Sind Birnen besser als Äpfel? Hanns-Josef Ortheils Buch „Was ich liebe und was nicht“

Manche Schriftsteller schätzt man auf eine Weise, dass man auch mehr über den Menschen hinter den Büchern erfahren möchte. Hier naht eine Abhilfe: Der 1951 in Köln geborene Autor Hanns-Josef Ortheil versorgt uns in „Was ich liebe und was nicht“ gar reichlich mit Ansichten seiner selbst, mit höchstpersönlichen Bekenntnissen und Reflexionen.

042_87416_168537_xxl

Einige Beispiele gefällig? Bitte sehr, ich verkürze notgedrungen furchtbar ungerecht, doch im Duktus ist es nicht völlig verzerrt:

Mit dem Autofahren und dem Fliegen hat’s Ortheil nicht so, er nimmt lieber die Bahn – und verrät ausführlich, warum das so ist.

In einem umfangreichen Kapitel übers Essen erfahren wir einiges über seine kulinarischen Vorlieben und Abneigungen. Er mag, wie es sich schon auf dem Buchcover andeutet, z. B. lieber Birnen als Äpfel und ordnet weitere Sorten so zu: „Himbeeren sind das Obst der Maler und Dichter. Kirschen dagegen sind das Obst der Komponisten und Filmemacher.“ Es könnte Leser geben, denen das Jacke wie Hose ist.

Doch weiter: Ortheil bevorzugt jenes Hotel, das alle Wünsche flugs erfüllt, aber auch die spartanische Waldhütte ohne Stromanschluss.

Radio hält er für uneitler als Fernsehen. Telefonieren und Mails sind ihm ziemlich zuwider.

Geradewegs zum Verlieben findet er Kunst-Kuratorinnen – beim gemeinsamen Gang durch deren Ausstellungen.

Filme beeindrucken ihn meist mehr als Theater. Hingerissen ist er beispielsweise von Darstellerinnen wie Isabelle Huppert und Mariel Hemingway.

Auch erfahren wir, welche Sportarten Ortheil vorzieht: Schwimmen, Skilanglauf, Basketball, Tennis, Fußball? Raten Sie mal. Oder lesen Sie nach.

Oasengleiche Lieblingsorte werden ebenfalls aufgesucht und atmosphärisch geschildert – in Stuttgart, Köln und tief im Westerwald. Von Italien mal zu schweigen.

So geht es also kreuz und quer durch Lebens- und Kulturgefilde: Reisen, Liebe, Literatur, Musik, Filme, Kunst, Mode, Sport, Natur, Wohnen und Philosophie. Und noch etliche weitere. Ortheil schreibt quasi ein Kompendium über sich, dabei den Tonfall öfter wechselnd, damit es unterhaltsam bleibt. Mal gerät er ins Plaudern, mal fasst er sich und seine Themen ernster. Letzten Endes dreht sich das Buch um alles, was sich bei ihm festgesetzt hat, was ihn ausmacht.

Auch wenn er hie und da szenische oder lyrische Elemente einstreut, seine Präferenzen vielfach nachvollziehbar begründet, gekonnt ausschmückt und oft süffig beschreibt, so gibt es doch auch eher banal anmutende Passagen. Nicht alles ist ausgearbeitet, es findet sich sozusagen auch unbehauenes Rohmaterial, aus dem vielleicht später Romane oder Essays keimen werden. Wer weiß.

Muss man Ortheils privaten Kanon derart ausgiebig kennen lernen? Sollen denn gar keine Fragen mehr für beflissene Zuhörer(innen) bei seinen öffentlichen Lesungen mehr übrig bleiben?

Nun gut. Die germanistische und die feuilletonistische Zunft werden sich hier künftig bedienen und mehr oder weniger waghalsige Querverbindungen zum literarischen Werk ziehen können. Wer immer eine Ortheil-Biographie verfassen sollte, wird an dieser Buchvorlage schwerlich vorbeikommen.

Es ist ja auch beileibe vieles interessant und anregend, beispielsweise die Innenansichten des literarischen Schreiballtags oder auch der Vergleich des Schriftstellerlebens mit dem des Pianisten, als der Ortheil in seinen jüngeren Jahren sich verwirklicht hat – bis zu einem gewissen Grade.

Reizvoll sind auch Einblicke in den legendären Stipendiaten-Ort, die römische „Villa Massimo“, und Auslassungen über das raumgreifend großspurige Gehabe bildender Künstler dortselbst, neben denen unscheinbare Schriftsteller schier verblassen.

Doch natürlich mündet das Buch in ein beseeltes Lob des Schreibens als Gipfel der Künste. Eine Wendung, die man füglich erwarten durfte. Wie denn überhaupt Hanns-Josef Ortheil längst für Bücher bekannt ist, die für ihn und uns hoffnungsvoll ausgehen. In diesen Zeiten ist das ja fast schon ein Alleinstellungsmerkmal.

Hanns-Josef Ortheil: „Was ich liebe und was nicht“. Luchterhand Verlag. 366 Seiten. 23 Euro.




Irrtum oder Plagiat? – Eine winterliche Spurensuche zwischen Goethe und Rosenkohl

Wir beginnen womöglich mit einem Goethe-Zitat, welches von winterlichen Verhältnissen kündet:

„Mir kommen diese Wintertage manchmal wie seltsam helle Nächte vor, in denen die Sonne zum Mond mutiert, in denen durcheinandergerät, was scheint und was beschienen wird. Vielleicht braucht es solche Tage, die wie Nächte sind, damit uns in einem erfrorenen Garten etwas wie Rosenkohl zum Lebenswert werden kann, der in der lottrigen Hütte unseres Weltvertrauens eine feste Schraube setzt.“

Kann auch keine Auskunft geben: die kleine Goethe-Büste im Regal. (Foto: Bernd Berke)

Kann auch keine Auskunft geben: die kleine Goethe-Büste im Regal. (Foto: Bernd Berke)

Wirklich sehr originell geschrieben, nicht wahr? Aber warum habe ich gesagt, es sei „womöglich“ ein Goethe-Zitat? Weil es zweifelhaft ist.

Die Fundstelle ist ein Buch, das ich gerade lese, genauer: Seite 38 in Bernd Brunners „Als die Winter noch Winter waren. Geschichte einer Jahreszeit“ (Galiani-Verlag; Rezension folgt demnächst). Dort wird obiges Zitat mit der lakonischen Feststellung eingeleitet: „Goethe schrieb:“

Das war mir zu lapidar. Ich wollte es gern etwas genauer wissen. Stammt der Abschnitt aus einem Brief oder aus einem fiktionalen Werk? Passt denn eine Formulierung wie „in der lottrigen Hütte unseres Weltvertrauens“ überhaupt in goethische Zusammenhänge? Ohnehin klingen besagte Zeilen staunenswert modern, als könnten sie vielleicht nicht aus der Goethe-Zeit herrühren (* siehe Schlussanmerkung).

Wegen solcher Fragen bin ich der Textstelle per Internet-Suchmaschine nachgegangen. Als offenbar einziger (!) Fundort tauchte ein Text aus der Wochenendausgabe der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 7. / 8. März 2015 auf. Er stammt vom Feuilleton-Redakteur Samuel Herzog und trägt die Überschrift: „Glücksmomente – In einem vereisten Garten“.

Herzogs Text endet just mit dem gesamten obigen Zitat, das doch angeblich von Goethe stammen soll. In der NZZ wird es nicht in Anführungszeichen gesetzt, müsste also demnach von Samuel Herzog stammen. Wäre dies nicht der Fall, müsste man von einem ziemlich dreisten Plagiat sprechen.

Für den langjährigen NZZ-Mann Herzog (zuständig für Bildende Kunst) kann man jedenfalls einiges ins Feld führen. Vor allem, dass der Absatz wohl nur ein einziges Mal in frei zugänglichen Netz-Quellen zu finden ist (auch das „Projekt Gutenberg“ und Google-Books habe ich durchsucht). Wären es wirklich Sätze von Goethe, so wäre das mehr als erstaunlich. Dessen Zitate werden doch sonst allseits um und um gewendet.

Außerdem hat sich Herzog schon vor der fraglichen Stelle eines ausgesprochen poetisierenden Stils befleißigt. Der Schluss wäre somit nicht unpassend. Und drittens hat er direkt vorher ganz korrekt aus einem Brief von Wilhelm Busch zitiert. Warum sollte er es mit Goethe anders gehalten haben?

Also hätte sich der Buchautor Bernd Brunner einigermaßen gründlich geirrt? Aber wie kann es sein, dass ihm ein Text aus der NZZ als Goethe-Zitat unterkommt? Sind ihm der Zettelkasten bzw. seine Dateien etwas wirr durcheinander geraten?

Fragen über Fragen. Welche Goethe-Kenner wissen Rat? Können eventuell Bernd Brunner oder Samuel Herzog nähere Auskunft erteilen?

__________________________

Nachtrag, ohne jeden Zusammenhang mit der Zitat-Frage: Offenbar hat die NZZ ihrem altgedienten Redakteur Samuel Herzog neuerdings gekündigt.

_____________________________________________________

* Die etwas Älteren wissen ja, welche Folgen ein Anachronismus in Bezug auf Goethe haben kann. Einst musste der frühere „Zeit“-Feuilletonchef Fritz J. Raddatz gehen, weil er in fahrlässiger Weise Goethe mit der Eisenbahn in Verbindung gebracht hatte. Besondere Ironie: Auch damals ging es um einen (parodistischen) Text der NZZ, den Raddatz für bare Münze genommen hatte.




„Rambo“ statt Rezensionen

Meine Rezensions-Faulheit hat sich auch über den Jahreswechsel hinaus gehalten. Daher wird gnadenlos weiter gefaselt.

img_9558

Rezensionen gehen ja heute sowieso anders. Zunächst einmal: Man gurkt nicht mehr umständlich mit Fachbegriffen herum, überhaupt kann man sich nähere Kenntnisse sparen. Denn dann könnte man ja den Kontakt zu den einfacheren Leuten verlieren. Und das wiederum spielt nur den Populisten in die Karten. Stimmt’s oder hab‘ ich recht?

Auch gibt man sich nicht empfindsam oder einlässlich. Jeder Feinsinn ist verpönt. Viel lieber sollte man seine Kulturkritik mit jeder Menge Anspielungen auf mehrheitsfähige populäre Mythen garnieren und das Ganze kräftig „anpunken“.

Der eine oder andere * Ausruf nach dem Muster „Verfickte Scheiße!“ ist sozusagen ein Muss, will man seine street credibility auch nur ansatzweise wahren. Wer will denn schon elitär sein oder als „Intellektueller“ wahrgenommen werden?

Ich, ich!

Ich will euch was sagen. Zwei Nachbarn, die eigentlich schwer in Ordnung sind, haben mich dieserhalb auf dem Kieker. Sie verdächtigen mich, am liebsten Filme von Bergman, Rohmer, Truffaut, Tarkowskij und Angelopoulos zu sehen (was haargenau stimmt).

Drum wollen sie unbedingt erreichen, dass ich mir mit ihnen gemeinsam den allerersten „Rambo“-Film anschaue, dessen Kenntnisnahme ich bis heute – über Jahrzehnte hinweg – standhaft verweigert habe. Denkt euch nur: Zu diesem Zweck haben sie mir das Machwerk als DVD geschenkt. Einem geschenkten Gaul…

Sie locken mich mit der Behauptung, das alles sei als Ausbund kritischer Ironie höheren Grades zu verstehen. Der eine ruft schon, wenn er mich sieht, quer über die Straße „Hey, Rambo!“ Peinlich, peinlich. Was sollen die Leute von mir denken? Der andere (und ich ahne, dass er dies früher oder später lesen wird – Haaallo, winke, winke, zwinker, zwinker – Ich möchte auch meine Omas in Ludwigshafen und Greetsiel grüßen) will gar einen Beamer mitbringen, auf dass die größte freie Wandfläche im Wohnzimmer vollkommen ramboisiert werde. Dazu dürfte es dann wohl alkoholhaltige Getränke geben.

Nun frage ich in die imaginäre Runde: Soll ich mich darauf einlassen?

__________________________________________________________

* Heute sagt und schreibt man übrigens „Der ein oder andere“, weil Grammatik ja eh scheißegal ist. Fuck, fuck, fuck!




Was ich eigentlich gerne schreiben wollte, dann aber doch nicht geschrieben habe…

Das Nicht-Getane, hier wird’s Ereignis. Wenn ich mir so überlege, worüber ich in den letzten Tagen habe schreiben wollen! Ui-ui-ui. Doch wo anfangs ein Wille gewesen sein mag, ist er dann doch nicht auf den Weg geraten.

Beispielsweise hätte ich ausführlichst von jenem misslichen kleinen Vorfall berichten können: Vergoss ich doch tatsächlich eine Tasse (schwarzen) Kaffee in meine vormalige Mac-Tastatur. Sie hat’s nicht überlebt. „R.I.P.“, wie es bei betroffenen Facebookianern öfter mal heißt.

Hätte, hätte, Fahrradkette... (@ Lupo / www.pixelio.de)

Hätte, hätte, Fahrradkette… (© Lupo / www.pixelio.de)

Anschließend habe ich mich mit einem so genannten „Migrations-Assistenten“ geplagt, der einem hilft, Programme, Dateien und Einstellungen von einem Computer auf den anderen zu schaufeln. Man lasse sich das Wort auf der Zunge zergehen: „Migrations-Assistent“.

Nebenbei gesagt: Ich mag’s ja sehr, wenn Technik funktioniert. Was ich aber überhaupt nicht mag, ist das forciert witzigseinwollende Wort „funktionuckelt“.

Zwischendurch habe ich noch eine allerletzte Buchbesprechung mit der Jahressignatur 2016 ins System hacken und ins Blog heben wollen, aber auch dafür war ich zu faul. Der Autor des betreffenden Bandes wird’s mir vielleicht danken. Doch es ist nur ein Aufschub. Und vielleicht habe ich dann schlechtere Laune.

Vorher wäre auch noch eine Zwischenbilanz zur winterpausierenden Bundesliga denkbar gewesen. Schließlich fühlen wir uns hier auch der Fußball-Kultur verpflichtet. Doch ach! Plötzlich gab es Ereignisse, neben denen jedes Gekicke verblasste.

Überhaupt: Jahresbilanzen, rauf und runter. Schwerstens kritisch und politisch. Hätte man schreiben können. Macht ja sonst keiner. Aber man kann nicht überall sein.

Persönliche Bekenntnisse? Gewiss. Auch das wäre möglich gewesen. Aber so weit möchte man dann doch nicht ausholen.

Irgendwer fühlt sich eh immer beleidigt.

Und was sagt man in derlei Möchtegern-Fällen?

Jede Wette, jede Wette:
„Hätte, hätte, Fahrradkette.“

Oder auch, ungleich avancierter mit Karl Valentin: „Mögen hätt ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut!“

Auf einer Glatze Locken zu drehen, sei das Geschäft der Feuilletonisten, hieß es einst. Und siehe da, schon hat der gewiefte Zeilenschinder wieder ein paar Zeilen geschunden; allemal genug für einen kurzen, so richtig nichtigen Beitrag. Nichtig ist allerdings auch mal wichtig.

In diesem oder einem völlig anderen Sinne: Prosit Neujahr!




Trotz alledem: Wir wünschen friedliche Weihnachten und ein besseres neues Jahr

(Foto: BB)

(Foto: BB)




„Die Natur ist unsere Lehrerin“: Hamm zeigt Gemälde aus Künstlerkolonien um 1900

Lichtflirrende Birkenalleen, liebliche Gewässer, weite Felder, zauberhafte Seeblicke, düstere Moore. Diese Ausstellung führt uns hauptsächlich auf Schauplätze in der freien Natur. Im Hammer Gustav-Lübcke-Museum geht es jetzt um „Lieblingsorte – Künstlerkolonien“ von Worpswede bis Hiddensee. Man darf sich auf etliche schöne Ansichten gefasst machen.

Museumsleiterin Friederike Daugelat, die sich mit dieser Schau von Hamm verabschiedet, hat sich, der besseren Vergleichbarkeit wegen, auf den deutschen Norden konzentriert. Motive und Stimmungen, Licht und Schatten sind dort eben anders beschaffen als in südlicheren Gefilden.

Fritz Overbeck: "Birken vor Kornfeld" (um 1892) (Gustav-Lübcke-Museum)

Fritz Overbeck: „Birken vor Kornfeld“ (um 1892) (Gustav-Lübcke-Museum)

Bilder aus insgesamt sieben Künstlerkolonien sind zu sehen. Worpswede ist die bei weitem bekannteste, auf der imaginären Reiseroute folgen: Schwaan (Mecklenburg), Hiddensee, Heikendorf (bei Kiel), Ahrenshoop (Fischland-Darß), Ferch (bei Potsdam) und das am weitesten östlich gelegene Nidden (seinerzeit Ostpreußen, heute Litauen). Nicht von all diesen Orten hat man schon gehört.

Jede Kolonie hat ihre Eigenheiten, manche entstanden z. B. rund um Gasthöfe, in anderen Orten ließen sich die Maler dauerhaft nieder. Doch der Impuls ist derselbe: Um 1900 und vornehmlich bis zum Ersten Weltkrieg suchten viele Künstler, die der Verstädterung, der Industrialisierung und der gesellschaftlichen Zwänge überdrüssig waren, solche Refugien in der (damals schon bedrohten) Natur. In ganz Deutschland hat es rund 30 Künstlerkolonien gegeben. Heutige Trendfolger hätten sich wohl schier überschlagen vor lauter Zeitgeist-Anhimmelung.

Manche Idylle beruhte freilich bereits eher auf künstlerischem Wollen und nicht so sehr auf wirklicher Unberührtheit. Sehnsüchte nach „paradiesischen“ Zeiten waren im Spiel – und auch schon Mahnungen, den Raubbau an der Natur betreffend. Stilistische Feinheiten zwischen Jugendstil, Impressionismus und expressionistischen Ansätzen treten demgegenüber fast in den Hintergrund.

Die Parole hieß also: Hinaus aus den Ateliers und Akademien! Otto Modersohn formulierte es für Worpswede so pointiert: „Fort mit den Akademien, nieder mit den Professoren (…), die Natur ist unsere Lehrerin…“

Begonnen hatte die europaweite Bewegung zur Freilichtmalerei um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Barbizon (Frankreich), eine profane Voraussetzung war die Erfindung der Farbtube gewesen, die den Künstlern entschieden mehr Bewegungsfreiheit gab. Nun wurde die Landschaftsmalerei als Genre enorm aufgewertet, vordem hatte sie eher als Staffage gedient. Natur war zumeist nicht unmittelbar studiert und angeschaut worden. Fast schon groteskes Beispiel: Wer Schnee malen wollte, nahm oft genug weiße Watte als Vorlage.

Um anhand der Auswahl ein pauschales Urteil zu wagen: Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass den Künstlern, die sich in Worpswede zusammengefunden haben, insgesamt der größte und dauerhafteste Ruhm beschieden war. Tatsächlich beeindrucken hier Themenfindung und malerische Umsetzung ganz besonders.

Rudolf Bartels: "Obstbaumblüte" (Kunstmuseum Schwaan)

Rudolf Bartels: „Obstbaumblüte“ (Kunstmuseum Schwaan)

Die Ausstellung ist nicht auf allmähliche Steigerung angelegt, sondern beginnt gleich mit einigen der schönsten Werke, die just aus Worpswede stammen. Zu nennen wären beispielsweise Fritz Overbecks „Im Mai“ (1908), Heinrich Vogelers „Herbstgarten“ (1903), Hans am Endes „Frühling in Worpswede“ (1900) und Otto Modersohns „Moordamm“ (um 1900). Bemerkenswert übrigens, dass fast alle Worpsweder Leitfiguren zuvor an der Düsseldorfer Akademie studiert hatten.

Ähnlich starke „Akkorde“ wie zum Auftakt gibt es wieder am Schluss des Rundgangs, wenn quer durch die Kolonien spezielle Lieblingsorte einiger Künstler Auge und Herz erfreuen. Das dazwischen Eingefasste ist mitunter von schwankender Qualität.

Zum Worpsweder Kreis gehört natürlich zeitweise auch Paula Modersohn-Becker, die hier mit dem famosen Bild „Sitzende Bäuerin mit Kind vor Birken“ (1903) vertreten ist. Schöner Zufall übrigens, dass an diesem Donnerstag Christian Schwochows neuer Kinofilm „Paula“ (Titelrolle Carla Juri – hier ein Trailer) gestartet ist, der Episoden aus ihrem Leben aufgreift.

Apropos: Zu jenen Zeiten war Frauen der Zugang zu den Akademien noch verwehrt, es gab in ganz Deutschland nur drei (teure und ziemlich schlechte) „Damenakademien“. Die Künstlerkolonien boten seltene Chancen für damals so genannte „Malweiber“, von renommierten Kollegen zu lernen und sich zu entfalten wie zu jener Zeit nirgendwo sonst. Auf Hiddensee gründete sich gar ein veritabler Künstlerinnenbund.

Hermine Overbeck-Rohte: "Sonnenbeschienener Weg" (Overbeck-Museum, Bremen)

Hermine Overbeck-Rohte: „Sonnenbeschienener Weg“ (Overbeck-Museum, Bremen)

Warum eigentlich Hiddensee und nicht die Nachbarinsel Rügen? Dort war es den Freilichtmalern zu mondän und zu touristisch. Dort tauchte auch schon mal der Kaiser auf, der die Kunst der Kolonisten gar nicht schätzte. Drum suchten sie lieber Hiddensee als „Insel der Aussteiger“ auf.

Rund 80 Gemälde von etwa 40 Künstlern versammelt die Hammer Schau, die unversehens derart die Reiselust weckt, dass man – scherzhaft gesagt – an der Museumskasse die Möglichkeit vermisst, sogleich eine Tour gen Norden zu buchen.

Schade auch, dass es zwar umfangreiche Audioguide-Führungen gibt, aber keinen Katalog, sondern nur ein schmales Begleitheft. Da die Ausstellung auch keine zweite Station haben wird, ist sie hernach also unwiederbringlich dahin und wirkt hauptsächlich in der Erinnerung des Publikums nach.

Das soll allerdings nicht heißen, dass wir es durchweg mit großer Kunst zu tun hätten. Etliche Maler(innen)namen werden allenfalls Fachleuten vertraut sein, eine längliche Aufzählung wollen wir uns an dieser Stelle ersparen. Manchmal hat verblasste Erinnerung auch mit begrenzten malerischen Mitteln zu tun und nicht nur mit der bösen, ungerechten Nachwelt.

Die betrüblichste Entwicklung hat allerdings ein anfänglicher Anreger und Spiritus rector von Worpswede genommen, nämlich Fritz Mackensen. Idyllen bergen eben auch Gefahren und vermeintlich wertfreie Naturbetrachtung schützt vor Torheit nicht. Ist nicht schon Mackensens Bild „Trinkender Bauer“ (1909) etwas unangenehm Volkstümelndes anzumerken? Er zeigt den Landmann nicht realistisch als Schwerarbeiter, sondern idealisiert: statuarisch, bodenständig, wie später auch in der „völkischen“ Kunst ein gängiger Typus aussah. Tatsächlich hat Mackensen im Kunstbetrieb der Nazizeit an vorderster Front mitgemischt.

Stadtflucht, Emanzipation, Lebensreform-Bewegung im Sinnes eines „Zurück zur Natur“: Solche Stichworte legen den Gedanken nahe, dass gesellschaftliche Fragen an diese Ausstellung mindestens so ergiebig sein könnten wie rein künstlerische.

„Lieblingsorte – Künstlerkolonien“. Von Worpswede bis Hiddensee. 18. Dezember 2016 (adventliche Eröffnung 11.30 Uhr) bis 21. Mai 2017. Öffnungszeiten: Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. www.museum-hamm.de




Kino-Ödnis in einer Großstadt: Wenn auch noch die Dortmunder „Schauburg“ schließen würde…

Dortmund ist eh schon alles andere als eine Kinostadt, und nun schließt auch noch – nach 104 Jahren – mit der „Schauburg“ das älteste Lichtspielhaus am Platze. 1912 war das Vorläuferkino eröffnet worden, also bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Wenn das keine Tradition ist!

Wie die Nordstadtblogger und die Ruhrnachrichten übereinstimmend berichten, gibt’s in der Brückstraße schon am 26. Dezember die allerletzte Vorstellung; ein Rückschlag auch für alle städtischen Bemühungen, das Problemviertel ein wenig aufzuwerten.

Immerhin halten Konzerthaus, Chorakademie (Europas größte Singschule) und das Museum für Kunst und Kulturgeschichte im näheren Umkreis die kulturelle Stellung, wie denn überhaupt (vom Theater mal abgesehen) das Dortmunder Musikleben wohl noch die lebendigste Sparte in der Stadt ist.

Es liegt übrigens nicht einmal an mangelndem Publikumszuspruch, sondern offenbar allein daran, dass der Mietvertrag nicht verlängert wird. Was aber wird der Eigentümer an dieser Stelle statt dessen vorhaben? Noch eine drittklassige Boutique, noch einen Sexshop? Nun, wir wollen nicht polemisch spekulieren. Aber schlecht wird einem doch.

Es ist zum Heulen. Und es bleiben (beide ebenfalls in der Nordstadt) einstweilen eigentlich nur noch „Roxy“ und „Camera“ als ernsthafte, gelegentlich filmkunstgeneigte Kinos in einer Großstadt, die gerade erst wieder die magische Marke von 600.000 Bewohnern überschritten hat. Traurig, traurig. Wir reden von der einwohnerstärksten Kommune des Ruhrgebiets, die zu den zehn größten der Republik gehört. Man vergleiche einmal die Kinodichte in ähnlich (und weniger) bevölkerten Kommunen…

Immerhin: Edith Pioch-Vogt, seit einigen Jahren Betreiberin der „Schauburg“, will nicht völlig aufgeben, sondern an anderer (zentraler) Stelle ein neues Kino eröffnen, entsprechende Verhandlungen laufen bereits. Sie wird doch nicht etwa das „Film Casino“ am Ostenhellweg wiederbeleben wollen? Das wäre eine mittlere Sensation. Man gäbe was drum. Bisher sind alle Anstrengungen gescheitert, dem im Inneren stilecht nostalgisch ausgestatteten Haus neues cineastisches Leben einzuhauchen. Auch dort hat sich bislang eine Eigentümerin gegen alle kreativen Nutzungen gesträubt. Manchmal ist es schon ein Kreuz mit dem Eigentum.




WDR-Film „Wildes Ruhrgebiet“: Wie Pflanzen und Tiere frühere Industrieflächen erobern

Die bundesweit größte Wanderfalken-Kolonie hat sich im Ruhrgebiet angesiedelt. Diese Raubvögel, die auch auf Tauben aus sind, mögen halt hohe Schlote, aus denen kein Rauch mehr kommt.

Derlei erstaunliche Eroberung aufgegebener Industrie-Areale ist beileibe kein Einzelfall. Etliche Tierarten haben – um nicht einmal zu kalauern – ihr Revier im Revier gefunden; zumindest für eine gewisse Zeit, häufig auch dauerhaft. Das Ruhrgebiet als „Platz für Tiere“ – wenn Bernhard Grzimek das geahnt hätte…

Zwischen rostendem Stahl: Rotfüchse haben sich mitten im früheren Hüttenwerk (Landschaftspark Duisburg Nord) angesiedelt. Hier finden sie bessere  Schlupfwinkel als im Wald. (Foto: © WDR/Light & Shadow GmbH)

Zwischen rostendem Stahl: Rotfüchse haben sich mitten im früheren Hüttenwerk (Landschaftspark Duisburg Nord) angesiedelt. Hier finden sie bessere Schlupfwinkel als im Wald. (Foto: © WDR/Light & Shadow GmbH)

Da sind beispielsweise die Füchse, die sich im stillgelegten Duisburger Stahlwerk sicherer fühlen können als in vermeintlich „freier Natur“. Unterdessen haben Steinmarder – sonst Felsenbewohner – eine aufgelassene Gießereihalle für sich entdeckt. Da ist der Flussregenpfeifer, der riesige Brachflächen zu erobern weiß, die durch den Abriss von Industriebauten entstanden sind. Anders, als es sein Name vermuten lässt, braucht er nicht zwingend ein Gewässer.

Findig waren auch die Kreuzkröten, die vor der Industrialisierung in den Auenlandschaften der Ruhr gelebt haben und sich nun auf Kohlehalden verlegt haben. Wenn diese in absehbarer Zeit vollends begrünt sein werden, müssen sich die Tiere allerdings wieder auf Wanderschaft begeben.

Der (hauptsächlich von einem NDR-Team um den Regisseur Christian Baumeister erstellte) WDR-Fernsehfilm „Wildes Ruhrgebiet“ (morgen, 13. Dezember, 20.15 Uhr; bis zum 20. Dezember außerdem in der Mediathek) zeigt in teilweise hinreißenden Bildern frappierende Kontraste zwischen rostenden Industriekolossen, öden Brachlandschaften und einer quasi unverwüstlichen Natur, die sich Räume in dieser geschundenen Landschaft zurückerobert. Das hat schon seinen ganz eigenen Reiz, den man in anderen Gegenden nicht kennt.

Pflanzliche Pioniere wie Birken und tierische Neuland-Eroberer wie eben Füchse und Marder machen den Anfang, alsbald folgen andere Arten und es entstehen ungeahnte Biotope. Das geht dann etwa nach und nach so vor sich: Pflanzen überwuchern alte Gleisanlagen, es folgen Insekten, die sich an den Pflanzen gütlich tun, sodann wollen Igel die Insekten vertilgen und locken schließlich Tiere an, die ihrerseits Igel fressen.

Sprachlich ist der 45 Minuten lange TV-Beitrag zuweilen redundant, hin und wieder auch etwas volltönend geraten („Das Comeback der charismatischen Vögel“). Doch der in Dortmund geborene Sprecher Dietmar Bär, der schon bessere Texte hatte, verhütet immerhin Schlimmeres.

Auch wenn man von der einen oder anderen Wiederkehr bzw. Neuansiedlung schon gehört hat, bleibt der Film lehrreich. Er kündet von den nie versiegenden Selbstheilungskräften der Natur, die sich sogar noch auf vergifteten Böden festkrallt, und sei’s in Gestalt der Ödlandschrecke. Mit grausig gestimmter Phantasie vermag man sich demnach vorzustellen, wie es nach einer Katastrophe oder Apokalypse aussehen könnte.

Doch denken wir lieber ans Positive. Selbst Bergsenkungsseen, die ja eigentlich aus Schädigungen der Natur hervorgegangen sind, haben sich (etwa in der Dortmunder Hallerey) zu beschaulichen kleinen Paradiesen entwickelt, in denen nicht nur Lachmöwen ein ideales Brutgebiet vorfinden.

Ganz zu schweigen vom grandiosen Projekt einer Renaturierung der einstigen Fluss-Kloake Emscher, die sich über weite Strecken schon wieder als lieblicher Bach durch diese Region schlängelt und eine entsprechende Flora und Fauna nach sich zieht. Nicht oft können Filme mit so vielen sinnfälligen Hoffnungszeichen aufwarten.




Moden und Marotten im Journalismus (4): Von Selbstversuchen und Katalog-Rezensionen

Kennt ihr die vor einigen Jahren verstärkt aufgekommene Reporter-Marotte, alles an sich selbst auszuprobieren?

Ich möchte nicht wissen, wie viele Journalistinnen (oder auch Journalisten) sich im Lauf der Jahre unter einer Burka (wahlweise Niqab) verborgen und die Reaktionen der Mitwelt aufgezeichnet haben.

Alle Uhrzeiger auf dieselbe Zeit getrimmt: Ausriss aus dem erwähnten Prospekt der Galeria Kaufhof.

Alle Uhrzeiger auf dieselbe Zeit getrimmt: Ausriss aus dem erwähnten Prospekt der Galeria Kaufhof.

Erst jüngst fingierte eine Kollegin, sie müsse davon leben, in Mülltonnen nach dem Nötigsten zu suchen – und schrieb ausführlich darüber…

Einmal in Rechnung gestellt, dass manche junge Journalistin tatsächlich nicht ihr hinreichendes Auskommen hat, durchwehte jenen Beitrag trotzdem mehr als ein Hauch von Zynismus. „Elend“ mit eingebauter Rückkehr-Garantie. Hach, wie wärmt das ein herzensgutes Mittelschichts-Seelchen. Und das nicht nur zur Weihnachtszeit.

Einige mögen es auch hart. Ich kann mich an den Selbstversuch eines Reporters erinnern, der sich probehalber als Preisboxer verdingte.

Auch im Kulturteil hat man die eine oder andere Mode mitgemacht, freilich auf die sanftere Tour. Und dabei rede ich nicht einmal vom so genannten „Debattenfeuilleton“, das besonders in den überregionalen Blättern alle gewichtigen Weltfragen um und um wälzte. Der Zenit dieser Gattung liegt auch schon wieder einige Zeit zurück.

Manchmal ließ man’s hingegen gerade lässig angehen. Vor ungefähr zehn, fünzehn Jahren wurde es Mode, das Feuilleton flockig aufzulockern, indem man etwa das Telefonbuch oder den Ikea-Katalog besprach und überhaupt manchen Jokus mit dem Rezensions-Instrumentarium oder sonstigem Besteck des Kulturberichterstatters betrieb. Zuweilen war’s amüsant, doch nicht immer konnte es gelingen.

Anhang

Stichpunkt Ikea-Katalog besprechen. Play it again, Sam. Aber ich greife nur einen einzigen, freilich wundersamen Aspekt heraus. Und es handelt sich diesmal nicht um die Elche.

Vor ein paar Tagen fielen mir aus der Tageszeitung zwei Prospekte der Warenhauskette Galeria Kaufhof entgegen. Diesmal war ausnahmsweise nicht Spielzeug an der Reihe, das wäre ein Thema für sich. Wie aber ebenfalls in dieser Jahreszeit üblich, wurden in beiden Beilagen vor allem Düfte, Schmuck und Uhren angepriesen.

In dem einen Werbeblättchen habe ich 85 Uhrenmodelle gezählt, im anderen noch einmal über 60. Du meine Güte, welche Vielfalt! Mal schlicht, mal überladen, mal technoid, mal nahezu Fantasy, mal knatschbunt, mal einfarbig. Reichlich Auswahl für jeden Geschmack, wenn man denn in allen Fällen von Geschmack sprechen will.

Doch etwas war bei all diesen Uhren gleich, und zwar – die Uhrzeit. Die Zeiger sämtlicher Chronometer waren auf neun oder zehn Minuten nach zehn (10.10 Uhr) eingestellt.

Was sagt uns das?

Bevor wir uns irrwitzige Verschwörungstheorien basteln, deuten wir es lieber pragmatisch: Beim Kaufhof ist offenbar „Zug“ drin, zumindest wird uns dies signalisiert. Ein lenkender Wille bringt alle Uhren gleichermaßen „auf Vordermann“. Selbiges sollte dann wohl auch fürs Geschäftsgebaren der Kette gelten, die bekanntlich einer kanadischen Holding gehört. Es wäre sicherlich irritierend, wenn jedes Uhrwerk anders ginge. Pure Anarchie…

Zudem ließe sich über die konkrete Uhrzeit sinnieren, die sie da ausgewählt haben. Natürlich stehen nicht alle Uhren auf fünf vor zwölf, sondern zeigen eine hoffnungsvollere Zeit an: Um 10:10 Uhr ist der Tag leidlich in Gang gekommen, die meisten Leute sind einigermaßen wach und bei vollem Bewusstsein, außerdem hat der Kaufhof jetzt seit über einer Stunde geöffnet. Da weiß man doch, was die Stunde geschlagen hat. Konsumiere, du Wicht! Und zwar richtig. Wie hieß es früher so schön: „Kaufhof bietet tausendfach / alles unter einem Dach“.

Nur ein Rätsel bleibt noch übrig. Gerade mal fünf Uhren mit Digitalanzeige werden in den Prospekten feilgeboten. Sie aber – und nur sie – zeigen eine andere Zeit, nämlich allesamt exakt und sekundengenau 10:58:50 Uhr. Was hat das nun wieder zu bedeuten?

________________________________________________________

Anno 2012 hatte hier eine kleine Serie unter dem Titel „Moden und Marotten im Journalismus“ begonnen – und alsbald wieder aufgehört. Damals sind erschienen:
„Kunterbunte Spielzeugwelt“
„Stocksteife Scheinobjektivität“
„Die Welt als Quiz, das Leben als Liste“

Jüngst hat noch eine (ebenso lose) Reihe unter dem Titel „Geheimnisse des Journalismus“ angefangen – ohne jede Garantie auf Fortsetzung.

So viel zur chaotischen Systematik der „Revierpassagen“.




Bremer Schiri pfeift Bremen in der Bundesliga

Harm Osmers ist ja nun mal so ein richtig norddeutsch klingender Name, so könnte eine Figur bei Theodor Storm heißen. Doch der Mann ist Bundesliga-Schiedsrichter, sein Wohnort wird mit Hannover angegeben. So weit, so gut.

Um es mal biblisch auszudrücken: Nun begab es sich aber zu der Zeit, dass Harm Osmers in der schönen Hansestadt Bremen geboren ward und aufgewachsen ist.

Warum ich das eigens erwähne? Nun, Herr Osmers pfeift an diesem Samstag in Berlin die Partie Hertha BSC gegen Werder Bremen. Für beide Vereine geht es um einiges. Die Hertha will weiter ganz oben mitmischen, Bremen endlich die abstiegsgefährdete Zone verlassen.

Nur noch mal ausdrücklich feststellt: Es ist lang geübte und gar zu nachvollziehbare Praxis, dass ein Schiri kein Spiel eines Teams aus seiner Heimatstadt pfeift. Dass man das überhaupt noch erwähnen muss!

Wir setzen mal voraus, dass Harm Osmers sich in irgend einer Weise für Fußball interessiert. Und man weiß ja aus eigener Erfahrung, wie das ist: Der Verein, der einen als Kind quasi umgibt, prägt sich dann mit allem Drum und Dran zutiefst und dauerhaft ein. Man darf also vermuten, dass Harm Osmers gewisse Sympathien für die Grün-Weißen hegt. Zumindest kann man es überhaupt nicht ausschließen.

Psssst: Kein Berliner, sondern ausgerechnet ein bekennender Fan von Werder Bremen hat mich auf diesen misslichen Umstand aufmerksam gemacht, den bislang weder „Bild“ noch „Kicker“ oder andere einschlägige Medien bemerkt haben. Auch die Berliner Fans („Hertha-Frösche“) sind in dieser Hinsicht offenbar arglos. Ha-ho-he…

Auf so etwas muss man ja auch erst einmal kommen.

Und jetzt? Jetzt bin ich mal doppelt gespannt auf Verlauf und Resultat der Begegnung. Nicht auszudenken, wenn Bremen durch strittige Entscheidungen gewinnen sollte. Wobei ich übrigens zu Bremen halte. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.




Der Schmerz und die Wut hinter den fröhlichen „Nanas“ – Frauenbilder von Niki de Saint Phalle in Dortmund

Ihre kunterbunten, drallen und prallen „Nana“-Figuren haben die Franko-Amerikanerin Niki de Saint Phalle (1930-2002) weltberühmt gemacht. Auf den ersten Blick vermitteln die monumentalen Skulpturen ungebrochene, beinahe kindliche Fröhlichkeit und betont weibliche Lebenslust. Doch ganz so simpel verhält es sich nicht.

Selbst solche Werke sind letztlich dem Leiden und dem Schmerz abgerungen, abgetrotzt. Das verdeutlicht jetzt eine Ausstellung im Dortmunder Museum Ostwall. Es ist die erste nennenswerte Präsentation dieser Künstlerin im Ruhrgebiet. Da merkt man mal wieder, dass beileibe nicht alles in dieser Region rechtzeitig ankommt, zumal auf dem Feld der schönen Künste. Aber besser spät als nie…

Moment der Befreiung: "Pink Nude in Landscape" (Rosa Akt in Landschaft), 1959. (© Niki Charitable Art Foundation / Foto Laurent Condominas)

Moment der Befreiung: „Pink Nude in Landscape“ (Rosa Akt in Landschaft), 1959. (© Niki Charitable Art Foundation / Foto Laurent Condominas)

Rund 120 Arbeiten sind in Dortmund versammelt, es handelt sich also um eine recht ansehnliche Auswahl, die den Blick auch in die Zeiten vor und nach den „Nanas“ schweifen lässt und somit die Perspektive gehörig weitet.

Viele Leihgaben aus Hannover

Zu verdanken ist die Fülle vor allem einer Kooperation mit dem Sprengel Museum in Hannover, das eine international bedeutsame Sammlung zum Werk von Niki de Saint Phalle besitzt. Als sie dem Haus im Jahr 2000 insgesamt 363 Arbeiten schenkte (und zur Ehrenbürgerin Hannovers wurde), war Ulrich Krempel Direktor des Museums – und blieb es bis 2014. Jetzt fungiert der in Bochum aufgewachsene Krempel just als Gastkurator in Dortmund. Ihm zur Seite standen Regina Selter (kommissarische Leiterin des MO) und Karoline Sieg.

Zielscheibe für die Wut auf den Geliebten: "Martyr nécessaire" (Notwendiger Märtyrer), 1961. (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto André Morin)

Zielscheibe für die Wut auf den Geliebten: „Martyr nécessaire“ (Notwendiger Märtyrer), 1961. (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto André Morin)

Die Schau gliedert sich weitgehend chronologisch und erstreckt sich über zehn Räume. Geradezu als Ikone erweist sich das einzige erklärte Selbstporträt, das Niki de Saint Phalle jemals geschaffen hat; wobei gerade sie sich natürlich in zahllosen anderen Werkstücken mehr oder weniger direkt selbst dargestellt hat.

Schreckliches Kindheitstrauma

Das teilweise mosaikartig gefügte Selbstbildnis (1958/59) besteht u.a. aus Keramikscherben und Kaffeebohnen, letztere als brünetter Haarkranz dieser schönen Frau, die sich in jüngeren Jahren auch als Mannequin (Model) für Magazine wie Vogue und Harper’s Bazaar verdingt hatte. Doch was hilft Schönheit allein? Brüchigkeit und Zerbrechlichkeit sprechen ziemlich buchstäblich aus dieser Arbeit.

Was man wissen muss, um die überaus starken, vielfach heftig aggressiven Impulse in ihrem Lebenswerk zu verstehen: Mit 12 Jahren ist Niki de Saint Phalle von ihrem Vater missbraucht worden, die Mutter hat zu all dem geschwiegen. Hinzu kam eine rigide katholische Erziehung. Aus solchen Verhältnissen sich herauszuwinden, erfordert beinahe übermenschliche Kräfte. Wohl auch deshalb gewinnt das künstlerische Schaffen zuweilen eine menschliche Dringlichkeit, die gar an eine Louise Bourgeois gemahnt.

Zukunftshoffung

Nach Schüssen auf kirchliche und andere Symbole: "Autel noir et blanc" (Schwarzweißer Altar), Assemblage, 1962 (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto: André Morin)

Nach Schüssen auf kirchliche und andere Symbole: „Autel noir et blanc“ (Schwarzweißer Altar), Assemblage, 1962 (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto: André Morin)

Seelische Drangsal ahnt man schon in jenem familiären, noch gegenständlichen Gemälde „Das Fest“ (um 1953), welches sie und ihren damaligen Mann Harry Mathews bei einer feuchtfröhlichen Feier auf einem Kölner Rheindampfer zeigt – freilich zweisam und ängstlich-traurig in eine Bildecke gezwängt, während ihre kleine Tochter die Mitte des Bildes einnimmt und tanzend „erobert“; ganz so, als wäre sie eine frühe Vorläuferin der „Nanas“, die erst Mitte der 60er aufkommen und vordem männlich beherrschte Räume ebenso beherzt wie voluminös übernommen haben.

Da kündigt sich also, aller momentanen Verzagtheit zum Trotz, die Morgenröte einer weiblichen Zukunftshoffnung an – zu einer Zeit, in der zwar Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ (1949) schon erschienen war, man aber gemeinhin noch nicht von Feminismus gesprochen hat; geschweige denn, dass er lebensweltlich wirksam geworden wäre.

Tatsächlich hat Niki de Saint Phalle zwischenzeitlich einen Nervenzusammenbruch erlitten und musste ihr eingeengtes Leben dringend ändern. Wie sehr hat ihr dabei geholfen, sich künstlerisch ausdrücken und befreien zu können!

Einen Auf- und Ausbruch markiert das Bild „Rosa Akt in Landschaft“ (1959), das eine durchaus selbstbewusste, kreative Schöpferin mit traditionellem Musikinstrument (Lyra) inmitten einer geradezu universalen, sternenweiten Explosion zeigt. Zuvor hat die Künstlerin mit der Assemblage „Zerbrochene Teller“ (um 1958) die den Frauen damals zugedachte Häuslichkeit entschieden zertrümmert.

Auf die Bilder schießen

Zu Beginn der 60er Jahre entstehen dann jene Schießbilder („Tirs“), bei denen sie mit Gewehren auf Leinwände angelegt und diese gleichsam zum farblichen „Bluten“ gebracht hat. Mit Dart-Pfeilen wirft sie auf eine Zielscheibe, kopfartig über dem Herrenhemd ihres damaligen Liebhabers platziert. Die Wut auf ihn musste einfach `raus. Damals durften Ausstellungsbesucher mitwerfen. In Dortmund ist das nicht vorgesehen.

Frauen in verschiedenen Rollen, bedroht von männlicher Kriegsmaschinerie: "Autel des femmes" (Altar der Frauen), 1964. (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Frauen in verschiedenen Rollen, bedroht von männlicher Kriegsmaschinerie: „Autel des femmes“ (Altar der Frauen), 1964. (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Alsbald zielt die junge Frau generell und speziell auf bildliche Symbole der Männerwelt und der Kirche. Auch ein veritabler Anti-Altar ist aus solchem Zerstörungswerk entstanden. Dahinter mag schon die nachmalige, rabiate „68er“-Aufforderung lauern: „Macht kaputt, was euch kaputt macht.“ Nur dass hierbei ästhetische Gebilde entstehen und niemand körperlichen Schaden nimmt. Aber sage jetzt keiner, es sei eben doch weiblich-sanftmütige Kunst. Die Dortmunder Ausstellung trägt nicht von ungefähr den Titel „Ich bin eine Kämpferin“.

Positive Energie

Doch selbst Kurator Ulrich Krempel, wahrlich ein profunder Kenner ihres Werkzusammenhangs, kann an manchen Stellen nur über Beweggründe spekulieren – wie er denn auch dem Publikum nicht allzu viele deuterische Vorgaben andienen möchte. So wird auch er wohl nur mutmaßen können, wie und wann es letztlich zur „Wende“ im Werk gekommen sein mag, auf welch wundersame Weise Niki de Saint Phalle im Laufe der Jahre dermaßen viel positive Energie hat freisetzen können, welche ihre Visionen eines ersehnten Matriarchats befeuert hat.

Beherzt springende "Nana" aus bemaltem Polyesterharz, Stoff, Maschendraht und Papier: "Lily ou Tony" (Lili oder Tony), 1965 (© NIki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris, Foto Aurélien Mole)

Beherzt springende „Nana“ aus bemaltem Polyesterharz, Stoff, Maschendraht und Papier: „Lily ou Tony“ (Lili oder Tony), 1965 (© NIki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris, Foto Aurélien Mole)

Gewiss hatte es auch mit ihrer ungemein inspirierenden, wenn auch immer wieder schwankenden Beziehung zum gleichermaßen grandiosen Künstler-Kollegen und Maschinen-Poeten Jean Tinguely zu tun. Am Schluss der Dortmunder Auswahl sieht man eine Arbeit, die beide gemeinsam gefertigt haben – welch inniger Ausdruck zweier ganz verschiedener Sicht- und Schaffensweisen, die sich dennoch zu ergänzen vermochten!

Bis dahin kann man etliche Beispiele für die wechselvollen weiblichen Welten der Niki de Saint Phalle betrachten. Selbst bei einer Blitzführung ruft Kurator Krempel bereits so vielfältige Assoziationsmöglichketen auf, dass man vor manchem Bild staunend verharren möchte.

Kannibalische Mutter

Da sehen wir etwa die Frau als Gebärende, als Prostituierte, als Jungfrau oder als monströs „verschlingende Mutter“, die sich am Tisch im Café nicht nur Kuchen, sondern auch Kinder einverleibt. Das Kannibalische aber bemerkt man erst beim Näheren Hinsehen, zunächst ist einem die Figur trügerisch bunt erschienen. Überhaupt ist ja auch das Frauen- und Mutterbild bei dieser Künstlerin keineswegs ungebrochen. Wir erinnern uns ans Schweigen ihrer Mutter angesichts des ungeheuerlichen familiären Dramas.

Verschlingende Mutter: "Bon appétit" (robe mauve) (Guten Appetit, malvenfarbiges Kleid), 1980 (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Verschlingende Mutter: „Bon appétit“ (robe mauve) (Guten Appetit, malvenfarbiges Kleid), 1980 (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Und ja: Natürlich prangen auch ein paar „Nanas“ in Dortmund. Die größte misst immerhin über 5 Meter, eine andere scheint fröhlich von der Wand herab zu springen, mitten ins neue Leben hinein.

Bemerkenswert ist auch eine der allerersten, noch vergleichsweise unscheinbaren „Nanas“ von 1965: „Louise“ heißt sie, sie besteht auch aus Wollresten und ist in offenbar aus einem Taumeln heraus in tänzerische Bewegung geraten – immerzu vorwärts, wenn auch stets sturzgefährdet…

„Ich bin eine Kämpferin“. Frauenbilder der Niki de Saint Phalle. Museum Ostwall im Dortmunder „U“ (6. Etage). 10. Dezember 2016 bis 23. April 2017. Geöffnet Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So 11-18 Uhr, montags geschlossen. 24., 25. und 31. Dez sowie 1. Jan. geschlossen. Eintritt 9 (ermäßigt 5) Euro, Katalog 19,90 Euro. Extra-Museumsshop und reichhaltiges Begleitprogramm. Internet: www.museumostwall.dortmund.de




Geheimnisse des Journalismus – Heute: Der „schöne Artikel“ auf der Kulturseite

In dieser neuen Reihe weihen wir euch in mehr oder weniger geheimnisvolle Hinter- und Abgründe, um nicht zu sagen Verstiegenheiten des journalistischen Gewerbes ein. Natürlich unernst und halbseiden wie immer.

Nehmt dies zum Sinnbild dafür, dass die Revierpassagen mal wieder die Fragen der Zeit beleuchten. (Foto: Bernd Berke)

Nehmt dies zum Sinnbild dafür, dass die Revierpassagen mal wieder die Fragen der Zeit beleuchten. (Foto: Bernd Berke)

Wir beginnen mit der Kultur, speziell mit jenen lieb- und gnadenlos schlecht geschriebenen, hilflos formulierten Rezensionen, die ihr alle kennt. Ja, es gibt diesen Pfusch zuhauf, wie es in jedem Metier schlechtes Handwerk gibt, zuweilen selbst in den Qualitätszeitungen.

Solche Texte sind mit Klischees und unfreiwillig komisch verkorksten Sprachbildern gespickt, sie sind von wenig Fachkenntnis getrübt, ohne die Spur eines geistigen Mehrwerts, in jedem erdenklichen Sinne zweifelhaft und „unterkomplex“, wie man so unschön sagt. Wenn man bei Trost ist, erlischt spätestens nach zwei Absätzen die Lust zum Lesen.

Macht aber alles nichts. Sofern sie sich lobend über ihre Gegenstände äußern, sind derlei Besprechungen (nicht nur im Lokalteil, nicht nur in der Regionalpresse) höchst willkommen. Kulturschaffende aller Sparten scheren sich – zumindest öffentlich – nicht um die Qualität des Geschriebenen, wenn es ihren Schöpfungen nur huldigt.

Das Phänomen hat also nichts, aber auch gar nichts mit dem Niveau des Dargebotenen oder Geschriebenen zu tun, sondern just mit der menschlichen Eitelkeit. Wer sich geschmeichelt fühlt, sieht über manches Detail hinweg, nimmt es vielleicht gar nicht mehr wahr. Gar zu gern werden solche lobhudelnden Machwerke dann der Mitwelt als „Schöne Artikel“ anempfohlen und im Netz wie von Sinnen verlinkt und geliked. Es ist zum Piepen. (Wobei die Eitelkeit der Journalisten ein Thema für sich wäre).

So souverän, auch mal einen brillant geschriebenen „Verriss“ über ihre eigenen Hervorbringungen zu goutieren, sind indes die wenigsten Kreativen. Krasser noch: Ich möchte nicht wissen, wie viele Theatermacher einen gefürchteten Kritiker wie etwa Gerhard Stadelmaier (FAZ) haben umbringen wollen. Jedenfalls in der Phantasie.

P.S.: Ob diese Reihe fortgesetzt werde, fragt ihr? Weiß ich doch nicht.




Buchtipps zum Fest: Peter Rühmkorf, Christa Wolf, Wembley-Tor, Krimi und Architektur

Ist da draußen noch jemand auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken in Buchform? Hier ein paar empfehlende Hinweise in verschiedenen Geschmacksnoten:

Zunächst die so genannte Hochliteratur, wie es sich konservativ-feuilletonistisch gehört:

U1_978-3-498-05802-9.indd

Rühmkorfs funkelnde Lyrik

Das ist wahrlich kein Geheimnis mehr: Der 1929 in Dortmund geborene, später freilich aus hanseatischer Überzeugung in Hamburg ansässige Peter Rühmkorf gehört zu den wichtigsten Lyrikern der bundesdeutschen Nachkriegszeit. Insofern ist eine Gesamtausgabe seiner Gedichte ein besonderes, vielfach funkelndes Juwel der Sprachkunst. Rühmkorfs Tod im Jahr 2008 bedeutet einen immensen Verlust für die Literatur, der immer noch schmerzt.

Er war (ähnlich wie der mit ihm befreundete Robert Gernhardt) einer, der die Überlieferung von Reim und Metrik wach und lebendig gehalten hat – und er hat die althergebrachten Formen mit neuen Inhalten reich gefüllt. Im souveränen Spiel mit gebundenen und freien Versen kommt ihm im hiesigen Sprachraum wohl keiner aus seiner Generation gleich.

Die von Bernd Rauschenbach sorgfältig edierte Ausgabe „Sämtliche Gedichte“ enthält alle Lyrikbände von 1956 bis 2008 und (in Auswahl) ganz frühe Schöpfungen, die ab 1947 im Selbstverlag erschienen sind.

Dies ist ein Buch, das einen Ehrenplatz im Regal verdient und das man als Vademecum stets griffbereit halten sollte. Hier wird ein wesentlicher Teil des Lebenswerks ausgebreitet; hier kann man Sprachfeinheiten geradezu genießerisch schlürfen und wird überdies noch mit luziden Erkenntnissen belohnt. Rühmkorf hat ja nicht nur die ewigen Themen Liebe und Tod bedichtet, sondern war auch ein eminent politischer Kopf mit links geschärften Sinnen. Legendär wurde diese lyrische Essenz: „Bleib erschütterbar – und widersteh.“

Für den unverwechselbaren Klang (in Rühmkorfscher Diktion „einmalig / wie wir alle!“), in dem auch Alltagssprache aufgehoben ist, nur mal ein Beispiel, das Rühmkorf selbst als Bagatelle bezeichnet hat:

Abschiede, leicht gemacht

Denen, die vor Gier nach Ewigkeit entbrennen,
geb ich mich geniert
als sterblich zu erkennen.

Lieber als verhaunen Bällen nachzusinnen,
zieh ich vor,
nochmal von vorne zu beginnen.

Allerdings, statt bieder vor mich hinzuwerkeln,
scheint mir lustiger,
freischaffend loszuferkeln.

Dies als Kunstgesetz gesamt gesehen:
Ein Gedicht, das auf sich hält,
das läßt sich gehen.

Und je tiefer ich empfinde, um so seichter
schmiere ich mich aus,
dann fällt der Abschied leichter.

Da haben wir es also mal wieder: das Leichte, das so schwer zu machen ist. In der Nachfolge von Heine, Benn und Ringelnatz (unter anderen) hat Rühmkorf beileibe nicht nur höheren Jux getrieben, sondern auch die Vergänglichkeit besungen wie nur je einer seit barocken Zeiten. Doch auch die Fährnisse zwischen Geilheit und Vögeln wusste er in sprühend wohlgesetzte Worte zu fassen. Der Mann, der sich zuweilen als (erotischer) Filou gefiel, war intellektuell ein Ausbund an Unbestechlichkeit. An seinem lyrischen Zuspruch konnte und kann man sich nicht nur ergötzen, sondern aufrichten.

Noch ein Zitat, ein vermeintlich unscheinbares, das aber zu denken gibt. Aus dem Gedicht „Zum Jahreswechsel“:

Diese Welt kann doch nicht so gemeint sein
Wie sie aussieht, oder?

Peter Rühmkorf: „Sämtliche Gedichte“ (Hrsg.: Bernd Rauschenbach). Rowohlt Verlag. 621 Seiten. 39,95 €

_________________________________

42573

Briefe von Christa Wolf

Nun zu einer literarischen Protagonistin, ja Repräsentantin aus dem östlichen Teil Deutschlands, die im selben Jahr geboren wurde wie Rühmkorf: Christa Wolf (1929-2011), Autorin von Büchern wie „Kindheitsmuster“, „Der geteilte Himmel“, „Nachdenken über Christa T.“, „Kassandra“, „Kein Ort. Nirgends“ und „Störfall“, hat auch umfangreiche Konvolute von Briefen hinterlassen, um die es hier geht.

Insgesamt enthält die vorliegende Auswahl der „Briefe 1952-2011“ genau 483 Schriftstücke, die sich an rund 300 Adressaten richten. Abgedruckt sind nur die Briefe von Christa Wolf, nicht aber die Schreiben ihrer Briefpartner. So wirkt das Ganze gelegentlich etwas monologisch, man muss sich einiges hinzu denken. Immerhin sind rund 90 Prozent der abgedruckten Briefe bislang noch nicht veröffentlicht worden. Auch das gibt dieser Sammlung, bei aller wohlweislichen Beschränkung im Einzelnen, einiges Gewicht.

Der Obertitel lautet „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten“ und könnte als Zitat auch etwas sarkastisch gemeint sein. Denn gar so bequem kann es nicht immer gewesen sein für Christa Wolf. Vielfach ereilte sie der Vorwurf, dem SED-Staat doch etwas zu sehr auf den Leim gegangen zu sein.

Über sehr lange Zeit hinweg ist sie zumindest von naiver Gutgläubigkeit gewesen. Spätestens im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung aus der DDR (1976) hat auch sie Farbe bekannt. Freilich hielt sie damals immer noch Erich Honecker für eine ansprechbare Instanz: „Sehr geehrter Genosse“ lautete ihre Anrede, und sie bat ihn brieflich darum, inhaftierte Autoren zu begnadigen. Hat sie damit das Menschenmögliche versucht, oder hat sie gar zu sehr laviert? Darüber könnte man noch heute lange streiten. Doch allmählich verblassen die Meinungskämpfe jener Tage.

In der ausgewählten Korrespondenz (insgesamt hat Christa Wolf wohl um die 15.000 Briefe verfasst) tauscht sie sich nicht nur mit Schriftstellern (u. a. Grass, Frisch, Sarah Kirsch, mit der sie sich später heillos überworfen hat) aus, sondern auch mit „ganz normalen“ Lesern. Dafür hat sie viel Geduld aufgebracht. Nur ganz selten wurde sie zornig, so etwa, als sie den Schülerinnen eines Deutsch-Leistungskurses barsch deren absolute Unkenntnis ihres Werkes vorwarf und sich über „absurde“ und „verletzende“ Fragen beschwerte. Wie gesagt, das war eine Ausnahme.

Man muss wissen, dass Christa Wolf wegen der Stasi-Briefzensur häufig nicht offen schreiben konnte, sondern ihre Botschaften und Anliegen allenfalls sprachlich verschlüsselt übermitteln konnte, was der verbalen Kunstfertigkeit mitunter zuträglich war. Besonders ehrlich klingen manche der Briefe, die sie seinerzeit nicht abgeschickt hat, die aber erhalten geblieben sind. Dass Wolfs Werke und Briefe zudem von grundsätzlicher Sprachskepsis durchzogen sind, lässt dieses Zitat aus „Nachdenken über Christa T.“ ahnen: „Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen“.

Christa Wolf: „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten – Briefe 1952-2011“. Suhrkamp Verlag. 1040 Seiten, 38 €

___________________________________

01_DFM-Buch-Wembley_Umschlag(817,5x300) RZ_2.qxp_DFM_Wembley_Buc

Ein einziges Tor

Dass über eine Mannschaft oder ein Turnier ganze Bücher entstehen, mag angehen. Aber über ein einziges Tor?

Ganz klar, es gibt aus deutscher Sicht nur einen Treffer, der buchfüllend ist: das wohl für alle Ewigkeiten umstrittene 3:2 beim Endspiel der Fußball-WM 1966. Bekanntlich wurde das Tor für England gegeben, obwohl der Latten-Abpraller mutmaßlich vor der Linie aufschlug. So jedenfalls die deutsche Lesart.

Dass man diesen fußballhistorischen Moment in tausend Facetten ausbreiten und anreichern kann, beweist Manuel Neukirchner, Chef des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund, mit dem Band „Wembley 1966“, der vor allem von der vielfältigen und großzügigen Bebilderung lebt.

Das 50 Jahre zurück liegende Ereignis spiegelt natürlich auch längst den damaligen Zeitgeist wider, so dass das Match über das rein Fußballerische hinaus interessant ist. Also war es auch dem Deutschen Fußballmuseum eine Sonderausstellung wert. Hier haben wir das Begleitbuch dazu.

Wie simpel die Sache damals im Grunde gewesen ist, formuliert treffsicher der damals beteiligte (und vom 4:2-Endergebnis für England tief enttäuschte) Mittelstürmer Uwe Seeler im Interview für den vorliegenden Band: „Für die Engländer war er drin, für uns Deutsche nicht. So einfach ist das.“

Man darf ergänzen: einfach kompliziert. So, dass man ganze Bücher darüber machen kann… Und somit hätten wir auch ein passendes Geschenk für altgediente Fußballfans.

Manuel Neukirchner: „Wembley 1966. Der Mythos in Momentaufnahmen“. Deutsches Fußballmuseum, Dortmund/Klartext Verlag, Essen. 160 Seiten, großformatiger Bildband (Broschur) mit zahlreichen Abbildungen (Farbe und schwarzweiß). 14,95 Euro.

_____________________________________

475_flebbe_boden_rgb_743b567328_4f0e028d0d

Ruhrgebietskrimi

Wer für Ruhrgebietskrimis zu haben ist, freut sich vielleicht über dieses etwas kleinere Geschenk: „Am Boden“ von Lucie Flebbe dreht sich zunächst u.a. um den riskanten Kletter-Trendsport „Roofing“.

Ein Student wird verdächtigt, einem Freund bei einer Klettertour einen Stoß versetzt zu haben – mit tödlichen Folgen. Lucie Flebbes schon mehrfach erprobte Privatdetektivin Lila Ziegler und ihr Partner Ben Danner wollen den Fall aufklären – ein Unterfangen mit ungeahnten Weiterungen. Alsbald geht es auch um häusliche Gewalt (Lila zeigt ihren eigenen Vater an), und schließlich kommt es zu einem spektakulären Showdown im Bochumer Opel-Werk. Merke abermals: Aufgegebene Industrie-Standorte des Reviers (vgl. auch Phoenix West und ähnliche Locations in Dortmunder „Tatort“-Folgen) eignen sich oft bestens als Krimischauplätze.

Lucie Flebbe: „Am Boden“. Kriminalroman. Grafit Verlag, Dortmund. Paperback, 251 Seiten, 11 Euro (als E-Book 9,99 €)

______________________________________

fragments_of_metropolis_rr

Architektur der Region

So. Und nun hätten wir noch etwas für die an Kunst und Architektur Interessierten.

Christoph Rauhut und Niels Lehmann stemmen ein wahrhaft ambitioniertes Projekt. Seit einigen Jahren widmen sie sich eingehend der Architektur des Expressionismus, ein Band über herausragende Beispiele in Berlin und Brandenburg hatte den Anfang einer groß angelegten Reihe gemacht. Jetzt liegt ein weiterer Band vor, der sich den einschlägigen Baubeständen an Rhein und Ruhr zuwendet.

Zur ersten Orientierung schaue man am besten gleich ganz hinten nach, nämlich im reichhaltigen Gebäuderegister, das nicht nur Geschäfts-, Büro und Industriebauten auflistet, sondern auch öffentliche Gebäude, Sakralbauten und Wohnhäuser.

Auch wenn so vieles im Krieg zerstört worden ist, so gibt es doch auch in NRW noch eine imponierende Fülle von oftmals monumentaler expressionistischer Architektur (manches freilich nur noch in fragmentarischer Form), wobei gerade im Ruhrgebiet jede Stadt ihr eigenes Profil ausgebildet hat.

Die Textbeiträge in diesem Band (jeweils auf Deutsch und Englisch) sind sehr überschaubar, es handelt sich zwar um ein Ergebnis, nicht aber um die Wiedergabe einer fundierten wissenschaftlichen Aufarbeitung. Den weit überwiegenden Teil des Buches machen Fotografien und Lagepläne aus. Das darf sicherlich auch als Ermunterung verstanden werden, sich das eine oder andere der insgesamt 155 Gebäude einmal selbst anzusehen.

Um nicht ins Uferlose zu geraten, hier nur ganz wenige Beispiele aus dem Ruhrgebiet: Bogestra-Verwaltung (Bochum), Hans-Sachs-Haus (Gelsenkirchen), Union-Brauerei/Dortmunder „U“, Hauptpost (Essen), Polizeipräsidium (Oberhausen), Volkshochschule (Gladbeck), Gebäudeensemble Hauptfriedhof (Dortmund).

Im Vorwort heißt es, die vorgestellten Bauten (vorwiegend aus den 1920er Jahren) ließen samt und sonders künstlerischen Gestaltungswillen erkennen und stünden einer auch damals schon drohenden Banalisierung des Metiers entgegen. Und wie sieht’s damit heute aus? Eine Frage, bei der man unwillkürlich seufzt.

Christoph Rauhut/Niels Lehmann: „Fragments of Metropolis – Rhein & Ruhr. Das expressionistische Erbe“. Hirmer Verlag. 256 Seiten (Format 15,5 x 24,5 cm). 156 Farbabbildungen, 30 Pläne und Karten. 29,90 Euro.




„Phoenixsee“: WDR-Serie über zwei Familien im Strudel des Strukturwandels

Mit dem Dortmunder Phoenixsee ist das so: Das künstliche Gewässer erstreckt sich seit einigen Jahren da, wo früher einmal ein Hoesch-Stahlwerk gestanden hat. Restbestände der früheren Arbeiterhäuser bilden nun einen starken Kontrast zur massiven Ansiedlung Neureicher, die sich direkt am Seeufer breitgemacht haben.

Diese Gemengelage gab schon reichlich Stoff für den großartigen Dokumentarfilm „Göttliche Lage“ her, auch dient der See immer mal wieder als Kulisse für die Dortmunder „Tatort“-Folgen. Und jetzt heißt gleich eine ganze WDR-Spielserie so.

Die beiden ungleichen Familienväter am "Phoenixsee": Birger Hansmann (Stephan Kampwirth, li.) und Mike Neurath (Felix Vörtler). (Foto: © WDR/Frank Dicks)

Die beiden ungleichen Familienväter am Phoenixsee: Birger Hansmann (Stephan Kampwirth, li.) und Mike Neurath (Felix Vörtler). (Foto: © WDR/Frank Dicks)

„Phoenixsee“ (WDR, heute = 28. November, 20.15 bis 21.50 Uhr die erste Doppelfolge – komplette Serie derzeit auch in der Mediathek) dreht sich um zwei vermeintlich höchst ungleiche Familien im Strudel des Strukturwandels.

Steuerberater Birger Hansmann (Stephan Kampwirt) kommt aus Düsseldorf und hat sich mit einer protzigen Kanzlei in Dortmund niedergelassen. Er und die Seinen wohnen luxuriös in der ersten Reihe – mit direktem Blick auf den Phoenixsee, versteht sich.

Den Neuraths, die nur einen Steinwurf entfernt, doch weit weniger komfortabel leben, geht es bei weitem nicht so gold. Vater Mike (Felix Vörtler) hat seinen Job in der Autofabrik verloren, seine Frau schuftet für kleines Geld in einer Bäckerei. Ob es auch künftig noch reichen wird? Mike weiß nicht, ob er das Abfindungsangebot annehmen soll, das offenbar weit unter seinen Vorstellungen liegt.

Es ist wie ein früher Showdown, man ist gleich mittendrin in der Story: Beim Elternabend in der Schule prallen beide Paare aufeinander. Der reiche Schnösel Birger nimmt mit seinem Porsche Cayenne dem verdutzten Mike den Parkplatz weg. Mike und seine Frau kommen zu spät und sitzen nicht nur sinnbildlich in der allerletzten Reihe. Zu allem Überfluss macht Birger bei der Klassenlehrerin einen auf „dicke Hose“ und kündigt an, der Schule vier Computer zu spendieren. Reichlich Zündstoff für Konflikte.

So weit liegt alles glasklar unterschieden vor uns. Doch so einfach ist es eben nicht. Auch ließe sich aus dem schieren „Ihr da oben – wir da unten“ wohl keine tragfähige Serie machen. Und also ist die Sache etwas anders gelagert: Bitterernste, die Existenz bedrohende Probleme gibt es nämlich hier wie dort.

Birger Hansmann steckt bis zur Halskrause in einer betrügerischen Insolvenz-Verschleppung, die er mit seiner Unterschrift abgesegnet hat. Jetzt ist guter Rat fürchterlich teuer.

Mike Neurath, der sich mit kleinen Gefälligkeiten über Wasser hält, droht derweil ein Verfahren wegen Schwarzarbeit. Anfangs verschweigen beide ihren Frauen die Malaise. Neben den knisternd kriselnden Ehen geraten auch die seelischen Nöte der Kinder in den Blick. So weitet sich die Perspektive, und das Gesamtbild gewinnt immer mehr gesellschaftliche und psychologische Tiefenschärfe.

Unter der einfühlsamen, geschmackssicheren Regie von Bettina Woernle entwickelt sich eine ebenso lebenspralle wie realistische und spannende Mischung aus Familienserie und Wirtschaftskrimi mit entschiedener, aber nicht übertriebener Lokal-Tönung.

Beileibe nicht nur die Szenen aus der Kneipe und vom Fußballplatz in Dortmund-Hörde vermitteln das Gefühl, hier eine ziemlich authentische Geschichte zu sehen. Gekonnt werden die Erzählbögen gespannt, mitunter herrlich saftig oder – bei Bedarf – auch sanft ironisch wird das Ganze ausgespielt. Vor allem Felix Vörtler gestaltet seine Rolle famos, ohne jemanden „an die Wand“ zu spielen. Die durchweg typgerechte Besetzung reicht bis in die Nebenrollen.

Man könnte immerhin argwöhnen, hier würden Uralt-Muster à la „Die Reichen haben’s auch nicht leicht“, „Jeder hat sein Päckchen zu tragen“ oder „Geld allein macht auch nicht glücklich“ bedient.

Doch so verhält es sich nicht. Drehbuchautor Michael Gantenberg geht nur nicht der etwaigen Versuchung auf den Leim, die Dinge vorschnell zu simplifizieren. Er schaut genauer hin und spürt den zwischenmenschlichen Folgen kapitalistischen Wirtschaftens noch auf dem Schulhof nach, wo zuweilen einer den anderen demütigt und erpresst oder die neue Mitschülerin gemobbt wird. Dass sich die beiden Familien auf sehr unterschiedlichem Level plagen, wird jedoch auch nicht verwischt.

Beim Sechsteiler (der in drei abendfüllenden Doppelfolgen ausgestrahlt wird) soll es übrigens nicht bleiben. Eine zweite Staffel ist schon im Planungsstadium. Gut so. Nur weiter so.

Nach dermaßen viel Lob wollen wir aber doch nicht gleich an die Chance auf einen Grimmepreis denken. Obwohl: warum eigentlich nicht?

_______________________________________________

Die beiden weiteren Doppelfolgen laufen am nächsten und übernächsten Montag (5. und 12. Dezember)




Wie uns das Grusel-Etikett mit der Aufschrift „Donald T.“ auf die Buchseiten locken soll

Die blau unterlegte Ankündigung auf der Titelseite der heutigen „Zeit“ umfasst nur wenige Zeilen, doch hat sie mich irritiert, um nicht zu sagen: verärgert.

Ich zitiere wörtlich, was unter der spätherbstlichen Wer-jetzt-kein-Haus-hat-Überschrift „Bücher für stürmische Zeiten“ steht:

Ausriss aus der heutigen Titelseite der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit".

Ausriss aus der heutigen Titelseite der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“.

„Donald Trump sagt, schon der Geruch von Büchern mache ihn müde. Uns macht er Lust aufs Lesen…“

Was mich an diesen unschuldigen Sätzchen stört? Zum einen die gar wohlfeile Distanzierung von Donald T. Ach, wie sehr wir uns doch von ihm unterscheiden! Er ist dumpf, wir sind kultiviert. Ebenso gut könnte man sich öffentlich rühmen, kein gottverdammter „pussygrabber“ zu sein.

Außerdem behagt es mir nicht, dass die „Zeit“-Feuilletonisten (oder die Titelseiten-Gestalter?) offenbar meinen, selbst den Buchbesprechungen als Lockmittel noch dieses allgegenwärtige politische Label aus dem Gruselkabinett aufpappen zu müssen, womöglich noch mit dem Holzhammer-Hintergedanken „Wer das liest, setzt ein Zeichen gegen Trump…“

Man weiß ja, dass das mit der autonomen Literatur nicht so ohne Weiteres geht. Und doch wünscht man sich hin und wieder eine von derlei Tageskram entschlackte, (nur vermeintlich) zeitenthobene Kultur, die sich um Einzelheiten solch schrecklich konkreter Gestalten nicht immerzu schert und statt dessen die Tiefenschichten und allzeit gültigen Archetypen aufsucht. Auch und gerade im Literaturteil der „Zeit“ finden sich Bücher besprochen, die sich auf diesen steinigeren Weg begeben. Sie haben den trumpelnden Anreißer auf Seite 1 nun wirklich nicht nötig.

In diesem Sinne hat uns beispielsweise Shakespeare mal wieder ungleich mehr übers Machtgebaren von Trump, Putin, Erdogan und Konsorten zu sagen, als jedes mit Zeitgeist getränkte Analyse-Unterfangen.




„Ich darf nichts vergessen“ – Wie Peter Kurzeck über sein Schreiben gesprochen hat

Welch eine unabweisbare Vorstellung: Auf einmal kommen alle auf einen zu, die man im Leben gekannt hat. Und das bedeutet dann wohl, ganz lakonisch gesprochen: „Du bist tot“. Es muss ja so kommen, denn: Nicht die Zeit vergeht, es sind wir, die vergehen.

Man ahnt es schon: Mit solchen Gedanken geht ein Schriftsteller aufs Große und Ganze. Doch dies in aller Bescheidenheit, ja Demut.

Peter Kurzeck beim Signieren nach einer Lesung, 2008 (Creative Commons - User "Dontworry" / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Peter Kurzeck beim Signieren nach einer Lesung, 2008 (Creative Commons – User „Dontworry“ / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Ich gebe es freimütig zu: Lange habe ich Peter Kurzeck (1943-2013) nicht so recht wahrgenommen, beinahe könnte man von Achtlosigkeit sprechen. Doch in den letzten Jahren bin ich nach und nach seiner Erzählweise verfallen. Kaum sonst jemand, dem man so ergeben lauschen könnte.

Dieses Lauschen ist vielfach wörtlich zu nehmen: Kurzeck hat der gesprochenen Literatur wieder zu ihrem ebenbürtigen Recht neben der geschriebenen Prosa verholfen, als wär’s eine Hinwendung zum historischen Anbeginn des Erzählens.

Und so ist jetzt aus seinem Nachlass eine weitere Hörbuch-CD erschienen, auf der er die Bedingungen und den Fortgang seines Schreibens einlässlich erläutert. Es ist an keiner Stelle langatmig, in keiner Sekunde eitle Selbstbespiegelung eines Literaten, sondern notwendige, höchst feinsinnige Reflexion des eigenen Tuns.

Die Aufnahme ist 2007 während eines Gesprächs mit dem Verleger Klaus Sander in einer Kölner Altbauwohnung entstanden. Der rund 70 Minuten lange Zusammenschnitt lässt ausschließlich Kurzeck zu Wort kommen. Er konzentriert sich vor allem auf seine ausgedehnten sommerlichen Aufenthalte im südfranzösischen Uzès. Hier genießt er die nicht rationierte, schier endlos scheinende Zeit. Das Schreiben formt alle Tage. Es ist in aller Stille wie ein fortwährendes Fest.

Fast scheint es, als habe Kurzeck selbst einen Proust noch hinter sich lassen wollen (wobei er niemals solche unsinnigen Ambitionen gehegt hätte): Inbrünstig erinnert er sich an einen Sommer im Wien des Jahres 1964. Acht Jahre lang, so versichert er, habe er sich daran abgearbeitet, einen ganz besonderen, insgeheim strahlenden Moment jenes Sommers in genau die richtigen Worte zu fassen. Damit er für immer besteht.

1971 stand Peter Kurzeck noch in deutschen Verwaltungsdiensten der US Army und beschloss beherzt, derlei vermeintlich sichere Jobs für alle kommenden Lebensjahre aufzugeben, um ausreichend Zeit zu haben für die Genauigkeit, die jeder Moment des Lebens erfordert, wenn man ihn gültig beschreiben will. Zeit will von Grund auf geschöpft sein. Und sie will zutiefst erfahren sein, ohne Ablenkung.

In Südfrankreich kommt tatsächlich das große Gefühl auf, dass die ganze Zeit ihm, dem Schreibenden, gehört. Er nimmt sich viele Stunden, um den Menschen beim täglichen Leben zuzusehen, was ja überhaupt eine der innigsten Aufgaben des Künstlers ist.

„Ich darf nichts vergessen“, lautet der Imperativ, den er an sich selbst richtet. Bloß keinen Einfall verlieren. Wer unter solchem Zugzwang steht, wird (so Kurzeck) entweder verrückt – oder er wird Schriftsteller. Und was für ein Glück: Im Schreiben ist immer „Jetzt“!

Der Autor kommt den Gründen seiner Verlustangst auf die Fährte. Schon als Dreijähriger habe er einen Weltverlust erlitten, als die Familie aus Westböhmen flüchten musste und nach Hessen kam. Umso dringlicher gilt es, alles zu bewahren, was geschehen ist und von nun an geschieht. Und wem erzählt er das? Zuallererst dem Kind, das er gewesen ist.

Obwohl das Cover der CD denkbar schriftlastig wirkt, reichen doch die bloßen Lettern nicht aus. Man muss den Tonfall und die (von mehreren Dialekten und dem Hochdeutschen beeinflusste) ganz eigene Satzmelodie hören, in der Peter Kurzeck sich hier äußert.

Cover des besprochenen Hörbuchs (@ supposé)

Cover des besprochenen Hörbuchs (@ supposé)

Ein langer, ruhiger Fluss, möchte man meinen. Doch Kurzeck berichtet auch aus seinen heftigen Trinkerjahren, als er zeitweise jeden Halt zu verlieren drohte.

Andererseits weiß er – ganz ohne vordergründig politische 68er-Anspielungen – noch in den unscheinbarsten Momenten das wunderbare, Freiheit verheißende Aufbruchgefühl der 60er Jahre aufzuspüren und zu schildern, das ihn etwa während einer Reise nach Paris erfasst hat. Wer nicht weiß, wie sich das damals angefühlt hat, sollte aufhorchen.

Es war Kurzeck darum zu tun, das Leben der anderen Menschen in der Normalität zu erfahren, so wie es beispielsweise ein Günter Grass in jenen Jahren längst nicht mehr gekonnt hat, weil alle in ihm den Repräsentanten (und später den Nobelpreisträger) gesehen und sich entsprechend verhalten hätten. Insofern ist es eben auch ein Vorzug, nicht allzu sehr beachtet zu werden.

Schreiben, das hieß für Kurzeck nicht zuletzt: „Aufpassen auf die Welt“. Das erinnert nicht nur vage an Kafkas berühmte Zeilen: „Einer muß wachen, heißt es. Einer muß da sein.“ Bei solchen Schreibenden wuchs und wächst das Rettende.

„Für immer. Peter Kurzeck erzählt sein Schreiben“. Hörbuch/Audio-CD, ca. 70 Minuten. Verlag supposé, ca. 18 Euro.




Stufe für Stufe zum eigenen Schreiben: Andreas Maiers Bildungsroman „Der Kreis“

Und wieder einmal tauchen wir mit Andreas Maier („Das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“, „Der Ort“) in den kleinen Kosmos von Friedberg/Wetterau ein; so, wie er damals wohl gewesen ist, in Maiers Kindheits- und Jugendtagen.

Diesmal setzt die ruhige, ausgesprochen unaufgeregte Reflexion in der kleinen Bücherklause der Mutter ein, in der der Junge schon als Grundschüler so manche Stunden zugebracht hat, anfangs noch gar nichts recht begreifend, aber bereits lesend, lesend, lesend. So gut es eben ging.

42547Ohne Anführungszeichen geht es hier nicht: „Irgendwie“ hat die Mutter sich mit „Geistigem“ umgeben und den Vater mit erlesenen Fremdworten mit „Logie“- und „Ismus“-Anhängen gequält. Ihre Welt, die sich Jahre später als eng begrenzt erweisen wird, kreiste vor allem um „Theo Düschadeng“. Nanu? So versteht es jedenfalls der kleine Junge. Gemeint ist Teilhard de Chardin.

Wir erleben Stück für Stück und gleichsam Zeile für Zeile, wie sich derlei Nebel vor dem geheimnisvollen Geistesleben lichtet, wie immer mehr – zunächst allerkleinste – Erkenntnisse Raum greifen, wie also der Kreis (oder auch, siehe Titelbild des Buches, die Endlosschleife) des Gewussten sich nach und nach erweitert. Insofern ist „Der Kreis“ ein knapp gehaltener Bildungsroman, auf Neudeutsch könnte man von einer Coming-of-Age-Story sprechen. Die Hauptperson ist in allen Dingen erst einmal Novize.

Bei den langwierigen Bücher-Sitzungen (u. a. liest er von A bis Z das nicht allzu ambitionierte Lingen Lexikon) verbringt der Junge erhabene und entrückte Stunden, „durchwehte Stille“ wird er das später nennen. Und ja: Man kann sich einiges darunter vorstellen.

Mit unsagbaren Mühen pflegte derweil die Mutter eine offenbar lastend gewichtige Brief-Korrespondenz, in deren Zentrum der ortsansässige, veritable Büchnerpreisträger von 1946, Fritz Usinger, gestanden hat, dem seinerzeit im Städtchen nahezu gottgleiche Verehrung zuteil wurde.

Bildung, so ahnt man, hat hehre, aber mit ihrem eigenen Anwachsen auch hohle und zunehmend unfreiwillig komische Aspekte. Sie entsteht Schicht für Schicht und schließt auch permanent Abschiede von alten Gewissheiten ein.

Beginnend mit der Grundschulzeit, bewegen sich das Buch und sein Protagonist kapitelweise durch Unter-, Mittel- und Oberstufe. Als geradezu absurd empfindet es das Kind, dass ihm in der Schule jemand sagen darf, auf welcher Seite es ein Buch aufschlagen soll…

Ins Zentrum des eigenen Kultur-„Kreises“ rückt alsbald mit Macht die Rockmusik. Ausgiebig wird das erste, infernalisch laute Livekonzert beschrieben, das der 13jährige erlebt hat, der damit in eine verschworene Fangemeinschaft von Leuten geraten ist, die unentwegt von „damals“ (sprich: besseren Bands und Auftritten) reden. Auch in diesem Kreisen geht es befremdlich zu. Doch gleichzeitig lagert sich weitere Substanz an, auf die man zurückgreifen kann.

Sehr unprätentiös und doch dringlich schildert Andreas Maier die allerersten Stufen seines künstlerischen Werdegangs. Diese Literatur kommt nicht allzu „literarisch“ daher, sondern entsteht aus einer Perspektive des ganz allmählichen Reifens. Der Autor führt uns zurück in diese wunderbare Lebensphase, in der man sich so vieles produktiv anverwandeln kann.

Im Kapitel über die „Mittelstufe“ wird ein Abiturienten-Theater für die 9. Klasse erwähnt, an dem der nachmals berühmte René Pollesch beteiligt ist – auch er damals noch eine lokale Figur im offenbar staunenswerten Friedberg. Noch so ein Anstoß, der nachwirken wird.

Durch die Verliebtheit in eine Buchhändler-Tochter muss der junge Mann noch hindurch, auch durch die Beziehung zu einer deutlich älteren Frau. Wie von selbst dämmert irgendwann schließlich die Einsicht: Es sind ja Menschen wie wir alle, die (Bücher) schreiben und sonstige kulturelle Kreationen hervorbringen, sie existieren wirklich und wahrhaftig. Welch eine grundsätzliche Ermutigung für das eigene Tun!

Und heute? Schreibt Andreas Maier Bücher für den Suhrkamp-Verlag. Seit einigen Jahren schon. Eins nach dem anderen. Eines so an- und mitunter aufregend wir das andere. Man möchte diese Stimme nicht mehr missen.

Andreas Maier: „Der Kreis“. Roman. 149 Seiten. 20 €.




Helmut Fischer wäre jetzt 90 Jahre alt – eine Erinnerung an „Monaco Franze“

Helmut Fischer alias „Monaco Franze“ wäre heute 90 Jahre alt geworden. Daher noch einmal dieser Text:

Auf der Suche nach Figuren, die wir im Fernsehen schmerzlich vermissen, gibt’s manchmal kein Vertun: Helmut Fischer als „Monaco Franze – Der ewige Stenz“ gehört unbedingt dazu. Und alle anderen, die an Helmut Dietls grandioser Serie von 1983 mitgewirkt haben, denn die war bis in die kleinste Nebenrolle passgenau besetzt.

Auf Bayern III werden derzeit, den ganzen Sommer hindurch (jeweils montags und donnerstags, immer um 20.15 Uhr), die Folgen des ARD-Zehnteilers abermals gezeigt. Da kann man wirklich sagen: Wiederholung macht Freude!

Wehmütiger Blick zurück

Selig in wehmütiger Nostalgie schwelgend, habe ich mir die Auftaktfolge mit dem schönen Titel „A bissel was geht immer“ noch einmal angeschaut, die am 2. März 1983 erstmals ausgestrahlt worden ist. Du meine Güte, über 30 Jahre ist das schon her…

Moment der ungetrübten Harmonie: Monaco Franze (Helmut Fischer) und sein "Spatzl" (Ruth-Maria Kubitschek) (© BR/Balance Film)

Moment der ungetrübten Harmonie: Monaco Franze (Helmut Fischer) und sein „Spatzl“ (Ruth-Maria Kubitschek) (© BR/Balance Film)

Und so fängt’s an: Der vermeintliche „kulturlose“ und doch auf seine Art so elegante Abenteurer Monaco Franze scharwenzelt mal wieder außerehelich einer Dame (Gisela Schneeberger) hinterher, die sich ein völlig falsches Bild von ihm macht und ihn für einen leidvoll einsamen Wolf halten möchte. Wenn sie wüsste! Monaco Franze, gleichsam nur nebenberuflich Kripobeamter, versucht, mit einer Art Rasterfahndung auf ihre Spur zu kommen. In welchem Münchner Stadteil wohnt sie nur, in welchem Tanztempel kann man sie antreffen?

Ehemann an der langen Leine

Viel besser kennt natürlich die hochkultivierte Gattin Annette von Soettingen (Ruth-Maria Kubitschek) ihren Charmeur Monaco Franze (bürgerlich Franz Münchinger), den sie klugerweise an der langen Leine laufen lässt. Hauptsache, der Schwerenöter übertreibt seine Eskapaden nicht. Dessen herzig-lausbübische Aussage „Geh, Spatzl, seelisch bin i dir treu“ ist längst so legendär wie die ganze Reihe, die nebenher so manchen Eheratgeber ersetzt.

Besser als in dieser ersten Folge kann man einen Serieneinstieg wohl nicht hinbekommen. Wie kunstvoll die Handlungsstränge da verwoben werden! Wie wunderbar stimmig die Episode von den Wagner-Opern erzählt wird, in die Annette ihren Mann unbedingt zerren will. Dabei hasst der ihre hochnäsigen Freunde ebenso wie die Klänge und das Wagalaweia-Getue auf der Bühne. Doch dann bedient er sich einer herrlichen List und weiß plötzlich so gut Bescheid wie der beste aller Opernkritiker. Welch ein Triumph…

Gipfel der Komik

Da werden einige Gipfel der Hochkomik erklommen, und zwar scheinbar völlig unangestrengt. Auf diese Weise funktioniert das nur mit einem famosen Ensemble, zu dem u. a. auch Christine Kaufmann und Erni Singerl zählten. Wie da der herrschende Zeitgeist nachgezeichnet und gleichzeitig funkelnd parodiert wurde, das erreichte geradezu literarische Höhen. Das hat Bestand.

Als Regisseur Helmut Dietl, der sich den „Monaco Franze“ gemeinsam mit dem Schriftsteller Patrick Süskind und mit Franz Geiger ausgedacht hat, 1986 auch noch den gleichfalls unvergesslichen Sechsteiler „Kir Royal“ nachlegte, zählte er endgültig zu den wichtigsten TV-Schaffenden überhaupt. Und München war in jenen 80er Jahren bei weitem die glanzvollste Stadt im deutschen Fernsehen. Auch da gibt es kein Vertun.




Songs für die Ewigkeit: Zum Tod des großen Dichters und Sängers Leonard Cohen

Auf immer verflucht sei der Tod. Jetzt hat er uns auch noch Leonard Cohen genommen, den vielleicht größten Songschreiber unserer Zeit, neben dessen Tiefenwirksamkeit allenfalls Bob Dylan bestehen kann.

Leonard Cohen bei einem Konzert in Genf, 2008 (Wikipedia Creative Commons, User

Leonard Cohen bei einem Konzert in Genf, 2008 (Wikipedia Creative Commons, User „Rama“, eigenes Werk. Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/fr/deed.en)

Vor wenigen Wochen war seine Platte „You Want It Darker“ erschienen, ein wahrhaft dunkles, geheimnisvoll funkelndes letztes Meisterwerk, das allseits hymnisch gefeiert wurde. Nicht nur zwischen den Zeilen war Cohens Bereitschaft zu sterben vernehmlich. Zwar hat er auch noch gescherzt, er wolle 120 Jahre alt werden, doch damit wollte er nicht mehr sich selbst aufmuntern, sondern wohl nur noch uns alle beruhigen und trösten.

Ob nun Zufall oder Fügung: Mitten in der Nacht bin ich plötzlich aufgewacht, das Tablet lag noch neben mir und war nicht ausgeschaltet. In der Dunkelheit leuchtete die schlimme Nachricht von Leonard Cohens Tod auf. An ruhigen Schlaf war nicht mehr zu denken; wie dies denn überhaupt eine Woche der schlaflosen Nächte ist. Ihr wisst schon.

Weisheit und Würde

Froh und dankbar bin ich, Leonard Cohen in den letzten Jahren noch auf der Bühne erlebt zu haben: einmal in Oberhausen und einmal in Dortmund. Wenn man überragendes Künstlertum mit Lebensweisheit, Noblesse und Würde in Einklang sehen wollte, so war es hier in Reinkultur zu erleben.

Leonard Cohen wurde am 21. September 1934 in Westmount, einem Vorort von Montreal (Kanada), geboren. In seiner wohlhabenden jüdischen Familie ist er sehr früh und intensiv in die Buchkultur eingetaucht. So hat er zwar schon als Kind auch Gitarre spielen gelernt, wurde aber zunächst Schriftsteller und hat ab 1954 Lyrik und Prosa publiziert. Nein, wir reden jetzt nicht mehr weiter vom Literaturnobelpreis, der womöglich ihm gebührt hätte.

Grandioser Erstling

Man kann nachlesen, dass Judy Collins ihn animiert hat, seine Poesie auch in Songs zu fassen. Ende 1967 kam das Album „Songs of Leonard Cohen“ heraus – mit legendären Liedern wie „So long, Marianne“, „Sisters of Mercy“ und „Suzanne“. Gleich dieser Erstling erwies sich als eine der besten und stimmigsten LPs aller Zeiten. Es folgten noch zahlreiche grandiose Schöpfungen. Wer seine komplette Diskographie erkunden will, findet beispielsweise hier reichlich Material.

Seine Lieder handeln von den größten, ewigen, ersten und letzten Dingen, zumal von Liebe und Tod. Texte und Klänge sind vielfach melancholisch-elegisch getönt, oft greifen sie ins Spirituelle aus, allerdings ohne jede hohepriesterliche Anmaßung. Doch eine überirdische Idee waltet beileibe nicht nur in dem berühmten Song „Hallelujah“. Und es gibt auch etliche Cohen-Songs, die sich auf ganz eigene, wunderbar leichtfüßige Weise ins Tänzerische begeben.

Keiner fragt nach meinem Favoriten, doch ich nenne ihn trotzdem: Es ist der famose Song „Chelsea Hotel“, mit dem Cohen sich an Janis Joplin erinnert. Okay, ich könnte auch noch zwanzig andere erwähnen. Mindestens.

Nachhaltige Wirkung

Ich weiß nicht, ob dermaßen subjektive Äußerungen hierher gehören, aber ich riskiere es mal, weil es in diesem Falle eben nicht so abwegig ist und über allgemein verfügbaren Wikipedia-Stoff hinaus weist: Aus mehreren Generationen können viele, vor allem Frauen (denn er war ein „homme à femmes“ oder „Ladies’ Man“ wie nur je einer), sehr Persönliches erzählen, das Biographien und Schicksale auf manchmal nahezu magische Weise zu prägen scheint.

Eine meiner liebsten Cohen-LPs ist bis heute „Songs of Love and Hate“ (1971). Warum? Wegen einer – im Nachhinein betrachtet – „unsinnigen“ Verliebtheit. Aber wer fragt hier nach Sinn? Damals war es jedenfalls in manchen Kreisen üblich, angehimmelten Frauen Audio-Kassetten mit bedeutungsvollen Songs zu überreichen, mit denen man sich und seine Gefühle ausdrücken wollte. Natürlich war Cohen für derlei Wechselfälle besonders ratsam…

Ein paar Jahre später sind ein Freund und ich mit zwei ansonsten stets giggelnden Teeny-Mädchen in einen Cohen-Konzertfilm gegangen. Es war wie ein Zauber. Sie waren gerührt, haben Tränen vergossen und wirkten auf einmal seltsam gereift – „Just Like a Woman“, um Dylan zu zitieren.

Neigung zum Rückzug

Meine Frau ist als Teenager sogar ein kleines bisschen ungesetzlich vorgegangen, um an seine erwähnte Debüt-LP „Songs of Leonard Cohen“ zu gelangen. Im Tausch gegen einen Judoanzug hat sie einer Freundin die Platte abgeluchst, die eigentlich deren älterem Bruder gehörte. Wer weiß, woher er die hatte. In weiten Teilen des Sauerlands gab es damals offenbar keinen Plattenladen, der Cohen führte.

Eine Facebook-Bekannte war so vom Menschen und Künstler Cohen ergriffen, dass sie ihm durch Länder und Kontinente nachgereist ist und sicherlich viele Dutzend seiner Konzerte erlebt hat. Wahrhaftig: Nicht wenige Frauen waren Cohen geradezu verfallen oder ergeben.

Leonard Cohen, der zuletzt in Los Angeles lebte, hatte nachhaltigen Einfluss auf zahllose Menschen, doch er hat nie entsprechende Attitüden eines Popstars entwickelt. Er war und blieb auch als Singer/Songwriter ein Schriftsteller, den es eher in die Stille und zur Kontemplation zog. Mehrmals hat sich dieser (nach eigenem Bekunden zu Depressionen neigende) Dichter vor der Welt verschlossen – in den 60ern wählte er die griechische Insel Hydra als Rückzugsort, ab Mitte der 90er Jahre ein buddhistisches Kloster bei Los Angeles.

Darf man sagen, dass seine Wiederkehr einer Erscheinung glich? Oder klingt das unangemessen messianisch? Sei’s drum.




Nix zu Trump

img_0826




„Schwarze Kohle, rotes Licht“ – Schwere Jungs erinnern sich an ihr früheres Revier

Kriminelle Vergangenheit im Ruhrgebiet: der Typ, den alle nur "Coca" nennen. (Screenshot aus der besprochenen WDR-Sendung)

Kriminelle Vergangenheit im Ruhrgebiet: der Typ, den alle nur „Coca“ nennen. (Screenshot aus der besprochenen WDR-Sendung)

Wer sich diesen Titel ausgedacht hat, müsste eigentlich kräftig in die Klischeekasse einzahlen: Der TV-Film „Schwarze Kohle, rotes Licht“ (WDR) handelt von kriminellen Umtrieben im Ruhrgebiet, unter besonderer Berücksichtigung des Rotlicht-Milieus. Kein läppisches Thema.

Der fürs Dreiviertelstunden-Raster (quasi eine Schulstunde) gezimmerte, bereits ausgestrahlte Beitrag von Peter F. Müller setzte mit Archivaufnahmen in der „Wirtschaftswunder“-Zeit der späten 1950er und frühen 60er Jahre an und hangelte sich bis in die 80er. Stellenweise im raunenden Tonfall, suchte man das Böse in der „Parallelwelt“ des Reviers zu beschwören. Ähnliche Filme könnte man, mit anders gelagerter Folklore, wohl über alle deutschen Metropolen anfertigen. Aber hier hatte der Zungenschlag eindeutig „Pott“-Färbung. Und der Film behauptet stark, in Sachen Kriminalität sei das Ruhrgebiet damals bundesweit „ganz vorn“ gewesen.

Luden in Luxuskarossen

Das Spektrum reichte vom Doppel- und Serienmord über Betrug und Steuerhinterziehung im ganz großen Stil bis hin zu lukrativen Puffs und illegalen Spielcasinos. Genüsslich wurden „Luden“ (Zuhälter) gezeigt, die mit ihrem Rolls Royce oder ähnlich extravaganten Karossen vorfuhren und Hof hielten. Fernsehmacher gieren halt nach solchen Bildern.

Reichlich kamen ehemalige Spitzbuben (putziges Wort von früher) mit Rocker-Attitüde zu Wort, die etliche Jahre Knast abgesessen haben, nun aber geradezu altersweise zurückblicken. In ihre ruhigeren Jahre gekommen, zeigen diese kernigen Typen geradezu sympathisch abgeklärte Züge. Die schweren Jungs (noch so ein Ausdruck von damals) haben so manches erlebt, denen macht niemand was vor. Und sie haben einen speziellen Humor…

Ganoven mit und ohne Stil

Natürlich verrieten sie den TV-Leuten nicht, wie und wovon sie heute so leben. Nicht, dass da noch die Falschen zuschauen! Das war vielleicht der Deal: Ihr erzählt uns ein paar derbe Schwänke und wir stellen keine zudringlichen Fragen. So konnten sich die Herren auch rühmen, einst – wenn’s drauf ankam – im feinen Zwirn aufgetreten zu sein, während heutige Zuhälter oft in Trainingskluft auftauchten. Merke: Den Jungspunden ermangelt es ganz einfach an Stil und Qualität.

Trotzdem: Die trockenen Statements der einstigen Ruhri-Szenegrößen wie „Coca“ und Klaus „Hüpper“ Wagner (der vorher „auf Zeche“ malocht hatte) waren bereits das Stärkste an diesem ansonsten etwas dürftigen Film. Der Stoff wurde nicht durchdrungen, es gab praktisch keinerlei Erkenntnisse über pure Fakten und Phänomene hinaus. Dass manche Kerle sich als schrankenlos freiheitsliebende „Hippie-Rocker“ verstanden und in ihren Gangs Ersatzfamilien gesucht haben, war einer der wenigen, allerdings recht mageren gesellschaftlichen Vertiefungs-Ansätze, die jedoch nicht weiter verfolgt wurden.

Raffinierte kriminelle Geschäftsmodelle nötigen im Nachhinein selbst der Polizei Respekt ab: „Der hätte auch eine große Firma leiten können“, sagt ein Ex-Beamter über einen Delinquenten.

Erschröckliches Panoptikum

Bei Nennung von Verbrecher-Namen wie Alfred Lecki, Petras Dominas und Erhard Goldbach klang – gleichsam in negativ getönter Nostalgie – etwas aus zeitlicher Ferne nach. Doch gar zu atemlos wurden diese Fälle abgehandelt, als dass sie übers reine Geschehen hinaus hätten ergiebig werden können.

Das erschröckliche Panoptikum des Verbrechens erschöpfte sich weitgehend in bloßer und blasser Chronologie, in braver, auch sprachlich ziemlich unbedarfter Nacherzählung einiger spektakulärer Kriminalfälle. „Analytisch“ erhob sich das kaum über die Tiefebene von Eduard Zimmermanns berüchtigter Sendung „Aktenzeichen XY…ungelöst“, die denn auch in Wort und Bild zitiert wurde; ebenso pflichtschuldigst, wie man auch an den legendären Duisburger „Tatort“-Kommissar Schimanski erinnerte. Man wollte eben nichts auslassen – und versäumte dabei das Wesentliche.

Revierspezifisch waren übrigens die buchstäblich engen Beschränkungen, denen die Polizeiarbeit unterlag. Jenseits der im Ruhrgebiet allgegenwärtigen Stadtgrenzen durften sie in der Regel nicht ermitteln, wie Ex-Polizisten zähneknirschend verrieten. Die Ganoven kriegten das natürlich spitz – und machten daraus ein Katz- und Maus-Spiel.




Pressereise zu den Projektoren: Mit Panasonic auf Kulturtrip nach Aarhus (oder auch nicht)

Kinners, da hab’ ich ja mal wieder eine ganz tolle Einladung zur Pressereise (Neudeutsch „Media Tour“) auf dem Tisch liegen. Demnach dürfte ich für zwei Tage ins dänische Aarhus kommen, immerhin Europäische Kulturhauptstadt 2017.

Warum ich noch zögere, gar dankend ablehnen möchte? Beispielsweise, weil es sich gar nicht um eine generelle Stadtführung im Sinne des ehrenvollen Titels handelt. Sondern? Lediglich um den Besuch einer Ausstellung zum Thema Steinzeit, die zwar schon am 8. Oktober begonnen hat, aber noch über ein Jahr dauert. Nun gut, als Dreingabe wird noch ein Gefängnis-Museum besichtigt.

...außerdem war ich schon mal in Aarhus. (Foto von 2003: Bernd Berke)

…außerdem war ich schon mal in Aarhus. (Foto von 2003: Bernd Berke)

Und wer lädt da ein? Der Elektronik-Konzern Panasonic. Warum ausgerechnet der? Weil in der Steinzeit-Schau über 100 Projektoren der Firma zum Einsatz kommen. Aha. Oder besser: Oha!

Verheißungsvolles Zitat: „Panasonic kommt selbstverständlich für die Flüge, Verpflegung und Übernachtungskosten auf.“

Na, prima. Mag sein, dass – ganz vereinzelt – Journalisten nach solchen Gelegenheiten gieren. Ich frage mich allerdings, was die Einladenden erwarten. Na, was wohl? Etwas Präsentables für den Pressespiegel, versteht sich. Vielleicht Baukasten-Sätze dieser rasend schnell gefügten Art:

„Der Kontrast zwischen der Steinzeit und ihrer optisch perfekten HiTech-Präsentation könnte nicht größer sein. Über 100 Projektoren der Firma Panasonic katapultieren uns auf eine spannende Zeitreise in die ferne Vergangenheit…“

Oder so, noch etwas plumper:

„Dank sei dem Hersteller Panasonic, dessen über 100 hypermoderne Projektoren uns mitten in die Steinzeit versetzen. Das ist aufregende Vorgeschichte zum Anfassen…“

Oder so:

„Steinzeitfreunde, aufgepasst! …(rhabarberrhabarber)… Fazit: Ohne die lichtstarken Projektoren wäre die Ausstellung nur halb so eindrucksvoll.“

Genug. Ihr wisst schon, was ich meine.

Liebe PR-Leute von Panasonic, schaut her, ich liefere solche Sätze völlig kostenlos; ohne eure Pressereise in Anspruch zu nehmen. Und sagt selbst: Die Ökobilanz dieses Beitrags kann sich sehen lassen, sie ist nahezu klimaneutral. Kein Kerosin- und Benzin-Verbrauch, nur ein kleines bisschen Strom für meinen Computer.

So, liebe Leser und User, Frauen inbegriffen. Wenn ihr demnächst irgendwo schnuckelige Berichte über die Steinzeit-Ausstellung in Aarhus vorfinden solltet, so kennt ihr einen mutmaßlichen Anstoß. Achtet mal auf etwaiges Product Placement. Womit ich natürlich überhaupt nichts unterstellt haben möchte.




Alle paar Tage ein „Album des Jahres“ – über das entgrenzte Rühmen in den Feuilletons

Vielfach wurde und wird dieser Tage Leonard Cohens neues Album „You Want it Darker“ besprochen, und zwar zu allermeist feierlich, ja hymnisch, als wäre es ein quasi-religiöses, jedenfalls transzendentes Ereignis.

Tatsächlich hat der in Würde gealterte große Meister mit letzten verbliebenen Kräften eine verehrungswürdige, berührende Platte geschaffen. Insofern ist all das Rühmen in diesem Falle sicherlich angebracht. Manche halten ja auch Leonard Cohen – und nicht so sehr Bob Dylan – für den wahren Anwärter auf den Literaturnobelpreis. Gerade bei ihm mögen also euphorische Höhenflüge am Platze sein. Ihm gebühren größere Worte als anderen.

Aus der Reihe "Unsinnige Vergleiche": Was ist finsterer - das Telefon, der Kugelschreiber oder der Holzkorpus des Radios? (Foto: BB)

Aus der Reihe „Unsinnige Vergleiche“: Was ist finsterer – das Telefon, der Kugelschreiber oder der Holzkorpus des Radios? (Foto: BB)

Doch die Neigung zu Hurra und Hallelujah, zu Superlativ und Überschreitung ist viel weiter verbreitet; auch dort, wo sie mutmaßlich nicht hingehört.

Um noch einmal bei der neuesten Cohen-Rezeption anzuknüpfen: Es werden unsinnige Konkurrenzen inszeniert. Da hieß es etwa jüngst in der FAZ, Cohens Düsternis übertreffe mit seiner neuen Produktion das gesamte Spätwerk von Johnny Cash (welch ein sinnloser Vergleich!) und lasse auch David Bowies verstörende Abschiedsplatte weit hinter sich. Ach, wenn doch die Werke öfter für sich gewürdigt werden könnten und nicht ständig solchem Wettstreit unterworfen wären! Wir ahnen doch auch so, dass der Rezensent rundum alle möglichen und unmöglichen Vergleichbarkeiten parat hat. Davon sollte er vielsagend schweigen.

Zuständig für vorschnelle Steigerungen ist sonst gerne auch die Süddeutsche Zeitung. Da kann es beispielsweise geschehen, dass schon etwa Mitte Januar eilfertig das „Album des Jahres“ ausgerufen und mit großem Tremolo gepriesen wird. Im Dezember sind dann schätzungsweise 37 Alben des Jahres und 143 Alben (respektive Romane, Inszenierungen, Ausstellungen, Kinofilme) „der Stunde“ beisammen. Bei den vorweihnachtlichen Geschenketipps kommen dann noch ein paar Fuder hinzu. Ich übertreibe nur unwesentlich. Wenn überhaupt.

Habt ihr’s nicht manchmal eine Nummer kleiner?

Der Drang zur zwanghaften, haltlosen, entgrenzten Lobhudelei gilt – unter etwas anderen Vorzeichen – auch für regionale Medien, bei denen der Kulturteil (intern wie extern) täglich um ein bisschen Anerkennung ringen muss, sofern er denn überhaupt noch nennenswert vorhanden ist. Da regiert die Furcht, sich mit den Feuilleton-Häppchen womöglich gar kein Gehör mehr zu verschaffen. Also muss man den Mund ziemlich voll nehmen und darf seine Gegenstände nicht durch „Verrisse“ zerfetzen, sondern muss sie noch und noch aufwerten. Motto: Was ich hier bespreche, ist ungemein wichtig und richtig. So erhöht man vor allem sich selbst. Andererseits: Nichts schreibt sich so süffig wie ein herzhafter Verriss.

Vielleicht hat ja auch die nur bedingt kulturaffine Chefredaktion mal wieder süffisant durchblicken lassen, dass kritische Äußerungen im Blatt längst nicht so willkommen sind wie nachdrückliche Empfehlungen. Dann wird’s wieder höchste Zeit für ein bisschen „Service“, beispielsweise fürs nächste PR-Interview mit (gar nicht mehr so) furchtbar angesagten Popstars, die uns vor ihrem Auftritt das unvergleichlich Blaue (oder Düstere) vom Himmel versprechen.

Beispiele gefällig? Gern. In einem bekannteren Ruhrgebiets-Blatt waren das jüngst Phil Collins, der gelobte, im Konzert „110 Prozent“ zu geben, und Robbie Williams, der laut Schlagzeile „Hungrig wie nie zuvor“ ist. Wenn das keine substanziellen Aussagen sind, dann weiß ich auch nicht.

P.S.: Viele Künstler und solche, die sich dafür halten, sehen das alles natürlich ganz anders. Sie reklamieren Lob und Preis fraglos für sich und sehen im angeblich ewig nörgelnden Kritiker den altbösen Feind, der stets hohnlachend auf Kulturvernichtung aus ist.




Ritual und Routine zu Halloween

Ganz nüchtern statistisch betrachtet, war es so: Zwischen 18 und 20 Uhr haben heute insgesamt 18 Kindergruppen bei uns geschellt und „Süßes oder Saures“ verlangt.

Die beiden größten Rudel waren 12 bzw. 10 Kinder stark, alles in allem standen da – wenn ich richtig notiert habe – 78 kleine Leute. Manche waren nur zu zweit unterwegs, zwei Kinder liefen (in Begleitung ihrer Eltern) sogar allein los. Das sah ein wenig traurig aus. Aber bitte, wer kennt die Gründe?

Ganz ohne Kürbis geht die Chose nicht... (Foto: BB)

Ganz ohne Kürbis geht die Chose nicht… (Foto: BB)

Vor Jahresfrist waren es im selben Zeitraum noch über 20 marodierende Grusel-Formationen gewesen. Manche Zeitungen würden jetzt atemlos hechelnd von einer Trendwende sprechen und solche Fragen aufwerfen: Hat „Halloween“ seinen Zenit überschritten?

Über all die kleinen Auftritte vor der Haustür ließe sich glatt eine multiple Rezension schreiben, hochnäsige Urteile über Mimik, Gestik, Sprechkultur und Choreographie inbegriffen. Doch das lassen wir lieber bleiben. Auch wollen wir nicht über einige ältere Herrschaften wettern, die sich in abgedunkelten Wohnungen verschanzen und ihre Türen verschlossen halten. Ob sie hartherzig sind? Nun ja…

Tatsache ist, dass sich nicht mehr allzu viele Kinder die Mühe machen, wenigstens noch ein gereimtes Sprüchlein aufzusagen oder ein garstiges Liedchen zu schmettern. Manche stehen gar vollends stumm da und halten nur die mitgebrachten Beutel auf. Man ist versucht, eine solche Handlungsweise phantasielos zu nennen. Aber das ist pädagogisch wahrscheinlich nicht korrekt, weil nicht ermutigend.

Eigentlich sollte der Tag, wenn er denn schon so begangen werden muss, den Kindern unter 10 vorbehalten bleiben. Die haben noch wirklichen Spaß daran. Gelangweilte Trittbrettfahrer über 14 stehen eher ratlos neben sich. Sie machen das, weil „man“ es halt macht. Aber so richtig cool finden sie es eben auch nicht mehr.

Die Kostümierungen beruhen nur selten auf Eigenschöpfungen, das Allermeiste ist fix und fertig gekauft. Alles durchkommerzialisiert? Naja, ein bisschen schon. Und nachher weiß man, wer bei welchem Discounter gewesen ist.

Durch Erfahrung gewitzt, versorgt man sich inzwischen vorab mit etlichen Süßwaren, und zwar in Packungsformen, welche sich gut auf Kindergruppen verteilen lassen; wie denn überhaupt Ritual, Routine und Gewohnheit einen Großteil der Sache ausmachen.

Übrigens sind in diesem Jahr offenbar mehr wachsame Eltern mitgegangen, wahrscheinlich, um etwaige Gruselclowns abzuschrecken, die sich leicht ins Geschehen hätten mischen können. Oder hat man sich das nur eingebildet?

Viel ungesundes Zeug füllte schließlich die Beutel, die offenbar von Jahr zu Jahr größer werden (wie auch jene für „Kamelle“ zu Karneval). Nur die Frau an der nächsten Straßenecke hat den Kindern Äpfel gegeben. Sie lebt in London und ist zu Besuch. Immer diese Sonderwege. Immer diese Insulaner…




Zum Tod von Manfred Krug – „Liebling Kreuzberg“: Das Glück des Müßiggangs im Kiez

Heute erreichte uns die betrübliche Nachricht, dass der Schauspieler Manfred Krug mit 79 Jahren gestorben ist. Aus diesem Anlass noch einmal ein Text über seine Erfolgsserie „Liebling Kreuzberg“, der erstmals am 29. November 2013 in der Revierpassagen-Reihe „TV-Nostalgie“ erschienen ist:

Vielleicht waren die 1980er Jahre die letzte wirklich fruchtbare Fernsehzeit. Damals liefen beispielsweise grandiose, ja unsterbliche Serien wie „Monaco Franze“, „Kir Royal“ – und „Liebling Kreuzberg“.

Ganz entspannt in der Kanzlei: Anwalt Robert Liebling (Manfred Krug). © ARD/Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=3kHio8EwgBc

Ganz entspannt in der Kanzlei: Anwalt Robert Liebling (Manfred Krug). © ARD/Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=3kHio8EwgBc

Manfred Krug als Anwalt Liebling war sozusagen die Berliner Antwort auf die genannten Münchner Edelserien. Die Autoren galten etwas in der literarischen Welt, sie erwiesen sich hier zudem als Schriftsteller, die ein Millionenpublikum auf hochbeachtlichem Niveau zu unterhalten vermögen: Die ersten drei Staffeln schrieb Jurek Becker, dann übernahm Ulrich Plenzdorf. Ach, das waren noch Zeiten, als solche Leute TV-Serien verfassten.

Dreitagebart und Schlapphut

Ich habe mir jetzt die allererste Folge vom 17. Februar 1986 noch einmal angesehen und mich dabei keine Sekunde gelangweilt. Der Folgentitel „Der neue Mann“ bezog sich nicht einmal in erster Linie auf Robert Liebling, obwohl der damals als Figur ja auch völlig neu war. Nein, um endlich seiner natürlichen Faulheit frönen zu können und mehr Zeit für die holde Damenwelt zu haben, sucht der Dreitagebartträger mit dem Schlapphut einen fleißigen Sozius für die Kanzlei – eben den „neuen Mann“ mit dem etwas seltsam klingenden Namen Dr. Giselmund Arnold (Michael Kausch). Der kommt – gleichsam ein Vorbote der Schwabenschwemme in Berlin – übrigens ausgerechnet aus Stuttgart.

Wie Berlin sich veränderte

Ein sinnreicher Kunstgriff. Durch den Kontrast zum neuen, überaus eifrigen Kollegen wird Liebling gleich so charakterisiert, wie es ein Soloauftritt schwerlich bewirkt hätte. Man bekommt nebenher nette Kostproben über den flapsigen Umgangston in der Kreuzberger Kanzlei und erste kleine Lektionen über den „Kiez“ an sich. Überhaupt ist es ja ein Glückfall und eine Gunst der historischen Stunde, dass „Liebling Kreuzberg“ noch im alten West-Berlin beginnt und dann die Zeit vor und nach dem Mauerfall begleitet.

Gleich mittendrin im prallen Leben

Nach der ersten Folge, die sofort mit einigen lebensprallen Fällen aufwartet, ist man jedenfalls gleich mittendrin im Geschehen. Schon sehr bald hat man die Figuren und das ganze Drumherum ins Herz geschlossen. Und man will unbedingt wissen, wie sich das alles weiter entwickelt.

Manfred Krug geht jedenfalls zumeist wunderbar tiefenentspannt durch all die kommenden Folgen. Ähnlich glaubhaft wie Helmut Fischer alias Monaco Franze, wenn auch persönlich und landsmannschaftlich anders getönt, verkörpert er das Glück des Müßiggangs und des erotischen Tändelns.

Bestimmt kein Zufall, dass solche Serien vor der exzessiven Handy- und Computer-Nutzung erfunden worden sind. Und auch von manchen Niederungen des Privatfernsehens wusste man damals noch wenig.




„Theater hassen“ – eine ziemlich ziellose Reise in die Zukunft der Bühnenkunst

Dieser Autor bemüht sich emsig um Zeitgeist-Sprech. Jan Küveler (Jahrgang 1979), seines Zeichens Feuilletonist und Theaterkritiker der „Welt“, beliebt über Shakespeare und dessen Zeit so zu extemporieren: „Draußen auf den Weltmeeren wurde die Globalisierung erfunden, das ´Globe Theatre‘ war ihr Social-Media-Hub.“ Ahoi!

Doch wir wollen nicht schon gleich zu Beginn polemisch werden und nur noch schnell erwähnen, dass Jan Küveler laut Klappentext mit einer Arbeit über jugendliche Romanhelden promovierte, die sich der Reife verweigern.

9783608501605-cover-lKüveler also umkreist in seinem Buch mit dem finster entschlossenen Titel „Theater hassen“ den nach seiner Ansicht vielfach beklagenswerten Zustand der Bühnenkunst; ein Thema also, über das sich im Prinzip schon die antiken Griechen echauffiert haben.

Im Geisterhaus toter Avantgarden

Der Verfasser wähnt sich in einem Geisterhaus toter Avantgarden, auf nachrichtlicher Ebene sei allein schon das ewige Intendanten-Karussell furchtbar öde. Beim Berliner Theatertreffen kreise alles um immer ähnlich gelagerte Positionen, Projekte und Performer.

So manchen Unmut kann man nur zu gut nachvollziehen. Der Mann schreibt sich in einen solchen Zorn hinein, dass ihm auch die hoch gehandelte, sorgsam an den Texten arbeitende Regisseurin Andrea Breth nur mehr als einfältig arrogant gilt. Gleichzeitig preist er die Verrisse seines (heute arg vermissten) Ex-Kollegen Gerhard Stadelmaier von der FAZ, der freilich den hier leichthin abgetanen Luc Bondy und just Andrea Breth am allerhöchsten geschätzt hat.

Vorbild „Monaco Franze“

Als man sich schon bang fragt, ob Küveler irgendwann einmal halbwegs abgekühlt argumentieren wird, empfiehlt er eine distanzierte, unprätentiöse und uneitle Haltung zum Theater, wie sie einst der legendäre „Monaco Franze“ vorgemacht hat, als der in Helmut Dietls famoser Fernsehreihe die versammelten Opern-Schnösel von München düpierte.

Nun, das mag erst einmal angehen, doch wird es gewiss nicht alle Gebrechen des Theaters kurieren, von dem Küveler (immer noch) meint, es sei zu feierlich und werde oft für Träger von Zylinderhüten gemacht. Nanu? Das mag gelegentlich noch im Wiener Burgtheater der Fall (gewesen) sein, aber sonst doch wohl gar nicht mehr.

Dabei kennt Küveler doch seine brachialen Pappenheimer, jene Regisseure, die stets auf schrankenlose Selbstverwirklichung und „Skandale“ aus sind, welche sich aber längst erledigt haben.

Die Freuden der Langeweile

Er erregt sich noch königlich über Elfriede Jelineks unaufhörliches Besserwisserinnen-Theater (bis hin zu „Die Schutzbefohlenen“), das keinerlei Überraschungen mehr bereithalte, sowie über Elaborate der „Gießener Schule“ um Michael Thalheimer und René Pollesch, die auch nur noch nerve.

Aufgeregten Projekten, die nur zum Schein die Zuschauer einbezögen, in Wahrheit aber auf deren Passivität setzten, sei allemal Langeweile vorzuziehen, die wenigstens stille Kontemplation ermögliche. Also, Leute, beschwert euch bloß  nicht mehr über endlos erscheinende Theaterabende, sondern sitzt eure Kultur gefälligst ab und nutzt die unverhoffte Chance zur Trance.

Damit hätten wir also schon einige, in sehr verschiedene Richtungen zielende  Ablehnungen beisammen. Ja, was aber dann? Was dürfen wir hoffen? Was sollen wir ersehnen? Selbstverständlich läuft auch dieses Buch in seinem vermeintlichen Theaterhass darauf hinaus, dass es letztlich nur auf ein anderes Theater erpicht ist. Dieser Topos einer fortwährenden Hassliebe ist gleichfalls altbekannt. Doch wohin geht die Reise?

Kronzeuge Ersan Mondtag

Zum Kronzeugen bestellt Küveler den Theatermacher Ersan Mondtag, der ausgiebig als Prophet einer Art Meta-Theater – gern mit Laiendarstellern und zeichenhaften Masken – zu Wort kommt und sich dabei reichlich autoritär gebärdet. Da erklingt so manche Hohlformel (Dekonstruktion war gestern, jetzt muss wieder konstruiert werden), wobei am Horizont ein Theater aufscheinen möge, in dem wieder „alles möglich“ sein solle. Schauspielkunst herkömmlicher Prägung ist dabei übrigens überhaupt nicht gefragt, sie stört eher.

Sodann benennt Küveler drei angeblich allesamt erhellende Provokationen der neueren Theatergeschichte – ins Werk gesetzt von Hans Neuenfels (1966 in Trier, ach Gottchen!), von Rainer Werner Fassbinder („Der Müll, die Stadt und der Tod“) und vom fast nur dadurch bekannt gewordenen Schauspieler Thomas Lawinky, der den schon erwähnten Rezensenten Stadelmaier auf offener Szene verhöhnte und ihm den Notizblock entriss. Wer hätte gedacht, dass eine solche Handlungsweise noch einmal als vorbildlich durchgeht?

Bloß nicht feige sein…

Das ist also mal eine hübsche Ahnengalerie fürs kommende Theater. Küvelers Zwischenfazit lautet, Theater dürfe nicht feige sein und solle Tabus brechen. Moment mal. Hatten wir das nicht schon seit ein paar Jahrzehnten? Immer mal wieder, immer wüster und verzweifelter?

Vermeintlich rasant und doch nur halbstark geht’s in die Schlusskurven. Gepriesen werden die „Akzelerationisten“ der Bühne, die quasi gehörig aufdrehen und es den „Spaßbremsen“ im Gefolge der Frankfurter Schule mal so richtig zeigen. Wow, dann müssten die Bühnen wohl schleunigst tiefergelegt werden. Angewidert von den gängigen Moden, wendet sich Küveler nunmehr dem nächsten Hype zu.

Die Heilsbringer kommen

Der gute alte Textzerbröseler Frank Castorf darf dabei gleichfalls Pate stehen, außerdem vor allem Leute wie der Norweger Vegard Vinge und Ina Müller, die an Castorfs Volksbühne derart hirnmarternd, radikal und monströs zugange sind, dass es selbst dem von Chaos gestählten Chef manchmal zu viel wird.

Die Zumutung ist dabei offenbar zentrales Programm. Hört sich nicht so an, als könnte dies dem deutschen Stadttheater aufhelfen. Im Gegenteil: Endlose Proben, oft ohne bühnenreifes Resultat, sind dort nicht so gern gesehen. Derlei Kleinigkeiten erwähnt Küveler in seinem Buch kaum, er beschwört nur raunend die Namen der Heilsbringer Vinge oder Antú Romero Nunes, ohne die Verheißungen zu konkretisieren. Und ums gewöhnliche Stadttheater ist es Küveler wohl gar nicht zu tun.

Natürlich gibt es, zumal in der Hauptstadt, eine eventgeile Theater-Schickeria, die auch Hervorbringungen à la Vinge noch kritiklos goutiert. Mal abgesehen von diversen Fäkal-Aktionen, ließen Vinge und Müller einst vor Publikum ungerührt bis 5000 zählen und haben damit laut Küveler (produktive?) Wut erzeugt. Die Zukunft des Theaters käme somit aus der Weißglut, womit Theaterhass endlich, endlich sinnerfüllt wäre. Ja, Donnerschlag und Sakrament…!

Jan Küveler: „Theater hassen. Eine dramatische Beziehung“. Tropen Verlag (Klett-Cotta). 160 Seiten. 12 €.

 




Nobelpreis für Bob Dylan – nun gut!

Nun hat er ihn also: Bob Dylan ist der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2016. Endlich, endlich. Hosianna! Doch obwohl ich ihn seit Jahrzehnten verehre, ist mir diese Ehrung letztlich gleichgültig.

Ein paar Sachen aus dem Plattenregal. (Foto: BB)

Beispielsweise: ein paar Dylan-Sachen aus dem heimischen Plattenfundus. (Foto: BB)

Wenn es ihm denn Freude und Genugtuung bereitet, so ist es gut. Nur, ganz ehrlich: Hat er und haben „wir“ (sprich: unsere Generation(en)) es denn wirklich noch nötig, dass eine bisweilen arg verschnarchte Jury ihn mitsamt seiner Musik auf diese Weise – viel zu spät – in seinem einzigartigen Rang bestätigt? Fürwahr nicht.

Viele von den Allerbesten haben den Preis nie erhalten. Nüchtern besehen, ist es eigentlich keine besondere Zierde, dass sie ihn jetzt doch noch erkoren haben. Wahrscheinlich wird das nun alles wieder ungemein politisch gedeutet, womöglich als machtvolles Zeichen gegen den tumben Trump, als Signal des wahrhaftigen amerikanischen Geistes…

Wie gut, dass wir im nächsten Jahr nicht mehr spekulieren müssen, ob Dylan ihn kriegt.

Ich mache es mir hinfort leicht und komme auf meine Zeilen zu Bob Dylans 75. Geburtstag zurück, die am 23. Mai in den „Revierpassagen“ erschienen sind und von denen ich auch jetzt nicht abrücken möchte:

__________________________

Der Blick ins Rocklexikon bestätigt es: Bob Dylan wurde am 24. Mai 1941 geboren, er wird also jetzt 75 Jahre alt. Geburtsort war Duluth/Minnesota, danach wuchs Dylan – bürgerlich bekanntlich Robert Zimmerman(n) – in der Grubenstadt Hibbing auf. Er hat, wenn man so will, Wurzeln in einem Bergbau-„Revier“. Auch darüber hat er ja den einen oder anderen Song gemacht.

Doch wir wollen etwaige Analogien zum Ruhrgebiet nicht weiter treiben, es wäre lächerlich. Jedenfalls war Dylan durch solcherlei Herkunft wohl „geerdet“, er hat gewusst, wie gewisse Härten des Lebens sich anfühlen. Dass er hernach für die Schwachen und Erniedrigten Partei ergriffen hat, war nur folgerichtig.

Der Blick ins Plattenregal zeigt: Von keinem Künstler (ausgenommen Neil Young) habe ich so viele Platten und CDs wie von Bob Dylan. Warum wohl? Die Antwort drängt sich wiederum beim Blick ins eigene Innenleben auf. Seine Musik und seine Wesensart haben mich, wie so viele aus meiner Generation, durch all die Jahre und Jahrzehnte begleitet, mal inniglich, mal auf Hörweite, mal etwas entfernt. Manche seiner Songs waren und sind immer da. Und das wird so bleiben, selbst wenn eines Tages… Nein, ich mag nicht daran denken.

Dabei habe ich seine Anfänge damals gar nicht wahrgenommen, sondern ihn erst auf dem Umweg über die Beatles (mein musikalisches „Erweckungs“-Erlebnis schlechthin), Stones, Small Faces usw. kennen gelernt, als auch er (1965 beim Newport Folk Festival) die elektrischen Verstärker einstöpselte. Was immer er getan hat, hat die Fans – so oder so – gleichermaßen bewegt und oft erregt, wie die Musikerkollegen. Er ist wahrscheinlich der einflussreichste Protagonist der populären Musik überhaupt.

Man hat dann halt mehr oder weniger andächtig nachgeholt, was Dylan vorher so fabriziert hatte. Es war eine vielfältige Welt für sich, mit weit gespanntem Horizont: Da waren die so genannten Protestsongs, authentischer Blues, die allerschönsten Liebeslieder und zwischendurch mal etwas religiöser Kitsch. Auch das war verzeihlich. Kein Künstler ist immerzu auf gleicher Höhe. Nicht einmal diese mythische Gestalt.

Literaturnobelpreis – was soll’s?

Schon seit einigen Jahren ertönt die Forderung immer lauter, man möge ihm doch endlich den Literaturnobelpreis zuerkennen. Dann würde eine ganze Generation nicht nur ihn, sondern sich selbst feiern und abermals in „Forever Young“-Seligkeit schwelgen. Mit literarischen Legenden wie Rimbaud, Villon und William Blake hat man ihn vergleichen wollen, mit den Surrealisten, natürlich auch mit Dylan Thomas, von dem sich Dylans Künstlername herleitet. Und und und. Ganz ehrlich: Mir ist es einerlei, ob er den Nobelpreis erhält. Die meisten genialen Autoren haben ihn nicht bekommen.

Ist er nun in erster Linie Dichter oder Musiker? Auch das ist eine müßige Frage. All seine Antikriegs-, Liebes-, Freiheits- und auch Glaubensbotschaften sind zutiefst in seine Musik eingesenkt, diese hat ihren eigenen Goldstandard. Weil dann noch sinnstiftende (und kunstvoll sinnverweigernde) Poesie hinzu kommt und mit der Musik untrennbar verwoben ist, wird spätestens klar, dass Popmusik auf hochkulturelle Pfade führen kann. Doch wer wollte das noch bezweifeln? Derlei Debatten sind ja längst ausgestanden, nicht zuletzt dank Dylan.

Die endlose Tournee

Der nun doch schon etwas ältere Mann befindet sich weiterhin auf seiner „Never Ending Tour“, die er nur kurz unterbricht, um seinen Geburtstag zu feiern. Anschließend geht es wieder und wieder auf die Bühnen, derzeit kreuz und quer durch die USA. Wahrscheinlich hört er mit solchen Rundreisen erst auf, wenn sich eines seiner berühmtesten Lieder für ihn erfüllt: „Knockin’ on Heaven’s Door“.

Wer ihn je im Konzert erlebt hat, weiß, dass Dylan zwischen den Songs wahrlich nicht lange schwafelt, sondern nur die allernötigsten Ansagen macht. Wie seine Klassiker, die das Publikum immer und immer wieder hören will (am liebsten mit Mundharmonika), dann tatsächlich live klingen, das weiß man vorher nie.

Er richtet seine Kreationen stets wieder anders zu, zuweilen hat er sie den Zuhörern auch lustlos hingeworfen, als wären es wertlose Bruchstücke. Erwartungen zu bedienen, ist seine Sache noch nie gewesen. Ich hatte das Glück, bei seinen Auftritten auch erhabene, strahlende Momente wie für die Ewigkeit zu erleben. Naja, für die Lebzeiten-Ewigkeit. Und ein bisschen darüber hinaus.

Und er kann doch singen

Immer wieder haben Leute spöttisch behauptet, Bob Dylan könne nicht singen, sondern nur nuscheln und näseln. Das ist natürlich Quatsch. Er singt wie kein anderer, auf ureigene Art perfekt phrasiert und mit untrüglichem Gespür fürs richtige Wort im richtigen Augenblick. Er singt eben so, wie seine Songs gesungen werden müssen; auch dann, wenn er sie mal mit Ingrimm selbst verhunzt. Millionen haben es probiert, doch es ist blanker Unsinn, einen solchen Sound nachzuahmen. Es kann nie und nimmer gelingen. Und es geht bei all dem nicht um stimmliche Glockenreinheit.

Es gibt einen Film, der ein lang zurückliegendes Treffen zwischen Donovan (kürzlich 70 geworden) und Dylan zeigt. Irgendwo backstage spielen die beiden einander etwas vor. Zuerst Donovan. Sehr schön, fürwahr. Er war ja auch kein Stümper. Dylan selbst soll einmal gesagt haben, Donovan sei der bessere Gitarrist. Doch dann greift Dylan ungemein lässig zum Instrument – und vom ersten Ton an ist klar, dass seine Schöpferkraft, seine Präsenz und sein Charisma Donovans Habitus bei weitem übersteigen.

Welches sein allerbester Song sei? Darüber könnte man ebenfalls lange palavern. Ich halte es vor allem mit einigen früheren Titeln, darunter „Love minus Zero (No Limit)“, „All Along the Watchtower“, „Just Like a Woman“, „Shelter From the Storm“ oder „Lay Lady Lay“. Ach, jetzt könnte ich doch noch Dutzende nennen, nahezu unaufhörlich, aber ich lasse es bleiben. Wer will schon einzelne Sterne vom Firmament zupfen?




Das Geld ist knapp, die Chefin kündigt: Wie sehr kriselt es im Hammer Museum?

Keine sonderlich guten Nachrichten kommen derzeit aus dem Gustav-Lübcke-Museum: Von Verlusten und mangelndem Besucheraufkommen ist in Hamm die Rede. Inzwischen hat Museumsleiterin Dr. Friederike Daugelat (40) gekündigt. Doch was verbirgt sich dahinter? Und hat beides miteinander zu tun?

Einen solch krisenhaften Zusammenhang bestreitet die bis Jahresende amtierende Museumschefin entschieden. Den Revierpassagen sagte sie heute: „Meine Kündigung hat ausschließlich persönliche Gründe.“ Tatsächlich wechselt sie in einen neuen Job, in dem ihre Verantwortung eher noch wächst: Friederike Daugelat, die Anfang 2013 nach Hamm gekommen war, wird ab Januar 2017 Referatsleiterin beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und ist dort für mehrere LWL-Museen zuständig, vor allem auf dem Feld der Beratung und strategischen Planung.

Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

Hamms Oberbürgermeister Thomas Hunsteger-Petermann forderte unterdessen im WDR-Hörfunk (Landesstudio Dortmund), was der OB einer finanziell klammen Kommune von der lokalen Kultur halt so verlangt: „Wir müssen die Besucherakzeptanz, die Bevölkerungsakzeptanz noch einmal deutlich verstärken.“ Er und andere Kommunalpolitiker wollen bewirken, dass das Museum kein Eigenbetrieb mehr ist, sondern wieder in städtische Regie überführt wird.

Gespräche über eine solche Neuorganisation laufen laut Friederike Daugelat schon seit längerer Zeit. Die Führung als Eigenbetrieb habe bislang abrechnungstechnische Gründe gehabt, die wegen geänderter Bestimmungen künftig entfallen. Somit sei es wohl vernünftig, das Museum wieder an die Stadt anzugliedern. Auf diese Weise ließen sich einige Kostenblöcke (z. B. für Wirtschaftsprüfer) einsparen.

Unterdessen war in einem Bericht des „Westfälischen Anzeigers“ (Presse-Platzhirsch in Hamm) von 156.000 Euro Verlusten die Rede, die das Museum 2015 angehäuft habe. Auch dies erklärt Daugelat mit Besonderheiten der Buchhaltung. 2014, gegen Ende der zweijährigen Umbauzeit des Museums, seien Kosten angefallen, die erst 2015 belastend zu Buche gestanden hätten. Dem stünden positive Abschlüsse aus anderen Jahren gegenüber, so dass die Bilanz auch politisch abgesegnet worden sei.

Und wie verhält es sich mit dem Zuspruch des Publikums? Eine Ausstellung mit finnischer Malerei zog 12.000 Besucher ins abseits der großen Kulturströme gelegene Hamm. Eine speziell für Kinder konzipierte Mitmach-Schau über die technischen Fähigkeiten der Alten Römer hat vor wenigen Tagen die Besuchermarke von 10.000 überschritten und dauert noch – über die Herbstferien hinweg – bis Ende Oktober. Für ein Museum in der kulturellen und touristischen Diaspora sind das keine schlechten Zahlen.

Zudem war das (tendenziell unterfinanzierte) Haus erst ab März 2015 nach langer Umbaupause wieder eröffnet worden, und zwar sukzessive, eine Abteilung nach der anderen, mit deutlichen Zeitabständen. Also haben sich auch die Besucherzahlen nur zögerlich entwickeln können.

Nach städtischen Vorgaben, so Friederike Daugelat, soll das Museum jährlich mindestens 36.000 Besucher anziehen. Diese Zahl werde 2016 auf jeden Fall erreicht und überschritten. Es sei realistisch, die Marke von 40.000 Besuchern anzupeilen.

Ach so, ja, Kunst wird es im Gustav-Lübcke-Museum auch noch geben: Die nächste, noch von Daugelat kuratierte Sonderausstellung beginnt am 18. Dezember und heißt „Lieblingsorte – Künstlerkolonien. Von Worpswede bis Hiddensee“.




Wahnwitz bei der Telekom: Was der simple Transfer von Telefonnummern kostet

Ja, Leute, ich weiß, dass man z. B. Telefonnummern, die man auf seinem Handy/Smartphone gespeichert hat, in einer Cloud, auf Karte, Stick, PC oder sonstwo auf diesem gottverdammten virtuellen Planeten aufheben und sodann in ein anderes Gerät rieseln lassen kann. Wenn man’s kann.

Alles kinderleicht wahrscheinlich, wenn man so ein Nerd oder ein ständig aufs Display starrender Handy-Maniac ist. Ich jedenfalls habe zwar das externe Speichern, nicht aber den Transfer hinbekommen und sah mich mal wieder höllisch angewiesen auf den so genannten Service der Telekom.

Also suchte ich ganz dreidimensional einen T-Shop in der Innenstadt auf. Dort sind die meisten Mitarbeiter(innen) recht nett. Doch was hilft’s? Sie haben halt ihre Vorgaben und ihren eng begrenzten Handlungsrahmen. Ergo: Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren…

Im Bannstrahl der Telekom (Foto: BB)

Im Bannstrahl der Telekom (Foto: BB)

Und jetzt ratet mal, was dieser saubere Konzern für die klitzekleine Dienstleistung verlangt, Telefonnummern von einem alten Smartphone auszulesen und eben mal schnell aufs neue Gerät derselben Apfel-Marke zu schaufeln. Ungefähr 9 Euro? Ja, das hat es vor ca. zwei Jahren tatsächlich mal gekostet und schien mir auch schon etwas überteuert zu sein. Es braucht ja nur eine unscheinbare Apparatur und ein paar Fingertipps zum Copy & Paste.

Die werden doch nicht inzwischen ihren Preis für das bisschen Gefummel auf rund 20 Euro verdoppelt haben? Nein, nein, keineswegs.

Nicht nur verdoppelt.

Sollten sie einen etwa mit satten 30 Euro zur Kasse bitten? Quatsch, wo denkt ihr hin.

Auch das reicht ihnen nicht.

40 Euro? „Nein, sag, dass das nicht wahr ist…“ Ist es auch nicht.

Wir sind nämlich immer noch nicht am Gipfel der Unverschämtheit angelangt.

Nun gut. Ihr wollt die ganze Wahrheit wissen?

Die Telekom verlangt für die lächerliche Handreichung 49,95 Euro. Neunundvierzig komma fünfundneunzig Euro.

Sind die verrückt? Sind die bekifft?

Natürlich habe ich das wahnwitzige Angebot ausgeschlagen, mich lieber ca. zweieinhalb Stunden hingehockt und jede einzelne Nummer mühsam wieder neu eingepflegt.

Liebe Juristen, ich frage euch: Gibt es nicht einen Wucherparagraphen, der solch eine exorbitant unverhältnismäßige Preisgestaltung verbietet? Darf man denn alle Dämme brechen lassen?

Just gestern, einen Tag, nachdem ich mich – wie schon so oft – abermals über die Telekom und ihre Absurditäten geärgert habe, las ich mit einer gewissen Genugtuung in der FAZ-Sonntagszeitung einen Artikel von Dennis Kremer, der schon zwei Jahre zuvor an den Praktiken dieses Unternehmens verzweifelt ist.

Diesmal dreht es sich vor allem um die mehr als holprige Einführung der netzbasierten IP-Telefonie bei der Telekom und um die ständigen Pannen, die offenbar System haben. Da stimmt offenbar etwas an der ganzen Struktur nicht. Und obwohl (wie die Alltagserfahrung immer wieder zeigt) bei vielen Unternehmen der typische Hotline-Dilettantismus rapide um sich greift, behauptet doch die Telekom souverän eine Spitzenstellung auf diesem Gebiet.

Kurzum: Dennis Kremer ist in allen Punkten Recht zu geben. Seine Berichte stimmen ziemlich genau mit unseren eigenen familiären Erfahrungen überein. Hätten wir uns in den letzten Monaten punktgenau unseren Verdruss über die Telekom-Hotline und die abstrusen Folgen notiert, wäre eine Mixtur aus Odyssee, absurdem Theater und Slapstick dabei herausgekommen. Aber irgendwann haben wir es aufgegeben, das alles nachhalten zu wollen. In manchen Punkten haben wir mittlerweile fast resigniert. Sie zermürben einen. Aber das dann doch gründlich.

Über Wochen und Monate hinweg haben wir beispielsweise versucht, zwei Sprachboxen, die unter verschiedenen Endziffern an einem Hauptanschluss hängen, auseinander zu schalten, so dass die aufgesprochenen Nachrichten hübsch sortiert worden wären, wie es sich gehört und ehedem kein Problem war. Von jedem, aber auch wirklich jedem Hotline-Menschen kamen wieder andere Ideen. Und nichts von alledem hat funktioniert. Auch zwei Techniker, die schließlich vor Ort werkelten, standen staunend vor Rätseln und mussten ihrerseits bei einer speziellen Hotlinie nachfragen. Und auch das nur mit mäßigem Erfolg.

Da schrumpft ein Malheur wie die hier bereits gegeißelten, mangelhaften Mail-Ausdrucke schon fast zur Petitesse.

Doch sobald man einen Anbieterwechsel erwägt, bekommt man zu hören, andere seien „noch schlimmer“. Ja, wie soll denn eine solche Unterbietung menschenmöglich sein? Mit einer solchen Behauptung geht doch schier die ganze Logik zuschanden.




Dies und das in schmalen Spalten: Michael Angeles Buch „Der letzte Zeitungsleser“

Vom Buch mit dem Titel „Der letzte Zeitungsleser“ hatte ich mir einiges versprochen. Eine kulturgeschichtliche, womöglich auch ansatzweise literarische „Aufarbeitung“ des leidigen Themas war zu erhoffen.

Michael Angele, stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung „Der Freitag“, hat sich – vielleicht auch aus beruflicher Drangsal – der Malaise des gedruckten journalistischen Wortes angenommen.

9783869711287

Sein Buch ist in zeitungshafter Spaltenbreite von nur rund 30 Anschlägen pro Zeile gesetzt. Auf die Weise bringt man sehr schnell einige Buchseiten hinter sich. Furchtbar viel Text steht also nicht in diesem Band.

Zum Inhalt. Als besonderer Gewährsmann der früher weit verbreiteten Zeitungsleidenschaft wird der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard herangezogen, der beispielsweise kein Caféhaus gelten ließ, in dem man die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) nicht hielt. Einmal soll er 350 Kilometer gereist sein, um endlich eine NZZ zu bekommen.

Gleich das einleitende Zitat erfasst einen Moment, in dem der Sänger Udo Jürgens entgeistert feststellte, dass ihm gegenüber just Thomas Bernhard saß. Beide aßen Wurst und lasen dabei Zeitung. Welch eine Gleichzeitigkeit. Damals blätterten eben (fast) noch alle Leute.

Als Bernhards Gegenpol gilt ein weiterer Österreicher: Peter Handke, der Zeitungen und Journalismus verachtete, sich aber gleichwohl angelegentlich nach der einen oder anderen Rezension erkundigte.

Durchaus nostalgisch gestimmt, erinnert sich Angele, ehemaliger Macher der „Netzeitung“, an die entschleunigte Tageslektüre jener Zeiten, in denen es kein atemloses Internet mit wahnwitzigen Live-Tickern und allfälligen Hasskommentaren („Shitstorm“) gegeben hat. Selbst wenn es mal ein paar böse Leserbriefe hagelte, dann wurden sie in Form und Inhalt stark kanalisiert.

Bis in die mittleren 90er Jahre hinein (auch schon wieder rund 20 Jahre her), eröffnete die Zeitung noch einen hauptsächlichen Zugang zur Welt, die besten Blätter waren wahrhaft kosmopolitisch, aber eben noch nicht „globalisiert“. Überdies war die Zeitung eine ideale Tarnung für Menschenbeobachter, hinter der man sich gut verstecken konnte. Nicht der geringste Vorzug…

Besagter Thomas Bernhard tat in einem Interview kund: „…es ist ja in den Zeitungen überhaupt alles zu finden, was es gibt (…) Mehr kann man nicht finden.“ Gerade im boulevardesken Bereich lag eine wesentliche Stärke des Mediums, das merkwürdige Vorfälle aus aller Welt festhielt, welche oft genug literarische Werke anregten. Ja, Heinrich von Kleist brachte mit den „Berliner Abendblättern“ selbst eine Vorform späterer Boulevardblätter heraus.

Auch nicht völlig neu, aber immer noch gültig ist, dass die Zeitung mit dem Journalisten „einen recht windigen Menschenschlag hervorgebracht hat“, wie es zuerst in dieser Schärfe Honoré de Balzac in „Verlorene Illusionen“ beschrieben hat.

Von der „Renovierung“ der Süddeutschen Zeitung, insbesondere der Wochenendausgabe, ist noch en passant die Rede, von der sonntäglichen FAZ und der ungemein umfänglichen, durch schiere Fülle geradezu belastenden „Zeit“. Kann man nur einen Bruchteil lesen, bleibt ein Ungenügen, ein schlechtes Gewissen zurück. Wozu man sagen muss, dass auch die „Zeit“ früher noch dicker gewesen ist und längere Artikel enthalten hat.

Andererseits findet Angele die Schritt-für-Schritt-Erklärseite des „Tagesspiegel“ eher deprimierend. So sieht es aus, wenn man die Leser – wie die abgenudelte Formel lautet – „da abholt, wo sie sind“.

Geradezu rührend die Episode um den Vater einer Freundin, der tagtäglich das „Trostberger Tagblatt“ las, am Wochenende aber den Ehrgeiz aufbrachte, die Süddeutsche Zeitung ausgiebig zu absolvieren. Eine Hommage an den unbekannten Leser. Tempi passati.

Und auch das Klo als vielfach bevorzugter Ort der Zeitungslektüre bekommt seine pflichtgemäßen Zeilen. Warum denn nicht?

Um dem Buch doch noch etwas mehr namentliches Gewicht zu verleihen, hat Angele noch Franz Xaver Kroetz (inzwischen vorwiegend Online-Leser) und Claus Peymann befragt. Peymann sagt, er lese 10 bis 15 Zeitungen täglich. Wann inszeniert der Mann eigentlich noch?

Und so hangelt sich Angele von Einfall zu Einfall, vermeldet dies und das, als gelte es, einen längeren Beitrag für eine ambitionierte Wochenendbeilage zu bestreiten, nicht aber ein Buch. Gewiss, ein paar hübsche kleine Passagen und Anekdoten kommen da zusammen. Doch wird man nicht so richtig satt.

Michael Angele: „Der letzte Zeitungsleser“. Verlag Galiani Berlin. 160 Seiten (153 Seiten reiner Text), 16 €.




Vor 50 Jahren hob das Raumschiff „Orion“ ab

Der folgende Beitrag ist erstmals am 13. August 2013 in den Revierpassagen erschienen. Anlass der neuerlichen Veröffentlichung: Gestern (17. September) vor 50 Jahren hat die Ausstrahlung der legendären Reihe begonnen. Hier also nochmals der Text von 2013:

So hat man sich vor 47 Jahren die Zukunft vorgestellt: Die Menschen leben in einer keimfreien Unterwasserwelt. Das Mobiliar sieht poppig und furchtbar avantgardistisch aus. Leute in Einheitskluft vollführen schon mal seltsam roboterhafte Tänze. Vor allem aber brechen sie tagtäglich in die unendlichen Weiten fremder Galaxien auf.

Dietmar Schönherr, Wolfgang Völz und Eva Pflug in der Auftaktfolge von "Raumpatrouille". (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=FGcIy76N9sY)

Dietmar Schönherr, Wolfgang Völz und Eva Pflug in der Auftaktfolge von „Raumpatrouille“. (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=FGcIy76N9sY)

Willkommen bei der „Raumpatrouille“, der legendären Science-Fiction-Spielserie aus den 1960er Jahren! Willkommen an Bord des Raumschiffs „Orion“!

Der „alte Adam“ ist noch lebendig

Als „Märchen von übermorgen“ wird das Ganze schon im Vorspann der einstündigen Auftaktfolge bezeichnet, die ich mir jetzt noch einmal angesehen habe. Unter den Erdbewohnern herrscht Frieden, es gibt keine Nationalstaaten mehr. Doch der blaue Planet muss sich unentwegt gegen extraterrestrische Angreifer wehren – allen voran die geheimnisvoll glitzernden, ungreifbaren „Frogs“, gegen die auch Laserpistolen nichts ausrichten können. Trotzdem sind sie an einem Punkt verwundbar…

Auch der „alte Adam“ ist in dieser fernen Zukunft noch lebendig. Es gibt immer noch Hierarchien und Intrigen, aber auch Teamgeist und Freundschaft. Und es gibt immer noch diese uranfängliche, zuweilen etwas komplizierte Sache zwischen Männern und Frauen.

Dietmar Schönherr als smarter Kommandant

Im Zentrum der am 17. September 1966 gestarteten, siebenteiligen ARD-Reihe schwebt natürlich das Raumschiff „Orion“ unter dem Kommando des smarten Allister McLane (Dietmar Schönherr). Weil der oft allzu husarenhaft und eigenmächtig vorgegangen ist, degradieren ihn die Chefs für eine Bewährungsfrist von drei Jahren. Auch stellen sie ihm als Aufpasserin die rigide Sicherheitsoffizierin Tamara Jagellovsk (Eva Pflug) zur Seite, was der eingeschworenen „Orion“-Besatzung gar nicht in den Kram passt. Ein Hauptstrang der Serie schildert denn auch gruppendynamische Prozesse.

Der „Kalte Krieg“ und die Verweigerung

Man beachte den russisch klingenden Namen Jagellovsk und stelle sich vor, dass das alles mitten im Kalten Krieg (und vor der ersten Mondlandung) gesendet wird. Da ist es schon eine kleine Sensation, dass jene Tamara gelegentlich menschliche Seiten durchschimmern und mit sich reden lässt. Das Dauerthema Gehorsams-Verweigerung deutet, wenn man so will und genau hinhört, schon zaghaft auf die Rebellion von 1968 voraus. Jedenfalls ist es sozusagen sternenweit entfernt vom „Kadavergehorsam“ im Zweiten Weltkrieg, der damals gerade erst 21 Jahre zurücklag.

So erlesen auch das Darsteller-Ensemble war (außer Schönherr und Pflug u. a. Wolfgang Völz, Benno Sterzenbach, Friedrich Joloff usw.), wurde es doch beinahe in den Schatten gestellt, nämlich von den ungemein kreativ ausgeklügelten Spezialeffekten, die mit einfachsten Mitteln bewerkstelligt wurden. Computer im heutigen Sinne gab es halt noch nicht. Aber Phantasie und Tüftlergeist waren reichlich vorhanden!

Spezialeffekte mit Reis, Rasierklinge und Bügeleisen

So wurde ein interstellarer Lichtsturm mit Hilfe hochgeworfener Reiskörner erzeugt. Kosmische Strahlen? Die ritzte man mühsam in die einzelnen Filmbilder ein – per Handarbeit mit einer gewöhnlichen Rasierklinge. Berühmtheit erlangte das Bügeleisen, aus dem im Handumdrehen ein Bestandteil der futuristischen Raumschiff-Armaturen wurde. Oft halfen bewusst unscharf aufgenommene Bilder, viele aufgeregt blinkende Glühbirnchen oder wallende Nebelschwaden, um den galaktischen Budenzauber zu inszenieren. Und dabei haben wir noch gar nicht die futuristische Geräuschkulisse mit ihren bizarren Halleffekten erwähnt.

Es wurde spannend erzählt, doch keineswegs ohne Humor und einen Schuss Selbstironie. Der technische Jargon wurde bis zur Parodiereife ausgereizt, menschliche Schwächen geradezu wonnewoll ausgekostet. Trotz tollster Raumfahrttechnik lebten die uralten Instinkte aus Verfolgungsjagden in Dialogen dieser Art fort: „Sie kommen!“ – „Nichts wie weg hier!“ So ähnlich muss sich das schon in der Steinzeit angehört haben.




In den Iran und nach Syrien: Sonderbarer Journalisten-Verband lädt zu Pressereisen ein

Nein, danke. Auf diese Einladung möchte ich wirklich nicht zurückkommen. (Repro/Ausriss: BB)

Nein, danke. Auf diese Einladung möchte ich wirklich nicht zurückkommen. (Repro/Ausriss: BB)

Da erreicht mich doch dieser Tage eine Einladungs-Mail zur Journalistenreise in den Iran. Aber wer steckt dahinter? Mal schauen…

Nun, mit der Nachfrage beginnen schon die Seltsamkeiten. Die etablierten Journalistenverbände DJV und dju (bei Ver.di) sind mir seit vielen Jahren aus beruflichen Zusammenhängen wohlvertraut, im DJV bin ich selbst Mitglied. Doch von einem vollmundig so benannten „Journalistenzentrum Deutschland e. V.“ hatte ich bis dato noch nichts gehört, auch nicht vom zugehörigen Träger „DPV“ („Deutscher Presse Verband e. V.“) und dessen Schwestergewächs bdfj (Bundesvereinigung der Fachjournalisten).

Für ihr sonderbares „Imperium“ haben sich die Betreiber auch noch die hochtrabend klingende Internet-Adresse www.journalistenverbaende.de gesichert; ganz so, als stünden sie – gleichsam als Dachorganisation – für Deutschlands journalistische Zusammenschlüsse überhaupt. Was natürlich kompletter Unsinn ist. Nebenbei gefragt: Woher haben die eigentlich meine private Mailadresse?

Etliche Ungereimtheiten

Ein wenig Nachforschung im Netz fördert schnell einen lesenswerten Beitrag des Journalisten Ulf Froitzheim zutage, der bereits 2009 für den „BJV Report“ (Zeitschrift des bayerischen Landesverbandes im renommierten Deutschen Journalisten-Verband DJV) auf gründliche Spurensuche gegangen war und derart viele Absurditäten, Ungereimtheiten und zweifelhaftes Gebaren beim „DPV“ vorgefunden hat, dass es kaum zu glauben ist.

Man sollte das nachlesen: Hier ist der Link zu Froitzheims Bericht, der einen Kaufmann namens Christian Zarm als (nahezu einzige) treibende Kraft des „DPV“ ausmacht, welcher offenbar aus einer Art Vespa-Motorroller-Fanclub hervorgegangen ist. Journalismus im eigentlichen und seriösen Sinne scheint demnach nicht gerade das Kerngeschäft des „DPV“ (gewesen) zu sein. Um es mal ganz vorsichtig zu sagen. Auch die auf eine einzige Person zugeschnittene Satzung des Verbandes sorgt, wenn man Frotzheim folgt, für ungläubiges Kopfschütteln. Übrigens hat sich Zarm laut Focus und Froitzheim in den 1990er Jahren auch schon mal als dubioser Doktortitel-Händler verdingt.

Zurück zum „DPV“. Von einem solch undurchsichtigen Vereins-Konstrukt mag ich mich jedenfalls nicht einladen lassen – erst recht nicht in den Iran oder gar nach Syrien. Diese letztere Reise, so heißt es auf der „DPV“-Homepage, sei freilich schon ausgebucht. Behaupten lässt sich ja so manches.

„Terminverschiebung möglich“

Unterdessen ist die Iran-Reise (Teilnehmerzahl von „ca. 8 Personen“ offenbar noch nicht erreicht) bereits einmal verschoben worden und wird nunmehr für 4. Bis 11. November angekündigt, plus/minus 1-2 Tage, wie es heißt. Zusätzliche Anmerkung: „Terminverschiebung möglich“. Da muss sich der interessierte Journalist (welche Zielgruppe wird hier eigentlich angepeilt?) halt mal eine Zeit lang mit gepackten Koffern bereithalten und demütig abwarten, was da kommen mag…

Überhaupt bleibt rätselhaft, was sich wohl hinter diesen beiden, jeweils einwöchigen Reisen verbirgt, deren angeblich (von wem?) subventionierter Pauschalpreis je 1980 Euro beträgt. Laut „DPV“ alias Journalistenzentrum Deutschland werden Details zum Ablauf – „auch aus Sicherheitsgründen“ – erst kurz vor dem Abflug bekannt gegeben. Man habe allerdings so gute Kontakte, dass Treffen mit Vertretern hochrangiger Institutionen „fest eingeplant“ seien. Aha.

Extremistenführer treffen

Damit bei weitem nicht genug: Als „Referenzen“ aus früheren Reisen werden ferner (neben vielen, vielen weiteren Grandiositäten) u. a. Begegnungen mit „lokalen Stammesfürsten, Interviews mit Extremistenführern (Al Qaida, Taliban)…“ genannt. Da schau her. Die trauen sich was. Zumindest verbal.

„Delegationsleiter“ (der „DPV“ und seine Ableger zahlen niemals in kleiner Wortmünze) soll offenbar Shams ul-Haq sein, der aus Pakistan stammende „Fachgruppenleiter für Internationale Beziehungen“, der anderwärts als Journalist und Terrorismusexperte firmiert – beides keine gesetzlich geschützten Berufsbezeichnungen, die sich also notfalls jeder anheften kann.

Apropos bisherige Trips: Es gibt bei YouTube ein reichlich bizarres, rund 20 zähe Minuten langes Video von der „Ersten europäischen Journalistenreise“ (wie gesagt: Sie lieben die prahlerischen Formulierungen) in den Iran – selbstverständlich unter Führung des genannten Shams ul-Haq. Zu orientalischer Musik werden da x-beliebige Filmaufnahmen einer irgendwie gearteten Pressereise gezeigt. Gegen Ende macht Shams ul-Haq dann auch mal ein albernes Späßchen. Was haben wir gelacht.

Schon im Filmvorspann werden als Teilnehmer Christoph Hein von der „Frankfurter Allgemein“ (sic!), Jörg Lau von der „Zeit“ und Daniel Steinworth von der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) genannt. In Sachen medialer Markennamen geht’s im hiesigen Sprachraum schwerlich edler, es fehlt eigentlich nur noch die „Süddeutsche Zeitung“. Und was ist wirklich dran? Das könnten wohl nur die Genannten bezeugen.

Undercover im Flüchtlingsheim

Zum Namen Shams ul-Haq finden sich im Internet einige Verknüpfungen, die zu denken geben. Sie gipfeln vorerst in der Rechtsaußen-Postille „Junge Freiheit“ als angeblichem Auftraggeber einer 2015 entstandenen Undercover-Reportage aus einem Flüchtlingsheim, mit der Shams ul-Haq seinerzeit mächtig hausieren ging. Auch die Netzadresse der außerordentlich „flüchtlingskritischen“ „Epoch Times“, die bei Shams ul-Haq ebenfalls anliegt, ist nicht gerade als fein verschrien.

Und weiter geht’s: Für den 3. Oktober wird in einem Verlag namens SWB Media Publishing ein Haq-Buch über Zustände in Flüchtlingsunterkünften angekündigt, es heißt bezeichnenderweise „Die Brutstätte des Terrors“. Aparte Zuspitzung im Zusammenhang mit Asylbewerbern, nicht wahr? Dabei ist Shams ul-Haq einst selbst als Flüchtling nach Deutschland gekommen.

Schon vorab werden zu dem Buch einige begeisterte Testimonials verbreitet, unter anderem ausgerechnet von Prof. Dr. Frank Überall, seines Zeichens vor allem umtriebiger WDR-Journalist und – Obacht! – Bundesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes DJV, der angeblich geäußert haben soll: „Ein spannendes Werk, das sicherlich viele Debatten auslösen wird.“ Ob mit diesem Zeugnis wohl alles so seine Richtigkeit hat?

Strittiger Wikipedia-Artikel

Besagter SWB (SüdWestBuchVerlag) scheint übrigens längst nicht nur als klassischer Verlag tätig zu sein, sondern vorwiegend mit Books on Demand (BoD) zu handeln und zudem vielfach als „Dienstleister“ aufzutreten, sprich: auf dem Felde des umstrittenen Druckkostenzuschuss-Wesens. In einschlägigen Internet-Foren gehen die Meinungen dazu freilich auseinander.

Unterdessen ist für Shams ul-Haqs (von ihm selbst verfassten?) Wikipedia-Eintrag Löschung beantragt worden. Begründung auf der Diskussions-Ebene des Internet-Lexikons: „Es bestehen erhebliche Relevanzzweifel“. Nanu! Sollte der Mann etwa gar nicht so furchtbar wichtig sein, wie er sich offenbar nimmt? Mal abwarten, wie sich der Vorgang entwickelt.

So weit also die ersten Ergebnisse einer bloßen Internet-Recherche, die noch erheblich ausgedehnt werden könnte. Aber ganz ehrlich: Ich mag mich nicht weiter auf solche Untiefen einlassen. Man wagt sich ja gar nicht auszumalen, was sich mit investigativen Mitteln aus solcherlei Ansätzen noch herausholen ließe.




Routine der Empörung oder: Die seltsame Sucht nach Krawall in den Schlagzeilen

Wie kommt ein Polit-Promi der A-, B- oder C-Kategorie knackig in die Medien? Indem er etwas Vernünftiges sagt, was dann allseits ernsthaft diskutiert wird. Haha. Guter Gag. Nein, leider oft in erster Linie mit verbalem Krawall, Provokation und „Tabubrüchen“.

Beispiele hatten wir jüngst zuhauf. Donald Trump ist in dieser Disziplin der Champion aller Klassen, beispielsweise mit seinem Smash-Hit „Wenn wir schon Atomwaffen haben, warum setzen wir sie nicht ein?“ Er kam auch noch mit einigen anderen Krachern in die Charts. Eine milliardenteure Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen und die blöden Mexen dafür zahlen lassen wollen, das war sein Latin-Sound mit dem besonderen Salsa-Feeling.

Wenn du kein honorarfreies Bild hast, so nimm einfach ein selbst fotografiertes Einhorn (alte Journalisten-Weisheit). (Foto: Bernd Berke)

Wenn du sonst kein honorarfreies Bild hast, so nimm einfach ein selbst fotografiertes Einhorn (alte Journalisten-Weisheit). (Foto: Bernd Berke)

Ähnlich penetrant, wenn auch auf weitaus kleinerer Macht- und Bedrohungsflamme, gerieren sich deutsche Polit-Barden, vorwiegend auf dem Gebiet der tümelnden Volksmusik. Oder gleich „völkisch“. Mit diesem historisch immens vorbelasteten und nimmermehr zu rettenden Wort jonglierte dieser Tage bekanntlich die AfD-Chefin Frauke Petry. Sie möchte es aufgewertet wissen.

Viel Luft nach rechts unten bleibt da nicht mehr. Wird sie bald das Wort „Führer“ enthistorisieren und sodann positiv aufladen wollen, wird sie den Holocaust relativieren oder das abgründige „Arbeit macht frei“ als aufmunternde Parole lesen wollen? Man weiß es nicht. Jedenfalls ist in derlei Provo-Sprech ein Zwang zur ständigen Überbietung und Steigerung eingebaut. Und nachher will man’s wieder nicht gewesen sein.

Da hat’s der CSU-Bierzeltmann Horst Seehofer vergleichsweise ein paar Nummern harmloser und doch lachhaft genug getrieben. Sein Holzhammer-Vorschlag, ARD und ZDF zusammenzulegen (damit dann irgendwann nur noch private Prekariats-Sender übrig bleiben?) ist allzu durchsichtig. Weil gerade die öffentlich-rechtlichen Medien ihn kritisch betrachten, will er sie gleich dezimieren. In Kindertagesstätten geht es manchmal rationaler zu.

Viele Medien spielen als Verstärker die üblen Spielchen des haltlosen Ausposaunens mit, nicht immer ganz unfreiwillig. Und machen wir uns nichts vor: Weite Teile des linken und liberalen Spektrums gieren insgeheim nach solch idiotischen Aussagen, um sich gehörig aufzuregen und aber so was von deutlich sichtbar auf der richtigen Seite zu stehen. Das geschieht inzwischen so ungefähr im Dreitages-Abstand; ganz so, als müsse auch hierbei die Dosis ständig erhöht werden. Es ist eine Sucht nach permanentem Alarm.

Erst wenn die dummen Sprüche (gegen die man ja auch angehen muss) via Talkshow, Interview oder dergleichen in der Welt sind, können Besserwissende mit selbstgerechter Empörungs-Routine loslegen, indem sie kübelweise Belehrungsbrei bzw. mehr oder weniger treffliche Häme ausgießen. Dürftiger noch, wenn sie nur noch abgedroschene, längst nicht mehr per se „vielsagende“ Formeln à la „Der Schoß ist fruchtbar noch“, „Wehret den Anfängen“ bzw. „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte“ vom Stapel lassen. Nicht, dass diese klassischen Satzfetzen neuerdings unwahr wären. Doch häufig werden sie ohne weitere Mühen der Argumentation benutzt.

Im allfälligen Shitstorm werden eventuell problematische, aber eben partout nicht „faschistische“ Figuren wie de Maizière oder erst recht Seehofer und Söder flugs zu Quasi-Nazis ernannt. Danach bleiben dann für wirkliche Rechtsradikale kaum noch passende Worte übrig. Da sehnt man sich doch nach abwägender Nüchternheit.




Schalke vs. Bayern 0:2 – von Dusel, Revier-Solidarität und zweifelhaften Verknüpfungen

Und wieder hat’s – neben dem bekannten Können – der übliche Bayern-Dusel gerichtet. Sie haben Schalke mit 2:0 unter Wert geschlagen. Warum nur hat Huntelaar diesen unseligen Lattentreffer nicht reingemacht? Und überhaupt…

„Lewandowski macht den Unterschied“ schreibt oder palavert in derlei Fällen der gemeine Sportreporter. Wir rufen ihm spontan und beherzt zu: Halt doch den Schnabel! Morgen drücken wir uns dann etwas zivilisierter aus. Oder auch nicht.

Screenshot vom Spiel Schalke 04 - Bayern München (© Sky Bundesliga)

Screenshot vom Spiel Schalke 04 – Bayern München (© Sky Bundesliga)

Schalke hat sich eindeutig verstärkt, der neue Trainer Weinzierl scheint wahrhaftig ein Konzept zu haben. Doch was hat es heute genutzt? Die Blauen stehen ganz hinten in der Tabelle, doch das wird sich gründlich ändern.

Was vorher geschah: Kaum war die Bundesliga nach schier ewig anmutender Pause endlich wieder gestartet, hatte es gleich diese zwei dämlichen Länderspiele gegen Finnland und Norwegen gegeben. Welch eine unsinnige Planung. Umso mehr dürstete man nach Fortsetzung der wahren Kicks – und die gab’s heute gleich mit der ziemlich hoch anzusiedelnden Partie FC Schalke – Bayern München.

Als Dortmunder und BVB-Anhänger tut man sich gerade mit dieser Begegnung ziemlich schwer. Instinktiv möchte man zu beiden n i c h t halten und möglichst beiderseits je null Punkte und null Tore vergeben. Aber das geht ja nun mal nicht.

Außerdem ist dies schließlich eine Nagelprobe auf die Revier-Solidarität. Wenn schon, dann muss man es in solchem Falle wohl mit den Schalkern halten. Die altgediente und gar oft ausgekostete Rivalität an Ruhr und Emscher muss dabei einmal hintan stehen; übrigens in umgekehrter Richtung auch morgen, wenn’s für den BVB gegen diesen seltsamen Retorten-Club aus Leipzig geht.

Wo wir gerade bei Leipzig sind: In Dortmund und Gelsenkirchen spielen selbstverständlich jeweils „Elf Freunde“ (plus ein paar weitere Kumpel) ohne Ansehen des Kommerzes. Einfach aus Spaß an der Freud’. Gut, nech?

Aber mal im Ernst: Dass etliche BVB-Fans an diesem Wochenende lieber den eigenen Amateuren zuschauen und das Bundesliga-Match gegen Leipzig nur kollektiv im Radio hören wollen, das hat doch was.

Noch’n kleiner Einschub: Auf Dauer nervt es ein wenig. Im Ruhrgebiet wird selbst bei vielen journalistischen Kultur-Terminen auf die Konkurrenz zwischen Schalke 04 und BVB 09 abgehoben. Nichts geht ganz ohne Fußball. Und wer zählt die Leute, die an stinknormalen Tagen im sündhaft teuren BVB-Trikot durch die Straßen gehen? Von ballonseidenen Trainingsklamotten ganz zu schweigen.

Aber ich verplaudere mich. Ganz gegen meine Gewohnheit.

Schalke – Bayern also. Tagsüber hatte schon die Nachricht für netzweite Häme gesorgt, dass der Vereinsstatus des FC Bayern juristisch angefochten wird, vielleicht droht sogar eine Löschung aus dem Vereinsregister mit eventuell weit reichenden Folgen. Vielen wär’s gerade recht.

Schalker Fans hielten vor dem Anpfiff Transparente hoch, auf denen sie ihre „alten Helden“ von Kuzorra über Klodt und Libuda bis Wilmots priesen. Wer hat, der hat. Auch wenn es schon lange her ist.

Im Spiel begann Bayern stärker, doch Schalke fuchste, fudelte und wurschtelte sich relativ rasch `rein, wurde dann hie und da wirklich gefährlich, um nicht zu sagen: streckenweise ebenbürtig.

Bayerns Hummels holte sich früh eine gelbe Karte ab, was ihm beim BVB so gut wie nie passiert ist. Das sollte ihm zu denken geben.

Fast schon niedlich, wie sie immer noch ihren Ex-Torhüter Manuel Neuer auspfeifen, der schon vor Jahren zu den Bayern gegangen ist.

Schiedsrichter Manuel Gräfe verletzte sich und bekam einen königsblauen Wadenverband. Wenn das mal nichts zu bedeuten hatte…

Doch nein. Der letztmalige Meister des Jahres 1958 (S 04), der mit Gazprom und dem Fleischfabrikanten Clemens Tönnies nicht gerade sympathische Wirtschaftsverbindungen geknüpft hat, hat es wieder einmal dem BVB et al. überlassen, die Bayern in der Liga zu bremsen – wenn’s denn dazu kommt. Denkt euch an dieser Stelle zwei bis drei tiefe Seufzer.




Wenn die Eschen und Kastanien sterben…

Obacht, hier kommt ein Text, der im naiv-grünen Sinne von „Mein Freund, der Baum“ rezipiert werden könnte und den manche vielleicht belächeln oder herzig finden werden. Mir doch egal. Ich mache mir trotzdem Sorgen um „unsere“ Kastanien. Und um ein paar andere Bäume, zum Exempel Eschen. Ernsthaft jetzt.

Das waren noch Zeiten: Kastanienblüte in der Dortmunder Arndtstraße am 8. Mai 2009. (Foto: Bernd Berke)

Das waren noch Zeiten: Kastanienblüte in der Dortmunder Arndtstraße am 8. Mai 2009. (Foto: Bernd Berke)

Die bange Rede ist von heftigen Baumkrankheiten, gegen die offenbar einstweilen kein Kraut gewachsen ist. Die Ruhrnachrichten schrieben bereits im Juli über „Blutende Stellen am Hauptstamm, eingetrocknete Äste“ und starken Blattverlust. Es schmerzt schon beim bloßen Lesen. Es sei denn, man gehöre zu jenen impotenten Vollidioten, die immer schon lauthals tröten „Mein Auto fährt auch ohne Wald“.

Was im Juli drohte, ist im September wohl noch dringlicher geworden. Dieser Tage berichtete der WDR in TV und Hörfunk (Landesstudio Dortmund) vom rapide fortschreitenden Befall. Während die Ruhrnachrichten noch quasi-wissenschaftlich vom Bakterium der Spezies Pseudomonas syringae pv. aesculi geraunt hatten, gab sich WDR-Autorin Claudia Wietfeld jetzt geradezu poetisch morbid: „Falsches weißes Stengelbecherchen – so schön der Name – so tödlich die Krankheit“.

Wenn man solchen winzigen Wesenheiten denn böse Absichten unterstellen will: Heimtückische Bakterien sind also am Siechtum der Kastanien schuld. In den Eschen-Beständen wütet derweil ein (asiatischer) Pilz. Die Bäume verfaulen elendiglich. Nur gut, dass wir sie nicht schreien hören.

Haben die lokalen Medien den Sachverhalt nun aufgebauscht oder womöglich sogar noch unterschätzt?

Schon werden die Äxte und Motorsägen geschärft: Hunderte Bäume müssen allein in Dortmund gefällt werden. Auch in den Nachbarstädten Hagen und Witten geht’s sozusagen ans Eingemachte. Und wer weiß, wo sonst noch überall. Schon munkelt man, in zehn bis 15 Jahren könne die Kastanie im Revier ganz und gar ausgestorben sein.

Alles bloße Panikmache? Das in den 80er Jahren immerzu beschworene Waldsterben ist ja auch nicht so apokalyptisch eingetreten. Und heute sehnen altgediente Zyniker an jedem etwas kühleren Tag den wahren Klimawandel mitsamt tropischen Temperaturen herbei.

Doch nun mal von der naturnahen, meinethalben treudeutschen Gemütsanwandlung („Waldeslu-hu-hust“) aufs Gelände der schieren Ästhetik, also zur Kultur übers Pflanzwesen hinaus: Ich mag mir einige schattige Straßen nicht ohne die bislang so majestätischen Kastanien vorstellen. Ich mag mir auch nicht ausmalen, dass Kinder in den Herbsten der näheren Zukunft keine herabgefallenen Kastanien mehr sammeln können, wie es gerade jetzt wieder an der Zeit ist. Mir geht’s da übrigens nicht nur ums Basteln von Kastanienmännchen.

Wieso ist eigentlich noch kein Gegenmittel gefunden? Schläft die Forschung? Und ist mal wieder vor allem das Ruhrgebiet betroffen, während Holsteiner, Bayern und Schwaben weiterhin unter Kastanien lustwandeln? Das kann doch wohl nicht wahr sein.




Wo alles unentschieden bleibt: Genazinos Roman „Außer uns spricht niemand über uns“

Schon auf Seite 9 wehrt sich der namenlose Mann auf seine Weise gegen allseitige Überforderung durch anbrandende Wirklichkeit: „Ich schloss die Fenster und schaltete aus Ratlosigkeit das Radio ein.“

Doch dort läuft ein läppisches Gewinnspiel. „Es war unglaublich: Solche zerknautschten Hausfrauenspäße machte der Rundfunk immer noch.“

Genazino_25273_MR1.indd

Nirgendwo scheint Rettendes zu wachsen, nicht einmal im Rückzug.

Sehnsucht nach Bedeutsamkeit

Auch in seinem neuem Roman, der den bereits zagend klingenden Titel „Außer uns spricht niemand über uns“ trägt, lässt Wilhelm Genazino wieder (s)einen überaus empfindlichen Menschen durch die Stadt streifen und ratlos im Zimmer sitzen, der den Alltag als ungeheure Summierung und Verdichtung kleinster Vorfälle erlebt, welche sich noch und noch häufen und als vielfach zersplittertes Rätsel vor ihm aufragen. Nur wenige Anblicke bieten Labsal, die meisten Erlebnisse verstören.

Eine tiefere, dauerhafte Bedeutung erschließt sich ihm aus all den winzigen Beobachtungen jedenfalls nicht. Dabei sehnt er sich so sehr nach einem bedeutsamen Leben. Doch wie soll man das anfangen, angesichts all der Unübersichtlichkeit?

Unendliche Fortschreibung

Genazinos Romane muten zuweilen wie eine endlose, freilich immer wieder faszinierend genaue Fortschreibung an: Der Ich-Erzähler, naher Verwandter und Wiedergänger bisheriger Figuren des Autors, ist diesmal ein gescheiterter Schauspieler, welcher sich damit durchhangelt, den einen oder anderen Text für den auch unter Sparzwang stehenden Rundfunk zu sprechen. Wegen Geldknappheit muss er sich daher schon mal herbeilassen, Modenschauen in der Provinz zu moderieren. Eine immerhin noch schuldenfreie Existenz, doch nur knapp oberhalb des Prekariats am Rande des Kulturbetriebs.

Zwischendurch hat dieser Mann also viel übrige Zeit zum Grübeln beim eher freudlosen Flanieren (auch Bahnhöfe und Museen sind keine rechten Fluchtorte mehr wie ehedem). Vor allem sinniert er über seine rundum ungeklärte Beziehung zu Carola, deren Tattoo- und Marathonlauf-Anwandlungen ihn irritieren.

Täppische Tröstungen

Ob sie in seine kleine Wohnung zieht, ob sie beide noch Kinder haben wollen, inwiefern sie überhaupt treu sein will – alles bleibt unentschieden in der Schwebe. Es ist eine zuwartende Zuneigung mit täppisch rührenden Momenten, eher unbeholfene Tröstung als Erotik, sozusagen kuschelndes Rest-Sexeln.

Seine Erinnerung schweift zurück zu früheren Begebenheiten mit diversen Frauen, die zumeist einen absurden oder peinlichen Beigeschmack haben. Doch was heißt schon Erinnerung? „Die fehlenden Erlebnisse betätigten sich als Geschichtenfinder und füllten dreist die Erinnerung.“ Auch da gibt es keinen verlässlichen Halt.

Keine Erlösung in Sicht

Die allumfassende Unentschiedenheit mündet in solche Sätze: „Es geschah nichts, es wurde keine neue Schuld sichtbar, aber es trat auch keine Durchsichtigkeit ein und keine Erlösung.“ Große Worte.

In ruhigeren Phasen genießt der Erzähler seine eigene Zerstreuung, er will dann gar nichts anderes mehr. Doch dann naht wieder schleichendes Ungenügen – oder es springt ihn geradezu an.

Zerlumpte Menschen

In sämtlichen Lebens- und Text-Fasern spürbar ist eine soziale Unsicherheit, deren Niederungen sich auch im Stadtbild als öffentliches Elend zeigen: „Ich sah die zunehmende Zerlumptheit der Menschen…“ Es sind nicht nur Übungen in bloßer Empfindsamkeit, dies ist ein sozialer Roman über die Wirklichkeit in unseren Städten, ob sie nun Frankfurt oder sonstwie heißen.

Und wie geht es mit Carola weiter? Katastrophal. Erst erleidet sie eine Fehlgeburt, dann verlässt sie ihn – allerdings auch nicht so ganz richtig. Bald darauf folgt, quasi in einem Nebensatz, die nahezu banale Mitteilung: „Carolas Selbstmord war für alle, die Carola kannten, ein Schock.“ Ja, was denn auch sonst?

Helden der Verschrobenheit

Es reihen sich nun Szenen und Inbilder der hilflosen Trauer, des Stillstands. Überforderung wird vollends zum alles beherrschenden Hauptwort. Gleichzeitig erweisen sich manche Mechanismen der Wahrnehmung als verschlissen. Auch das bislang so heilsame Gehen durch die Stadt hilft wohl nicht mehr. Wo ist die wahre Gegenwart, die nicht gleich wieder vermodert?

Dass ausgerechnet Carolas Mutter die nächste Frau ist, mit der der traurige Held schläft, mag man eigentlich kaum für möglich halten. Und doch hört es sich seltsam glaubhaft an.

Wilhelm Genazino schreibt nach wie vor eine Prosa, der man – auch wenn sie sich im Duktus perpetuiert – mit angehaltenem Atem folgen kann. Man darf möglichst keinen Satz überlesen, keine Regung übersehen. Wer gern aphoristisch zugespitzte Passagen anstreicht, wird ein Genazino-Buch am Ende übersät vorfinden. Und immer wieder liest man staunend von der mal sanften, mal schroffen, immer aber geradezu heldenhaften Verschrobenheit, mit der sich Genazinos Gestalten der zerfaserten Realität stellen.

Übrigens: Gibt es eigentlich schon germanistische Aufsätze über das Motiv der Jacke in Genazinos anschwellendem Oeuvre? Wenn ich mich nicht irre, scheint das Utensil spätestens seit seinem Buch „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ immer wieder an markanten Romanstellen aufzutauchen.

Wilhelm Genazino: „Außer uns spricht niemand über uns“. Roman. Hanser Verlag. 155 Seiten. 18 Euro.




Jan Böhmermann ist zurück – Und? Hat er es etwa wieder getan?

Ach, du Schreck: Jan Böhmermann ist wieder da! Nach langer, langer Sommer- und Nachdenk-Pause hat er soeben mit dem „Neo Magazin Royale“ im Minderheitenkanal ZDF Neo seinen neuerlichen Einstand gegeben.

Und? Hat er? Nein, nichts da. Keine Witze über die Türkei und ihren übergroßen Vorsitzenden; lediglich eine vage Anspielung auf gehabte Schmähungen. Er will ja auch keinen juristischen Kamikaze verüben.

Jan Böhmermann - Screenshot aus seiner Sendung "Neo Magazin Royale" im Kanal ZDF Neo. (© ZDF Neo)

Jan Böhmermann – Screenshot aus seiner Sendung „Neo Magazin Royale“ vom 25. August 2016 im Kanal ZDF Neo. (© ZDF Neo)

Ansonsten stilisierte sich „Böhmi“ als munter drauflos rappender „blasser dünner Junge“, der halt seinen Job macht. Natürlich immer medial ganz vorn, virtuos die entsprechende Klaviatur bedienend; stets von der Meta-Ebene herab die Zeichen der Zeit wie im Fluge betrachtend. Hellwach, hochintelligent, funkelnd, kaum zu fassen, immer schon eine Umdrehung weiter, versteht sich. Ob es nun jeden Gag versteht oder nicht: Das Studiopublikum dankt es mit enthemmtem Gekreisch. Das muss dann wohl so sein.

Böhmermann führte eine mindestens dreifach pirouettenhaft eingesprungene, vielfach gewundene Klage über das diesjährige Ausbleiben eines journalistischen Sommerlochs. Da ist er schon mal einige Wochen lang nicht auf Sendung – und dann passieren haufenweise Sachen. Sachen! Unglaublich. Von Gabriels Stinkefinger über Gina-Lisa L., zu der er trotz allem unverbrüchlich halten möchte („ob sie will oder nicht“) – bis hin zu den Hamsterkäufen. Österreicher, so Böhmermann, haben allerdings für derlei gehortete Vorräte keinerlei Platz im Keller, weil… O, wie böse. Nein: pöse.

Es gibt keinen, der so gekonnt zwischen mimischer Verkrampfung und Lockerung schwankt. Überhaupt tobt er sich in Widersprüchen aus: Erst nennt sich Böhmermann postfeministisch und rühmt sich, mehr als die Hälfte seiner Redaktion bestehe nun aus Frauen, dann grüßt er die „geilen Fotzen“ da draußen vor den Bildschirmen. Bei all den inflationären Fick- und Wichs-Ausrufen ist freilich ein Ende absehbar. Das kann man nicht auf ewig strapazieren. Meine bescheidene Prognose: Böhmermann wird schließlich wohl völlig keusche Statements von sich geben müssen. Tourette hat keine Zukunft. Mag aber auch sein, dass solche Vorhersagen per se verfickte Scheiße sind. Äh…

Gast der Sendung war übrigens der CDU-Mann Wolfgang Bosbach, der just seinen Abschied aus der Bundespolitik verkündet hat. Höchst eigenhändig bügelte ihm Böhmermann Logo-Patches der Talkshows auf eine Rockerkutte, die der umtriebige Bosbach in den letzten Jahren heimgesucht hat. Und das waren etliche. Die zugehörigen Dialoge waren eher putzig, es kam nicht allzu viel dabei heraus. Wir werden doch nicht etwa ausgerechnet jetzt, da der (heiße?) Herbst sich ankündigt, verspätet im Sommerloch gelandet sein?




In der Zone von „dazn“: Es lockt ein neuer Streaming-Dienst für Sport

Ich gehöre zu den Männern der ersten Stunde. Nun gut, es ist nicht, was ihr vielleicht denkt. Keinesfalls habe ich eine veritable Pionierleistung vollbracht. Weder habe ich Neuland entdeckt noch ein gefährliches Abenteuer bestanden oder gar die Weltformel gefunden. Nein, ich zähle nur zu den ersten paar Tausend Mitgliedern eines Streaming-Dienstes, der erst diesen Monat seinen Betrieb in den deutschsprachigen Ländern aufgenommen hat. Und jetzt alle, ganz enttäuscht: Oooooch…

Screenshot von dazn-Angeboten auf der Homepage des Dienstes. (© dazn)

Screenshot von dazn-Angeboten auf der Homepage des Dienstes. (© dazn)

Zur Sache. dazn (www.dazn.com) heißt die Chose – und an der Erklärung, wie sich dieses rätselhafte Buchstabengebilde ausspricht, haben sich schon andere verhoben. Angeblich soll es sich wie „da zone“ anhören, also „the zone“ und ergo „Die Zone“ bedeuten. Hä? Na, egal. Wir Gimpel haben gedacht, die Zone hätte sich mit Wende und Mauerfall erledigt.

Albernen Spaß beiseite. Der neue, als deutscher Ableger der Londoner Perform-Gruppe in Ismaning bei München ansässige Anbieter verspricht massenhaft werbefreien Live-Sport via Streaming, angeblich rund 8000 Ereignisse pro Jahr – und das zu einem Lockvogel- oder Kampfpreis von 9,99 Euro im Monat. Eine entsprechende App gibt’s auch. Wer hätte das gedacht?

Und nein: Ich habe k e i n e n kostenlosen Pressezugang oder dergleichen korruptives Zeug beantragt, wie es vielleicht der eine oder andere Kollege versucht hätte. So komme ich auch nicht in Versuchung, vorab zu jubeln. Ich probiere es als gewöhnlicher Privatkunde mit einem anfänglichen Gratis-Monat aus, zumal jederzeit monatlich gekündigt werden kann. Schau’n mer mal. Vielleicht bin ich ja auch bald wieder `raus aus der Nummer.

Spitzenfußball aus England, Spanien usw.

Was gibt’s denn anfangs „für umme“ und nach der Probezeit für die 9,99 Euro? Bei dazn empfängt man (laut Anbieter auf PC, Mac, Tablet, Handy, netztauglichem Smart-TV und Spielkonsolen) zuvörderst Fußballspiele der englischen, spanischen, italienischen und französischen Ligen, folglich – von der Bundesliga einmal abgesehen – die Crème des europäischen Kickertums. Vieles lässt sich auch als „Re-Live“ (vulgo: Wiederholung) ausgiebig nachschmecken. Besser dann, wenn man das Resultat noch nicht kennt.

Rund um Bayerns Hauptstadt muss ein Nest sein: Ganz in der Nähe von Ismaning, in Unterföhring bei München, sitzt der Sportsender Sky, der bisher so unangefochten seine Kreise zog. Jetzt hat ihm dazn die so attraktive englische Premier League mit Typen wie Klopp, Guardiola, Pogba, Rooney, Mkhitaryan, Gündogan und all den anderen multimillionenschweren Stars weggeschnappt. In Spanien treten bekanntlich kaum schlechtere Sportler vor den Ball – und da reden wir nicht nur von Messi, Ronaldo und Bale.

Mehr noch: dazn darf auch Zusammenfassungen der Bundesliga zeigen – ab 2017 bereits 40 Minuten nach Abpfiff, also vor der ARD-Sportschau. Klingt nicht so übel. Okay, Sky bringt einstweilen noch die komplette 1. und 2. Bundesliga live, außerdem die Champions League und die Europa League. Aber dafür kassieren sie auch kräftig. Fragt mal die Kneipenwirte. Oder einzelne Fans.

Auch Ukraine, Korea und Angelsport

Sogar belgischen und skandinavischen Fußball (Dänemark und Schweden) gibt’s bei dazn obendrein. Wenn ich’s recht gesehen habe, sind überdies Partien aus Schottland, Serbien, Kroatien, der Ukraine und Südkorea zu haben. Die meisten Bewohner Deutschlands, der Schweiz und Österreichs könnten darauf wohl leichten Herzens verzichten. Je nun.

Aber ein paar interessante Partien dürften im Gesamtpaket immer mal wieder zu finden sein. Auch die Handball-Bundesliga nebst Pokalspielen ist für manchen „nicht ohne“.

Wer’s denn braucht, kann sich zudem an diversen Wettkämpfen im American Football (NFL), Basketball (NBA), Tennis (WTA- und ATP-Turniere), Motorsport (allerdings nicht Formel 1), Pferderennen, Rugby, Kampfsport sowie – aufgemerkt – Bowling, Darts und Sportfischen ergötzen. So viel passiven Sport braucht eigentlich kein Mensch. Sei’s drum. Es wird interessant sein zu beobachten, wie sich die Offerten im Laufe der Zeit verändern und ob sie sich verteuern.

Die Bilder ruckeln manchmal noch

Um schon mal erste Eindrücke zu vermelden: Die Seite könnte noch etwas übersichtlicher gestaltet („layoutet“) und mit Schwerpunkten versehen werden. Vor allem aber sind die Streams noch längst nicht immer ruckelfrei. Das schmälert das Vergnügen mitunter erheblich. Man kann nur zuversichtlich hoffen, dass diese technischen Probleme rasch behoben werden, die sich abends, wenn viele zugeschaltet sind, zu häufen scheinen. Wer will schon in entscheidenden Momenten „eingefrorene Bilder“ empfangen?

Zukunft des Zuschauens

Die fußballerischen Begegnungen (selbst jene aus Belgien und Korea) sind in aller Regel mit deutschen Kommentaren (nicht vor Ort, sondern im Studio eingesprochen) versehen, was für ein Mindestmaß an Orientierung sorgt. Völlig verstummte Spiele mag man denn doch nicht unbedingt haben – und wenn man sich noch so sehr über manchen Dummbatz am Mikro ärgert. Vertrackt genug: Der Zorn ist mitunter Teil des Vergnügens, denkt nur an Béla Réthy. Womit aber noch gar nichts über die Kommentar-Qualität bei dazn gesagt sein soll. Die kann man summarisch erst nach einer gewissen Zeit beurteilen. Ob man für den vergleichsweise schmalen Preis Spitzen-Journalismus und tiefgreifende Analysen verlangen kann, sei einstweilen dahingestellt.

Andere Sportarten wie American Football, Tennis, Basketball, Rugby und Darts werden – wie man schon ahnt – mit englischem Kommentar geliefert. Das geht in Ordnung. Wer z. B. Football sehen will, sollte schon ein paar Brocken dieser Sprache verstehen.

Derlei Dienste sind jedenfalls die Zukunft dessen, was einmal „Fernsehen“ geheißen hat, weitere Stichworte anderer Genres lauten Netflix und Spotify. Die Zeiten, in denen zig Millionen Leute zeitgleich dieselbe Sendung geschaut haben, sind – von ganz großen Fußballpartien und bestimmten „Tatort“-Folgen abgesehen – endgültig vorüber. Ach. Das habt ihr schon gewusst? Dabei gibt es doch (Stichtag übrigens heute!) das Internet erst seit schlappen 25 Jahren…

_________________

(mit angelesenen Infos von dpa und der Süddeutschen Zeitung)




Nachrichten aus der Dingwelt: Vom finalen Absturz einer Waschmaschine

Zu den Grundannahmen einer stilleren Nachdenklichkeit oder auch des gepflegten Spintisierens zählt die Vorstellung eines geheimen Lebens der Dinge, die uns tagtäglich stumm umgeben. Was tun sie, wenn wir nicht da sind? Ja, was treiben Teller, Toaster und Tisch nur ohne uns? Das fragt sich nicht nur der Spökenkieker.

Wieder auf den Sockel gehievt: die durchgedrehte Waschmaschine. (Foto: BB)

Ein letztes Mal auf den Sockel gehievt: die durchgedrehte Waschmaschine. (Foto: BB)

Zu berichten ist von einem Vorfall nicht der dezenten, sondern der polternden, eher ungebührlich lärmenden Art. Die inzwischen 18 Jahre alte Waschmaschine, die getreuliche Dienste geleistet hat und die einem in ihrer rührend altmodischen Art ein wenig ans Herz gewachsen war, drehte in letzter Zeit dann und wann durch.

Von einer zunehmenden Unwucht geplagt, ruckelte sie im Schleudergang über den Betonsockel, auf dem sie im Waschkeller postiert war. Zentimeter für Zentimeter. Kürzlich hatte sie schon einmal fast den Rand erreicht. Bislang hatte es nach solchen Cliffhangern noch stets genügt, sie zurückzuschieben – bis zum nächsten Mal.

Doch man hätte alarmiert sein sollen. Denn das anfangs unscheinbare Übel verschlimmerte sich. Nun kamen wir von einer abendlichen Kulturveranstaltung (diese pflichtgemäße Erwähnung bin ich dem Kulturblog schuldig) zurück – und was war unterdessen geschehen?

Die Waschmaschine musste in wilde, taumelnde und torkelnde Bewegung geraten sein. Sie hat sich schließlich kopfüber vom etwa 10 Zentimeter hohen Sockel gestürzt und lag auf der Bullaugenseite, schwerstens lädiert. Ein kläglicher, leicht verstörender Anblick. Dabei hatte sie Teile der Installation brachial mit sich gerissen. Ihr elektrisches Leben war vollends erloschen. Die Tür, mitten im Waschgang natürlich blockiert, ließ sich nur noch gewaltsam mit einem Stemmeisen öffnen, um wenigstens die klatschnasse Wäsche zu retten.

War’s ein Aufstand, war’s Verzweiflung über die allzu lange Knechtschaft? War die Maschine von einem Dämon besessen? Wollte sie – einem Derwisch vergleichbar – in tanzende Trance geraten? Es ließen sich garantiert noch viele hilflose „Erklärungs“-Ansätze aus allzu menschlicher Sicht finden.

Doch gerade nach solch einem spektakulären Akt werden wir dem Eigenleben der Dingwelt nicht genauer auf die Spur kommen. Dieser Sturz führt uns womöglich in die Irre, weil der sonstige Spuk viel leiser und geradezu unmerklich vor sich gehen dürfte. An dieser Stelle lassen wir ein paar inszenatorisch wirksame Nebelschwaden wabern. Doch den raunenden Nachruf auf eine Waschmaschine verkneifen wir uns.

Und damit wieder zurück in die lichte Welt der rationalen Tagesgeschäfte, hin zu Aufklärung und Vernunft.




Ein gar zu derber Gag von Bruno Knust

Der altgediente Comedian Bruno Knust (61) gilt nicht wenigen Leuten quasi als „Vorzeige-Dortmunder“.

Bruno Knust im Jahr 2007 bei einem Auftritt in seinem Dortmunder Theater Olpketal. (Foto: http://www.guenna.de - Wikipedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Bruno Knust im Jahr 2007 bei einem Auftritt in seinem Dortmunder Theater Olpketal. (Foto: http://www.guenna.de – Wikipedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

So manche Stadtbewohner nehmen Besucher von außerhalb mit in Knusts Vorort-Theater Olpketal, um den staunenden Gästen vorzuführen, wie der Ruhri allgemein und speziell der Dortmunder so tickt. Meinetwegen. Aber ich und wahrscheinlich auch etliche andere möchten da nur sehr bedingt mitgemeint sein.

Wer sich in Dortmund dermaßen hervortut und zeitweise auch noch Stadionsprecher beim BVB gewesen ist, findet rasch Einlass beim lokalen Presse-Monopolisten Ruhrnachrichten (RN). So hat Bruno Knust alias „Günna“ dort seit geraumer Zeit eine eigene Samstags-Kolumne mit leidlich lustigen Witzeleien der westfälisch-ruhrigen Machart. Klar, dass Knusts Bühnenauftritte in dem Blatt auch besondere Beachtung finden. So beispielsweise heute wieder, wo sein gemeinsamer Auftritt mit Lioba Albus beim Humor-Festival Ruhrhochdeutsch gewürdigt wird – gerade mal zwei Lokalseiten nach seiner besagten Kolumne.

Wenn die Besprechung die Wahrheit wiedergibt (woran wir nicht zweifeln), so hat sich Bruno Knust, der eh gerne reihenweise derbe Gags `raushaut, eine üble Geschmacklosigkeit erlaubt.

Obwohl Matthias Sammer auch mal als Spieler und Trainer beim BVB aktiv war, bin ich wahrhaftig kein Anhänger des vormaligen Sportdirektors von Bayern München. Doch einen brunzdämlichen, menschenverachtenden Brüller wie diesen „Scherz“ über Sammer sollte man keinesfalls in die Welt setzen: „Als Kind war er so hässlich, dass man ihn in die Babyklappe hätte werfen müssen – von innen!“ So zitieren die RN den naturgemäß bildschönen Bruno Knust – ohne jeden kritischen Unterton.

Wenn man nun noch weiß, dass Sammer seinen Bayern-Posten kürzlich wegen einer ernsthaften Krankheit (Durchblutungsstörung des Gehirns) aufgeben musste, dann wird Knusts Invektive vollends abgründig. Der Dortmunder Spässkenmacher sollte künftig unbedingt darauf verzichten.