Politiker ins Grübeln: Wie kann man dem kriminellen Treiben Einhalt gebieten, das ja, weil man die DDR nicht anerkennt, ihrem Selbstverständnis nach auf dem Boden der BRD stattfindet?

Stasi-Chef Erich Mielke, Geheimdienst-Chef Markus Wolf, CDU-Politiker Rainer Barzel, von der CSU Friedrich Zimmermann: sie besprechen die Lage. Das Treffen artet zu einer bizarren Slapstick-Nummer von bekifften und sinnlos kichernden Polit-Fratzen, die sich auf die zufällig in den Haschischraum geworfene Zahl von einer Milliarde DM einigt, die es sich der Westen kosten lässt, wenn die DDR nicht zum Dealer wird und Deutschland mit Drogen überschwemmt. Honecker und Strauß müssen es nur noch abnicken.

Literarisch ist das alles nicht besonders filigran, aber es ist unterhaltsam und schafft es, die dunklen Abgründe der DDR mit nostalgischem Augenzwinkern ein bisschen aufzuhellen und schön zu reden. Kann man mögen. Muss man aber nicht.

Jakob Hein: „Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste.“ Roman. Galiani Berlin, 254 S., 23 Euro.




Phantasien des Gehirnchirurgen – Leon de Winters Roman „Stadt der Hunde“

Seit einigen Jahren ist es still geworden um Leon de Winter, der einst mit „Hoffmanns Hunger“, „Sokolows Universum“, „Serenade“ und „Zionoco“ die Bestseller-Liste stürmte. Nach einer fast zehnjährigen Pause kommt ein neuer Roman des inzwischen 70jährigen Autors in die Buchläden: „Stadt der Hunde“.

Früher hat de Winter, dessen Familie fast vollständig im Holocaust umkam, einen an Woody Allen erinnernden leichten, witzigen Ton gepflegt, wenn er von den Alpträumen der Überlebenden sprach und sich über antisemitische Dummheiten lustig machte. Seit dem 7. Oktober 2023 ist er schockiert vom offenen Antisemitismus. „Ich glaube“, meint er in einem Interview, „dass das jüdische Leben in Europa bis 2050 der Vergangenheit angehören wird.“

Verschollen auf der Suche nach jüdischen Wurzeln

Jaap Hollander, die Hauptfigur des neuen Romans, ist ein Genie der Gehirnchirurgie. Als Sohn armer jüdischer Eltern aus Amsterdam hat er ich empor gearbeitet zum Star am Mediziner-Himmel. Mit den jüdischen Traditionen kann er nichts anfangen. Als seine Tochter Lea mit 17 nach Israel reist, um sich ihrer jüdischen Wurzeln zu vergewissern, findet er das befremdlich. Die Reise seiner Tochter wird für Jaap zu einem schweren Schicksalsschlag. Denn Lea kehrt von einem Ausflug in die Wüste Negev nicht zurück und bleibt spurlos verschwunden. Das ist zehn Jahr her. Seitdem reist Jaap immer wieder nach Israel, um nach seiner Tochter zu suchen. Dass er dabei sich selbst und sein verdrängtes Judentum neu entdeckt, liegt auf der Hand.

Wenn der Frieden von einer Operation abhängt

Den israelischen Ministerpräsidenten hält Jaap für einen Demagogen und Populisten. Umso überraschter ist er, als ihn der Ministerpräsident bittet, eine riskante Operation durchzuführen, deren Erfolgsaussichten verschwindend gering sind, die aber das Leben einer Patientin retten und der Welt den Frieden bringen könnte. Es geht um die Tochter des saudischen Prinzen, der nicht davor zurückschreckt, seine politischen Feinde umzubringen. Noora, die Tochter des Prinzen, ist vom saudischen Königshaus auserkoren, als erste Frau den Thron zu besteigen, die Gesellschaft zu reformieren und für die Gleichheit von Mann und Frau zu sorgen. Vom Sohn armer Juden aus Amsterdam hängt es also ab, ob das Mädchen überleben und die politische Utopie umgesetzt werden kann. Das klingt kurios, ist aber von Leon de Winter so plausibel ausphantasiert, dass man fast glauben möchte, der Friede in Nahost und der demokratische Wandel in der arabischen Welt könnten mit einem scharfen Seziermesser aus dem Unfrieden der Welt und den verwirrten Köpfen der Menschen regelrecht herausgeschnitten werden.

Alles läuft auf den Alptraum vom 7. Oktober 2023 zu

Als Jaap an der Stelle in der Wüste, an der man Leas Rucksack fand, Gedenksteine niederlegt, nähert sich ihm ein Hund, der ihm auf Schritt und Tritt folgt, mit ihm redet und sagt, er könne ihn zu Lea ins Reich der Toten bringen: Spökenkiekerei, Wahnvorstellung von Jaap, der nach einem Unfall nicht mehr aus seiner Operations-Narkose erwachen mag und seinen Traum mit der Realität verwechselt.

Der wahre Alptraum kommt aber erst noch. Denn der betörend vielschichtig erzählte und verstörend eigenwillige Roman läuft auf ein Datum zu, das in unser Gedächtnis eingebrannt ist: 7. Oktober 2023.

Leon de Winter: „Stadt der Hunde“. Roman. Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer. Diogenes Verlag, Zürich. 268 Seiten, 26 Euro.




Wenn alle Dämme brechen: Takis Würgers tränenseliger Liebesroman „Für Polina“

Bevor Takis Würger Schriftsteller wurde, berichtete er als Journalist aus Afghanistan, Libyen und dem Irak. Sein erster Roman („Der Club“) wurde zum Bestseller. Sein zweiter Roman („Stella“) löste eine Feuilleton-Debatte über die Frage aus, ob es erlaubt sei, eine jüdische Gestapo-Kollaborateurin zum Mittelpunkt eines Liebesromans zu machen. Sein neuer Roman („Für Polina“) hält sich von allen Fallstricken fern.

Die literarischen Figuren müssen diesmal über kein politisches Glatteis schlittern und werden in keine historisch und ideologisch kontaminierten Handlungen verwickelt. Nachteil: Takis Würger hat einen tränenreichen, herzerweichenden Liebesroman geschrieben, der in all seinen Wegen und Irrwegen vollkommen voraussehbar ist.

Beinahe wie einst Beethoven

Gefüllt ist der Roman mit musikalischen und literarischen Verweisen, die den unglücklich verliebten Märchenkindern zeigen könnten, was sie tun müssten, um dem Jammertal ihrer ausweglosen Liebesgeschichte zu entkommen. Hannes wird schon als Jugendlicher ein Klavier-Stück für Polina komponieren und darin all seine Sehnsucht ausdrücken, so wie  Beethoven es getan hat, als er seine Liebe „Für Elise“ auf dem Klavier erklärte.

Aber Polina erkennt die musikalischen Liebes-Zeichen nicht. Also trennen sich ihre Wege, und es warten Jahre einer Liebes-Odyssee, bis sie schließlich, längst erwachsen und vom Leben gezeichnet, begreifen, dass sie schon seit Kindertagen füreinander geschaffen waren. Schließlich lagen sie schon nach der Geburt nebeneinander, ihre Mütter haben im gleichen Krankenhaus entbunden und ihre Babys zum Kuscheln zueinander gelegt. Die beiden Frauen treffen sich oft mit ihren Kindern in der verwunschenen Villa draußen im Moor in der Nähe von Hannover, wo Hannes mit seiner Mutter bei einem kauzigen Alten wohnt, der die russischen Klassiker liebt, eine tolle Schallplattensammlung hat und ein verstimmtes Klavier, auf dem der kleine Hannes seine ersten Stücke komponiert. Der alte Kauz zitiert gern die Romane von Dostojewsi, der zeitlebens die Schriftstellerin und Feministin Polina (!) Suslowa rasend liebte, die dann aber nicht Dostojewski, sondern den Philosophen Wassili Rosanow heiratete.

Klaviere schleppen statt spielen

Hannes, von seiner Polina verlassen, setzt sich jahrelang an kein Instrument, sondern verdingst sich als Möbelpacker und schleppt Flügel und Klaviere von einer schicken Hamburger Altbauwohnung in die nächste. Er gibt sich als vollkommen unmusikalisch aus, solange, bis er eines Tages ein wahres Prachtstück auf seinen Transporter wuchten will und der Besitzer, ein alter Musiker, ihn mit wissenden, weisen Augen ins Visier nimmt und ihm auf dem Kopf zusagt, er würde doch bestimmt auch Klavier spielen.

Da brechen bei Hannes alle Dämme, er setzt sich mitten auf dem Bürgersteig ans Klavier und spielt eine Improvisation der Melodie, die er einst für Polina komponierte. Eine Passantin zückt ihr Handy, filmt das spontane Konzert und stellt das Video ins Netz. Jeder kann sich ausmalen, welch viraler Flächenbrand damit entfacht wird und welche Wendung die Geschichte von diesem Moment an nehmen wird. Wer an die Kunst glaubt und seiner Berufung folgt, lernen wir, kann nicht untergehen und findet am Ende des dunklen Tunnels immer ein Licht. Mehr Kitsch, mehr Klischee geht wirklich nicht.

Takis Würger: „Für Polina“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich, 304 Seiten, 26 Euro.

 




Gegenentwurf zu Brecht: „Der Schnittchenkauf“ nach René Pollesch in der Berliner Volksbühne

Kathrin Angerer und Milan Peschel in „Der Schnittchenkauf“ nach René Pollesch. (Foto: Apollonia T. Bitzan)

Nach dem Abgang von Frank Castorf, dem Scheitern von Chris Dercon und dem Rauswurf von Klaus Dürr schien die Berliner Volksbühne künstlerisch am Ende. Dann übernahm Bühnen-Berserker René Pollesch und versuchte, den führungs- und ideenlos in den Kultur-Wogen schlingernden Theater-Panzerkreuzer am Rosa-Luxemburg-Platz wieder auf Kurs zu bringen. Als der Dramatiker und Regisseur am 26. Februar 2024 völlig unerwartet mit 61 Jahren starb, verfiel die Volksbühne in Schockstarre.

Nachdem auch noch im Zuge der radikalen Sparmaßnahmen des Berliner Senats die zu Interims-Intendanten ernannten Vegard Vinge und Ida Müller ihre Posten räumten, wurde bereits das Sterbeglöckchen für die Traditions-Bühne geläutet. Doch um den Theatertod zu bannen, haben sich einige Schauspieler, die mit Pollesch große Erfolge feierten, einen Text vorgenommen, der noch nie das Bühnenlicht erblickte. Gemeinsam inszenieren sie das Stück „Der Schnittchenkauf“, das Pollesch für eine Ausstellung in einer Berliner Galerie als kritischen Kommentar zu Brechts „Der Messingkauf“ und als lockeren alltagsphilosophischen Gegenentwurf zur strengen Belehrungs-Theorie des epischen Theaters verfasst hat.

Da Pollesch immer nur mit unverbindlichen Spielideen in die Proben kam und seinen Schauspielern den Text zur freien Improvisation überließ, geben sie sich alle Mühe, einen Kessel Buntes anzurühren und eine Bühnen-Party zu feiern, die ihrem verstorbenen Freund wohl gefallen hätte.

Kathrin Angerer und Martin Wuttke, Milan Peschel, Rosa Lembeck und Franz Beil stecken in aberwitzig-hässlichen Kostümen und sehen aus, als würden sie zu einer Safari oder Expedition nach Nirgendwo aufbrechen. Jan Speckelbach umkreist das muntere Treiben mit einer Live-Kamera, aus den Lautsprechern plärren unentwegt Schlager-Melodien und Pop-Songs. Die zwischen Sperrholz-Container und japanischer Futon-Landschaft changierende, sich allmählich in eine Müllhalde verwandelnde Bühne hat Leonard Neumann, der Sohn des genialen, ebenfalls viel zu früh verstorben Bert Neumann gebaut. Das passende Ambiente, um ein paar Runden mit dem Fahrrad zu drehen und sich an langen Tischen zu versammeln, Butterstullen zu schmieren und mit Schnittlauch zu bestreuen.

Manchmal verirren sich Kathrin Angerer und Martin Wuttke in Edward Albees Bühnenklassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, mutieren zu Martha und George und verknäueln sich lustvoll in derben Eheschlachten. Meistens aber quasseln alle einfach drauflos, inspizieren sie die „Vierte Wand“, die Schauspieler und Zuschauer trennt, verdammen das Theater als verlogene Illusionsmaschine und vergeblichen Sinn-Produzenten.

Milan Peschel rollt genervt mit den Augen und stampft mit Cowboystiefeln durchs anschwellende Chaos. Kathrin Angerer beschwört zitternd und zeternd die Liebe und das Leben. Rosa Lembeck verheddert sich im  Kommunikations-Wirrwarr und beleuchtet den Unterschied zwischen Sender und Empfänger. Franz Beil stottert sich (im Rattenkostüm!) durch seine Texthappen und berichtet, wie er sich einmal in eine Theatervorstellung geschmuggelt hat, weil es hieß, dort gebe es kostenlose Schnittchen. Martin Wuttke pafft unentwegt Zigaretten und erklärt uns, dass es kein Sein gibt: „Es gibt nur das Werden“, mit dem man den eigenen Tod hinauszögern und das Theater-Sterben aufhalten kann. Aha!

Überhaupt kann Wuttke das Gerede von der Apokalypse nicht mehr ertragen: „Wir hören ständig, dass wir am Ende der Geschichte angelangt sind, aber dieses Ende zieht sich hin und bringt sogar einiges Genießen mit sich.“ Das Publikum amüsiert sich köstlich und feiert zu recht eine mit fröhlicher Melancholie zwischen Gestern und Morgen irrlichternde Theater-Kuriosität.

„Der Schnittchenkauf“ nach René Pollesch. Volksbühne Berlin. Nächste Vorstellungen: 16. März (18 Uhr) und 31. März (19.30 Uhr). https://www.volksbuehne.berlin.de




„Egal wohin, Baby“ – 70 Mikroromane von Christoph Ransmayr

Der Autor ist zu einer Lesung in Ingolstadt eingeladen, aber der Zug hat Verspätung. Also hetzt er im Laufschritt Richtung Kulturzentrum, das in einer Lagerhalle untergebracht ist. Da sieht er an einer Wand der Halle einen mit weißer Farbe gesprayten Spruch, der ihn innehalten und die Kamera zücken lässt: „Egal wohin, Baby“.

Stammen die Worte von einem Alltagsphilosophen, einem Dichter, der seiner Geliebten an jeden Ort der Welt folgen will? Oder will er sagen: Egal wonach man sich sehnt und wohin man flieht, man findet ohnehin überall dasselbe? Nach der Lesung zieht es den Autor zurück zur Wand und zum seltsamen Spruch, doch als ihm dort der vermeintliche Dichter mit Spraydose über den Weg läuft, hält der ihn für einen Gesetzeshüter und nimmt Reißaus. Bloß weg! „Egal wohin, Baby.“

In aller Welt unterwegs

Christoph Ransmayr ist ständig unterwegs, verwandelt seine Reise-Eindrücke in Literatur. „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“, „Die letzte Welt“, „Der fliegende Berg“, die Liste ist lang. „Egal wohin, Baby“ versammelt siebzig als „Mikroromane“ bezeichnete Geschichten: literarische Schnappschüsse. Zu ihnen gesellen sich siebzig Schwarz-weiß-Fotos, die er ohne gestalterischen Aufwand gemacht hat, im Vorübergehen: optische Notizen. Sie dienen der bildhaften Erinnerung und kommentieren die literarischen Texte, die er unter dem Namen „Lorcan“ verfasst hat, um zum Erlebten auf Distanz zu gehen und sich von einem „erschöpften Touristen“ in einen „gelassenen Erzähler“ zu verwandeln.

Die Spuren monströser Verbrechen

An Bord eines russischen Eisbrechers reist er von Murmansk bis zum Nordpol. Auf den Osterinseln philosophiert er über das Rätsel der riesigen Steinskulpturen. In Indien nimmt er an einem Elefantenfest teil. Er staunt über die Sonnen-Pyramiden der Azteken, besucht eine abgelegene Pazifikinsel, die einst Meuterern der Bounty Unterschlupf gewährte und Daniel Defoe zu seinem Roman über Robinson Crusoe inspirierte.

Immer wieder entdeckt „Lorcan“ die Spuren von Verbrechen: In Kambodscha steht er vor Bergen mit Knochen und Schädeln der Opfer des Pol-Pot-Regimes. In Litauen stapft er auf den „Berg der Kreuze“, der an die von Besatzern angerichteten Schrecken erinnert. Bei Neapel geht er der Geschichte von SS-Schergen nach, die in Italien Massaker befohlen hatten und eine lebenslange Haft in der Festung Gaeta verbringen sollten, aber bald schon wieder frei kamen und in Neo-Nazi-Kreisen verehrt wurden.

Wie ein Homer unserer Tage

Auch reist er nach Griechenland, die Wiege aller Sagen und Legenden, spürt der „Ilias“ und der „Odyssee“ nach und wird zu einem Homer unsere Tage, der das Überlieferte und Ungesicherte ins Heute schmuggelt. Einmal ist Lorcan mit einer Reisegruppe in den Wäldern zwischen Uganda und dem Kongo unterwegs. Nach langer Wanderung in rauschendem Regen hockt plötzlich vor ihnen ein riesiger Gorilla, ein wohl zweihundert Kilo schwerer „Silberrücken“.

Was der Gorilla lehrt

Nachdem sie ihre Angst überwunden haben, versuchen sie das Räuspern und Grunzen nachzuahmen, das unter Gorillas als Zeichen von Vertrauen und freundlichem Interesse gilt. „Der Silberrücken“, schreibt Lorcan, „hörte diesem Grunzen fast nachsichtig zu und sah seinen Besuchern in die Augen, so lange und so tief hinab in ihre Seelen, daß sie mit einem Mal ganz die Seinen waren, und ließ seine Gäste jenen Laut hören, den sie vergeblich nachzuahmen versucht hatten. Er räusperte sich. Er grunzte sanft. Und das bedeutet: Es ist gut. Alles ist gut.“ Voller Demut stehen wir vor Größe und Schönheit der Schöpfung.

Christoph Ransmayr: „Egal wohin, Baby“. Mikroromane. S. Fischer Verlag, Frankfurt, 256 Seiten, 28 Euro.




Fragile Schönheit der Erde, aus dem Weltraum betrachtet – Samantha Harveys Roman „Umlaufbahnen“

Zwei Frauen und vier Männer, zusammengepfercht auf einer Raumstation. Jeder Tag, an dem sechzehnmal die Sonne auf- und wieder untergehen wird und sie mit einer Geschwindigkeit von achtundzwanzigtausend Kilometern sechzehnmal die Erde umkreisen, folgt einem eigenen Zeit-Rhythmus, exakten Plänen, routinierten Abläufen.

Sie führen Experimente mit Mäusen, Pilzen und Viren durch, trudeln zeitlupenartig durch die Schwerelosigkeit, brechen zu Spaziergängen ins All auf, um Reparaturarbeiten an ihrer von Weltraum-Müll zerdepperten Behausung auszuführen. Sie hocken monatelang so eng aufeinander, dass sie mitunter „dieselben Träume“ träumen. Und während sie noch kopfüber in ihren Schafsäcken hängen und langsam erwachen, rollt draußen die Erde „in einem üppigen Schwall Mondlicht vor sich hin“ und „wälzt sich nach hinten weg.“

Weil die Fensterblenden verdeckt sind, sehen die vor sich hin dösenden Raumfahrer noch nicht, was Samantha Harvey, die allwissende Erzählerin, die ihren Blick durch ihr literarisches Universum schweifen lässt, bereits sieht: wie über den warmen Gewässern des Westpazifiks sich Passatwinde zu einem Sturm zusammenballen, „einem Motor aus Hitze. Die Winde saugen die Wärme aus dem Ozean auf, sammeln die Wolken, die stocken, sich immer mehr verdichten und schließlich vertikal auftürmen, in einen Taifun drehen.“ Während das Raumschiff gen Osten zieht, wird der Taifun westwärts Richtung Südasien wandern, das Meer zum Wüten bringen und eine gigantische Spur der Verwüstung auf den Philippinen hinterlassen.

Die britische Autorin Samantha Harvey muss unendlich viel Material gesichtet und Gespräche geführt haben, um so genial zwischen Fakten und Fiktionen jonglieren, die Wirklichkeit literarisch transzendieren und beschreiben zu können, was sich auf einer Raumstation abspielt; wie sich das am seidenen Faden von störungsanfälligen Geräten hängende Leben in einer den Gesetzen der Schwerkraft enthobenen Umgebung gestaltet, wo Angst vor dem Tod und Demut vor der Schöpfung ineinander greift.

In ihrem Roman „Umlaufbahnen“, für den sie den Booker-Prize erhielt, verbindet Harvey auf poetisch elegante Weise Fragen nach Sein und Werden mit dem Nachdenken über die fragile Schönheit der zerbrechlichen, von Klimakatastrophen, Krisen und Kriegen bedrohten Erde. Von dort oben aus, wo alle alles miteinander teilen und, obwohl sie aus verschiedenen Ländern und Kulturen kommen (Russland, Italien, Japan, England, USA), dieselben Wünsche haben und wissen, dass sie nur gemeinsam überleben können, wirken alle irdischen Konflikte belanglos.

Samantha Harvey schaut in die Seelen der Raumfahrer, die sich schmerzlich nach ihren zuhause gebliebenen Liebsten sehnen und sich zugleich von allem lösen und gern in die Unendlichkeit des Alls driften würden. Sie schaut auf die Erde und sieht „diesiges blassgrün schimmernde Meer, diesiges orangerotes Land. Afrika, von Licht durchdrungen. Im Inneren dieses Raumschiffes kann man es fast hören, dieses Licht.“ Gleichgültig, ob alles Leben nur eine Laune der Natur ist oder dem Willen eines Gottes entspringt: Warum nur richten wir all unser Streben darauf, diesen majestätisch schönen Planeten mit unserem Fortschrittswahn zu zerstören anstatt ihm mit Demut zu begegnen und zu erhalten? Etwas Besseres gibt es nicht und finden wir nirgendwo.

Samantha Harvey: „Umlaufbahnen“. Roman. Aus dem Englischen von Julia Wolf. dtv, München. 224 Seiten, 22 Euro.




„Panik wäre angebrachter“ – Essays und Reden von Daniel Kehlmann

Im Juli 2024 hält Daniel Kehlmann im Berliner Bundeskanzleramt bei einem Kultur-Festakt eine Rede, mit der er den Zuhörern gründlich die gute Laune verdirbt. Denn statt die Kunst zu rühmen und ihr in der Ära der digitalen Moderne eine glorreiche Zukunft zu prophezeien, hält er eine Totenmesse und warnt vor den Gefahren der Künstlichen Intelligenz, die nicht nur die kreativen Berufe, sondern die ganze Demokratie bedrohe.

Da kommt etwas „auf uns zu, für das wir keinen angemessenen Instinkt haben“, das „nicht wirklich unser Gemüt erfasst“. Wir müssten aber endlich begreifen, dass die KI mit ihren Datenbanken und Algorithmen uns nicht nur Arbeit abnimmt, sondern auch unser Bewusstsein beherrscht und unsere Bedürfnisse ausbeutet, politische Meinungen herstellen, Gesellschaften zerstören und einen neuen Kunstbegriff begründen kann: „Panik wäre angebrachter als die entspannte Ruhe, mit der wir dem Tsunami entgegenblicken, der sich bereits am Horizont abzeichnet.“

Enzyklopädisch gebildeter Intellektueller

Der 1975 in München geborene, in Wien aufgewachsene und inzwischen in Berlin und New York lebende Daniel Kehlmann gilt als bedeutende Stimme der zeitgenössischen Literatur. In seinen Romanen („Die Vermessung der Welt“, „Tyll“, „Lichtspiel“), verwebt er Fakten und Fiktionen, Realität und Fantasie zu einem literarischen Teppich und schwebt durch Zeit und Raum. Kehlmann gehört zur seltenen Spezies des enzyklopädisch gebildeten Intellektuellen, der das Wissen der Welt speichert, sich für politische und wirtschaftliche Entwicklungen genauso interessiert wie für literarische Debatten, für historische Fundstücke und die Abgründe der digitalen Kapitalismus. In einem Band mit Essays und Reden gibt er darüber Auskunft. Den Titel hat er sich bei Friedrich Schiller ausgeliehen, der seinen zu Tode erschöpften Feldherrn Wallenstein sagen lässt: „Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken“: Schreibt nicht zu bald über mich, lasst ein wenig Zeit vergehen, Abstand ist nötig, damit der erfinderische Autor sein Werk beginnen kann.

Die Wahrheit kennen und die Verblendung wählen

Die nötige Distanz und das richtige Maß finden will auch Kehlmann, wenn er Donald Trump als „Monster“ beschreibt, das mit einem Knopfruck den Atomkrieg auslösen und das Ende der Welt heraufbeschwören kann. Den Film „Happy End“ (Michael Haneke) sieht er als „prophetisches Werk über uns, die wir die Wahrheit kennen und die Verblendung wählen“, indem wir den Planeten mit unserer Misswirtschaft zugrunde richten, es uns aber noch „gut in unseren schönen Häusern“ gehen lassen und fröhlich feiern, „auch wenn die Ausgebeuteten bereits bei unserem Fest auftauchen“ und „der Meeresspiegel unterdessen immerzu steigt.“

„Menschen helfen, die Hilfe brauchen“

Über Salman Rushdie, der trotz aller Anfeindungen nie den Mut verliert und für seine irrlichternden Romane längst den Literaturnobelpreis verdient hätte, spricht Keilmann ebenfalls. Und über seinen Vater, der sich mit gefälschten Dokumenten vom Juden zum Halbjuden wandelte, dann aber doch von den Nazis verhaftet und in ein KZ gesperrt wurde, nur durch Zufall wieder frei kam und überlebte. „Niemals vergessen!“ bedeutet für ihn: „Menschen helfen, die Hilfe brauchen, auch wenn sie eine andere Religion haben, eine andere Kultur, andere Sprache, andere Hautfarbe, und zwar im Angedenken an die Vertriebenen und die Toten unseres eigenen Landes vor noch nicht langer Zeit.“

Daniel Kehlmann: „Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken.“ Essays und Reden. Rowohlt Verlag, 306 Seiten, 25 Euro.

 

 




Wenn der Schriftsteller vom Leben als Maler träumt – Skizzenbuch des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk

Seit Monaten arbeitet Orhan Pamuk an einem neuen Roman, er soll „Die Nächte der Pest“ heißen, eine Parabel auf die von politischen Krisen, religiösem Fanatismus und globalen Pandemien zerrüttete Welt sein. Sie spielt zu Zeiten des Osmanischen Reiches auf „Minger“, einer fiktiven Insel im östlichen Mittelmeer. Sie erinnert den Autor an Kreta.

Um seine Fantasie anzuregen, besucht er mit seiner Lebensgefährtin Asli die von schroffen Bergen und kargen Landschaften geprägte Insel. Unterwegs von Rethymnon nach Chania, möchte er vom Bus aus Fotos machen. Doch es funktioniert nicht. „Wozu fotografieren?“, schmunzelt Asli, „Du bist doch auch Maler. Hol dein Heft raus und zeichne.“ Pamuk gefällt es, dass sein künstlerisches Talent auf die Probe gestellt wird: „Bis wir in Chania ankamen, hatte ich zehn Bleistiftzeichnungen fertig.“

Collagen aus Worten und Bildern

Der türkische Literaturnobelpreisträger notiert das im Oktober 2018 in einem seiner vielen Hefte, die er stets mit sich führt und zu einer sich ständig erweiternden Wunderkammer aus Worten und Bildern macht. Sie haben immer das Format 8,5 x 14 Zentimeter und quellen über vor Gedanken und Zeichnungen, Gedichten und Reiseeindrücken, Terminen und Namen von Freunden und Verlegern, Ideen für literarische Projekte und politische Zwischenrufe.

Immer werden die Worte umkreist von schnell hingetupften Aquarellen und Bleistiftzeichnungen. Ob er von seinem Schreibtisch aus über den Bosporus blickt oder durch die Straßenschluchten von New York flaniert, im indischen Goa Ruhe sucht, in Berlin eine Ausstellung kuratiert oder in Barcelona einen Vortrag hält: Immer hat der Autor, der eigentlich Maler werden wollte, seine Hefte dabei und verdichtet Worte und Bilder zu täglich neuen und überraschenden Collagen.

„Daraus ist aber nichts geworden!“

Eine Auswahl der Hefte ist jetzt in einem „Skizzenbuch“ versammelt: „Erinnerungen an ferne Berge“ ist ein chaotisches und künstlerisch anregendes Werk aus poetischen, politischen und persönlichen Texten und faszinierenden Bildern. Es umfasst die Jahre 2009 bis 2021. In dieser Zeit wird Pamuk Romane („Diese Fremdheit in mir“, Die rothaarige Frau“, „Die Nächte der Pest“) und Fotobände („Balkon“, „Orange“) veröffentlichen, sein „Museum der Unschuld“ ausstellen und als streitbarer Autor in der Türkei in Ungnade fallen.

All das und vieles mehr spiegelt sich in den kleinen Heften, deren Seiten im „Skizzenbuch“ so abgedruckt sind, dass daneben viel Platz bleibt für die Übersetzung der Worte, die die Bilder umschlingen und überlagern. Einmal, da ist Pamuk in New York (Oktober 2010), notiert er zwischen Zeichnungen von Wolkenkratzern, Wohnblocks, Straßen und Parkanlagen: „Das Leben, das ich gern führen würde = ein Leben als Maler. Daraus ist aber nichts geworden!“

Wunsch und Wirklichkeit berühren sich

Ein anderes Mal (Mai 2016) sieht er zeichnend über ein rot schimmerndes Meer zu fernen schwarzen Bergen und notiert: „An zeitgenössischen Malern, die Bild und Text zugleich denken, fallen mir jetzt Raymond Pettibon und Cy Twombly ein. So wie sie würde ich gerne zeichnen können“ und „der Malerei mein ganzes Leben widmen. Und dabei die Worte und die Bilder auf derselben Seite denken.“ Wir erleben im „Skizzenbuch“, wie Wunsch und Wirklichkeit sich berühren.

Orhan Pamuk: „Erinnerungen an ferne Berge. Skizzenbuch.“ Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München. 400 S., 46 Euro.




Lebensgefährliche Liebe zum Tier – Monika Marons Erzählung „Die Katze“

Ein Leben ohne ein Tier scheint Monika Maron zwar möglich, aber völlig sinnlos. Bei Spaziergängen mit dem Hund durch ihr schick saniertes Berliner Altbauviertel oder über versteppte Brandenburger Felder sinniert sie über den Wahnsinn der Welt und die Absurditäten des Zeitgeistes.

Aus dem aufgeregten „Krähengekrächz“ hört sie die uralten Mythen und Märchen heraus, mit denen sich die Menschen die unlösbaren Geheimnisse des Daseins erklären. „Die stumme Verständigung zwischen Menschen und Tieren macht mich immer glücklich“, schreibt sie in ihrer neuen Erzählung. Sie heißt „Die Katze“ und handelt vom genauen Gegenteil: Denn fast hätte die Fürsorge für eine fast verhungerte Katze sie das Leben oder doch wenigsten die linke Hand gekostet.

Auszeit in der Landkommune

Zuletzt hatte Monika Maron (in „Das Haus“) geschildert, wie ausgerechnet sie, die notorische Einzelgängerin und überzeugte Großstadt-Pflanze, hinaus aufs Land und in eine Alten-WG zieht, wo sie mit anderen Weltflüchtlingen eine Auszeit in einer altengerechten Landkommune nimmt.

Bei einem ihre Gänge durch den Ort, berichtet sie nun in einer schlanken, die eigene Naivität mit Selbst-Ironie einkreisenden Erzählung, findet sie eine zottelige Katze, die dem Tod näher scheint als dem Leben. Sie erbarmt sich des hilfsbedürftigen Wesens, füttert es und will der Katze im Garten der Landkommune eine provisorische Unterkunft bauen. Doch sie hat nicht mit dem Zorn und der Wut ihres Hundes gerechnet, der sein Revier bedroht, sich zurückgesetzt fühlt und der Katze den Kampf ansagt.

Keine Ahnung, was ein Biss bedeuten kann

Als Monika Maron sich heldenhaft zwischen die Streithammel wirft und schlichten will, wird sie von der Katze gekratzt und gebissen. Weil sie die Gefahr unterschätzt und ihre Gedanken schon bei ihrer Reise nach Budapest sind (in der ungarischen Hauptstadt, einst Sehnsuchtsort aller DDR-Bürger, die dem grauen Einerlei ihres sozialistischen Miefs für ein paar Tage entfliehen wollten, soll sie an einer Diskussion über „Das Postheroische“ teilnehmen und aus ihren Büchern lesen), nimmt das Unglück seinen Lauf: „Ich hatte einfach keine Ahnung, was so ein Katzenbiss bedeuten kann.“

Kaum in Budapest angekommen, ist ihre linke Hand nur noch ein aufgequollener Fladen, voller Eiter und tödlicher Bakterien. Mit einer bizarren  Mischung aus „preußischem Pflichtbewusstsein“ und pervertiertem „Komsomolzenbewusstsein“ absolviert sie ihre Termine, schafft es grad noch im allerletzten Moment, wieder in Berlin einzutreffen, sich sofort in notärztliche Behandlung und unters Messer zu begeben, um eine Amputation zu verhindern und ihr Leben zu retten.

Eine aristokratische Lebensregel

Erst nach Wochen findet die von Schmerzen und Medikamenten betäubte Autorin wieder in ihren normalen Alltag. Gegen die Katze hegt sie keinen Groll, ihren Biss interpretiert sie „als eine Mahnung und eine Vorbereitung auf meine mögliche Zukunft.“ Einer Freundin, die meint, die Krankheit habe sie „friedlicher“ gemacht, davor sei sie „streitlustiger“ gewesen, sagt sie, sie irre sich, „ich streite mich schon länger nicht mehr. Über die üblichen Streitthemen Migration, Corona, Gender, die ganze Links-und-rechts-Front eben, ist alles gesagt.“ Sie halte sich jetzt lieber an eine alte „aristokratische Lebensregel“, die besagt: „Nur wenige sind es wert, dass man ihnen widerspricht.“ Mag sein, klingt aber doch ein wenig überheblich und verbittert.

Monika Maron: „Die Katze“. Erzählung. Hoffmann und Campe, Hamburg 2024, 56 Seiten, 16 Euro.




Aufklärung, das unvollendete Projekt – opulente Ausstellung in Berlin

Erstdruck der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776, gedruckt von Steiner und Cist in deutscher Sprache, Philadelphia, 8. Juli 1776. (© Deutsches Historisches Museum)

In einem der wirkungsmächtigsten Dokumente der demokratischen Staatsphilosophie, formuliert im Jahr 1776, wird festgestellt, „daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. Daß zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten; daß sobald einige Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volks ist, sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket.“

Daniel Chodowiecki: Allegorisches Blatt zum Zeitalter der Aufklärung, Göttingen, 1791. (© Deutsches Historisches Museum)

Hauptautor der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die sofort vom in Philadelphia angesiedelten Druckhaus „Steiner und Cist“ ins Deutsche übersetzt wurde, war Thomas Jefferson, ein von der Aufklärung geprägter Staatstheoretiker, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen predigte (und der Französischen Revolution die passenden Stichwörter lieferte) und im Sinne von Immanuel Kant die Vernunft als oberste Maxime des menschlichen Denkens und Handels propagierte.

Jefferson war auch Sklavenhalter

Jefferson war aber auch, und das wird gern vergessen, ein reicher Großgrundbesitzer, der auf seinen Plantagen hunderte Sklaven für sich schuften und sich darüber keine grauen Haare wachsen ließ. Wer die richtigen Ideen formuliert und die Fortschrittsgeschichte der Demokratie beflügelt, muss also im konkreten Handeln und alltäglichen Leben nicht immer ein leuchtendes Vorbild und schon gar nicht unbedingt ein guter Mensch sein.

Deutlich wird das jetzt wieder in einer mit über 400 Exponaten opulent ausgestatteten Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin (DHM). Sie trägt den Titel: „Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“ und kreist längst nicht nur um das Denken von Kant, der in einem berühmten Aufsatz von 1784 die Frage, was denn eigentlich Aufklärung sei, in der „Berlinischen Monatsschrift“ auf die Vernunft als kategorischen Imperativ verwies und schrieb: „Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“

Friedrich Wilhelm Springer: Miniaturbildnis des Immanuel Kant, Königsberg, 1795 (© Deutsches Historisches Museum)

Der Aufsatz von Kant ist genauso als historisches Dokument ersten Ranges in der grandiosen Ausstellung dokumentiert, wie auch der Erstdruck der deutschen Übersetzung der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sowie das Original des handgeschrieben Verzeichnisses mit den Namen der von Thomas Jefferson ausgebeuteten Sklaven.

Zwiespältige Vernunft 

Die Aufklärung, lernen wir, ist ein von Widersprüchen gezeichnetes Unterfangen, eine Aufgabe, die bis heute nicht vollendet ist. Zum Ende der mit Bilder-Fluten und Text-Bergen, Video-Installationen und Hör-Stationen zur ambivalenten Geschichte der Aufklärung und der mit politischen Verweisen und wissenschaftlichen Exkursen fast überinszenierten Performance zur Kulturgeschichte eines widerborstigen Begriffs erinnern uns denn auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer an die „Dialektik der Aufklärung“ und ihre Warnung, dass der aufklärerische, vernunftgeleitete Zweck der Selbstbefreiung zum bloßen Instrument  verkommen könne, um alle möglichen Zwecke zu erreichen.

„Große Scheiben-Elektrisiermaschine“ aus dem Besitz Johann Wolfgang von Goethes. (© Klassik Stiftung Weimar, Museen)

Von Kant bis Habermas

Das letzte Wort hat dann Jürgen Habermas, der wohl bedeutendste Soziologe und Philosoph der Gegenwart: Er  beschwört trotz aller Krisen, Kriege und Katastrophen der Moderne die „Einsicht der klassischen Aufklärung: Deren rationaler Kern besteht unverändert darin, an die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zu appellieren, ihre Vernunft öffentlich zu gebrauchen, um politisch auf die Gestaltung der Grundlagen ihrer gesellschaftlichen Existenz Einfluss zu nehmen. Eine solche vernünftige politische Willensbildung ist freilich nur im Rahmen der Institutionen eines unversehrten demokratischen Rechtsstaates und auf der Basis einer wenigstens halbwegs gerechten Gesellschaft möglich.“

Um anschaulich zu machen, wie weit der Weg von Kant bis Habermas war, werden Fragen zu Wissenschaft und Geschichte gestellt, Bilder, Skulpturen und Dokumente gezeigt, die den Fortschritt des Menschenbildes und das Unbehagen an der Kultur belegen, Geschlechterrollen befragen, über Bedeutung von Religion und Pädagogik nachdenken und die Aufklärung als unvollendetes Projekt der Menschheitsgeschichte beschreibt.

Georg Melchior Kraus: „Zwischen Wissenschaft und Ehe“, Mainz, um 1770-1776. (© Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg)

 

 

 

„Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“, Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, 10117 Berlin, Pei-Bau, 1. und 2. OG. Bis 6. April 2025, geöffnet täglich 10-18 Uhr (geschlossen nur am 24.12.2024), Eintritt 7 Euro, ermäßigt 3,50 Euro, bis 18 Jahre frei. Infos unter www.dhm.de/aufklaerung, Katalog (Hirmer Verlag) im Museum 30 Euro, im Buchhandel 39,90 Euro. 




Nur Kunst, Liebe und Tod – Horst Bieneks Tagebücher

Der 1930 im oberschlesischen Gleiwitz geborene Horst Bienek konnte sich nach dem Krieg in die „Sowjetische Besatzungszone“ absetzen, ein Volontariat in Potsdam ergattern und erste Prosa-Texte veröffentlichen.

Im September 1951 nimmt ihn Bertolt Brecht in seine Meisterklasse am Berliner Ensemble in Ost-Berlin auf und der junge Autor beginnt mit einem Tagebuch, in dem er fortan seine Gedanken und Erlebnisse akribisch festhalten will.

Bert Brecht erwiderte seine Bewunderung nicht

Er beobachtet Brecht bei den Proben („…er klatschte in die Hände, kicherte, schnaubte; es war köstlich.“) Seine Begeisterung und Bewunderung für Brecht, das epische Theater und die ketzerische Lyrik, wird Bienek zeitlebens bewahren. Leider wurde sie nicht erwidert. Denn weder Brecht noch Helene Weigel machten einen Finger für ihn krumm, als ihn die Stasi im November 1951 wegen angeblicher Spionage verhaftete und zur Zwangsarbeit in ein sowjetisches Gulag verfrachtete. Nur einem Zufall ist es zu verdanken, dass Bienek im Rahmen politischer Abkommen 1955 entlassen und in die Bundesrepublik abgeschoben wurde.

Netzwerker in der Literaturszene

Es dauerte Jahre, bis Bienek künstlerisch wieder Fuß fasste, als Kultur-Redakteur beim Hessischen Rundfunk, Herausgeber verschiedener Zeitschriften und Verlagslektor bei dtv zu einem gefragten und einflussreichen Netzwerker in der Literaturszene wurde und schriftstellerisch die Traumata seines Lebens bearbeiten konnte.

Die Tagebücher, 1951 mit großen Hoffnungen begonnen, weisen denn auch eine große Leerstelle auf. Erst 1959 holt Bienek die Hefte wieder hervor, wird dann aber bis zu seinem Tod kein Blatt mehr vor den Mund nehmen und jedes noch so intime Detail seines ruhelosen und obsessiven Lebens aufschreiben.

Völlig ungeschütztes Schreiben

Die jetzt unter dem Titel „Es gibt nur die Kunst, die Liebe und den Tod. Dazwischen gibt es nichts“ veröffentlichten Tagebücher sind eine editorische Großtat, die dem Leser viel abverlangt. Denn Bienek schreibt völlig ungeschützt und oft polemisch über seine Begegnungen mit Kritikern wie Marcel Reich-Ranicki und Joachim Kaiser, seine Freund- und Feindschaften mit Kollegen wie Wolfgang Koeppen und Hans Magnus Enzensberger; er diskutiert mit Ingeborg Bachmann und Max Frisch und gibt freizügige Einblicke in seine sexuellen Vorlieben, beschreibt seine Ausflüge in die Schwulen-Bars, seine wüsten Ausschweifungen, die ihn vom Schreiben abhalten und in schummrige Klappen und dunkle Parks führen. Erst als AIDS unter seinen schwulen Freunden wütet, schränkt er seine sexuellen Obsessionen etwas ein.

„Ein flackernder Blick ins Leere“

Michael Krüger, sein Lektor und Verleger, beschreibt ihn als rastloses und „verletztes Kind“, das nur unter großen Schmerzen vom Verlust der Heimat („Die erste Polka“), von Verhaftung und Tortur im Gulag („Die Zelle“) erzählen und in zeitlos gültige Romane verwandeln konnte. Am 7. Dezember 1990 ist Bienek in München nach langem Siechtum an AIDS gestorben. „Das letzte Bild, das ich von ihm habe“, schreibt Krüger im Nachwort, „ist sein abgemagerter, geschrumpfter Körper, ein flackernder Blick ins Leere, ein Würgen, als wollte er noch etwas Wichtiges sagen. Er hat es für sich behalten müssen.“

Horst Bienek: „Es gibt nur die Kunst, die Liebe und den Tod. Dazwischen gibt es nichts.“ Die Tagebücher 1951-1990. Hrsg. von Daniel Pietrek u.a., mit einem Nachwort von Michael Krüger, Hanser Verlag, München. 1712 S., 58 Euro.




Joachim Meyerhoff: Literarisches Denkmal für die Mutter

Theatergänger lieben die genuschelten Spracheskapaden und schlaksigen Bewegungen von Joachim Meyerhoff, Literaturfans amüsieren sich köstlich über seine tragikomischen Erlebnisse und grotesken Selbstentblößungen. Dann aber wird der Wiener Burgschauspieler von einem Schlaganfall niedergestreckt, muss das Sprechen und Spielen neu lernen und wechselt ins Ensemble der Berliner Schaubühne. Doch alles kommt anders als gehofft.

„Ich haderte mit Berlin, der Stadt, in der ich seit fünf Jahren versuchte, heimisch zu werden, und ich haderte mit meinem Beruf, der Schauspielerei, die ich über drei Jahrzehnte mit Hingabe, gar mit Obsession betrieben hatte.“

Bühnen-Ekel und Schreib-Hemmung schlagen ihm aufs Gemüt. Fluchtartig verlässt er Berlin und zieht zu seiner Mutter aufs Land, redet sich ein, er, der 56jährige Griesgram, könne der 86jährigen Frau, die vor Lebenslust strotzt und ihren parkähnlichen Garten allein in Schuss hält, im Alltag eine Hilfe sein. Das Gegenteil ist der Fall. Die Mutter sorgt mit kräftigen Worten und zarter Fürsorge dafür, dass der selbstmitleidige Sohn aus dem Tal der Tränen finden und wieder das machen kann, was er am besten beherrscht: seine tatsächlichen und seine herbeifantasierten Erlebnisse in bizarre Literatur zu verwandeln, Geschichten aufzuschreiben, die aus den traurigen Niederlagen des Lebens komischen Honig saugen und selbst dem verkniffensten Leser ein Lachen ins Gesicht zaubern.

„Man kann auch in die Höhe fallen“ nennt Joachim Meyerhoff (eine Sentenz von Friedrich Hölderlin aufnehmend) den sechsten Teil seines Roman-Zyklus‘ „Alle Toten fliegen hoch“: eine Perlenkette von todtraurigen und berstend komischen Anekdoten aus dem Leben eines Schelms. Er hat davon erzählt, wie er als Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in einem Heim für körperlich und geistig Behinderte aufwächst und sich dort pudelwohl fühlt. Wie er als Legastheniker die Kunst für sich entdeckt, als Schauspieler mit Wörtern jongliert und als Schriftsteller den Wahnsinn der Welt veralbert.

Höchste Zeit, zur Ruhe zu kommen, sich in den Alltag der Mutter einzuklinken und mit Latzhose und Gummistiefeln zum Gärtner zu mutieren. Den Tag mit einem Bad im Meer, einem guten Whiskey und einer klugen Mutter beenden, die auf (fast) jede Frage eine gescheite Antwort weiß. Wochenlang werkeln und trödeln die beiden durch den zu Ende gehenden Sommer, holen Erinnerungen hervor und schmieden neue Pläne. Die Mutter verliebt sich noch einmal und beschließt, mit ihrem Geliebten die Welt zu bereisen, der Sohn findet wieder die passenden Worte für seine abstrusen Geschichten über die Abgründe des Künstlerlebens und collagiert seine hanebüchenen Schilderungen mit liebevollen Erzählungen über seine Mutter.

Eine Geschichte („Mutter ist weg“) will er in einer Lübecker Buchhandlung vorlesen. Doch ihm ist übel und er zittert, hat Angst vor einem neuen Schlaganfall. Da ergreift die Mutter die Initiative. Während ihr Sohn im Hinterzimmer auf einer Couch liegt, tritt sie – als hätte sie nie etwas anderes getan – vor die Zuhörer und liest die Geschichte vor, die sie zuvor gar nicht kannte und jetzt so selbstsicher und Funken sprühend intoniert, als wäre sie selbst die Autorin. Weil sie eine wahre Künstlerin ist, erfindet sie spontan noch ein paar Zeilen dazu und schenkt der unfertigen Story ein großartiges Finale. Hin und weg sind nicht nur die Besucher der Lesung, sondern auch der in seinem Kabuff liegende Joachim Meyerhoff, der seiner Mutter mit seinem Roman ein literarisches Denkmal setzt.

Joachim Meyerhoff: „Man kann auch in die Höhe fallen.“ – „Alle Toten fliegen hoch“, Teil 6. Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 358 Seiten, 26 Euro.

 




Mit Kaiser Theodoros durch Zeit und Raum irrlichtern

Der 1956 in Bukarest geborene Mircea Cartarescu hat unzählige Auszeichnungen erhalten und wird immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Sein neuer Roman segelt mit Äthiopiens Kaiser „Theodoros“ (der sich 1868 eine Kugel in den Kopf schoss, als britische Truppen seine Festung Magdala eroberten) durch Zeit und Raum: Sein „Theodoros“ ist eine Erfindung, Traum einer Person, in der sich Mythen und Legenden spiegeln, Vision eines Mannes, der in mehreren Welten sein Unwesen treibt.

Geboren wird die zwischen Fiktion und Realität irrlichternde Figur in der düsteren rumänischen Walachei. Der einfältige Vater nennt seinen Sohn Tudor. Seine Mutter hat es aus dem sonnigen Griechenland in die rumänische Ödnis verschlagen, sie unternimmt mit ihrem Sohn Fantasie-Reisen in die Welt von Homer und nennt ihren Sohn Theodoros. Unter diesem Namen wird er hinausziehen in die weite Welt und zum Anführer einer Piraten-Bande in der Ägäis. Auf der Flucht vor seinen Verfolgern lernt er in einem Kloster den aus einem äthiopischen Adelsgeschlecht stammenden Kassa Hailu kennen, der lieber Mönch als Kaiser werden will. Die beiden werden Freunde und tauschen ihre Identität.

Dringend gesucht: die Steintafeln mit den Zehn Geboten

Von Kassa Hailu unterwiesen in Sitten, Gebräuche, Sprache und Religion, schafft es der rumänische Bauernbengel, als Tewodoros II. den Thron zu besteigen, der auf dem Heiligen Buch Äthiopiens, Kebra Nagast, gründet und zurückreicht bis in die Tage von König Salomon. Grund genug für Theodors, sich ins mythische Judäa zu träumen, ist er doch besessen von der Sehnsucht, die alttestamentarische Bundeslade zu finden, in der die Steintafeln der Zehn Gebote aufgehoben sind: eine ziemlich verrückte Gemengelage.

Vier Jahrzehnte, meint Cartarescu in einer Nachbemerkung, trug er die Idee eines pseudohistorischen Romans mit sich herum, in der „das Unmögliche auf einer anderen Zeitschleife möglich wird, in einer anderen Welt, mit anderen Himmeln und anderen Göttern“. Erst jetzt, „in einer Zeit der Depressionen, Konfusionen, Pandemien und Kriege, als ginge es mit der Welt zu Ende, habe ich schließlich die zwei Jahre gefunden, in denen ich, um überleben zu können, „Theodoros“ geschrieben habe – ebenso wie mein Held letztlich seinen Traum verwirklicht hat, Kaiser zu werden.“

Hyperrealistisch geschildert, aber frei erfunden

Herausgekommen ist ein Roman, der Grenzen überschreitet und Welten miteinander verwirbelt. Ob Geografie und Geschichte, Kultur, Kunst und Krieg: alles was Theodoros bei seiner Reise durch die Fantasiewelten erlebt, wird bis ins letzte Detail so exakt beschrieben, dass es auf unheimliche Weise hyperrealistisch und zugleich völlig frei erfunden erscheint. Ob er am Hofe von König Salomon vorbeischaut, über holprige Wege der Walachei in die Freiheit stolpert, den trojanischen Krieg nachspielt oder als Seeräuber durch die Ägäis irrt, bevor er seiner Berufung folgt und sich zum Kaiser von Äthiopien aufschwingt: alles ist von einer fulminanten fiktiven Wahrheit und grandiosen Wahrhaftigkeit, hebt sämtliche Erfahrungen auf und schlägt sinnliche Pirouetten.

Sieben Erzengel schreiben am „Buch des Lebens“

Der Clou: Hinter dem allwissenden „Wir“ verbergen sich die Sieben Erzengel, die am „Buch des Lebens“ schreiben, am Tag des Jüngsten Gerichts dem auferstandenen Theodoros die Geschichte seiner Verkleidungen und Verwandlungen, Morde und Missetaten präsentieren und erkennen, dass der grummelnd im Lebensbuch blätternde Gott „nicht über den Menschen mit seinen Sünden und lichten Momenten befinden wird, sondern über das von uns mit großer Beharrlichkeit ein halbes Jahrhundert lang geschriebene Buch. Und wenn dieses in den Himmeln Aufnahme findet, wird es auch auf Erden angenommen werden“. So sei es.

Mircea Cartarescu: „Theodoros“. Roman. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2024., 672 Seiten, 38 Euro.




„Es musste etwas besser werden“ – Jürgen Habermas und die Pflicht zur Vernunft

„Ich halte das Streben, die Welt um ein Winziges besser zu machen oder auch nur dazu beizutragen, die stets drohende Regression aufzuhalten, für ein ganz unverächtliches Motiv. Daher bin ich mit der Bezeichnung ,Philosoph und Soziologe‘ ganz zufrieden.“

So äußert sich Jürgen Habermas in einem neuen Buch, in dem er über die Motive seines Denkens, die Umstände, unter denen es sich entwickelte, und die Veränderungen, die es im Laufe der Jahrzehnte erfuhr, Auskunft gibt.

Debatten und Diskurse beispielhaft geprägt

Dass der inzwischen 95-jährige Intellektuelle, der mit seinen Beiträgen und Büchern wie kein anderer die politischen Debatten und wissenschaftlichen Diskurse in Deutschland geprägt hat, mit dieser Selbstbeschreibung tiefstapelt, weiß er natürlich auch. Denn Habermas war nie nur ein „Philosoph und Soziologe“, der sich im universitären Elfenbeinturm verschanzt und von oben herab seine neuesten Erkenntnisse zu gesellschaftlichen Transformationen, kulturellen Phänomenen und kommunikativen Strategien verkündet.

Ob als Hochschullehrer in Frankfurt und Heidelberg oder als Autor der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: Sich mit sozialwissenschaftlichen Argumenten und historischen Erkenntnissen in die aktuellen Debatten einzumischen, war stets sein größtes Bestreben, die Europäische Einigung sein größter Wunsch und die Abwehr rechtsnationaler Tendenzen der innerste Antrieb des enzyklopädisch gebildeten Großintellektuellen, der sich in jungen Jahren in einer von Alt-Nazis beherrschten Universitätslandschaft durchsetzen musste.

„Es musste etwas besser werden“, sagt Habermas (so auch der Titel des Buches), „und es lag an uns, ob sich die Welt zum Besseren verändern würde.“ Uns, das sind seine aus dem Exil heimgekehrten Kollegen von der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule: Adorno, Marcuse, Horkheimer, aber auch seine linksliberalen Mit-Studenten Karl-Otto Apel, Ernst Tugendhat und Michael Theunissen.

Wider die bleierne Zeit der Restauration

Im Gespräch mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos umkreist Habermas die Anfänge seiner wissenschaftlichen Biografie und die bleierne Zeit der bundesrepublikanischen Restauration, in der Habermas und sein Konzept einer auf die Demokratisierung der Gesellschaft und die Formulierung einer vernunftgeleiteten Kommunikation ausgerichteten Sozialwissenschaft wie ein Fremdkörper wirkte und als linksradikal diffamiert wurde.

Dabei hatte Habermas längst den ollen Marx neu interpretiert, auch Freuds Psychoanalyse und vor allem die US-amerikanischen Forschungen zur Linguistik und Sprechakt-Theorie in sein Werk einbezogen, Bücher verfasst, die heute legendär sind: „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, „Erkenntnis und Interesse“, „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“, „Theorie des kommunikativen Handelns.“

Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Im kollegialen Diskurs schreitet Habermas die wichtigsten Stationen seines Lebens und zentrale Begriffe seines Denkens ab, plädiert eindringlich für das Projekt der Europäischen Einigung, fordert ein entschlosseneres Handeln zur Verhinderung der Klimakatastrophe, kommentiert den völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine, mahnt Israel, bei seinem gerechtfertigten Krieg gegen den Terror der Hamas die zivilgesellschaftlichen Maßstäbe zu beachten, erinnert an die „Pflicht zum Gebrauch unserer Vernunft“. Habermas hat recht. Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Jürgen Habermas: „Es musste etwas besser werden.“ Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos. Suhrkamp, 254 Seiten, 28 Euro.




Abgründe der Liebe – „Das Buch der Schwestern“ von Amélie Nothomb

Die Liebe zwischen Nora und Florent ist ausschließlich und selbstsüchtig. Jeder andere ist ein Störfaktor, wenn sie sich mit Blicken verschlingen und vor Begehren kaum an sich halten können.

Was sollen sie mit einem Baby anfangen? Doch plötzlich haben sie eine Tochter, taufen sie auf den Namen Tristane, überlassen das traurige Wesen ganz sich selbst und seiner kindlichen Fantasie. Schnell merkt die einsame Tristane, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen muss.

Die schiere Lust an neuen Worten

Tristane bringt sich das Sprechen und Lesen bei, fängt Wörter mit einem imaginären Lasso ein: „Wenn sie hinreißende Wörter wie Tamburin oder Schaukelpferd aufschnappte, verfiel sie in helle Aufregung“, sie erschauerte vor Lust, „als sie zum ersten Mal so tollkühn war, das Wort Marienkäfer in den Mund zu nehmen; und als sie sich das Wort Gartenschlauch einverleibte, verging sie fast vor Entzücken.“

Amélie Nothomb, 1967 als Tochter eines belgischen Diplomaten im Japanischen Kobe geboren, ist in Frankreich und Belgien ein Literatur-Star, überrascht mit jedem Buch aufs Neue. Sie liebt feinsinnige Anspielungen und abgründige Irrfahrten durch die Welt der Worte, die mehr verbergen als aussagen. Ihren Geschichten haftet immer etwas Geheimnisvolles und Bizarres, Märchenhaftes und Absurdes an. In Leerstellen und im Unausgesprochenen stochern irritierte und zugleich entzückte Leser nach Bedeutung und Sinn der rätselhaften Romane.

Was die von ihren Eltern, die nur einander, aber sonst niemand anderen lieben können, vernachlässigte Tristane ertragen muss, um nicht im Meer der Einsamkeit unterzugehen, hat etwas Aussichtsloses und Traumatisches. Erlösung findet Tristane allein in der Liebe zu ihrer kleinen Schwester, Laetitia, ein fröhliches und unbeschwertes Wesen, das schon mit acht Jahren weiß, was sie einmal werden will: Gitarristin auf den Spuren von Jimi Hendrix und Jimmy Page und Sängerin in einer Hard-Rock-Band.

Die Eltern endlich verbannen

Ohne Laetitia, die sich selbstbewusst durchs Leben boxt und durch jeden Rückschlag nur noch stärker wird, würde Tristane, die von allen wegen ihrer Intelligenz geachtet, aber als „graue Maus“ von niemandem wirklich wahrgenommen wird, keinen Tag überleben und nicht alt genug werden, um im reifen Alter vielleicht doch noch ein spätes Glück zu finden und ihre selbstverliebten Eltern dahin zu verbannen, wohin sie gehören: in den Hades des Hasses und in den Orkus des Vergessens.

Überraschende Wendungen

„Das Buch der Schwestern“ ist eine raffiniert gebaute und sparsam erzählte Geschichte über die Abgründe der Liebe. Vieles von dem, was sich erst nur im Kopf der kleinen Tristane und später in ihrem von literarischen und erotischen Leidenschaften zerfressenen Leben ereignet, muss sich der Leser selbst zusammenreinem. An jeder Ecke wartet eine überraschende Wendung und ein stolpernder Neuanfang. Abenteuerreisen in die Literatur-Geschichte werden collagiert mit kernigen Rock-Songs; einfühlsame Liebesbriefe der Schwestern vermischen sich mit schmerzlichen Beleidigungen der Eltern.

Auch in gebildeten, gut bürgerlichen Familien lauert der Wahnsinn der Welt und die Verrücktheit der emotionalen Verlotterung. Die Vielschreiberin Amélie Nothomb, die fast jedes Jahr einen Roman herausbringt, hat ein schmales, aber ungemein reiches Buch geschrieben.

Amélie Nothomb: „Das Buch der Schwestern“. Roman. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Diogenes, Zürich 2024, 159 S., 23 Euro.




Die Welt als Todesacker – „Mein drittes Leben“

Sie hatte alles: eine riesige Wohnung, einen spannenden Beruf und eine tolle Familie. Doch dann zerbricht Lindas Leben in einem einzigem Moment. Sonja, die geliebte Tochter, passionierte Rennradfahrerin und lebensfroher Freigeist, wird auf dem Weg zu einem Arzttermin von einem Lastwagen überrollt und zermalmt.

Alles, was für Linda eine Bedeutung hatte, löst sich mit einem Schlag auf. Sämtliche Gewissheit, alle Kraft und jeder Lebenssinn verlässt die Frau, die eben noch eine gefragte Kunstkuratorin war und ein schillerndes Dasein führte. Sie ist untröstlich, taumelt ziellos durch die Tage, kann keine Kunstschönheiten und keine fröhlichen Menschen mehr ertragen. Sie verlässt Richard, ihren Mann, einen nur mäßig erfolgreichen Maler, der lustlos dem Brotberuf eines Lehrers nachgeht.

Wenn die Zukunft versinkt

Statt sich in teurem Outfit hübsch herausgeputzt in der Leipziger Kunst-Szene zu sonnen, hockt Linda jetzt allein auf einem alten Bauernhof, füttert die Hühner, mistet den Stall aus, kämpft gegen den Impuls, sich mit einer Überdosis Schlaf-Tabletten aus dem sinnlos geworden Dasein zu verabschieden. Sie spricht mit der toten Tochter, lässt immer wieder die letzten Momente Revue passieren, bevor Sonja die Wohnungstür hinter sich zuzog, auf ihr Rad stieg und in den Tod raste: „Daraus leitet sich seither alles ab“, murmelt die in selbstgewählter Einsamkeit vor sich hin fantasierende Linda. „Wie ein schwarzes Loch steht es im Zentrum meines Seins und schluckt jede Zukunft, bevor sie beginnen kann.“

Linda, Hauptfigur und Erzählerin von „Mein drittes Leben“, berichtet in schonungslosen und schmerzlichen Gedanken-Splittern und Erinnerungs-Sequenzen, wie sie in ein schwarzes Loch der Trauer versinkt. Jede Bewegung ist eine Last, schon das Aufstehen eine Qual, und nur schwer gelingt es ihr, wieder ins Leben und in so etwas wie eine Normalität zu finden.

Dieses fragile Leben

Daniela Krien, die in Leipzig lebende Autorin, die in ihrem Debütroman „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ die emotionalen Verwirrungen und politischen Verwerfungen der Wendezeit beschrieb und mit „Die Liebe im Ernstfall“ aus der Sicht fünf verschiedener Frauen einen fulminanten Besteller über die Verwicklungen der Liebe in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche landete, hat den Lesern immer schon einiges zugemutet. Ihre Figuren hatten stets einen Hang zu Selbstzerstörung und Melancholie. Krankheit und Tod lauerten im Hintergrund: das Leben ist ein fragiles Gebilde, das Glück nur ein Zufall, der Abgrund nur einen Schritt entfernt.

Jetzt legt die Autorin noch einmal kräftig zu und dreht an der Schraube seelischer Pein, körperlicher Beeinträchtigung und tödlicher Gewissheit. Mit scharfem literarischen Seziermesser zerschneidet sie sämtliche Fäden, mit denen die trauernde Linda, die sich immer tiefer in ihren Schmerz fallen lässt, noch am Leben hängt. Wenn sie sich nicht gerade mit Tabletten betäubt, grübelt sie sich durch ihr verkorkstes Leben, verstößt alle Menschen, die es gut mit ihr meinen, suhlt sich in ihrem Leid.

Überall wird gelitten

Dass die Medizin es schafft, den Krebs, der in ihr wuchert, zu besiegen, ist Linda eigentlich gar nicht recht. Gern würde sie sterben. So wie die alte Bäuerin, deren Haus sie nun bewohnt. Oder wie ihr treuer Gefährte, ein altersschwacher Hund, der sich irgendwann zum Sterben in den Hühnerstall legt. Ob ihr Mann, dem sie sich langsam wieder annähert und der seine Verzweiflung in seine Bilder hinein malt, dem Tod entgehen kann, bleibt offen. Kaum hat er die Chance, in einer bekannten Galerie auszustellen, sucht auch ihn der Krebs heim.

Wohin Linda auch schaut, überall wird gelitten und gestorben. Eine Nachbarin hat, trotz Chemotherapie, nur noch wenige Monate zu leben. Lindas beste Freundin Natascha spielt, weil sie ihren Alltag nicht mehr bewältigen kann, mit dem Gedanken, zusammen mit ihrer schwerbehinderten, aber musikalisch hochbegabten und mit einem absoluten Gehör ausgezeichneten Tochter Nine aus dem Leben zu scheiden. Hinter der penibel geschminkten Fassade von Lindas Mutter, die nach der Wende in den Westen und in die Arme eines reichen Mannes floh, liegt der Schutt der Selbstverleugnung.

Ein unheimlicher Sog

Wenn man glaubt, es reicht, packt Krien noch ein Elend dazu, sieht mit Lindas Augen das Leben als apokalyptischen Reigen und die Welt als staubigen Todesacker. Nebenbei werden Kuschel-Pädagogik, sprach-politisch korrekte Bevormundung und küchenpsychologische Ratgeber im Orkus der zeitgeistigen Oberflächlichkeit versenkt.

Der Roman, der von Trauer-Ritualen und Identitäts-Suche, von Ort- und Heimatlosigkeit in einer unübersichtlichen Welt handelt, entwickelt einen seltsamen, unheimlichen Sog, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Vorangestellt ist dem Buch eine Zeile aus einem alten Song von DDR-Liedermacher Gerhard „Gundi“ Gundermann: „Wir wissen, dass alles, was kommt, auch wieder geht, warum tut es dann immer wieder und immer mehr weh?“

Daniela Krien: „Mein drittes Leben“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2024, 304 Seiten, 26 Euro.

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Info

Daniela Krien, geboren 1975 in Neu-Kaliß, einem Dorf bei Schwerin. In Hof an der Saale arbeitete sie zunächst als Zahnarzthelferin, studierte dann Kultur-, Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Ihre Karriere als Schriftstellerin begann sie mit „Später werden wir uns alles erzählen“ (2011), es folgten der Erzählband „Muldental“ (2014) sowie die Bestseller-Romane „Die Liebe im Ernstfall“ (2019) und „Der Brand“ (2021). Wie die meisten ihrer Figuren lebt sie in Leipzig. Sie hat eine schwerbehinderte, musikalisch hochbegabte und mit dem absoluten Gehör ausgezeichnete Tochter, deren Schicksal sich in „Mein drittes Leben“ spiegelt. (FD)




„Die Geschichten in uns“ – Leben und Schreiben des Benedict Wells

Immer wieder er hat seine Coming-of-Age-Story vom schüchternen Jungen in einem amerikanischen Provinzkaff der 1980er Jahre verändert und umgeschrieben, das ausufernde Manuskript radikal eingekürzt, an der Alltagssprache des Erzählers geschraubt.

Nächtelang hat er gegrübelt, warum er die Geschichte so wichtig findet und sie anderen mitteilen will, was sie mit seinem eigenen Leben zu tun haben könnte und ob die darin verwickelten Figuren vielleicht Gedanken und Wünsche von ihm selbst, dem Autor Benedict Wells, transportieren. Auch am Einstieg, mit dem er seine Leserschaft sofort neugierig machen, fesseln und nicht mehr vom Haken lassen will, hat er unzählige Male gefeilt.

Plötzlich ist alles ganz klar

Manchmal hatte er Angst, er kriege den Roman einfach nicht in den Griff und müsse ihn erst einmal für ein paar Jahre in die Schublade versenken. Dann plötzlich ist ihm alles ganz klar, er weiß, dass alles gut werden wird und tippt ohne zu wissen, wie ihm gerade geschieht, den ersten Satz in seinen Computer, der alles auf den Punkt bringt und den Kern des Buches enthält, das ein paar Monate später unter dem Titel „Hard Land“ herauskommt, ein Riesenerfolg werden und ihm einige Preise einbringen wird: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“

Den vorbelasteten Namen abgelegt

Der 1984 in München geborene Benedict Wells gehört zu den herausragenden Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Sein vierter Roman („Vom Ende der Einsamkeit“) stand mehr als anderthalb Jahre auf der Bestsellerliste und wurde in 38 Sprachen übersetzt. Für „Hard Land“ bekam er den Deutschen Jugendliteraturpreis. Dass es einmal so kommen würde, hatte der Autor, der sich aufgrund der Nazi-Verstrickungen seiner Familie von seinem eigentlichen Nachnamen (von Schirach) verabschiedete, sich eine neue Identität zulegte und sich – zunächst ohne jede Aussicht auf Anerkennung – ganz dem Schreiben hingab, nicht erwartet.

Noch dazu genau der richtige Verlag

Mehrfach kappte er Freundschaften und Verbindungen, vagabundierte durch die Welt, lebte in Berlin und Barcelona, hielt sich mit Jobs über Wasser, arbeitete beharrlich weiter an seinen Texten, die damals niemanden interessierten. Dann waren die Jahre der selbstquälerischen Einsamkeit urplötzlich vorbei: Ein Literaturagent nahm sich seiner an und vermittelte ihn ausgerechnet an jenen Verlag, zu dem er immer wollte, weil dort all die Autoren erschienen, die er insgeheim anhimmelte.

Auch davon berichtet Benedict Wells jetzt in seinem autobiografischen Buch, in dem er über sein Werden und Wollen, seine Familien-Abgründe, literarischen Vorlieben und schriftstellerischen Ambitionen Auskunft gibt: „Die Geschichten in uns“ ist eine Expedition in die literarische Werkstatt des Autors. Wells öffnet Türen in sein Innerstes, zeigt seine Verletzlichkeit, nimmt uns mit auf die Suche nach neuen literarischen Möglichkeiten.

Wie Texte wirksam gekürzt werden

Manches liest sich wie ein Handbuch für Autoren, die lernen möchten, wie man verquasselte Texte auf das Wichtigste kürzt, Gedanken verdichtet und die Erzählperspektive wechselt, Figuren entwickelt und Themen variiert. Er fuhrwerkt in seinen eigenen Romanen und zitiert seine Lieblingsautoren. Joey Goebel gibt dem unsicheren Autor den Rat: „Eine wirklich starke Figur wird innerhalb des Buches geboren.“ Philip Roth rät ihm zur unbedingten Ausdauer: „Amateure warten auf Inspiration. Profis setzen sich hin und arbeiten.“

Wells verrät uns, warum er schreibt und warum wir lesen sollten: „Wir brauchen die Geschichten in uns, aber auch die von anderen, weil wir in ihnen unser Menschsein erkennen. Denn wieso fühlen wir uns auch von Texten verstanden, die nichts mit unserer Lebensrealität zu tun haben, deren Figuren aus anderen Ländern kommen und mit anderen Problemen kämpfen? Weil wir an Wahrheit interessiert sind und wissen wollen, wer wir sind.“

Benedict Wells: „Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben“. Diogenes, Zürich 2024., 401 S., 26 Euro.




Gruppendynamische Selbstbeschau – „Spiegelneuronen“ in Salzburg

Irritierende Spiegelungen des Publikums – Szene aus „Spiegelneuronen“ bei den Salzburger Festspielen. (Foto: SF / Bernd Uhlig)

Der Vorhang hebt sich, sofort geht ein Raunen durchs Publikum. Der Bühnenraum ist durch einen riesigen Spiegel verstellt, der jeden Zuschauer und jede seiner Bewegungen und Gefühlsausdrücke offenlegt. Wenn jemand seinem Ebenbild zuwinkt und dabei fröhlich grinst, machen bald auch (fast) alle anderen das nach. Wenn jemand mit den Armen rudert oder eine Wellenbewegung andeutet, wird schnell (fast) die ganze Menschenmenge zu einem sanft wogenden Einheitskörper.

Wenn jemand mit seinem Handy leuchtende Kreise formt, wird (fast) der ganze Saal zur sich selbst bespiegelnden Fangemeinde. Wenn jemand es nicht mehr auf den harten Holzstühlen aushält und zu den aus dem Off dröhnenden Rhythmen seinen Körper in Wallungen bringt, wird schlagartig (fast) das ganze Theater zum schweißtreibenden Dancefloor. Mitmachen ist das Motto des Moments. Empathie das oberste Gebot. Einfach mal das Gehirn ausschalten und sich den Synapsen der Abertausenden Nervenzellen überlassen, die uns zu Handlungen verführen, von denen unser Bewusstsein gar nichts weiß. Wer will, wo so viele Menschen sich ausgelassen selbst bespiegeln und zu einem ununterscheidbaren Menschenklumpen mutieren, noch abseits stehen und den Spielverderber geben?

„Dokumentarischer Tanzabend mit Publikum“

Die international gefeierte Tanz-Compagnie von Sasha Waltz und das für seine szenischen Interventionen bekannte Theater-Kollektiv Rimini Protokoll, das mit dokumentarischen Recherchen auch mehrfach in Mannheim und Heidelberg für Furore sorgte, hat sich für die Salzburger Festspiele ein ebenso faszinierendes wie befremdliches Kunst-Projekt ausgedacht: „Spiegelneuronen“ nennen sie ihren „Dokumentarischen Tanzabend mit Publikum“.

Getanzt im Sinne eines theatralisch-künstlerischen Körper-Ausdrucks wird allerdings nicht. Sasha Waltz und ihre Mitstreiter mischen sich lässig unters Publikum und animieren es zu gymnastischen Verrenkungen, kuriosen Blödeleien und absurden Imitationen. Der Mensch möchte gern ein unverwechselbares Individuum sein, ist aber doch ein Herdentier. Will geliebt sein und hat Angst, aus der Gemeinschaft  ausgestoßen zu werden. Das ist, sagt uns eine Stimme aus dem Off, genetisch bedingt: Wurde man von seinem Stamm aus der Höhle geworfen, kam das einem Todesurteil gleich.

Erklärstimmen aus Psychologie und Soziologie

Die erklärenden Stimmen von Neurologen, Psychologen und Soziologen begleiten die theatralische Versuchsanordnung, bei der das Publikum selbst zum Akteur und Gegenstand des Interesses wird. Mehr als ein paar Gemeinplätze kommen aber nicht zu Gehör. Dass der Mensch durch Nachahmung lernt und sich ständig in einem Konflikt zwischen Anpassung und Aufruhr befindet, dass unsere Gefühle oft verrückt spielen und unser Handeln nicht zu unserem Denken passt, wussten wir schon vorher. Auch dass wir gern Teil einer Gruppe sind, obwohl wir auf unsere Selbständigkeit pochen, war uns nicht unbekannt. Müssen wir, um daran erinnert zu werden und uns bei der Selbst-Bespiegelung auch ein wenig lächerlich zu machen, wirklich ins Theater gehen?

Für Rimini-Protokoll-Konzeptkünstler Stefan Kaegi, der diesmal für Regie und Konzept verantwortlich zeichnet, ist die Antwort klar. Für das Theater interessiert er sich sowie nicht: „Das eigentliche Schauspiel findet in der Diskussion danach als zentrales Element gemeinsamen Erlebens statt.“ Statt wie sonst in ihren Dokumentar-Recherchen Theater-Laien als „Experten aus der Wirklichkeit“ auf die Bühne zu bringen und alte und neue Texte aus der Sicht von „Alltags-Experten“ neu zu verhandeln, wird jetzt das Publikum selbst zum Zentrum der Aufführung.

Wie leicht sich die Masse Mensch manipulieren lässt

Selbst wenn man (wie der Verfasser dieser Zeilen), das ganze Treiben kopfschüttelnd beäugt und eher abgestoßen davon ist, wie leicht sich die Masse Mensch manipulieren lässt, entwickelt der Abend doch auch einen optischen und akustischen Reiz. Gelbe Luftballons schweben durch den Raum und befördern den kindlichen Spieltrieb. Grelle Scheinwerfer suchen sich einzelne Personen und beleuchten, wer sich wohl fühlt im Gruppengemenge oder am liebsten fliehen möchte. Gemeinsam mit den Armen wedeln und herumzuhopsen und sich dabei über sein Spiegelbild zu wundern, ist für die meisten in Ordnung. Dem Vorschlag aber, den fremden Sitznachbarn zu berühren und Körpergrenzen zu überschreiten, mag nicht jeder nachkommen.

Den unterhaltsamen und neckischen, aber auch ziemlich überflüssigen Abend beschließt der Radiohead-Song „Creep“: ein Widerling („creep“) ist in ein wunderschönes, unnahbares Mädchen verliebt. Der „Spinner“ („weirdo“) würde so gern auch einen perfekten Körper haben, fragt sich aber: „What the hell am I doing here?“ Ja, was mache und was will ich eigentlich hier in diesem Theater der Selbstbespiegelung?

„Spiegelneuronen“, Salzburger Festspiele (Deutschlandpremiere am 29. August im Radialsystem Berlin).

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Zur deutsch-schweizerischen Künstlergruppe Rimini Protokoll gehören Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel.

Rimini Protokoll entwickelt theatralische Interventionen und szenische Installationen, bei denen Laien auftreten, die keine Dramen-Texte spielen, sondern sich selbst als „Experten aus der Wirklichkeit“ und „Alltags-Spezialisten“ mit ihrer Biografie einbringen.

In der Kunsthalle Mannheim haben sie die Installation „Urban Nature“ (2022) gezeigt, im Heidelberger Kunstverein die Ausstellung „Drei Fliegen mit einer Klappe“ (2010).

Mit ihrer Version von „Wallenstein“ (2005) waren sie bei den Schillertagen in Mannheim, auch „Call Cutta in a Box“ (2008) haben sie als „Interkontinentales Telefonstück“ im Nationaltheater Mannheim inszeniert.

 

 




Gegen Diktatur half keine Kunst – Durs Grünbeins Kriegsbuch „Der Komet“

Mit 16 hat Dora bäuerliche Armut und dumpfe Enge ihrer schlesischen Heimat verlassen und ist mit ihrem Freund, dem Metzger Oskar, nach Dresden gezogen. Sie leben bescheiden und erschaffen ihren beiden Töchtern ein kleinbürgerliches Paradies.

Das Geld reicht aus, um in den Tierpark zu gehen und die Kunstschätze der Kulturmetropole zu bewundern. Von Politik halten sie sich fern. Das Gebrüll Hitlers ist ihnen suspekt. Vor dem Schicksal der mitleidlos vertriebenen Juden schließen sie aber die Augen. Und die mit dem Krieg am Horizont aufziehende Katastrophe wollen sie nicht wahrhaben. Obwohl die Front näher rückt und viele deutsche Städte bereits in Schutt und Asche liegen, glauben sie an die Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit ihrer glorreichen Stadt.

Dann, in der Nacht auf den 13. Februar 1945, geschieht das Unfassbare: „Mit einem tiefen, gleichmäßigen Brummen kündigte sich das Unheil an, ein gigantischer Schatten senkte sich über die Stadt, der Flügel einer großen Umnachtung.“ Während die Sirenen Alarm schlagen, schweben Fliegende Festungen der Alliierten Richtung Elbtal, öffnen Klappen und Schächte und klinken aus, was sie mitgeführt haben und abliefern sollen: „das ganze perfekt aufeinander abgestimmte Arsenal für ein konzertierten Flächenbombardement, darauf berechnet, den finalen Feuersturm zu entfachen.“

Durch die Ruinen der Stadt irren

Die mit Scharlach auf der Quarantänestation des Dresdner Krankenhauses untergebrachte Dora wird diesen „Weltuntergang“ überleben. Während die Erde bebt, die Häuser zu Staub zerfallen und zehntausende Tote am Wegesrand liegen, wird Dora durch die Ruinen der Stadt irren und sich zu ihren von einer Freundin ins nahe gelegene Pirna gebrachten Kinder durchschlagen. Auch Oskar, der als Koch seinen Dienst an der Ostfront leistet und Zeuge vielfacher Morde ist, entkommt der Apokalypse.

Von seinem Großvater und von seiner Mutter, die als kleines Mädchen beinahe von Sowjet-Soldaten nach Russland verschleppt wurde, hat der in Dresden geborene und sein langem in Berlin und Rom lebende Durs Grünbein in seinem Erinnerungsbuch „Die Jahre im Zoo“ berichtet. Jetzt, in seinem Roman „Der Komet“, steht die Überlebens-Geschichte der Großmutter im Mittelpunkt seines Interesses.

Geblendet vom früheren Ruhm

Der Büchner-Preisträger webt einen literarischen Teppich aus den Erinnerungen und Erlebnissen der Großmutter und seinen eigenen politischen und historischen Recherchen. Grünbein entwirft das Bild einer ebenso starken wie naiven Frau, das Porträt einer Stadt, die sich vom Ruhm der Vergangenheit blenden ließ, und das Sittenbild eines Volkes, das durch Willkür und Gewalt gleichgeschaltet wurde und den nationalsozialistischen Terror geduldet und mitgetragen hat.

Weder märchenhafte Mythen, noch die Schönheit der Kunst oder die „formvollendeten, endgültig ausgereiften Verse“ haben geholfen, das Unfassbare zu verhindern. Gegen Diktatur und Barbarei helfen weder die Kunstschätze im Grünen Gewölbe noch die im Villenviertel „Weißer Hirsch“ geschmiedete Poesie. Seit 1910 am Himmel der Komet Halley erschien und nur knapp an der Erde vorbei schrammte, hat sich die Angst vorm Weltuntergang tief ins Gedächtnis gegraben. „Jetzt kommt er, der Komet, das alles verheeren wird“, denkt Dora, als der Feuersturm losbricht. Und Grünbein ergänzt trocken: Nun ist „der Spaß zu Ende“, erfährt man, was das heißt: „der totale Krieg.“

Durs Grünbein: „Der Komet“. Suhrkamp-Verlag, 286 S., 25 Euro.




Entdeckung der Gelassenheit – „Das kleine Haus am Sonnenhang“ von Alex Capus

„Als ich noch ein ziemlich junger Mann war, nicht mehr Student und noch nicht Schriftsteller, habe ich für fast kein Geld im Piemont ein kleines Haus gekauft.“ Das marode Gemäuer, versteckt in einem Seitental an einem Sonnenhang gelegen, ist schwer und bei schlechtem Wetter nur zu Fuß zu erreichen. Es zieht durch alle Fugen und Ritzen, aber in den Augen des neuen Besitzers ist es genau das Richtige, um auszusteigen und sich neu zu erfinden.

Denn der junge Mann, der bisher ziellos durchs Leben geisterte und sich mit journalistischen Arbeiten über Wasser hielt, will seinen ersten Roman schreiben und Schriftsteller werden. Zwei, drei Jahre lang wird er sich in die Einsamkeit zurückziehen, die Ruhe genießen und die Gelassenheit entdecken, die er braucht, um aus seiner überbordenden Fantasie ein Buch zu formen. Irgendwann wird es fertig sein, dann wird er über verschneite Wiesen ins Tal hinabsteigen und ein neues Leben beginnen.

Schönheit der kleinen Dinge

Mit „Das kleine Haus am Sonnenhang“ entwirft Alex Capus nicht nur eine Philosophie der Langsamkeit und besingt die Schönheit der kleinen Dinge, er führt uns auch durch die schlingernden Pfade seines Daseins und öffnet die Tür in seine literarische Werkstatt. Capus, inzwischen längst ein Autor mit Bestseller-Garantie, beschreibt mit sanfter Ironie, wie er sich das schriftstellerische Handwerk selbst beibrachte und langsam begriff, dass Schreiben und Leben zwar zusammengehören, aber nie dasselbe sind.

Während er an seinem ersten Roman bosselt, in den Schreibpausen Reparaturen an seinem Haus vornimmt und manchmal ins nächste Städtchen wandert, in einer mit flackernden Neonröhren notdürftig beleuchteten Bar ein Glas Wein trinkt und mit den immergleichen Besuchern die immergleichen Gespräche führt, denkt er darüber nach, ob und wie ein Autor seine Biografie verwenden, verfremden und in Literatur verwandeln kann. Oder wie er das Chaos und den Zufall, der sein Leben beherrscht, in eine logische Kette von Wahrscheinlichkeiten verbiegen kann, die dem Leser glaubwürdig erscheint.

Als die Welt sich langsamer zu drehen schien

Reflektierend reist er durch die Weltliteratur und macht gelegentlich Station bei seinen eigenen, späteren Romanen. Wer würde ihm schon abnehmen, dass er – was der Wirklichkeit entspricht – fünf Söhne hat? Also belässt er es in einem autobiografisch grundierten Romane lieber bei drei. Wovon das Buch handelt, an dem Capus in seinem „kleinen Haus am Sonnenhang“ schreibt, bleibt im Ungefähren. Wichtiger ist, welche Gedanken ihm beim Schreiben durch den Kopf gehen oder wie er Macken und Marotten der kleinen Leute in dieser weltabgewandten Gegend (nicht ohne nostalgische Reminiszenzen) einfängt; damals, Mitte der 1990er Jahre, als mobile Telefone noch die Ausnahme waren, als man noch überall und immer rauchen durfte, an den Tankstellen noch persönlich bedient wurde und die Welt sich nur sehr langsam zu drehen schien.

Capus hat damals begriffen, was Zufriedenheit bedeutet, wie man Glück findet und ein gelassener Mensch wird: Warum sollte er ständig eine neue Pizza ausprobieren, wenn doch seine geliebte Pizza Fiorentina völlig in Ordnung ist? Und was bringt es, auf einer Urlaubsinsel täglich nach anderen Stränden zu suchen, wenn der eine – meistens gleich der erste – bereits gut genug ist und völlig ausreicht?

Alex Capus: „Das kleine Haus am Sonnenhang“. Hanser, München 2024, 160 Seiten, 22 Euro.




Loslassen lernen – Bernhard Schlinks Roman „Das späte Leben“

Martin ist sechsundsiebzig und blickt auf eine erfolgreiche Karriere als Jurist und Uni-Professor zurück. Spät hat der notorische Junggesellen noch das kleine private Glück gefunden.

Warum sich die viel jüngere Ulla, eine lebenslustige Frau und Malerin abstrakter Bilder, mit denen Martin nichts anzufangen kann, sich für den verschlossenen Juristen entschieden hat, ist ihm ein Rätsel. Doch er genießt ihre Liebe und freut sich jeden Tag darauf, Sohn David in den Kindergarten zu bringen und nebenbei noch als Autor von juristischen Aufsätzen gefragt zu sein.

Es bleiben nur wenige Wochen

Doch von einer Sekunde auf die andere zerbricht die Idylle, sind alle Träume von einem geruhsamen Alter dahin. Die Diagnose seines Arztes lautet: Bauchspeicheldrüsen-Krebs im Endstadium. Was fängt er an mit den wenigen Wochen, die ihm bleiben? Wie verabschiedet er sich und was kann er hinterlassen? Wie wäre es, wenn er seinem Sohn zeigt, wie man nachhaltig kompostiert? Soll er beim Buchhändler eine größere Geldsumme hinterlegen, damit David sich jederzeit mit neuem Lesestoff versorgen kann? Und ist es nicht eine schöne Idee, einen langen Brief zum kurzen Abschied zu schreiben, in dem er seinem Sohn die Welt erklärt, über Gott und Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit, Leben und Tod philosophiert?

Unaufgeregtes Erzählen, nah am Klischee

Wie sein literarischer Wahlverwandter, so hat auch Bernhard Schlink eine juristische Karriere hinter sich: Uni-Professor, Richter am Verfassungsgericht in Nordrhein-Westfalen, Gutachter am Bundesverfassungsgericht. Irgendwann fing er an, Krimis zu schreiben und startete dann mit dem (auch erfolgreich verfilmten) Roman „Der Vorleser“ (1995) international durch. Seine Bücher haben eine Bestseller-Garantie, das dürfte auch für seinen neuen Roman „Das späte Leben“ gelten. Bei Schlink weiß jeder, was er bekommt: unaufgeregtes, klassisches Erzählen, sympathische Figuren mit kleinen Macken und Marotten, eine Handlung, die ganz leicht am Klischee vorbei schrammt, mit Pathos ins Menschlich-Allzumenschliche driftet, nach einigen Wendungen zu einem harmonischen Ende findet.

Martin muss noch viel lernen, bevor er mit sich im Reinen ist und sich aufs Sterbebett legen darf. Dass er glaubt, noch als Toter die Zukunft seines Sohnes mitbestimmen zu können, indem er ihm Aufgaben und Briefe hinterlässt, geht seiner Frau gehörig auf die Nerven: „Deine Hand, deine Gedanken, dein Brief, deine Bücher, dein Kompost – alles dein. So kann es nicht bleiben. David muss dich loslassen, er muss sich finden – und mich. Warum machst du es mir so schwer? Es macht mir Angst.“

Auf sanfte Weise übergriffig

Klar, dass Martin Läuterung verspricht und Ulla schließlich besänftigen kann. Nett, dass er seiner Gattin einen Seitensprung verzeiht, den Liebhaber aufsucht und ihn bittet, sich nach seinem Tod um Ulla und David zu kümmern und gut zu ihnen zu sein. Aber ist das nicht auch schon wieder etwas übergriffig? Auch dass er, ohne seine Frau einzuweihen, eine Detektei beauftragt, nach ihrem verschollenen Vater zu suchen, hätte er wohl besser mit ihr absprechen müssen. Aber alles nicht so schlimm. Die Liebe heilt alle Wunden. Sterben heißt: Frieden schließen. Das ist zwar ziemlich kitschig, aber auch irgendwie tröstlich.

Bernhard Schlink: „Das späte Leben“. Roman. Diogenes. Zürich 2023, 240 Seiten, 26 Euro.




Auf den Spuren des Unnahbaren – Karl Ove Knausgard über Anselm Kiefer

Mit seinem sechsbändigen autobiografischen Roman-Projekt „Mein Kampf“ wurde Karl Ove Knausgard zu einem der wichtigsten Schriftsteller der Gegenwart. Der norwegische Autor hat wohl kaum je eine Zeile geschrieben, die nicht auf seinen eigenen Erlebnissen und Erfahrungen beruht und ein Spiegel seiner Gedanken und Wünsche ist.

Als er in London eine Retrospektive mit Werken von Anselm Kiefer besucht, ist er erschüttert und zugleich fasziniert. Wie kann es sein, fragt sich Knausgard, dass Bilder von blutbefleckten Schneelandschaften, dunklen Wäldern und leeren Äckern, bedeckt mit Stroh und Asche, von Blei übergossen, mit krakeligen Schriftzeichen versehen, Bilder, in denen keine Menschen vorkommen, „trotzdem randvoll mit dem Menschlichem aufgeladen“ sind? Wo kommen all die verstörenden Werke her, die einem das Gefühl geben, „die Existenz an sich zu sehen“? Was treibt den Künstler an, wo ist „Kiefer in seiner Kunst?“

Fünf Jahre lang auf der Suche

Fünf Jahre wird Knausgard versuchen, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, sich dem Unnahbaren zu nähern und einen Zusammenhang zwischen Leben und Werk zu suchen. Von 2015 bis 2020 wird Knausgard den Künstler immer wieder interviewen, mit ihm durch seine gigantischen Ateliers in Paris und Barjac schlendern, ihm beim Erschaffen seiner Werke beobachten, ihn bei Vernissagen treffen, bei seinen Vorträgen im Saal sitzen, er wird seine früheren akademischen Lehrer befragen und mit Kiefer die Orte der Kindheit aufsuchen. Fünf Jahre wird Knausgard brauchen, bis er endlich eine Form findet für seinen Artikel, der im „New York Times Magazine“ erscheinen und Grundlage des Buches wird, das Titel „Der Fluss und der Wald“ trägt.

Kiefer ist nicht nur in einer von Wäldern und Flüssen geprägten Landschaft rund um Donaueschingen aufgewachsen, in einem Land, das alles daran setzte, die verbrecherische Vergangenheit in Schweigen zu hüllen. Dass Kiefer mit einer Kunst-Provokation bekannt wurde, als er in den einst von Nazi-Truppen besetzten Gebieten den Hitler-Gruß zeigte und die verdrängte Vergangenheit in einer umstrittenen Performance heraufbeschwor, war vielen unbequem. Dass in seinen Werken der Wald für das Unbewegliche und Geheimnisvolle, der Fluss für das Veränderliche und Grenzenlose steht, könnte, muss aber nicht sein.

Mit dem Fahrrad durch Kunst-Lagerhallen

Was legt der Künstler, der mit dem Rad durch seine Kunst-Lagerhallen von einem angefangenen Bild zum anderen radelt, der in seinen mit Fundstücken vollgestopften Ateliers wohnt und die Orte seiner Kunst selbst zu Kunstwerken macht, von sich und seinem Leben in die Kunst hinein? Was verraten die Wälder und Wiesen seiner Kindheit oder die Tatsache, dass der kleine Anselm jahrelang bei seiner Großmutter und nicht bei seinen Eltern wohnte, über sein Werk, in dem die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit aufgehoben ist?

Nach vielen Begegnungen und Gesprächen meint Knausgard, dass Kiefers Kunst außerhalb dessen ist, was er sagt und denkt: Sie ist „der Ort, in den er hineingeht, wenn er Schicht auf Schicht aus Farbe, Blei, Stroh, Asche auf die Leinwand aufträgt. Ein Ort, der in ihm und außerhalb von ihm ist. Ein Ort, an dem Mythologie, Geschichte, Religion, Literatur, Dinge und Landschaften zusammengeführt werden, und der Sinn, der dabei entsteht, ist unendlich, denn er wird von jedem Einzelnen und jeder Einzelnen aktiviert, der und die ihn sieht.“

Karl Ove Knausgard: „Der Wald und der Fluss. Über Anselm Kiefer und seine Kunst.“ Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, München 2023, 186 S., 25 Euro.




„Mut zu einem ganz neuen Anfang“ – David Grossmans Plädoyer für Frieden im Nahen Osten

Wenige Tage nach dem 7. Oktober 2023, als Terroristen die Grenze zu Israel überwanden, ein Massaker an Juden verübten und zahlreiche Geiseln nach Gaza verschleppten, schwankt David Grossman zwischen Entsetzen und Ohnmacht. Seit Jahren hatte der israelische Autor sich gegen die Besatzung ausgesprochen, Frieden und eine Zweistaaten-Lösung angemahnt.

„Was jetzt geschieht“, schreibt er, sei ein „Alptraum“ und zeige „den Preis, den Israelis zu zahlen haben, weil sie sich jahrelang von korrupten Politikern verführen ließen“, die „das Justizwesen, das Erziehungswesen wie auch die Armee unterhöhlten und bereit waren, uns alle existenziellen Gefahren auszusetzen, um den Ministerpräsidenten vor einer Gefängnisstrafe zu bewahren.“

Doch bei aller „Wut auf Netanjahu, seine Leute und sein Vorgehen“ dürfe man sich „keiner Täuschung hingeben: Die Gräueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen aufs Konto der Hamas. Wohl ist die Besatzung ein Verbrechen, aber Hunderte von Zivilisten zu überwältigen, Kinder, Eltern, Alte und Kranke, und dann von einem zum anderen zu gehen und sie kaltblütig zu erschießen – das ist ein noch viel schwereres Verbrechen.

Die furchtbare Hierarchie des Bösen

Auch im Bösen gibt es eine Hierarchie. „Wenn man die Hamas-Terroristen auf Motorrädern sieht, wie sie junge Leute, von denen einige noch ahnungslos tanzen, einkreisen, um sie dann unter Jubelgeschrei wie Wild zu jagen und zu erlegen – ob man sie Bestien nennen sollte, weiß ich nicht, ihr menschliches Antlitz aber haben sie zweifelsohne verloren.“ Israel, das weiß er sofort, wird den Terror mit Krieg beantworten, und er vermutet: „Das Land wird nach dem Krieg sehr viel rechter, militanter und auch rassistischer sein“. Ängstlich fragt er: „Ist die winzige Chance auf einen wahren Dialog, auf ein irgendwie geartetes Abfinden mit der Existenz des jeweils anderen Volks nun für einige Jahre auf Eis gelegt worden, oder ist diese Aussicht womöglich auf ewig eingefroren?“ Dabei müsse doch jedem, der die Spirale der Gewalt durchbrechen will, klar sein: „Frieden ist die einzig Option.“

Was Grossman eine Woche nach dem „Schwarzen Schabbat“ formulierte, ist jetzt in einem Band mit Aufsätzen und Reden nachzulesen. Schon am 16. November 2023 fordert er in einer „Trauerrede für die Terroropfer“, den Hass zu überwinden und den „Mut zu einem ganz neuen Anfang“ aufzubringen.

Wie kann das denn funktionieren?

Grossman bleibt seiner Rolle als Friedensstifter treu. Bereits auf der „Münchner Sicherheitskonferenz“ von 2017 wies er darauf hin, dass der unablässige blutige Konflikt die Beteiligten „dermaßen deformiert, dass sie ihren eigenen existenziellen Interessen zuwiderhandeln.“ Die Politiker flehte er an: „Ich bitte Sie, alles zu tun, was in Ihren Kräften steht, um die beiden Seiten zusammenzubringen und den Dialog zu erneuern, dem beide schon seit Jahren mit der seltsamen Logik der Selbstzerstörung aus dem Weg gehen.“

Doch niemand mochte Grossman folgen. Dass seine Appelle nicht unumstritten sind, zeigt eine „Korrespondenz“ zwischen dem deutsch-iranischen Schriftsteller Navid Kermani und dem israelisch-deutschen Soziologen Natan Sznaider: Auf Kermanis Plädoyer für einen Frieden durch eine Zweistaaten-Lösung entgegnet Sznaider: „Wie kann denn so ein Palästina innerhalb von Gaza und Westbank funktionieren? Wie sollen sie denn in einem solchen Staatsgebilde leben? Da muss ja fast schon automatisch das Begehren bei den Palästinensern frei werden, dann doch lieber alles haben zu wollen. Ich sehe im Moment jenseits des Krieges keine Lösung und glaube nicht mehr an die Kompromissbereitschaft der anderen Seite. Der Terror wird weitergehen und somit auch die Reaktion auf den Terror.“ Bittere Aussichten.

David Grossman: „Frieden ist die einzige Option.“ Aus dem Hebräischen von Anne Birkenbauer und Helene Seidler. Hanser, 63 Seiten. 10 Euro.

Navid Kermani/Natan Sznaider: „Israel. Eine Korrespondenz“. Hanser, 64 Seiten, 10 Euro.

 




„Ich will leer sein, einfach leer“ – Jon Fosses Literatur als Gottesdienst

Gott benötigte sieben Tage, um Licht in die Dunkelheit zu bringen und die Welt zu erschaffen. Der norwegische Autor Jon Fosse braucht 1200 Buchseiten, um die Gnade Gottes zu erlangen, die düstere Welt eines von Schmerz und Leid gepeinigten Künstlers zu erhellen und ihm Erlösung zu schenken.

In Fosses „Heptalogie“, einem auf drei Bücher  angelegten Roman-Zyklus, dreht sich alles um Werden und Vergehen, Leben und Tod des Malers Asle. Er ist Anfang sechzig, trägt, wie der Literaturnobelpreisträger, einen grauen Pferdeschwanz, und ist, wie Jon Fosse, zum Katholizismus konvertiert. Asle ist nicht nur das verfremdete Alter Ego des Autos, er hat auch selbst noch einen Doppelgänger gleichen Namens, der die dunkle Seite künstlerischer Kreativität und Selbstzerstörung verkörpert, dem Suff verfallen ist und in der Gosse landet. Der von Gott beseelte Asle findet den verwahrlosten Kollegen leblos in der Kälte.

Die „glücklichsten Stunden als Schriftsteller“, sagte Fosse in seiner Nobelpreis-Rede, habe er erlebt, „als der eine Asle den anderen Asle im Schnee findet und ihm so das Leben rettet.“ Überhaupt „habe ich schon immer gewusst, dass Dichtung Leben retten kann, vielleicht hat sie auch mir das Leben gerettet“, meinte Fosse und beendete seine Rede mit dem Bekenntnis: „Ich danke Gott.“

Die „Heptalogie“ ist der Versuch, „das Unsagbare herbeizuschreiben“, die „Stille“ zu beschwören, in der man „Gottes Stimme hören“ kann. Nach „Der andere Name“ und „Ich ist ein anderer“ nun also das Finale: „Ein neuer Name“. Doch es geschieht nichts Neues. Immer wieder sitzt Asle im Lieblingsstuhl seiner verstorbenen Ehefrau Alse, blickt über den Fjord, erinnert sich an wichtige Wegmarken und prägende Begegnungen in seinem Leben. Immer wieder fährt er über vereiste Straßen zu seinem Galeristen in die Stadt. Er  bringt ihm seine letzten Bilder. Denn Asle ist leer gemalt und wartet auf Erlösung.

Jedes Kapitel der „Heptalogie“ beginnt mit fast den gleichen Sätzen: „Und ich sehe mich dastehen und das Bild mit den Strichen anschauen, einer ist lila, einer braun, sie kreuzen sich in der Mitte.“ Sie bilden das Andreaskreuz, weisen auf Gott, wie alles im Denken und Handeln des Malers Asle und seines Erfinders Fosse: „Ich sehne mich nur noch nach Stille, alle meine Gedanken sollen weg sein, und alle in meinen Erinnerungen angehäuften Bilder, die mich so plagen, sollen weg sein und ich will leer sein, einfach leer, ich will zu einem stillen Nichts werden, zu einem stillen Dunkel und vielleicht denke ich dabei ja an Gottes Frieden“, denkt Asle und betet den Rosenkranz, während seine Gedanken sich in einem endlosen Strom auflösen, sich überlagern und jedes Zeitgefühl verschwinden lassen.

Wie die Vorgänger, so ist auch „Ein neuer Name“ ein Rebellion gegen die Hektik der Moderne, eine Meditation über den Glauben und die Kunst als Gottes Gnadengeschenk. Jedes Kapitel der mit vielen Kommas, aber ohne jeden Punkt dahingleitenden Roman-Folge endet mit einem „Vaterunser“: „…dann sage ich immer und immer wieder, während ich tief einatme Herr und während ich langsam ausatme Jesus und während ich tief einatme Christus und während ich langsam ausatme Erbarme dich und während ich tief einatme Meiner“.

Alles wiederholt sich endlos in dieser vom mittelalterlichen Meister Eckhart inspirierten Reflexion über Glaube, Liebe, Hoffnung und die Allgegenwart Gottes. Nachdem er mit einem alten Fischerboot über den Fjord zu einer Insel übergesetzt hat, darf Asle endlich ein Leuchten in der Dunkelheit erblicken und dem Tod begegnen: „…und ich denke, ich, das, was in mir ich ist, kann niemals sterben, denn es ist nie geboren“.

Da geht es Asle wie dem namenlosen alten Mann, der – ohne zu wissen, warum – in sein Auto steigt, losfährt, irgendwann in einen tiefen dunklen Wald einbiegt und sich festfährt, dort stundenlang im Schneetreiben umherirrt und schließlich „Ein Leuchten“ findet: Gemeinsam mit den halluzinierten Visionen seiner toten Eltern geht er „barfuß hinaus ins Nichts, Atemzug um Atemzug, und plötzlich gibt es keinen einzigen Atemzug mehr, nur noch die glänzende, schimmernde Gestalt, die in einem atmenden Nichts leuchtet, das jetzt wir atmen, von ihrem Leuchten.“ Die kurze Erzählung bringt die in der „Heptalogie“ vielfach variierte Suche nach Erkenntnis und Erlösung noch einmal auf den konzentrierten Punkt. Literatur als Gottesdienst, eine irritierende Herausforderung.

Jon Fosse: „Ein neuer Name“. Heptalogie VI-VII. Roman. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, Hamburg 2024, 304 Seiten, 30 Euro.

Jon Fosse: „Ein Leuchten“. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, Hamburg 2024, 78 Seiten, 22 Euro.

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Zum Katholizismus konvertiert

Jon Fosse, geboren 1959 in Haugesund/Norwegen, wuchs auf einem Bauernhof auf. Seine Eltern waren Quäker. Ein Nahtod-Erlebnis in früher Kindheit prägt sein Leben und Schreiben bis heute. Der vom Glauben des mittelalterlichen Dominikaners Meister Eckhart genauso wie von den Seins-Philosophen Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein beeinflusste Autor konvertierte 2013 zum Katholizismus und betet jeden Tag, wie die Hauptfigur in seiner „Heptalogie“, den Rosenkranz. International bekannt wurde Fosse durch seine mehr als 30 Theaterstücke, die weltweit aufgeführt werden. Für seine Roman-Zyklen „Trilogie“ und „Heptalogie“ bekam der Autor viele Auszeichnungen, 2023 den Literaturnobelpreis. Fosse lebt heute in der Künstlerresidenz Grotten bei Oslo, in Frekhaug bei Bergen und im österreichischen Hainburg an der Donau.

 

 

 




„Also hieß es wieder Koffer packen“ – Erinnerungen des Theatermannes Jürgen Flimm

Schon als kleiner Kölner Junge ist Jürgen Flimm rettungslos dem Theater und der Musik verfallen, er singt im Knabenchor und liebt kindliche Rollenspiele. Im Schlepptau seiner Großmutter besucht er die städtischen Bühnen und Konzerthallen. Die Freikarten werden ihnen von einem Onkel zugesteckt, der als Organist und Journalist in der Domstadt sein kulturelles Unwesen treibt.

Jürgens Vater ist tagsüber Mediziner und verbringt abends als Theater-Arzt viele Stunden im Dunstkreis der Bühnen. Kaum verwunderlich, dass es auch den jungen Studenten Jürgen magisch zur Kunst und zur Avantgarde zieht. Von Dada ist es nicht weit zu Fluxus, von Kurt Schwitters und Hans Arp ist es nur ein Steinwurf zu Karlheinz Stockhausen, Joseph Beuys, Pina Bausch und Samuel Beckett. „Keine Frage, ich wollte Regisseur werden, was das auch immer war. Wie aber lernt man das? Und wo?“

Ein Weltbürger aus Köln

In seinen „Erinnerungen“, an denen Jürgen Flimm lange gefeilt hat und die jetzt (ein Jahr nach seinem Tod) erschienen sind, beschreibt der 1941 geborene Theater- und Opern-Berserker, der an vielen Bühnen Spuren hinterließ, mit rheinischem Humor, wie er zum künstlerischer Weltbürger wurde. Geradezu larmoyant schreitet er wichtige Stationen seines von Erfolgen und Niederlagen gezeichneten Weges durch die internationale Bühnenwelt ab, lässt nebenbei die Namen von unzähligen Kollegen wie Brosamen vom Kultur-Tisch fallen, skizziert Intention und Machart seiner Inszenierungen, die ihm oft Einladungen zum Berliner Theatertreffen bescherten.

Tief steigt Jürgen Flimm hinab in die Abgründe und Intrigen der Kulturpolitik, die ihn immer wieder sprachlos machten, deren Spiel er aber furios beherrschte. Wäre Flimm, dem das Genialische fehlte, sonst als Intendant ans Kölner Schauspielhaus und ans Hamburger Thalia Theater berufen worden, zum Leiter der Ruhrtriennale und der Salzburger Festspiele und zum Intendant der Berliner Staatsoper geworden? Flimm wusste, wie man bei Sponsoren Geld locker macht, Politiker umgarnt und Schauspieler bezirzt.

Mannheim – welch ein Irrtum!

Vieles ist ihm, der sich alles hart erarbeiten musste, gelungen. Sein Bayreuther „Ring“ war denkwürdig, seine Arbeiten an der Met in New York sorgten für Furore. Doch einige bittere Pillen musste auch er schlucken: Seine Zeit als Spielleiter an der Salzach (2006-2010) bezeichnet er freimütig als „Fehler“, den kurzen Abstecher (1972/73) nach Mannheim als „Unglück“: Der damals noch ziemlich unbekannte Flimm hatte Rosinen im Kopf, sagte sich: „Geh doch erst mal in die Provinz, da lernst du, abseits der Metropolen. Da kannst du in der Abgeschiedenheit sorgsam vor dich hin werkeln. Welch ein Irrtum!“ Flimm und das Ensemble, besoffen von Mitbestimmungs-Ideen, Kollektiv- und Kommune-Idealen, „scheiterte dann aber schnell an der städtischen Kulturbürokratie und der Verantwortungsphobie des Generalintendanten“. Die Inszenierungen zündeten nicht, die Stimmung wurde frostig.

Dazu kam ein privates Unheil, als nur drei Wochen nach der Geburt sein kleines Kind starb. Flimm und seine damalige Ehefrau, die Schauspielerin Inge Jansen, entschlossen sich zur „hastigen Flucht“ aus Mannheim: „Also hieß es wieder Koffer packen.“ Weiter ziehen. Irgendwo wartete bestimmt eine neue Herausforderung, eine neue Inszenierung von Büchners „Leonce und Lena“, die ihn schon als Student in einem Kölner Kellertheater faszinierte und die er später immer wieder – auch in New York – inszenierte. Mit leichter Hand und feinem Schmunzeln erzählt Flimm davon in seinen „Erinnerungen“, deren Titel („Mit Herz und Mund und Tat und Leben“) er sich bei Johann Sebastian Bach und seiner wunderbaren Kantate „Jesus bleibet meine Freude“ ausgeliehen hat. Flimm griff eben immer gern ins ganz große Regal. Schade nur, dass der Verlag auf ein Namens- und Inszenierungs-Verzeichnis verzichtet hat.

Jürgen Flimm: „Mit Herz und Mund und Tat und Leben. Erinnerungen.“ Kiepenheuer & Witsch. Köln 2024, 350 Seiten, 26 Euro.




Beethoven nach dem Bombenhagel – Sasha Waltz choreographiert das Grauen des Krieges

Ensemble-Szene aus der „Beethoven 7″-Choreographie von Sasha Waltz. (Foto: © Sebastian Bolesch/Radialsystem)

Nebelschwaden empfangen das Publikum. Es wabert und wölkt, zischt und dampft aus allen Rohren. Mühsam schälen sich menschliche Silhouetten aus dem grauen Nichts: fremdartige Wesen mit riesigen Masken, die vielleicht von einem andern Stern oder aus den Abgründen unserer Fantasie kommen. Aliens des Bösen, die wie ferngesteuerte Kampfmaschinen wirken.

Manche tragen Brustpanzer, die an die Westen von Selbstmord-Attentätern erinnern. Sie verklumpen sich zu grotesken Körperskulpturen. Mit dem anschwellenden Bocks-Gesang ihrer ritualisierten Ekstase werden auch die zirpenden und zischenden Klänge immer lauter. Bässe wummern, Trommeln wirbeln, steigern sich zu einem Kakophonie der Katastrophe. Manche können den ohrenzerfetzenden Lärm und den Bombenhagel der atonalen Misstöne nicht mehr ertragen und verlassen fluchtartig den von musikalischem Krieg und tänzerischer Entgrenzung künstlerisch verminten Saal. Was tödliche Wirklichkeit für die von russischem Dauerbeschuss drangsalierten Menschen in der Ukraine ist, wird in der Choreographie von Sasha Waltz und der Musik von Diego Noguera zum ästhetischen Erlebnis, zum perfiden Schein. Muss das sein?

„Freiheit/Extasis“ nennt der in Chile geborene und seit Jahren in Berlin lebende Musiker Diego Noguera sein elektronisches Klang-Experiment, zu dem Sasha Waltz mit ihrem 13-köpfigen Ensemble vergeblich nach einem tänzerischen Ausdruck sucht: Viel Lärm und schweißtreibende Gymnastik um ein geschmackloses Nichts, das ohne Ohrenstöpsel kaum auszuhalten ist. Jetzt kann nur noch Beethoven helfen und uns aus dem Jammertal der musikalisch-tänzerischen Tränen befreien.

Für den Kultursender Arte hat Sasha Waltz 2021 in der antiken Tempelstätte von Delphi für zwei Sätze aus Beethovens 7. Sinfonie eine Choreographie entworfen, die den klanglichen Reichtum und die romantische Freiheits-Perspektive der mit rhythmischen Leitmotiven und mit hüpfenden, suggestiv-tänzelnden Elementen auftrumpfenden Komposition überzeugend einfing. Jetzt erweitert sie ihre szenische Beethoven-Weihe zu einem sinfonisch-tänzerischen Gottesdienst; zu einer Ton-Aufnahme unter Leitung von Teodor Currentzis schwebt und schreitet ihre Compagnie fröhlich und freiheitstrunken durch den vom Nebel des Krieges befreiten Raum im Berliner Radialsystem: „Beethoven 7“ feiert die Schönheit des Körpers und die Synchronität der Bewegungen. Arme werden gen Himmel gereckt, heiße Blicke ausgetauscht, Paare finden sich, Passenten schlendern vorbei, wagen ein ausgelassenes Tänzchen. Doch die zwischen französischer Revolution und europäischer Restauration eingeklemmte Welt, die den fast ertaubten Beethoven beim Komponieren 1811/12 umgab, ist fragil, der Frieden ein frommer Wunsch, die Freiheit ein schöner Schein.

In der Stille zwischen dem dritten und vierten Satz zerbricht die Idylle, verkantet sich ein einsamer Tänzer, reißt alle anderen mit sich in die Tiefe der Ungewissheit. Die harmonisch fließenden Bewegungen zerfasern, die Einigkeit der Liebenden löst sich auf. Nur schwer können die vereisten Körper ihre Erstarrung überwinden und der Fahne der Freiheit folgen, die von einer Tänzerin enthusiastisch geschwungen wird und den Weg in die Zukunft weist. Nach dem verkorksten Auftakt mit Noguera ist Beethoven die Rettung.

Sasha Waltz & Guests: „Beethoven 7“ und „Freiheit/Extasis“. Berlin, Radialsystem. Aufführungen wieder am 31. August sowie am 1., 2. und 3. September.

www.radialsystem.de




Aufrecht in den Feuertod: „Sardanapal“ nach Lord Byron an der Berliner Volksbühne

Eher Zauderer und Schöngeist als Wüstling: Szene mit Fabian Hinrichs als „Sardanapal“. (Foto: © Apollonia Theresa Bitzan / Volksbühne)

Seine Schauspiel-Karriere startete Fabian Hinrichs einst an der Berliner Volksbühne. Mit Frank Castorf und René Pollesch hat er manch wüste Theaterschlacht geschlagen. Auch wenn er inzwischen zum Film- und Fernseh-Star und „Tatort“-Kommissar avanciert ist, kommt er immer wieder gern an die Stätte seiner ersten Triumphe zurück. Jetzt sogar als Regisseur und Schauspieler in Personalunion. Er hat ein fast vergessenes Werk ausgegraben und inszeniert an der Volksbühne ein von Lord Byron verfasstes Drama: „Sardanapal“.

Es ist eine historische Tragödie des Dichters und Erotomanen, der für seine Affären mit Männern und Frauen berüchtigt und ein notorischer Abenteurer und glühender Verfechter nationaler Freiheits-Bestrebungen war. Als Vorlage dient der Assyrerkönig Sardanapal, doch Byron verwandelt den prunksüchtigen Wüstling in einen zögerlichen Schöngeist, einen Hamlet im orientalischen Gewand, der sich nicht dazu aufraffen kann, den Putschisten, die ihn ermorden und sein Königreich vernichten wollen, mit dem Schwert entgegen zu treten. Statt zu handeln sucht er lieber auf einem selbst errichteten Scheiterhaufen den Feuertod.

Gegen jede Form von Herrschaft

Zusammen mit Lilith Stangenberg feiert Hinrichs nun ein Fest der Fantasie, eine groteske Theater-Burleske mit Musik und Tanz. Bevor Sardanapal zum entrückten Typen wird, der jede Form von Herrschaft und Unterdrückung ablehnt, sich selbst und sein Reich der toxisch verminten Männlichkeit abschaffen möchte, lassen es alle noch mal richtig krachen: Damit das schön laut und bunt wird, bietet Hinrichs viele Musiker und Tänzer und ein gut gelauntes Jugend-Sinfonieorchester auf.

In einem endlosen Vorspiel tanzt Hinrichs zu lautem Punk wilden Pogo und bollert gegen den geschlossenen Eisernen Vorhang. Wenn der sich hebt, hockt Lilith Stangenberg missmutig in einem Supermarkt an der Kasse und fertigt die Kunden ab, bis Hinrichs auftaucht und sie nach ihren Träumen fragt. Flugs wirft sie ihren Alltagstrott ab, wünscht sich in südliche Gefilde, suhlt sich im Sand und sagt Gedichte auf, während sie von Musikern und Tänzern umzingelt wird.

Durch die Fantasiewelt tanzen

Hinrichs mutiert derweil zu einem Apostel des Pop, malträtiert sein Schlagzeug und singt, begleitet von Sir Henry am Klavier, von „Sex & Drugs & Rock´n´Roll“. Irgendwann werden die Potemkinschen Fassaden des Supermarkts abgeräumt, wird die Bühne in ein Märchen aus Tausendundeinenacht verwandelt, werden König Sardanapal und seine Gattin Myrrhe in orientalische Gewänder gekleidet und in eine Fantasiewelt aus bunten Tüchern und sanften Kissen entlassen. Während tanzende Rebellen Schwerter schwingen, genießt Sardanapal die erotischen Spiele in seinem Harem, süffelt köstlichen Wein und lehnt es ab, zu fliehen. „Ich will keine Angst haben!“ ruft er und nimmt noch schnell ein labendes Bad. Dann ist die Party vorbei, und er stolziert aufrecht in den Flammentod.

Ganz großes Kino. Fast möchte man eine Träne verdrücken, doch schon setzt das eben noch tieftraurige Orchester neu an und intoniert Abba: „Dancing Queen“. Da müssen dann alle mitsingen und mittanzen bei diesem als Theater getarnten Kindergeburtstag. Der Versuch, eine Bühnen-Leiche zu reanimieren, als Lebenselixier der Freiheit wieder zu entdecken und als subversive Flaschenpost in die Gegenwart zu schmuggeln, ist dann doch nicht viel mehr als ein Rohrkrepierer.

Berlin, Volksbühne: „Sardanapal“ (Fabian Hinrichs nach Lord Byron). Nächste Vorstellungen: 19. und 24. Juni.




Unterm Baum ist alles möglich: Tschechows „Möwe“ an der Berliner Schaubühne

„Die Möwe“: Szene aus Thomas Ostermeiers Inszenierung mit Stephanie Eidt und Joachim Meyerhoff. (Foto: Gianmarco Bresadola / Schaubühne)

Welch grandioser Anblick! Eine gigantischer Baum steht wuchtig auf der Spielfläche und ragt in den Bühnenhimmel. Die Äste schwingen weit in den Raum hinein, die raschelnden Blätter schweben über den Köpfen des Publikums. Tribünen umzingeln den romantisch-verwunschenen Ort, an dem alles möglich scheint: Liebe und Hass, Neid und Eifersucht und natürlich der ewige Streit zwischen den Geschlechtern, der Kampf zwischen alt und jung, konventioneller Kunst und revolutionärem Aufbruch.

Hier, wo die Vögel fröhlich zwitschern, lässt es sich wunderbar verweilen und träumen, hier, wo die Sonne alles in mildes Licht tauscht, kann man sich verlieben und trennen, beleidigen und wieder versöhnen. Plötzlich zerreisst das grollende Donnern eines Kampfjets den weltflüchtigen Scheinfrieden, lässt das ritualisierte Gerede über neue Formen in der Kunst verstummen, die Gefühlswallungen der Liebenden erstarren. Ein kurzer, irritierender Moment. Dann geht alles wieder seinen gewohnten Gang. Würde nicht der unter emotionalem und intellektuellem Dauerdruck stehende Dichter Konstantin sich eine Kugel in den Kopf schießen, könnte das Leben sogar gut und schön sein.

Thomas Ostermeier inszeniert Tschechows „Die Möwe“ an der Berliner Schaubühne als luftig-verspielten, manchmal sogar komischen Sommernachtstraum. Zwar orientieren sich Handlung und Text weitergehend an Tschechows Text. Doch die Schauspieler dürfen sich ihren eigenen Reim machen und sich ihre Rollen nach Gusto zurechtbiegen. Vor allem Joachim Meyerhoff nutzt die Freiheit und zeichnet mit feiner Ironie und fahrigen Gesten einen schnoddrigen und zynischen, mit sich selbst und der Welt hadernden Großdichter Trigorin. Meyerhoff, im Nebenbenberuf selbst erfolgreicher Schriftsteller, kennt die Nöte eines Autors, den es an den Schreibtisch drängt und der vor Schreibdruck kaum je zum eigenen Erleben kommt, nur zu gut. Ständig fummelt er mit losen Zetteln herum, auf denen er alles, was er sieht und hört, notiert. Seine unterwürfige Liebe zur überdrehten Schauspiel-Diva Arkadina (Stephanie Eidt) oder seine romantisch verklärte Affäre mit Nina (Alina Vimbai Strähler), die gern so frei wäre wie die Möwe im esoterischen Text des frustrierten Bühnen-Brausekopfs Konstantin (Laurenz Laufenberg): Alles ist für Trigorin nur Material für mögliche neue Erzählungen und Theaterstücke.

Ob Meyerhoff in hautenger Unterhose halbnackt zum See watschelt, um zu angeln, oder ob er sich literweise Bier in die vom rhetorischen Firlefanz ausgetrocknete Kehle schüttet: Alles gerät ihm zur urkomischen und zugleich tragischen Slapsticknummer der Vergeblichkeit. Neben seiner raumgreifenden Präsenz und sprachlichen Raffinesse wirken alle anderen wie Statisten, unfertige Figuren, die um ihre Daseinsberechtigung kämpfen und sich in zu kurz gesprungene Klischees flüchten.

Landhausbesitzer Sorin (Thomas Bading) ist ein zittrig-zeternder, lächerlicher Greis, der den verpassten Chancen seines langweiligen Lebens nachtrauert. Gutsverwalter Schamrajew (David Ruland) poltert mit Berliner Schnauze und blutbeschmiertem Schlachtermesser durchs kunstsinnige Getriebe. Die immer ganz in schwarz gekleidete Mascha (Hevin Tekin) ist ein trauriger Punk mit Null-Bock-Allüren. Warum auch nicht. Unter dem schützenden Dach des riesigen Baumes und seines üppig wuchernden Blätterwaldes ist alles möglich.

„Die Möwe“, die nächsten Vorstellungen am 18., 19., 20. und 21. Mai, Berlin, Schaubühne. Tickets unter 030/89 00 23, ticket@schaubuehne.de




Christoph Hein findet „Unterm Staub der Zeit“ Absurdes aus dem Kalten Krieg

Als Sohn eines Pfarrers wird dem vierzehnjährigen Daniel in der DDR Oberschule und Abitur verweigert. Wie schon sein älterer Bruder David, so wird 1958 auch Daniel von seinem Vater nach Westberlin geschleust, um dort in einem Schülerheim zu wohnen und das Gymnasium zu besuchen. Die Grenze zwischen Ost und West wird zwar bewacht, die Kontrollen sind lästig, aber noch ist es möglich, mit kleinem Gepäck und kleinen Lügen zwischen den politischen Blöcken hin und her zu pendeln.

Daniel wird sich schnell einleben in der ihm zunächst fremd erscheinenden Welt des kapitalistischen Westens. Mit seinen Mitschülern, die alle aus der DDR stammen und nur gelegentlich ihre Eltern im Osten besuchen können, erkundet er die Stadt, verdient sich als Zeitungsverkäufer ein Zubrot und gönnt sich in einer Billig-Kneipe am Kurfürstendamm auch mal eine Erbsensuppe und ein fades Bier. Wenn der amerikanisch Prediger Billy Graham die Massen verzückt, hört er aufmerksam zu, wenn Rock-Ikone Bill Haley den Sportpalast zum Kochen bringt, tanzt er mit.

Für den pubertierenden Jungen, der wenig von den Frauen und nichts von Sex, aber viel von Kunst und Literatur versteht, vergehen die Tage wie im Flug. Gern taucht er ab in die Welt seiner Romanhelden, manchmal feilt er auch an eigenen Theatertexten und schleicht sich in die Proben in der „Vagantenbühne“, ist fasziniert von den existenzialistischen Stücken, die man dort spielt, und ganz verzaubert von einer jungen Schauspielerin, die ihn mit auf ihr Zimmer nimmt und in die Kunst der Liebe einführt. Die große Politik scheint fern. Doch die Idylle ist brüchig. Als er gerade die Sommerferien bei seinen Eltern im Osten verbringt, wird Berlin abgeriegelt und die Mauer hochgezogen. Was tun? Schnell noch ein letztes Schlupfloch in den Westen suchen oder bleiben und ein neues, anderes Leben beginnen?

 „Unterm Staub der Zeit“ findet Christoph Hein manch bizarre Erinnerung an eine Jugend in Zeiten des Kaltes Krieges. Wer Leben und Werk des Autors kennt, merkt schnell, dass der neue Roman in weiten Teilen autobiografisch grundiert ist. Denn Hein, der 1944 im schlesischen Heinzendorf geboren wurde und nach Kriegsende in Bad Düben bei Leipzig aufwuchs, blickt auf einen ähnlichen Werdegang wie seine Roman-Figur Daniel zurück. Auch Hein wurde als Sohn eines Pfarrers in der DDR eine höhere Schulbildung verwehrt, er besuchte ein Gymnasium in Westberlin, wurde vom Bau der Mauer kalt erwischt, entschied sich, wie Daniel, für die DDR und begann, wie Daniel, eine Ausbildung als Buchhändler. Dass er später zum Schriftsteller avancierte und eine Zeitlang als Autor und Dramaturg an der Ostberliner Volksbühne tätig war, davon erzählt Hein in seinem autofiktionalen Roman (noch) nicht. Vielleicht beim nächsten Mal?

Die zwischen privaten Erlebnissen und politischen Erfahrungen klug balancierende Stofffülle ist auch genug für ein Buch und muss, um nicht auszuufern, verdichtet werden. Ohne in einen erklärenden oder belehrenden, larmoyanten oder zynischen Ton zu verfallen, erzählt Hein feinfühlig genau und oft mit feinem Humor, welche absurden Folgen die deutsch-deutsche Teilung für den Alltag der Menschen hatte. Aber auch, dass es immer irgendwie weitergeht; dass man als Lehrling in einer Buchhandlung überwintern kann, bis der richtige Moment kommt, um endlich Schriftsteller zu werden und eine ganz andere Geschichte anzufangen.

Christoph Hein: „Unterm Staub der Zeit“. Roman. Suhrkamp, Berlin. 224 Seiten, 24 Euro.




„Unser Geschäft ist die Fantasie“ – John Irvings Roman „Der letzte Sessellift“

Ob „Garp und wie er die Welt sah“, „Lasst die Bären los!“, „Bis ich dich finde“, „Letzte Nacht in Twisted River“: Alle Romane von John Irving wurden internationale Bestseller, manche auch erfolgreich verfilmt. Für das Drehbuch von „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ bekam Irving sogar einen Oscar. Seine Bücher sind oft viele hundert Seiten stark, auch der neue Roman, „Der letzte Sessellift“, ist mit 1079 Seiten gewichtig.

Irving greift noch einmal in die Trickkiste, entwirft ein üppiges Gesellschaftspanorama der USA, thematisiert die eigene Familiengeschichte und die politischen Abgründe Amerikas, beklagt die Bigotterie eines Landes, das Homosexuelle verfolgt, aber den von kirchlichen Würdenträgern begangenen Kindesmissbrauch vertuscht. Es gibt deftige Erotik, herbe politische Anklagen, bizarre Handlungsfäden, mit denen Irving meisterlich jongliert.

Wieder gibt es klein gewachsene Menschen und lange Passagen über das Ringen, jede Menge Sex, der zu unliebsamen Verletzungen führt, rätselhafte Familien-Verhältnisse und ungeklärte Vaterschaften, starke Frauen und schwache Männer, einen Erzähler, der in New Hampshire aufwächst und viele Jahre nach seinem Erzeuger sucht, also John Irving recht ähnlich ist: auch er ein passionierter Ringer, der mit einer starken, allein erziehenden Mutter aufwuchs und fast fünfzig werden musste, bis er die Identität seines Vaters herausbekam. Doch es gibt diesmal keine Bären, die einem die Hand abbeißen oder die man mit der Bratpfanne in die Flucht schlagen muss: dafür aber ein literarisches Alter Ego, das die USA nicht mehr ertragen kann, die kanadische Staatsbürgerschaft annimmt und – wie Irving – nach Toronto zieht.

Adam Brewster führt uns von seiner Geburt im Jahre 1941 bis in die direkte Gegenwart. Er hat eine kleinwüchsige Mutter, Rachel, genannt Little Ray, die eine erfolgreiche Ski-Läuferin war und bis ins hohe Alter als Ski-Lehrerin arbeitet. Bei einem Ski-Rennen in Aspen, da ist sie gerade einmal 18, lässt sie sich von einem Vierzehnjährigen schwängern. Sie benutzt den Jungen als Samenspender, denn sie ist lesbisch und lebt mit Molly zusammen, einer Pisten-Pflegerin und Ski-Retterin. Um die gesellschaftlich geächtete Beziehung zu kaschieren, heiratet sie pro forma einen Mann, der zu ihr passt: Auch er ist klein und schlüpft gern in Frauenkleider. Adam liebt dieses sensible Wesen abgöttisch. Er liebt auch die Großmutter, die ihm Melvilles „Moby-Dick“ vorliest und in die Geheimnisse der Literatur einweist, den dementen Großvater, der zum Kleinkind mutiert und in Windeln herumläuft. Er liebt Nora, seine lesbische Cousine: zusammen mit „Em“, die sich nur pantomimisch ausdrückt, tritt sie in einem New Yorker Comedy-Club auf, nimmt in ihrem Programm „Zwei Lesben, eine spricht“ die politischen und sexuellen Verirrungen in den Vereinigten Staaten aufs Korn und wird von einem homophoben Zuschauer während der Vorstellung erschossen.

Besonders absurd sind die Reisen, die Adam unternimmt, um seinen Vater kennenzulernen, einen kleinwüchsigen Schauspieler und Drehbuchautor, der in Aspen aufgewachsen ist und immer wieder an den Ort seiner Kindheit und ins Hotel „Jerome“ zurückkehrt. Als Adam im „Jerome“ absteigt, trifft er die Gespenster von Toten wieder, die er als Kind in seinen Alpträumen gesehen hat und die jetzt in der Bar abhängen und Country-Musik hören. Adam hat die Filme seines Vaters studiert, jetzt beschreibt er die Begegnung mit ihm als Drehbuch, mit Regie-Anweisungen, Dialogen, Voice-Over, Musik-Einspielungen: Ganz großes Kino, total abgedreht, allein diese Sequenzen lohnen die Lektüre des Romans, in dem Protagonisten aus dem Sessellift fallen und sich zu Tode stürzen, oder krank, alt und des Lebens überdrüssig nachts in eisiger Kälte auf dem Berg bleiben, sich mit Alkohol betäuben und den Freitod wählen, dann steif gefroren morgens mit dem Sessellift nach unten gebracht werden.

Das alles ist fürchterlich traurig, aber auch ungeheuer komisch. Zur großen Liebe seines Lebens sagt Adam einmal: „Es gibt einen Grund, warum wir Romane schreiben. Das wahre Leben ist zum Kotzen. Unser Geschäft ist die Fantasie.“ Damit ist der Roman so prall gefüllt, dass er fast überläuft.

John Irving: „Der letzte Sessellift“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg. Diogenes, Zürich 2023, 1079 Seiten, 36 Euro.

 




Von Unna bis Bangkok – Unbewohnbarkeit der Städte im fotografischen Langzeitprojekt

Der 1961 in Wolfsburg geborene Fotograf Peter Bialobrzeski ist ein kreativer Unruhegeist. Wenn der Foto-Künstler keine Uni-Seminare hält, ist er mit seiner Kamera unterwegs, erforscht die Geheimnisse der deutschen Kleinstädte und die Abgründe der globalen Mega-Metropolen. Seine Arbeiten werden weltweit ausgestellt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Seit einiger Zeit widmet er sich einem Langzeitprojekt: Die Stadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das Thema seiner „City Diaries“, mit denen er der Frage nachgeht, ob unsere Vorstellung vom Bild einer Stadt, gespeist aus Vorurteilen, Vorgefundenem und medial Vermitteltem, in ein spezifisches Bild überführt werden kann. Die Bibliothek der „City Diaries“ umfasst inzwischen 19 Bücher.

Die Reiseroute seiner Foto-Safaris scheint keinem Muster zu folgen, ein Auswahl-Prinzip ist nicht erkennbar. Manche Stadterkundung mag im Zusammenhang mit Einladungen zu Vorträgen und Ausstellungen entstanden sein. Wissen will er, wie sich die Globalisierung auf die Architektur der Stadt auswirkt und kulturelle Unterschiede eingeebnet werden, wie Menschen ihre Stadt bewohnen und sie sich aneignen.

Unschärfen vor grauem Himmel

Bialobrzeski war in Kairo und Athen, Taipeh und Beirut, Wuhan und Osaka, Dhaka und Yangon, Minsk und Belfast. Für seine jüngsten „City Diaries“ hat es ihn von der deutschen Provinz bis ins ferne Asien verschlagen – von Unna über Sarajevo bis nach George Town und Bangkok. Er kennt keinen kulturellen Dünkel und keine Berührungsängste, das Kleine ist ihm genauso wichtig wie das Große, das Detail genauso lieb wie das Gesamtbild. Sein fotografisches Erkenntnis-Interesse ist im besten Sinne egalitär und demokratisch.

Format (14 x 21 Zentimeter) und Umfang (96 Seiten) aller Bände sind identisch und unterliegen einer strengen Systematik. Die Fotos scheinen auch immer auf dieselbe Art und Weise nachbearbeitet zu sein. Immer ist der Himmel leer und grau, immer scheinen die Städte von einer feinen Staubschicht bedeckt uu sein, immer werden die Fotos mit langer Belichtungszeit geschossen oder mehrere ähnliche Fotos ineinander montiert, so dass alles, was sich bewegt, egal ob Mensch oder Auto, etwas Verwischtes und Unscharfes, etwas Nicht-Fassbares bekommen.

Scheußliches Durcheinander

Der Fotograf logiert in einem Hotel mitten in der Stadt und erweitert von Tag zu Tag seinen Radius, bis er in die angrenzenden Vororte und an die ausufernden Ränder vordringt. Er fotografiert nie die touristischen Highlights, ein bekanntes Rathaus, ein wichtiges Museum, eine kulturelle oder architektonische Besonderheit, die jeder mit der Stadt in Verbindung bringen würde. Sein Interesse zielt auf das alltägliche Getriebe und Gewusel: Er beobachtet, wie sich Menschen durch das von jeder Idee und jedem Sinn befreite Chaos der städtischen Infrastruktur bewegen; wie sie achtlos an Bauwerken vorbei hetzen, die scheußlicher kaum sein könnten; wie sie das Durcheinander von alten Bauten und neuen Läden, von grellen Werbeplakaten und bunten Straßenschildern ausblenden; wie sie die überall sichtbare Verwahrlosung des öffentlichen Raumes vollkommen gleichgültig ertragen. Wie sie es irgendwie schaffen, ihren Alltag zu meistern, zu leben zwischen glitzernden Hochhausfassaden und verdreckten Hinterhöfen, schicken Einkaufszentren und ihren von Autobahnen brutal durchschnittenen Wohnvierteln. Und wie sie sich kleine Oasen des Friedens schaffen und dem größten Lärm mit ein paar grünen Pflanzen und weißen Plastikstühlen trotzen, die überall auf der Welt gleich aussehen, auf denen man aber ausruhen und miteinander ins Gespräch kommen kann.

Kultureller Kahlschlag als globales Phänomen

Am Beginn eines jeden Fotobandes stehen ein paar allgemeine Notizen. Die Fotos selbst werden nicht beschrieben oder kommentiert, sie einzuordnen und zu verstehen ist allein die Aufgabe des Betrachters. Im „Bangkok Diary“ notiert der Fotograf: „Die Stadt hat sich dramatisch verändert. Sie verwandelt sich in ein anderes Singapur mit Skywalks, klimatisierten Einkaufszentren und Kaffeeständen im westlichen Stil. Es ist jetzt einfacher, in den Straßen der Hauptstadt von Siam einen Vanille-Latte zu kaufen als ein Pad Thai.“

Bei seinem Aufenthalt in George Town beschreibt er kopfschüttelnd, welch fatale Wirkungen gut gemeinte Hilfe haben kann, wenn eine Stadt zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt wird: „Aufgrund des Privilegs hat das alte George Town jetzt einen ständigen Strom an Touristen, die Cafés im westlichen Stil suchen, die dort Cappuccino, Kuchen und Bagels anbieten. Ich finde es immer wieder seltsam, dass Menschen Tausende von Flugmeilen zurücklegen und dabei tonnenweise CO2 ausstoßen, um dann in Kneipen zu landen, von denen sie zu Hause genug haben.“ Er hat keine Illusionen über die Dominanz des kapitalistischen Konsums und des kulturellen Kahlschlag der Globalisierung.

Rätselhaft, wie Menschen das ertragen können

Irritierend: die Normalität der Verwahrlosung und Verwüstung, die Gleichgültigkeit der Menschen und die Unbewohnbarkeit vieler Stadt-Areale. Sarajevo: eine bizarre Mischung aus Beton-Brutalismus der siebziger/achtziger Jahre und verspieltem Backsteindekor, auch gibt es Ruinen und Grabfelder aus dem Bürgerkrieg direkt neben modernen Glaspalästen und farbenfrohen Werbeflächen, Kirchen und Moscheen direkt neben Fitnessstudios und Wettbüros. Bangkok: ein labyrinthisches Gewirr aus Kabeln und Leitungen, die über den Köpfen der Menschen schweben, an dürren Masten hängen und sich wie dünne Lebensadern durch die ganze Stadt ziehen. George Town: eine groteske Melange aus asiatischen und europäisch-amerikanische Elementen, Pagoden-Bauten neben Kolonial-Villen, chinesischen Schriftzeichen neben Werbung für Nescafé. Unna im Corona-Lockdown: ein optischer Alptraum, eine menschenleere Einöde, ein ideenloses architektonisches Nichts aus alten Fachwerkhäusern und grauem Beton. Rätselhaft, wie Menschen das ertragen und aushalten können.

Im Herbst 2023 werden vier neue Bände der „City Diaries“ erscheinen. Bialobrzeski entführt uns dann nach London und Turin, Vilnius und Wilson (North Carolina), beobachtet und fotografiert wieder auf seine Weise vom Zentrum zur Peripherie ausschreitend und präsentiert seine Ansichten und Einsichten wieder im gleichen Format und Umfang: Was richtig und wichtig ist, sollte man nicht ändern.

Peter Bialobrzeski: „City Diaries“ (Langzeitprojekt, bisher 19 Bände). Neu bei Hartmann Books erschienen: „George Town“, „Unna“, „Sarajevo“, „Bangkok“. Jeder Band hat 96 Seiten und kostet 22 Euro.




Furchtlosigkeit, Demut und Liebe – Helga Schubert über den Alltag mit ihrem demenzkranken Mann

„Darum sorgt nicht für den andern Morgen“, heißt es bei Matthäus (Kapitel 6, Vers 34), „denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“

Diese Bibel-Zeilen stellt Helga Schuber ihrem neuen Buch voran: „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“ konzentriert sich ganz auf das Hier und Jetzt, das Schöne und das Schreckliche des Moments. Es ist ein Buch, das furchtlos und bewegend beschreibt, wie Liebe und Leid Hand in Hand gehen, wie qualvoll es ist, seinen schwer an Demenz erkrankten Ehemann zu pflegen, einen ehemals starken Kerl und klugen Kopf, der jetzt ans Bett gefesselt ist und sich einnässt, der seine Frau oft nicht wieder erkennt und seltsame Dinge vor sich hin brabbelt.

Helga Schubert ringt ihre Notizen dem Alltag ab und kann sie nur nachts in den Laptop eingeben, wenn ihr Mann ein paar Stunden schläft und das an seinem Krankenbett platzierte Babyphone, mit dem sie jeden seiner Atemzüge überwacht, einmal Ruhe gibt.

Jahrzehntelang wurde das Werk von Helga Schubert kaum wahrgenommen. In der DDR war die Psychotherapeutin und Schriftstellerin wegen ihrer kritischen Haltung zum „realen Sozialismus“ und ihrer religiösen Bekenntnisse eine Außenseiterin. Im wieder vereinigten neuen Deutschland hatte man kein Ohr für die leise und nachdenkliche Stimme einer Autorin, die nur noch selten in ihrer Wohnung im hyperventilierenden Berlin war, sich lieber in ihr altes Haus mit dem verwunschenen Garten in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern verkroch, der Natur Respekt zollte und dem Leben Demut zeigte.

Als sie 2020 für ihren Geschichten-Band „Vom Aufstehen“ den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, war sie bereits 80. Aber noch 13 Jahre jünger als ihr Mann, der Psychologe, Maler und Schriftsteller Johannes Helm, der inzwischen schwer erkrankt ist und dem sie nun ihr neues Buch widmet. Denn die Liebe, die sie dem Mann, den sie im Buch nur „Derden“ nennt, nach unzähligen gemeinsamen Jahren immer noch entgegenbringt, ist durch nichts zu erschüttern. Nicht durch Katheter und Windeln, die ständig gewechselt werden müssen, und auch nicht dadurch, dass Helga Schubert kaum noch aus dem Haus kommt und fast jede Einladung zu Lesungen ausschlagen muss, weil sie niemanden findet, der sich ein paar Stunden oder gar für einen Tag um ihren Mann kümmern möchte. „Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute. Ist es morgens oder abends, fragt er mich dann.“

Manchmal ist Helga Schubert zornig und traurig. Dass die Politik die immer drängender werdenden Probleme von Alter, Krankheit und Pflege verdrängt, macht sie fassungslos. Meistens aber ist sie erstaunlich gelassen, erträgt ihr Schicksal, als sei es ihr von Gott aufgegeben. Als eine Ärztin zu ihr sagt: „Hören Sie auf, ihm so hohe Dosen Kalium zu geben. Damit verlängern sie doch sein Leben!“, denkt sie: „Was für eine Anmaßung gegenüber der Schöpfung. Als ob ich Herrin darüber sein dürfte. Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch ausatmen.“

Helga Schubert: „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“, dtv, München 2023, 268 Seiten, 24 Euro.




Berliner Baustellen-Blues: Pergamonmuseum schließt für einige Jahre

Licht und Schatten: Detail des Berliner Pergamonmuseums. (Foto: © SPK / Stefan Müchler)

Während draußen auf den Berliner Straßen die Nazis marschierten und Hitlers Machtergreifung herbei prügelten, suchte der junge Kommunist und angehende Schriftsteller Peter Weiss oft Zuflucht im damals neu erbauten Pergamonmuseum. Vor allem der Pergamonaltar hatte es ihm angetan. Immer wieder studierte er das gigantische Bauwerk aus dem 2. Jahrhundert vor Christi, das einst zur Residenz der mächtigen Könige von Pergamon gehörte und unter dubiosen Umständen in die deutsche Hauptstadt geschafft wurde.

Die auf dem Fries dargestellten Szenen vom ewigen Streit zwischen den Menschen und Göttern sowie die mühsam in den Stein gehauene künstlerische Kreativität waren für ihn Ausdruck der geschichtsbildenden Kraft des Klassenkampfes und der lichten Zukunft einer Freiheit, die ohne Kunst nicht auskommt. In seiner mehrbändigen „Ästhetik des Widerstands“ verwandelt er seine subjektiven Eindrücke in zeitlose Prosa.

Dass der Pergamonaltar schon seit acht Jahren verhüllt und Auftakt für eine Komplett-Sanierung des maroden Museums ist, hätte Peter Weiss sicherlich geschmerzt. Getröstet aber hätte ihn wohl der Gedanke, dass Modernisierung und Umbau des zwischen 1910 und 1930 auf der Museumsinsel errichteten Gebäudes sowie die Restaurierung der Kunstwerke bei laufendem Betrieb vonstatten gehen sollten und immer einzelne Bereiche des Hauses (in dem auch die Antiken-Sammlung, das Vorderasiatische Museum und das Museum für Islamische Kunst beheimatet sind) für das Publikum geöffnet bleiben sollten. Doch daraus wird nichts: Der schöne Plan ist Makulatur.

Überraschende Ankündigung

Überraschend verkündeten jetzt Hermann Parzinger (Stiftung Preußischer Kulturbesitz) und Barbara Große-Rhode (Bundesamt für Bauwesen) bei einer Baustellenbegehung den verdatterten Pressevertretern die vollständige Schließung des Pergamonmuseums: Schon ab Oktober 2023 wird eine der weltweit bedeutendsten Kunstsammlungen, die jährlich eine Million Besucher anzieht, über Jahre nicht mehr zu sehen sein. Der Pergamonaltar, das Ischtartor, die Prozessionsstraße von Babylon, das Markttor von Milet, die Fassade des Wüstenschlosses von Mschatta: Diese Wunder der Menschheitsgeschichte verschwinden hinter geschlossenen Türen, während das von Kriegsschäden und Wassereinbrüchen stark in Mitleidenschaft gezogene, auf schwammigen Grund und rissigem Fundament stehende Museum mit neuester Technik ausgestattet wird. In zusätzlich geschaffenen An- und Neubauten sollen die umfassenden Sammlungen neu sortiert und besser sichtbar gemacht werden.

Kostenpunkt mindestens 1,2 Milliarden Euro

Das bisher hufeisenförmige Gebäude bekommt einen neuen Flügel und wird einen Rundgang durch die verschiedenen Museumsbereiche ermöglichen. Im Kellergeschoss soll es eine archäologische Promenade geben und eine Verbindung zu den anderen Häusern auf der Museumsinsel. Veranschlagt sind Gesamtkosten von 1,2 Milliarden Euro, hinzu kommt ein Risikopuffer von 300 Millionen Euro für mögliche Baupreissteigerungen. Ein schöner Batzen Geld in Zeiten klammer Kassen. Für Hermann Parzinger, der dem Haus einen „supermaroden Zustand“ attestiert, und für Barbara Große-Rhode, die das von der Spree umspülte Gebäude als „havarieanfällig“ einschätzt, ist das alles aber alternativlos: „Dieses Gebäude hat einen bestimmten Anspruch. Den müssen wir mit unseren Bauarbeiten erfüllen. Wir müssen dieses Gebäude seinem Wert angemessen zukunftsfest machen.“

Damit Sanierung und Restaurierung, Um- und Neubau nicht in Gänze unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, haben die Chef-Planer ein paar Trostpflaster im Angebot. Der erste Bauabschnitt im Nordflügel, in dem sich auch der Hellenistische und der Pergamonsaal befinden, soll im Jahr 2027 wieder für Besucher geöffnet werden. Der Südflügel aber bleibt bis 2037 geschlossen: das Ischtartor und andere Wunderwerke bleiben also fast 15 Jahre lang für alle Kunst-beflissenen Augen unsichtbar.

Enttäuschung für Kultur-Touristen aus aller Welt

Doch nein, halt! Barbara Helwing, Direktorin des Vorderasiatischen Museums, verspricht für die Zeit der Schließung neuartige Vermittlungskonzepte, will die digitalisierten Objekte ihrer Sammlung in einen virtuellen Museumsrundgang verwandeln, der im Internet abrufbar sein soll. Auch eine Interims-Ausstellung einzelner Werke im nahe gelegenen Pergamon-Panorama sei geplant. Darüber hinaus, so Hermann Parzinger, wolle man einzelne herausragende Objekte als Botschafter in andere Museen in Berlin und auch weltweit verschicken, eine „Intervention“ im Hamburger Bahnhof und eine thematische Zusammenarbeit mit dem Kupferstichkabinett sei vorgesehen, eine Kooperation mit dem Louvre in Vorbereitung.

Klingt doch ganz nett. Aber was haben die aus aller Welt anreisenden Kunst-Touristen davon, wenn doch das Herzstück der jährlich von über 3 Millionen Besuchern bevölkerten Museumsinsel einer Baustelle gleicht und sie zentrale, ikonische Werke der Kunst-Geschichte nicht zu Gesicht bekommen? Außerdem kann heute ernsthaft niemand garantieren, dass die Kosten nicht noch ins Uferlose steigen und die Bauzeit sich noch um Jahre verlängern wird. Wie beim Humboldt-Forum oder dem Berliner Flughafen. Die Liste der nicht eingehaltenen Versprechungen ist lang. Der Berliner Baustellen-Blues ist doch immer für ein paar Überraschungen gut.

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Info

Das Pergamonmuseum gehört zum Bauensemble der Museumsinsel und zum Weltkulturerbe der UNESCO. Im Auftrag von Kaiser Wilhelms II. wurde es von Alfred Messel im Stil des Neoklassizismus geplant und von 1910 bis 1930 von Ludwig Hoffmann in vereinfachter Form gebaut. Im Rahmen eines „Masterplans“ zur Sanierung der stark beschädigten Gebäude auf der Museumsinsel, zu denen auch das Bode-Museum, das Alte und das Neue Museum gehören, wird derzeit das Pergamonmuseum für die geplante Summe von 1,2 Milliarden Euro (plus 300 Millionen Euro Risikopuffer) von Grund auf erneuert und umgebaut. Von Oktober 2023 an wird es komplett geschlossen. Bauabschnitt A soll ab 2027 wieder zugänglich sein, Bauabschnitte B erst 2037.