Bedauernswerte Promis leiden an Provinzstädten – und erst recht am Ruhrgebiet

…und ich dachte schon: Alle Achtung, diesmal mokieren sie sich nicht übers Ruhrgebiet. Doch weit gefehlt.

Die FAZ-Sonntagszeitung (FAS) lässt seit jeher kaum eine Gelegenheit aus, den „Pott“ unentwegt hochwitzig zu brandmarken. Darin konkurrieren sie gelegentlich im weniger edlen Wettstreit mit der „Süddeutschen Zeitung“. Wahrscheinlich zahlen diese Metropolen-Fuzzis (drastischere Bezeichnungen auf Anfrage) gern so hohe Mieten und Kaufpreise, wenn sie sich anschließend nur aufs hohe Ross setzen können.

Hand aufs Herz: Einen solchen Städteanblick kann man doch einem Model oder Sternchen nicht zumuten! (Foto, vom Dortmunder Florianturm herab: Bernd Berke)

Hand aufs Herz: Einen solchen Städteanblick kann man doch einem Model oder Sternchen nicht zumuten! (Innenstadt-Foto, vom Dortmunder Florianturm herab: Bernd Berke)

So auch diesmal in einer Kolumne, die ich von Zeit zu Zeit recht gern lese. „Herzblatt“ heißt sie, befindet sich im FAS-Zeitungsbuch „Leben“, wird zumeist von Jörg Thomann geschrieben und greift aberwitzige Fehlleistungen der „gelben“ Klatschpresse auf. Was „Bunte“, „Frau im Spiegel“, „Das Neue Blatt“, „In“, „Gala“, „Closer“ und Konsorten so abliefern, spottet oft jeder journalistischen Beschreibung. Da wird zuweilen so dreist geflunkert und manipuliert, dass es nur so seine Art hat. Nicht selten ist’s zum Brüllen komisch.

Diesmal knöpft sich Thomann Beziehungsgeschichten von Fußballstars vor. Bei André Schürrles „Liebes-Aus“ (wie es in derlei Blättern stets heißt) wird gemutmaßt, dass seine Ex-Partnerin mit dem Wechsel von London nach Wolfsburg nicht einverstanden gewesen sein könnte. Aus der Weltstadt in die tiefste Provinz – da schmollen halt die verwöhnten Models, die in aller Regel an der Seite prominenter Kicker auftreten. Klar. Möglich wär’s.

An der Stelle dachte ich: Die werden doch jetzt nicht den Supergag verschenken, dass Schürrle just von Wolfsburg nach Dortmund gewechselt ist? Nur ruhig Blut. Thomann nimmt lediglich einen kleinen rhetorischen Umweg. Er erwähnt die Soap-Darstellerin Sila Sahin, die mal mit dem vormaligen BVB-Spieler Ilkay Gündogan liiert war und jüngst einen Spieler von Hannover 96 geheiratet hat, aber lieber weiter in der phantastischen Weltstadt Berlin wohnen will.

Zitat Sila Sahin: „Ich war ein Jahr in Dortmund. Und das war nicht so eine schöne Erfahrung…“ Das muss als Begründung reichen. Worauf Jörg Thomann zusammenfasst: „Wolfsburg, Dortmund, Hannover: Wer erzählt die Geschichten junger Fußballspieler, die mit ihren kreuzunglücklichen Partnerinnen in deutschen Provinzstädten festhängen?“ Ja, wer erzählt die?

Merke: (Promi)-Beziehungen nehmen naturgemäß nur einen glamourösen und somit glücklichen Ausgang, wenn sie in Berlin, Hamburg, München oder bestenfalls noch Frankfurt oder Düsseldorf sich entfalten dürfen. Von London, Paris, Madrid oder Barcelona ganz zu schweigen. Wollen Paparazzi etwa in Bochum oder Gelsenkirchen auf der Lauer liegen? Sagt selbst!

Damit hat FAS-Thomann für diesmal sicherlich sein Pulver in Richtung Revier und sonstiger Graumaus-Städte verschossen, oder? Keineswegs. Er legt noch mal genüsslich nach. Häufig höre man Bezeichnungen wie „Wahl-Pariser oder Wahl-Berliner, Wahl-Wanne-Eickeler eher nicht so.“ Mensch, Jörg. Das war ein Volltreffer! Womit des Schenkelklopfens über die doofen Menschen, die freiwillig im Ruhrgebiet leben, kein Ende mehr sein dürfte.




Sonderbare Vorfälle: Wie ich einmal Zeuge und beinahe Parteimitglied wurde

Also, das muss ich euch jetzt erzählen:

Da macht man ganz arglos Urlaub auf Rügen, bucht und bezahlt eine Schiffsfahrt entlang der berühmten Kreidefelsen. Was man da oben halt so treibt. Alles ganz normal und hundsgewöhnlich.

Doch was passiert? Der Käpt’n des Bootes, das wir ausgesucht haben, wird hochnotpeinlich von zwei (bewaffneten) Beamten der Wasserschutzpolizei verhört. Nach einiger Zeit stellt sich heraus, dass er die Fahrt nicht antreten darf. Also doch wieder runter von Bord. Wie sagt der Jurist so schön: entgangene Urlaubsfreude. Naja, wir haben dann halt ein anderes Schiff genommen.

Der Leuchtturm von Sassnitz kann doch auch nichts dafür... (Foto: Bernd Berke)

Der Leuchtturm von Sassnitz kann doch auch nichts dafür… (Foto: Bernd Berke)

Weiß der Geier, aber es ging wohl darum, ob der Schiffsführer eine handelsübliche Ausflugsfahrt oder einen Trip mit Angelmöglichkeit angeboten hat. Probleme mit der Lizenz offenbar. Jetzt stehe ich jedenfalls auf der Zeugenliste und muss eine schriftliche Aussage liefern. Ha, ich bin ja so wichtig. Zeuge der Anklage. Großes Drama. „Einspruch, Euer Ehren!“ Hihi.

Vor Gericht und auf hoher See

Wer hätte gedacht, wie schnell man in Konflikte der christlichen Seefahrt verwickelt werden kann? Aber psssst! Mehr kann ich nicht verraten, es ist ein schwebendes Verfahren. Und man weiß ja: Vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in Gottes Hand.

Nur noch dies: Den Fahrpreis haben wir anstandslos zurück erhalten. Die Schiffsbetreiber schimpften dabei wie die Kesselflicker. Sie wähnten sich als Opfer einer Denunziation durch die Konkurrenz. „Ausgerechnet die! Die nehmen doch oft viel zu viele Passagiere an Bord. Mehr als sie dürfen.“ Na, und so weiter.

Sind wir da etwa zwischen die Fronten mafioser Strukturen geraten? Oder ist es nur eine Ausprägung des ganz gewöhnlichen, kleinlichen Futterneids?

Nur ein paar abendliche Klicks

Damit nicht genug. Ein paar Tage später wäre mir beinahe eine ziemliche Dummheit unterlaufen. Um ein Haar wäre ich Mitglied einer Partei geworden. Welche das war? Das wollt ihr gar nicht wissen. Ich habe ja auch gerade noch die Kurve in Richtung immerwährender Neutralität genommen. Noch nie bin ich in einer Partei gewesen. Und das soll auch so bleiben.

Aber ihr kennt das. Man sitzt abends am PC, schlürft vielleicht ein oder zwei Rotweinchen, surft umher, liest dies und das. Auf einmal bildet man sich ein, man müsse sich in diesen Zeitläuften denn doch (parteipolitisch) engagieren und schlägt im Netz einen entsprechenden Pfad ein. Dann braucht es nur noch ein schwaches Viertelstündchen und ein paar weitere Klicks, um eine Mitgliedschaft zu beantragen. So einfach, als würde man online ein Buch oder eine CD bestellen. Ich sag’s euch.

Ihr kriegt mich nicht

Alsbald kamen bereits Antwort-Mails, in denen ich herzlichst als neues Mitglied begrüßt wurde. Das Aufnahme-Prozedere werde freilich noch ein paar Wochen dauern. Gut so.

Denn anderntags rieb ich mir die Augen. Was hatte ich getan? Flugs schrieb ich dem Ortsvorsitzenden, der mir als Kontakperson benannt worden war, eine Absage. Ich sei doch nicht genügend überzeugt, um mich aktiv z. B. in Wahlkämpfe einzubringen. Ergo: Rückzug des Aufnahme-Antrags. Sorry. Bin mal gespannt, ob da noch eine beschwichtigende Antwort mit leutseligem Umarmungsversuch folgt. Aber ihr kriegt mich nicht.

Wo zum Teufel der Zusammenhang zwischen beiden Vorfällen zu suchen sei, fragt ihr? Weiß ich doch nicht. Aber es wird schon einen geben. Es hängt doch alles mit allem zusammen.

Nachtrag am 20. September 2016

Es kam, wie es kommen musste. Mit dem Ausdruck des Bedauerns nahm ein regionaler Repräsentant jener Partei zur Kenntnis, dass ich den Antrag auf Mitgliedschaft doch noch zurückgezogen hatte. Ich solle halt einfach mal so vorbeikommen. Ganz unverbindlich. Damit hielt ich die Angelegenheit für erledigt.

Ein paar Wochen später folgte gestern die Überraschung. Derselbe Mann gratulierte mir herzlich zur Aufnahme in seine Partei. Eine eigens für Neumitglieder zuständige Dame werde Kontakt zu mir aufnehmen. Diese meldete sich auch schon fast im gleichen Atemzug, wobei sie – gleichsam als Willkommensgruß – gleich mal meinen Namen falsch schrieb.

Missverständnis. Bedauerliches Versehen. Mitarbeiter erkrankt. Die Ausflüchte waren die üblichen.

Soll ich jetzt Rückschlüsse auf die Parteiarbeit ziehen?

 




Was einfach so geschehen ist – Werner Streletz‘ Roman „Rückkehr eines Lokalreporters“

Ja, so waren sie, die Arbeitsbedingungen im Lokaljournalismus der 70er und frühen 80er Jahre: Der Linienbus oder die Regional-Bahn dienten an entlegenen Orten als Kurierfahrzeuge für Texte und Bilder, die an der mechanischen Schreibmaschine und in der Dunkelkammer entstanden. Es ging bei weitem noch nicht so gehetzt und getaktet zu wie in den flimmrigen Online-Zeiten.

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Michael, die noch recht junge Hauptfigur in Werner Streletz’ Roman „Rückkehr eines Lokalreporters“, arbeitet in jenen Jahren als Einmann-Redakteur auf einem Außenposten, 40 Kilometer von den Kollegen in der Kreiszentrale entfernt. Stets begleitet ihn die vage Furcht, so ganz auf sich allein gestellt in der „Schlossstadt“, wie sie sich nennt, die riesengroße Nachricht zu verpassen.

Aber gemach! Das provinzielle Kleinstadtleben scheint immerzu seinen gewohnten Gang zu gehen. Größter Daueraufreger sind die Pläne eines Kaufhauses, baulich in die Altstadt einzugreifen. Michael müht sich nach Kräften um eine möglichst objektive Berichterstattung und fühlt sich von Politikern ebenso misstrauisch beäugt wie vom zudringlichen Ralph Kindler, der eine Bürgerinitiative ins Leben gerufen hat. Nur Verfolgungswahn oder zutreffender Befund?

Doch nehmt alles nur in allem: Ist es nicht ein einigermaßen bequemes, ja fast beschauliches Leben mit einem Gerüst aus täglichen Routinen, das Michael dort führt? Hinzu kommt der Charme des Unzulänglichen in den frühen Jahren: Mit seiner Freundin Rosemarie duscht er anfangs noch notgedrungen im Hallenbad, dann ziehen sie in ein kuscheliges Dachgeschoss mit Flokati-Teppich im Badezimmer. Manchmal stellen sich schwebende Momente der Leichtigkeit ein. Doch eigentlich ist Michael ein notorischer Grübler.

Geschildert werden die Ereignisse Jahrzehnte später, aus der Rückschau Michaels, der sich für ein paar Wochen ins Haus eines Freundes zurückgezogen hat, und zwar just im Dunstkreis besagter Schlossstadt. Hier begibt er sich auf Spurensuche – nicht systematisch, sondern eher ziellos schweifend. So scheint auch die Geschichte hierhin und dorthin ins Taumeln und Trudeln zu geraten. Und was ist geblieben von der Vergangenheit?

Schon bald wird deutlich, dass – dem vermeintlichen Idyll zum Trotz – „damals“ etwas Düsteres, Schreckliches geschehen sein muss. Doch Genaueres bleibt für eine gewisse Textstrecke im Verborgenen. Wir wollen dieses Spannungsmoment auch hier nicht vollends auflösen und lediglich andeuten, dass Rosemaries Leben im Laufe des Romans auf bestürzend unspektakuläre Weise entgleist – gleichsam wie in Zeitlupe. Zunächst nahezu unmerklich, schleichen sich Depressionen ein, die sodann in unvorhersehbaren Schüben wiederkehren. Und schließlich…

Michael, der ebenso wie Rosemarie unentwegt beim Vornamen genannt und praktisch nie mit dem Personalpronomen „er“ bezeichnet wird (geradezu eine Marotte des Autors), lernt zwischendurch den sinistren Künstler Tobias kennen, der die gewöhnlichen Leute mit ziemlich radikalen und abgründigen Schöpfungen schockiert. Doch Michael weiß den kulturellen Impuls zu schätzen, er fühlt sich angesprochen. Dämmert da aber auch etwas Gefahrvolles herauf? Ist diesem Tobias zu trauen?

Werner Streletz erzählt mit zuweilen etwas umständlich wirkender Sorgfalt, als wollte er kein Detail vergessen, Plaudereien aus dem lokaljournalistischen und kommunalpolitischen Nähkästchen inbegriffen, die den Fortgang der Handlung dann und wann eher aufzuhalten scheinen. Zudem kommen Formulierungen wie „Er hatte sich, solches erahnend…“ ein wenig gestelzt daher.

Nun muss man aber sagen: Der zögerliche, zaudernde Duktus entspricht gewissermaßen der Hauptfigur, die eben alleweil hin und her denkt, sich den Kopf über das eigene Tun und Lassen permanent zerbricht. Mitunter wird da allerdings wohl etwas zu viel und zu restlos erwogen, zu ausgiebig erläutert. Hie und da vermisst man einen Zug oder Sog in der Geschichte, deren Urheber sich gelegentlich sozusagen bereitwillig in unnötigen kleinen Abschweifungen verliert und mehr oder weniger kühne Auslassungen offenbar scheut.

Als erfahrener Schriftsteller verliert Streletz jedoch natürlich nicht den Bauplan seines Romans aus den Augen. Er lässt die vorwiegend melancholisch getönte Erzählung in ein offenes Ende gleiten. Es bleibt die Erkenntnis, dass sich das Geschehene weder ändern noch wirklich ergründen lässt. Das mag betrüblich sein, doch diese Einsicht birgt wohl auch Trost. Und schuldig ist ohnehin niemand. Es ist passiert. Einfach so. Wie das Leben so ist.

Kleine Anmerkung: Das Buch ist passagenweise etwas nachlässig redigiert worden, da geraten auch schon mal Namen und Zeitenfolgen durcheinander, von einigen Setzfehlern zu schweigen. Nachbesserungen für eventuelle weitere Auflagen wären also ratsam.

Der in Bottrop geborene und aufgewachsene, seit vielen Jahren in Bochum lebende Werner Streletz (Jahrgang 1949) gilt manchen immer noch als „Ruhrgebietsautor“. Streletz selbst, brotberuflich langjähriger WAZ-Kulturredakteur (den ich – der Transparenz halber sei’s erwähnt – aus beruflichen Zusammenhängen persönlich kenne), wendet sich entschieden gegen diese Zuschreibung.

Tatsächlich entfernt er sich gerade mit diesem Roman deutlich von etwaigen Revier-Spezifika. Welche sollten das heutzutage auch sein? Die Chose mit Zechen, Malochern, Fußball, Bier und Stahl ist in dieser einst typischen Mischung längst durch. Und so ist Werner Streletz kein Ruhrgebietsautor, sondern einer, der halt im Ruhrgebiet lebt und schreibt.

Werner Streletz: „Rückkehr eines Lokalreporters“. Roman. Projektverlag, Bochum/Freiburg. 261 Seiten. 13,80 Euro.




„The Awful German Language“ – Wie Mark Twain über die deutsche Sprache wetterte

Das überreicht womöglich der feixende Englischlehrer seiner Kollegin vom Fach Deutsch: Das schmucke Geschenkbändchen „The Awful German Language“ enthält Mark Twains legendäres Pamphlet gegen die deutsche Sprache; natürlich nicht im fürchterlichen Deutsch, sondern im nahezu makellosen Englisch.

Nur 40 Seiten schmal ist die No. 1419 der Insel-Bücherei. Mark Twain (1835-1910), dem das Erlernen des Deutschen offenkundig recht schwer gefallen ist, zieht kräftig vom Leder. Er wettert über den Treibsand der Regellosigkeit, der einen an diesem Idiom verzweifeln lasse.

19419

Wie froh konnte der Mann sein, wäre doch um ein historisches Haar beinahe Deutsch die Kernsprache der Vereinigten Staaten geworden – und nicht dieser seltsame Seemannsdialekt, den ein gewisser Shakespeare und ein paar andere noch halbwegs hochgejazzt haben. (*zwinker, zwinker*).

Besonders die Artikel „der“, „die“ und „das“ regen den literarischen Vater von Tom Sawyer und Huckleberry Finn auf, während es doch im Englischen bekanntlich schon mit „the“ getan ist. Ein deutschsprachiger Mann, so polemisiert der, die oder das Twain, könne sich seiner Geschlechtsmerkmale niemals sicher sein, werde doch jeder Körperteil völlig willkürlich als männlich, weiblich oder sächlich markiert. Auf diese Weise werde der Herr der Schöpfung zur „ridiculous mixture“. Hat Mark Twain etwa unter linguistisch induzierten Kastrationsängsten gelitten?

Um die Sprache Goethes zu demaskieren, pfropft er spaßeshalber einer englischen Geschichte eine vermeintliche deutsche Sprachstruktur auf. Das Resultat klingt wunschgemäß steif und lächerlich. Was zu „beweisen“ war.

Mit Mehrfach-Bedeutungen und irritierenden Anklängen plagt er sich ebenso wie mit dem Satzbau, bei dem die Verben weit hinten zu finden sind. Auch machen ihm schier endlos und offenbar nach Gutdünken gereihte Wörter zu schaffen, die in keinem Lexikon stünden („Kinderbewahrungsanstalten“, „Waffenstillstandsunterhandlungen“). Auch sonst findet er für all seine Behauptungen leidlich witzige Beispiele, ganz nach dem Motto: je ungerechter, umso lustiger.

Andererseits könne man, so Samuel Langhorne Clemens (bürgerlicher Name von Mark Twain) schelmisch, getrost komplette Konversationen mit den Wörtern Also, Zug und Schlag bestreiten, die in allerlei Zusammensetzungen immerzu wiederkehrten.

Überraschend sein Befund, das Englische sei ungleich kraftvoller, während das Deutsche sich geradezu säuselnd sanft anhöre. Als Beispiele führt er „milde“ Ausdrücke wie etwa Schlacht und Gewitter an. Vom Blitzkrieg wusste er freilich noch nichts. So lässt er auch als raren Vorteil des Deutschen gelten, dass es für die Bereiche Natur, Liebe, Frieden und Ruhe passende Worte bereithalte. Hört, hört! Wahrscheinlich hatte Mark Twain noch Dichtungen der deutschen Romantik im Ohr. Ein Vorzug gegenüber dem Englischen sei zudem, dass die deutsche Aussprache weitgehend dem Schriftbild folge. Immerhin.

Schließlich schlägt Mark Twain kurzerhand noch eine reichlich rabiate Reform des Deutschen vor, das andernfalls zur toten Sprache degenerieren müsse: Dativ weg, Verben weiter nach vorn, kürzere Wörter, möglichst viele Vokabel-Importe aus dem Englischen (!) und Abkehr vom verwirrenden Der-die-das. Da müsste man nur noch ein Volk gefunden haben, das sich an diese Vorgaben gehalten hätte. Man hätte nur auf Mark Twain hören müssen – und schon… – ja, was?

Übrigens: Gar so schlimm kann es mit dem Deutschen dann auch wieder nicht gewesen sein. Mark Twain lebte in den 1890er Jahren für einige Monate in Berlin („luminous centre of intelligence […] a wonderful city“) und ließ seine Töchter dort studieren. Hernach zog es ihn auch nach Wien. Man gäbe was für Tonbänder, auf denen zu hören wäre, wie er – verschmitzt und zornig zugleich – im Deutschen radebrecht.

Mark Twain: „The Awful German Language“. Insel-Bücherei No. 1419. Englischer Originaltext. 40 Seiten. 10,95 €.




Die Schulzeit als Geisterbahn – ein paar skizzenhafte Erinnerungen

Vor wenigen Tagen hat unser Gastautor Heinrich Peuckmann an dieser Stelle einige prägende Begegnungen aus seiner Schulzeit skizziert. Lauter kultivierte Lehrer haben sich demnach in Kamen und Unna die Klinke in die Hand gegeben. Das klang – wenigstens im Rückblick – alles sehr zielgerichtet und schicksalhaft vorherbestimmt; ganz so, als hätte es gar nicht anders kommen können, als dass Peuckmann selbst zum Lehrer und Schriftsteller wurde.

Nur als Beispiel fotografiert: ein altehrwürdiges Lehrinstitut - im Osten der Republik. (Foto: Bernd Berke)

Nur als Beispiel fotografiert: eine altehrwürdige Lehrstätte – weit im Osten der Republik; also keineswegs das im Revier liegende Institut, von dem im Text die Rede ist. (Foto: Bernd Berke)

Heinrich Peuckmann hat offenbar großes Glück gehabt. Ich glaube, dass nicht viele aus unserer Generation so gut und günstig über ihre Schuljahre sprechen können. Meistenteils war es doch ein Kreuz mit der Penne. Wir reden hier übrigens vornehmlich von den 60er Jahren. Die Grundschule und ein späteres Gymnasium in Bonn lasse ich mal beiseite, damit es halbwegs übersichtlich bleibt.

Angebliches „Elite-Gymnasium“

In medias res: Unser Institut galt innerhalb Dortmunds als „Elite-Gymnasium“. Zumindest sahen die Herrschaften des Lehrkörpers sich selbst gern so. Das Einzugsgebiet erstreckte sich bis weit in den schon damals „feineren“ Süden der Stadt. Koedukation war leider noch ein Fremdwort, also muss man es so sagen: Da gab’s schon einige Söhnchen aus begüterten Familien.

Mit solch einem gediegenen Hintergrund konnten ich (und etliche andere) nicht dienen. Ich bin im seinerzeit kleinbürgerlichen Kreuzviertel aufgewachsen, das erst sehr viel später schick und studentisch alternativ wurde. Meine Mutter war unter den Eltern der ganzen Klasse die einzige Frau, die arbeiten ging – ein Umstand, über den manche Lehrer die Nasen gerümpft haben. So beschränkt waren die Zeiten.

Wissensvermittlung Nebensache

Bert Brecht war es wohl, der sinngemäß geschrieben hat, Aufgabe eines Lehrers sei nicht so sehr die Wissensvermittlung. Vielmehr müsse sich der Pädagoge vor der Klasse möglichst schrankenlos ausleben, auf dass die Schüler verschiedene Menschentypen bis auf den Grund kennen lernten. In diesem Befund waltet Weisheit, die unter gewandelten Vorzeichen vielleicht heute noch gilt.

Anders als bei Heinrich Peuckmann, saßen bei uns neben- oder hauptberufliche Schriftsteller schon mal gleich gar nicht im Kollegium. Die Deutschlehrer mochten sich daheim in stillen Stunden von Herzen für Schiller, Hölderlin oder Rilke begeistern, wirklich gespürt haben wir derlei Leidenschaft nur in sehr seltenen Momenten. Wenn überhaupt.

Ach, Hubertus…

Eine recht junge Lehrerin, gerade dem Referendariat entronnen, besprach mit uns immerhin auch Lyrik von Enzensberger und Celan oder seinerzeit virulente Romane von Grass und Max Frisch. Damals beileibe keine Selbstverständlichkeit.

Freilich blieb auch sie der rein textimmanenten Interpretation jener Jahre verhaftet. Wenn wir über Klassenarbeiten brüteten, las sie am Pult geradezu demonstrativ die stocksolide und erzkonservative Frankfurter Allgemeine Zeitung, mutmaßlich vor allem Feuilleton-Riemen von Friedrich Sieburg oder Benno von Wiese. Ihr persönlicher Primus war ein Mitschüler mit Adelsnamen, welchen sie geradezu andächtig hauchte. Ach, Hubertus…

Als Geschichtslehrerin ließ sie am liebsten allerlei Jahreszahlen auswendig lernen. Gern hielt sie sich in frühen Epochen auf, weit von der garstigen Zeitgeschichte entfernt.

Käuze und Sonderlinge

Um schöne Nebensachen nur kurz zu streifen: Die Musiklehrer lebten auf ihrem eigenen Stern, sie waren vergleichsweise in Ordnung. Einer versuchte gar kurz, die Beatles zu thematisieren. Doch er drang damit nicht zu uns durch. Auf dem Gebiet mochten wir uns erst recht nicht von der Schule einfangen lassen.

Die beiden Bio-Lehrer waren eher groteske Käuze, irgendwie rührend in ihr Fachgebiet vernarrt. Harmlos also. Aber auch nicht allzu lehrreich. Später kam Chemie hinzu – bei einem veritablen Schleifer. Von Physik wollen wir schweigen und allenfalls andeutungsweise das Bild von der schiefen Ebene bemühen. Der Französischlehrer war eine Witzfigur, von keinerlei subtilem Geist angekränkelt.

Ostpreußische Orte suchen

Andere aber waren schlimmer. Ein froschhafter Fettmops von Mathepauker, der uns aus unerfindlichen Gründen auch in Sport quälen und trimmen durfte, krähte gern mal Sprüche wie „Häää, wer nich Schwimm‘-kann-kann-auch-keine-Mattmattik!“ Tatsächlich hatten die schlechten Schwimmer in Mathe von vornherein schlechtere Karten bei ihm. Erklären konnte er eh nix, nur abfragen und Urteile fällen. Danach suchte uns ein notorischer Säufer heim, der (im Krieg?) seinen Daumen verloren hatte und trotzdem gerade mit den Fingern jener Hand unverdrossen zählen wollte. Das Kichern zu vermeiden, glich einer Herkulesaufgabe.

Doch andere waren schlimmer. In Erdkunde hatten wir zunächst einen üblen Revanchisten, der aus Ostpreußen stammte, uns folglich immer wieder an der Landkarte der Ostgebiete strammstehen und Orte suchen ließ. Wehe, wenn man sie nicht fand… Wie? Ach ja, natürlich hat er uns vorgemacht, wie es im Schützengraben gewesen ist, als es gegen den Iwan ging. Ratatatata.

Mit der Faust ins Gesicht

Doch andere waren noch schlimmer: Der Lateinlehrer, ein Schmierlapp, der sich elend leutselig geben konnte und seinen Lieblingsschülern sogar schon mal zärtlich über den Kopf strich, konnte andererseits brutal mit der Faust zuschlagen – mitten ins Gesicht. Wenn man daran denkt, spürt man heute noch ein knotiges Unwohlsein in der Magengegend – und könnte ihm seinerseits die Fresse polieren. Warum soll ich’s vornehmer sagen? Und der Kerl hat nebenher auch noch katholische Religion gegeben. Ausgerechnet.

Gewaltausübung durch Lehrer war damals bei einigen Gestalten überhaupt an der Tagesordnung, heute müssten sich die Herren dafür hochnotpeinlich verantworten. Selbst ein Kunstlehrer (!) hatte eine üble Methode, uns heftig an den Ohren zu ziehen und selbige schmerzhaft zu zwirbeln. Möge er in Hieronymus Boschs Welten getriezt werden.

„Tack, tack, tack“ – „Werd‘ doch Friseur“

Ins Englische wurden wir gerade mal leidlich eingeführt – von einem drahtigen Schönling, der zu Zeiten der ersten Bond-Filme wie 007 Sean Connery aussah. Drum war auch der Sportunterricht seine eigentliche Domäne. Wollte er, dass wir uns beeilen, hackte er im militärischen Rhythmus mit seinem Schlüsselbund auf den Lehrertisch und rief dazu „Tack-Tack-Tack!“ In der Mittelstufe kam dann ein richtiger Englischlehrer, der über seinen Vorläufer mitleidig lächelte und sein geballtes promoviertes Wissen auf uns losließ. Er nötigte denn doch Respekt (und Furcht) ab, dachte zudem ausgesprochen elitär. Wer schlecht abschnitt, dem riet er unumwunden: „Werd‘ doch Friseur!“

Schäbige Rache der Pubertierenden

Nach all dem war es eigentlich kein Wunder, dass wir uns als Pubertierende für erlittene Unbill gerächt haben – bei den schwachen Figuren. So haben wir einen schwer zuckerkranken Erdkunde-Lehrer, der körperlich nur noch ein bedauernswerter Hänfling auf spindeldürren Beinchen war, bis zur Weißglut gereizt. Für diese feige Infamie schäme ich mich bis heute. Und nicht nur mir geht es so.

Noch immer frage ich mich, worauf eine solche Schullaufbahn (nein: Geisterbahn) eigentlich hinauslaufen sollte. Gewiss, wir haben ein paar Fakten, Formeln und Vokabeln gelernt. Doch von all dem Stoff konnte man später im Beruf ca. 95 Prozent getrost vergessen. „Non scholae, sed vitae discimus“ (Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir) war einer der lächerlichsten Sätze, die uns je untergekommen sind.




Im Chaos der Gerüchte und Nachrichtenfetzen: Der Angst nicht noch mehr Raum geben

Vom schrecklichen Münchner Amoklauf, Attentat (oder wie man es nun nennen soll) am Olympia-Einkaufszentrum habe ich erst gestern Abend erfahren und kann mich natürlich nur kläglich subjektiv äußern.

Fürwahr ein schwacher Trost - und doch beruhigt der Anblick des Meeres. (Foto: BB)

Fürwahr ein schwacher Trost – und doch beruhigt seit jeher der Anblick des Meeres. (Foto: BB)

Ein argloser Nachmittag

Wieder einmal wurden Brechts berühmte Gedichtzeilen wahr: „Der Lachende / Hat die furchtbare Nachricht / Nur noch nicht empfangen.“

Auf dem Ausflugsschiff, auf dem wir nachmittags arglos und ahnungslos fuhren, saß auch ein vor Selbstgewissheit strotzender Mann im Trikot von Bayern München, der breitesten Dialekt sprach. Auch er konnte noch nicht wissen, was in seiner Heimat vorfallen würde. Zunächst hatte ich ihn noch scherzhaft anpflaumen wollen – von wegen „Schluss mit Bayern-Meisterschaften“ und so weiter. Aber ach, wie bedeutungslos war das dann alles, welch eine Petitesse. Im Nachhinein war ich froh, kein Wort gesagt zu haben. Wer weiß, welche Ängste er später ausgestanden hat.

Die Stunde der Welterklärer

Abends habe ich lange der Versuchung widerstanden, mich über die chaotischen Informations-Brocken hinaus in den unaufhörlichen Nachrichten- und Gerüchtestrom einzuschiffen. Ganz bewusst habe ich in jenem „sozialen Netzwerk“ lediglich ein nachmittags aufgenommenes Foto vom beruhigenden blauen Meer eingestellt, dies- und jenseits aller rasenden Spekulationen über Tathergang, Opferzahl, mögliche Motivationen etc.

Wie rasch waren manche wieder mit Zuschreibungen bei der Hand. Es ist widerlich, wie einige notorische Welterklärer versuchen, in solchen Fällen sofort die Deutungshoheit zu gewinnen, und zwar unabhängig vom (un)politischen Lager.

Versuchung zum Eskapismus

Die Versuchungen zum Eskapismus oder gar zum Eremitentum sind dieser Tage groß. Man möchte sich mitunter in den hinterletzten Winkel flüchten, quasi biedermeierlich genügsam leben und den eigenen Garten pflegen, wie Voltaire einst schrieb. Schweigen und Rückzug wären so angemessen. Aber wohin?

Ausufernde „Tagesthemen“

Schließlich habe ich doch noch den Livestream der „Tagesthemen“ aufgerufen, ganz nach dem Leitsatz: Man kann sich ja nicht komplett ausklinken. Selbst der sonst so souveräne Thomas Roth wirkte hilflos. Er musste die Sendung über Stunden hinweg in einer Art Endlosschleife absolvieren. Immer wieder sah er sich genötigt zu betonen, man könne nur spekulieren – und spekulierte dann mit Hilfe des unvermeidlichen Terrorexperten zwangsläufig drauflos. Aber man musste ja auf Sendung bleiben, sonst hätte es ebenfalls Vorwürfe gegen die ARD gehagelt. Eine journalistische Zwickmühle, aus der es kein Entrinnen gab.

Auch ein Amateurvideo, das zunächst partout nicht richtig laufen wollte, kam dabei zum zweifelhaften Einsatz. Es war jenes, auf dem der mutmaßliche Täter auf einem Dach steht und ruft, er sei in Deutschland geboren, in der Hartz-IV-Gegend… Die Süddeutsche Zeitung entschied sich derweil dafür, nur Standbilder aus dem Film zu zeigen. Recht so.

Unbegriffenes Geschehen

Ich möchte so etwas eigentlich nicht mehr tun, möchte mich nicht mehr anhand von atemlosen Live-Tickern und Minutenprotokollen auf ein völlig unübersichtliches, unbegriffenes Geschehen einlassen. Es bedeutet, dass man der Sinnlosigkeit, dem Chaos und der Angst unnötig breiten Raum gibt. Gewiss: Für Münchner und alle, die um Freunde oder Verwandte in München gebangt haben, wird es sicherlich sinnvoll gewesen sein, auf jede erdenkliche Weise möglichst nah an den Ereignissen zu bleiben – wie wildwüchsig auch immer. Bei Facebook und Twitter gab es unterdessen auch viele tröstende, aufmunternde Worte. Auch das muss einmal gesagt sein.




Ruppig und rüde auf Rügen – ein Insel-Restaurant zum Davonlaufen

Nicht weit vom erwähnten Lokal: Wesen, die nur unwesentlich mehr versteinert sind, als das Personal. (Foto: Bernd Berke)

Nicht weit vom erwähnten Lokal: harte Gesellen, die nur unwesentlich mehr versteinert sind, als das Personal der Gaststätte. (Foto: Bernd Berke)

Dieser Tage in einem Strandrestaurant auf der an und für sich schönen Insel Rügen: Leider wussten wir nicht, wie diese Lokalität im Netz beurteilt wurde und wird. Nahezu alle Berichterstatter stellen unisono fest, dass das Personal extrem unfreundlich sei.

Und tatsächlich. Kaum haben wir die Gaststätte in Sassnitz betreten, kommen uns zwei verängstigte Mädchen entgegen, die im rüden Tonfall hinauskomplimentiert und geradezu weggedrängelt werden. „Hier sind keine öffentlichen Toiletten. Gehen Sie woanders hin.“

Im besagten Beurteilungsportal war sogar von Situationen die Rede, in denen Gäste bis auf die Toilette verfolgt und sodann des Hauses verwiesen worden seien. Klingt schon nach einem juristischen Konflikt. Hausrecht einserseits. Missachtung und womöglich Verletzung der Intimsphäre andererseits.

Als wir in den eigentlichen Gastraum gelangen, wird unsere kleine Tochter kurzerhand ruppig beiseite geschoben – mit einem äußerst lieblos gekrächzten „Vooorsicht!“ Und das, obwohl die Angestellte weder ein Tablett noch sonst etwas zu tragen hat. Mit Kinderfreundlichkeit hat man’s also auch nicht so. Im Gegenteil.

Zehn Schritte später empfängt uns eine Kellnerin schon von weitem mit dem dröhnenden Zuruf: „Nichts zu machen. Alles voll!“ Sie schaut drein wie sieben Tage Regenwetter oder (wie es auf besagtem Portal einmal heißt) als hingen ihre Mundwinkel in den Kniekehlen. Es muss sich wohl um dieselbe Person handeln, die uns soeben zurechtweist. Doch halt: Der Ungeist des Gästehassens hat hier offenbar alle Angestellten gleichermaßen erfasst. Auch dieser Fisch scheint vom Kopf her zu stinken.

Wie konnten wir es nur wagen, diese danteske Stätte des Missvergnügens aufzusuchen. Das Motto des Hauses könnte lauten: „Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren…“ Auch könnte man – eher humorvoll gestimmt – an jenen von John Cleese gespielten Basil („Basil the rat“) in der unsterblichen TV-Hotelserie „Fawlty Tower“ denken, der die hohe Kunst des Gästedüpierens zum Schreien komisch kultivierte.

Zurück zur weniger dramatischen, auch weitaus weniger komischen Realität. Die Gäste, bei denen die erwähnte Kellnerin gerade abkassiert, signalisieren uns, dass sie im Aufbruch begriffen sind und dass also der Tisch frei wird. Aber das nützt uns nichts. Und wir wollen hier auch gar nichts mehr zu uns nehmen.

Allerdings geben wir der Kellnerin noch leise zu verstehen, dass man eine Absage auch freundlicher vorbringen könne – und wenden uns zum Gehen. Da schimpft sie uns quer durch den Raum hinterher, hörbar für alle Gäste. Ein prachtvoller Stil. Auch aus der Küche ertönt eine Stimme „Was wollen Sie? Wir können nicht anbauen!“ Eigentlich erstaunlich, dass wir nicht auch noch Spießruten laufen müssen.

Und was will uns das sagen? Es war nicht einfach landläufige Unfreundlichkeit, wie sie gelegentlich überall vorkommen mag. Nein, es war eine spezifisch ostdeutsche Variante der von vornherein und allgemein Verbitterten, zudem ein Nachklang des uralten, grundsätzlich übellaunigen „Hammwa-nich! Krieg’n-wa-auch-nich!“

Soll man jetzt auch noch vermuten, dass diese rundweg ablehnende, gleichsam gepanzerte Haltung mit einer hohen Bereitschaft einhergeht, Fremde überhaupt erst einmal pauschal abzulehnen – je fremder, umso entschiedener? Was daraus weiterhin folgen könnte, möchte man sich indes lieber gar nicht ausmalen.




Ich habe keine Lust mehr auf Turnier-Fußball

Nein, wenn es so läuft, habe ich keine Lust mehr auf diese großen Turniere des Fußballs.

Da sind wir uns sicherlich weitgehend einig: Bis auf ganz wenige Ausnahmen, war diese monströs aufgeblähte EM eine flächendeckende Enttäuschung. Die Chose mit den Isländern war hübsch, tröstet aber kaum.

Im Moment der Verletzung: Cristiano Ronaldo (Portugal). (ARD-Fernsehbild/Screenshot)

Im Moment der Verletzung: Cristiano Ronaldo (Portugal). (ARD-Fernsehbild/Screenshot)

Und wie schäbig ging es noch im heutigen Finale zu! Als hätten sie’s erst einmal nur darauf angelegt, säbelten die Franzosen gleich Christiano Ronaldo dermaßen ruppig nieder, dass er kurz danach unter Tränen aufgeben musste. Es war leider einer der größten, weil bleibenden Momente dieser Europameisterschaft.

Ich war bislang kein Ronaldo-Fan. Aber heute habe ich wirklich mit ihm gefühlt – und von Stund’ und Sekund’ an gehofft, dass die Portugiesen trotz aller Widrigkeiten gewinnen sollten. Und tatsächlich. Sie haben es geschafft.

Kein Wort mehr über die fortwährende Langeweile in der Vorrunde, die überwiegende Ödnis selbst noch in den allermeisten K.-o.-Partien. Der Zauber dieses Sports kam nur äußerst selten zur Geltung.

Vom Finale bleiben (neben Ronaldo) vielleicht nur die flatternden Motten in Erinnerung. Eine setzte sich, wenn ich’s richtig gesehen habe, für einen Moment sogar auf Ronaldos weinendes Auge. Das hatte denn doch nahezu mythische Qualität. Und dann noch der finale Jubel…

Aber nun mal Hand aufs Herz: Wer freut sich wirklich aufs nächste WM-Turnier 2018 in Russland oder gar auf 2022 in Katar? Da ist von vornherein der Wurm drin, um das Mindeste zu sagen. Die schon im Ansatz spürbare Idiotie der nächsten EM (anno 2020 mit 24 Teams, auszutragen in 13 ! Ländern) steht dem kaum nach.

Jetzt ist man zunächst dankbar für eine fußballfreie Zeit. Durchatmen. Der Kopf muss frei werden.

Es bleiben uns einstweilen oder auch auf längere Dauer wohl nur die nationalen Ligen, meinethalben auch die spanische, die englische und die italienische. Schade, dass die Bundesliga erst am 26. August wieder startet. Aber sei’s drum. Diesmal verspricht selbst die zweite Liga (schon ab 5. August) einige Spannung – mit Clubs wie Stuttgart, Hannover, Kaiserslautern, Nürnberg, St. Pauli, 1860 München usw.

In der Bundesliga interessiert mich beileibe nicht nur der gründlich umgekrempelte BVB; nein, ich möchte auch wissen, wie sich Werder und der HSV schlagen, was die Neulinge RB Leipzig und Freiburg anrichten. Na, zugegeben: Selbst Schalke ist einem nicht völlig schnurz.




Viele junge Indianer, kaum Häuptlinge: Muss man sich Sorgen um den BVB machen?

Greifen wir gleich die Überschriftenfrage auf: Muss man sich Sorgen um Borussia Dortmund machen? Ich glaube schon. Denn was war das in den letzten Wochen? Ein beunruhigender Ausverkauf von Leitfiguren.

Nicht genug damit, dass Mats Hummels zu den Bayern ging, zog es die beiden wichtigsten Kreativkräfte Ilkay Gündogan und Henrikh Mkhitaryan zu den zwei Krösus-Clubs in Manchester.

Hab' da noch so'n altes Trikot 'rumhängen. Soll ich's a) in die Tonne kloppen, b) verschenken oder c) testen, was es noch bei EBay bringt? (Foto: BB)

Hab‘ da noch so’n altes Trikot rumhängen. Soll ich es a) in die Tonne kloppen, b) vermodern lassen, c) verschenken oder d) testen, was es noch bei EBay bringt? (Foto: BB)

Ach, wie herzig hatte Mkhitaryan noch vor kurzer Zeit versichert, er werde Dortmund verlassen, wenn der Trainer Thomas Tuchel geht. Es hörte sich so an, als binde er sein Schicksal an das des Fußball-Lehrers, dem er einiges zu verdanken hat. Der Umkehrschluss freilich, dass er bleiben würde, wenn dieser Trainer bleibt, der war schon rein logisch nicht zulässig. Und wenn dann noch eine dieser parasitären Existenzen (genannt Spielerberater) am großen Rad dreht, dann zählt eh nur noch der Mammon. Wobei man ja auch in den Reihen von Borussia Dortmund nicht gerade Peanuts verdient…

Genug davon. Es ist passiert.

Was aber jetzt? Ungefähr parallel zum erwähnten Ausverkauf wurden, nahezu im Stakkato-Rhythmus, lauter Neuverpflichtungen verkündet; überwiegend Namen, die man bislang noch nicht so kannte. Doch diese Leute werden allesamt bereits als europaweit begehrte Supertalente bejubelt – zumindest von interessierter Seite. Man wird ja sehen.

Wir versuchen mal, die Übersicht zu gewinnen. Dies sind die bislang sechs Transfers zum BVB, namentlich nach Alphabet sortiert:

Der Spanier Marc Bartra kommt vom FC Barcelona nach Dortmund, der Franzose Ousmane Dembélé von Stade Rennes, der Portugiese Raphael Guerreiro vom französischen Club FC Lorient, der Spanier Mikel Merino von CA Osasuna, der Türke Emre Mor vom dänischen Club FC Nordsjaelland und der Deutsche Sebastian Rode von Bayern München.

Alles klar?

Ein so genannter „Leitwolf“, „Führungsspieler“ oder gar möglicher Kapitän ist jedenfalls nicht darunter. Wie denn auch? Die Hälfte der Neuen ist im zarten Alter von 18 (Mor), 19 (Dembélé) oder 20 Jahren (Merino). Auf sie warten beispielsweise der hochbegabte US-Amerikaner Christian Pulisic (17) und der schon vergleichsweise etablierte EM-Spieler Julian Weigl (20).

Viele Indianer, so gut wie keine Häutplinge. Wie soll man mit lauter „Jungen Wilden“ in der Bundesliga und in der Champions League bestehen? Schön wär’s ja… Doch das Ganze hört sich nach einem Abenteuer mit höchst ungewissem Ausgang an.

Auch ein gewiefter Trainer wie Thomas Tuchel wird aus diesem Kader höchstwahrscheinlich nicht im Eiltempo ein schlagkräftiges Team formen können; zumal mit Marco Reus (27) einer der verbliebenen Leistungsträger länger ausfällt. Da darf man schon dankbar sein, dass mit dem Polen Jakub „Kuba“ Blaszczykowski (30) ein erfahrener Spieler aus Florenz zurückkehrt. Hoffentlich bleibt er.

Stellt man den größten Umbruch seit mindestens einem Jahrzehnt in Rechnung, müsste man sich als Realist in der kommenden Saison auf eine Liga-Platzierung zwischen 5 und 12 sowie auf einen zeitigen Abschied von „Europa“ einrichten, oder? Falls sich das Team unfallfrei einspielt, können die dann folgenden Jahre vermutlich nur besser werden.

Es gibt Fans, die in dieser riskanten Situation notfalls einen Pakt mit dem Teufel schließen und/oder sogar zähneknirschend die Rückkehr von Mario Götze gutheißen würden, auf dass er mit Reus harmoniere wie in früheren Zeiten. Überdies halten sich Gerüchte, dass der BVB mit der jetzt prall gefüllten Kasse z. B. den Nationalstürmer André Schürrle aus Wolfsburg holen könnte; eine Perspektive, von der sich etwa www.schwatzgelb.de gar nicht begeistert zeigt.

Andere suchen sich in gewohnter Nibelungentreue mit den üblichen Durchhalte-Sprüchen zu trösten, der Verein sei größer und wichtiger als jeder einzelne Spieler. Ach was. Und wie viele Punkte kriegt man dafür?

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P.S.: Ich lasse mich – wie stets – gern eines Besseren belehren.




Holländer wird Chef im Dortmunder U

Das ist ein veritabler Coup: Pünktlich vor den großen Ferien kann Dortmund Vollzug verkünden. Ein neuer Chef fürs Dortmunder U (und somit auch fürs Museum Ostwall im U) ist endlich gefunden. Er heißt Edwin Jacobs, kommt aus den Niederlanden und ist derzeit Generaldirektor des Centraal Museum in Utrecht.

Als Chef im "U" zugleich auch Direktor des Museums Ostwall: Edwin Jacobs. (Foto: privat)

Als Chef im „U“ zugleich Direktor des Museums Ostwall: Edwin Jacobs. (Foto: privat)

Laut Mitteilung der Stadt Dortmund gilt der 56jährige als Museumreformer, der sich mit experimentellen Ausstellungskonzepten zu profilieren wusste und zudem besonderen Wert auf interkulturelle Prozesse und breitenwirksame Vermittlungsformen legt. Man wird abwarten müssen, wie solche Formeln in die Realität des Reviers umgesetzt werden. Jedenfalls ist Mijnheer Jacobs dabei Fortüne zu wünschen.

Die (wohl zu erwartende) Zustimmung des Stadtrates vorausgesetzt, soll Edwin Jacobs sein neues Amt in Dortmund Anfang 2017 antreten.

Schaut man in Jacobs’ Vita, findet sich als jüngstes Projekt (angekündigt für 2018) eine Auseinandersetzung mit Caravaggio und den (Utrechter) Caravaggisten, die just in Utrecht und in der Alten Pinakothek zu München gezeigt werden soll. Das klingt schon nach gehörigen „Hausnummern“. Vielleicht gelingt ja sogar noch ein Abstecher nach Dortmund…

In früheren Kunstschauen hatte sich Jacobs u. a. mit der Gruppe De Stijl und mit Theo van Doesburg im Zusammenhang der internationalen Avantgarde befasst.

Von Jacobs kuratierte Ausstellungen wurden u. a. vom Marta in Herford, vom ZKM in Karlsruhe und vom Haus der Kulturen der Welt (Berlin) übernommen. Der Mann, der auch schon als niederländischer Ko-Kurator bei der Biennale in Venedig fungiert hat, ist also in Deutschland kein Unbekannter. Mit ihm dürfte Dortmund höchst wünschenswerten Anschluss an internationale Vernetzungen in der Kunst- und Museumsszene finden.

Bevor er das Centraal Museum in Utrecht (zu dem auch ein Kindermuseum gehört) übernommen hat, hatte Jacobs schon das städtische Museum De Lakenhal in Leiden, das Museum Jan Cunen in Oss und das Kunstinstitut in Utrecht geleitet. Zu seinen Ausbildungsstationen zählten (bis 1982) eine Pädagogische Hochschule und (bis 1987) die Fakultät der Bildenden Künste (Universität Tilburg), die er jeweils mit Magisterabschluss verließ.

Mit der Suche nach einem Chef fürs „U“ hatte man sich in Dortmund lange Zeit recht schwer getan. Die Findungskommission zeigte sich so anspruchsvoll, wie der Posten es ja auch verlangt. Jacobs wird als Hausherr nicht nur fürs Museum Ostwall einstehen, sondern z. B. auch für die Uni-Etage und den renommierten Hartware Medienkunstverein.

Halb scherzhaft betrachtet, setzt sich mit der Dortmunder Personalentscheidung die „Hollandisierung“ beträchtlicher Teile des Kulturlebens im Ruhrgebiet zügig fort. Jacobs’ Landsmann Johan Simons leitet bekanntlich noch bis 2017 die RuhrTriennale und wird danach das Bochumer Schauspielhaus übernehmen.




Versäumtes nachholen: Es ist niemals zu spät, die Songs von Nick Drake zu hören

So ist es üblich, so ist es Brauch: In den jugendfrischen Lebensphasen, da man sich stark und manchmal gar unverwundbar (zwischendurch freilich umso verwundbarer) fühlt, hört man auch am intensivsten Rock- und Popmusik. Das, was die eigene Generation anbetrifft, entgeht einem dabei erst recht nicht. Im Großen und Ganzen.

Carlos Bottelho: Porträt-Bildnis von Nick Drake (Mischtechnik auf Leinwand - Foto: Bottelho. Wikimedia Commons, Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.5/)

Carlos Bottelho: Bildnis von Nick Drake (Mischtechnik auf Leinwand – Foto: Bottelho. Wikimedia Commons, Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.5/)

Doch hie und da versäumt man wohl doch etwas und erfährt vielleicht erst Jahrzehnte später staunend davon. So erging es mir jetzt, als im Rahmen einer „Langen Nacht“ des Deutschlandfunks (Dank an die findigen Hörfunkleute!) ein paar Songs gesendet wurden, bei denen ich sofort aufhorchte. Das war ja wundersam zartsinnige, feinstens versponnene, ausgesprochen originelle Musik. Von wem stammte sie nur?

Hatte man die Ansage verpasst, musste man früher umständlich an die Stationen schreiben, um zu erfahren, wer da zu einer bestimmten Uhrzeit zu hören gewesen war. Längst vorbei. Heute ruft man die Playlist auf und erfährt’s mit allen wissenswerten Grunddaten. So auch jetzt.

Es war also ein gewisser Nick Drake. Kenner schnauben jetzt vielleicht verständnislos oder sogar verächtlich: „Waaaas? Den kanntest du nicht? Ich habe den schon immer…“ Na, und so weiter. Die ehrliche Antwort lautet: „Nein. Bisher habe ich ihn nicht gekannt.“

Dieser Nick Drake hatte – grob gerechnet – in meiner und für meine Generation Songs geschaffen, gespielt und gesungen; vielleicht auch nur für sich selbst. Jedenfalls fühlt sich dieses Verpassthaben sehr seltsam an. Habe ich ihn damals, zwischen all den anderen, nur nicht sonderlich wahrgenommen oder ist er mir wirklich völlig unbekannt geblieben?

Gewiss, er galt Zeit seines kurzen Lebens (1948-1974) als Geheimtipp und als „Musiker für Musiker“, doch gerade auf solche war man damals doch versessen und ist es noch heute.

Man mag nicht daran denken, was aus den vielen früh Verstorbenen geworden wäre – aus Jimi Hendrix, Jim Morrison, Janis Joplin, Keith Moon, Brian Jones, eben Nick Drake und einigen weiteren. Vielleicht sähen die gesamten Musiklandschaften (oder wenigstens deren aufregendste Gefilde) mit ihnen deutlich anders aus.

Nachruhm war dem melancholischen Gitarrenkünstler Nick Drake, der zusehends in heillose Depressionen gestürzt sein soll, immerhin beschieden. Auf einer 2003 von der führenden Musikzeitschrift „Rolling Stone“ erstellten Liste der 500 besten Alben aller Zeiten standen alle drei (!) Studio-LPs, die er jemals herausgebracht hat: „Five Leaves Left“, „Bryter Layter“ und „Pink Moon“. Diese drei Platten schafften es auch samt und sonders auf die Bestenliste des Buchs „1001 Albums You Must Hear Before You Die“.

„Before You Die…“ Es ist also noch nicht zu spät, diesen großartigen Singer-Songwriter nachträglich kennen zu lernen. Und jetzt bitte Ruhe. Ich habe zu lauschen.




Island – das Wort der Stunde

Island ist das Wort und das Land dieser Tage. Fast niemand, der nicht die neueste Mode mitgemacht hätte, jeden Begriff mit einem angehängten „sson“ zu islandisieren.

Islands Kapitän Aron Gunnarsson, abgeknipst vom ZDF-Fernsehbild.

Islands Kapitän Aron Gunnarsson, heute abgeknipst vom ZDF-Fernsehbild.

Doch heute haben die sympathischen Nordländer bei der EM eine ehrenwerte 2:5-Packungsson (harrharr) gegen Frankreich kassiert und sind ausgeschieden. Schade, aber sicherlich auch verdient.

Die Zeiten, als das Wünschen – frei nach Peter Handke – noch geholfen hat, sind vorüber. Auch haben die Isländer ihre anfängliche Unbefangenheit verloren. Sie haben sich wohl aufs Gewinnenwollen versteift und sind dabei verkrampft. Es war zu erwarten.

Keine Gazette, die jetzt nicht ein Island-Special in ihre Spalten gerückt hätte. Beliebte Frage: Wie ticken die Wikinger? Naja. Jedenfalls wird man sich vor allem auch daran erinnern, wenn in zehn oder zwanzig Jahren von dieser EM noch einmal kurz die Rede sein sollte. War das nicht dieses Turnier mit den beherzt kickenden Trollen? Das, was bleiben wird, stiften die Geysire. Oder so ähnlich. Huh!

Es war ja auch ein schöner Traum. Erst haben sie in der EM-Qualifikation die Niederländer heimgeschickt. Dann haben sie bei dieser ansonsten oft so bräsigen EM den Favoritenschreck gegeben. Danke.

David gegen Goliath, das mag man allenthalben. Und ich bin ziemlich sicher: Auf dieses Island können sich insgeheim mancherlei politische Fraktionen einigen. Die Linke mag den Underdog, die Rechte die kernigen „Germanen“. Überschneidungen inbegriffen. So ungefähr. Oha!

Schon jetzt haben sich die Touristenzahlen des ehedem nur recht selten besuchten Eilands immens erhöht. Spätestens im nächsten Jahr dürfte auch so mancher Depp, der bislang nicht einmal die geographische Lage erahnt hat, aus bloßen Gründen des Trends dort einfallen. Arme Isländer. Man möchte schon jetzt um Entschuldigung bitten. Ballermann goes Reykjavik…




Dortmunder Institut für Zeitungsforschung: Neue Leiterin kommt aus Mainz

Was haben Borussia Dortmund und die Dortmunder Kulturbetriebe derzeit gemeinsam? Richtig, sie verpflichten lauter neue Leute, so dass man mit dem Notieren kaum noch nachkommt. Freilich reden wir von anderen finanziellen Dimensionen.

Kürzlich wurde Dr. Jens Stöcker als künftiger Direktor des Museums für Kunst und Kulturgeschichte präsentiert, auch Bibliotheksdirektor Dr. Johannes Borbach-Jaene ist erst seit relativ kurzer Zeit in diesem Job. Heute nun stellte sich die kommende Leiterin des bundesweit einzigartigen Institus für Zeitungsforschung vor: Die Historikerin und Kunsthistorikerin Dr. Astrid Blome (50) kommt vom Mainzer Gutenberg-Museum, wo sie als Kuratorin für die Themenschwerpunkte Zeitung und Presse zuständig ist.

Über historische Presseerzeugnisse gebeugt: Astrid Blome, künftige Leiterin des Instituts für Zeitungsforschung, flankiert von Kulturdezernent Jörg Stüdemann (li.) und Bibliotheksdirektor Johannes Borbach-Jaene. (Foto: Bernd Berke)

Über historische Presseerzeugnisse gebeugt: Astrid Blome, künftige Leiterin des Instituts für Zeitungsforschung, flankiert von Kulturdezernent Jörg Stüdemann (li.) und Bibliotheksdirektor Johannes Borbach-Jaene. (Foto: Bernd Berke)

Fehlt „nur“ noch eine neue Direktion für Dortmunder „U“ und somit auch fürs Museum Ostwall. So Gott und die offenbar höchst anspruchsvolle Findungskommission wollen, wird es bald oder irgendwann so weit sein.

Bundesweit einmalige Sammlung

Doch jetzt erst einmal zur Zeitungsforschung. Kein anderes deutsches Institut hat annähernd vergleichbare Bestände und konzentriert sich so intensiv auf Geschichte und Gegenwart der Presse. Da frohlockt der kulturgeneigte Lokalpatriot, denn selbst Berlin oder Hamburg können auf diesem Terrain nicht konkurrieren.

Auch die neue Leiterin, die ihr Amt am 15. August antreten wird, hat schon seit jeher Kontakt zur Dortmunder Einrichtung, die bereits 1926 gegründet wurde. Besonders während ihres Studiums in Bremen ging sie im damaligen „Schwester-Institut“ ein und aus, das sich mit Presseerzeugnissen der Frühen Neuzeit befasst, heute aber leider finanziell ausblutet. In Dortmund scheinen die Zeichen hingegen eher auf Ausbau zu stehen.

Frau Blome bringt alles mit, was für die neue Aufgabe verlangt wird – von der hochkarätigen wissenschaftlichen Qualifikation bis zur reichlichen Ausstellungs-Erfahrung. Ihr Promotionsthema war das Russland-Bild der deutschen Presse zur Zarenzeit Peters des Großen, auch eine Habilitation (Grundsätzliches über Lokalteile) und eine Juniorprofessur kann sie vorweisen.

Netzwerk der Wissenschaft

Das Institut, das sich in der Stadt- und Landesbibliothek befindet, soll künftig enger an die Netzwerke von Wissenschaft und Forschung angebunden werden; nicht zuletzt, um beispielsweise besser Fördermittel beantragen zu können. Es laufen bereits Gespräche mit der Dortmunder TU, wo es einen renommierten Studiengang für Journalistik gibt, der ebenfalls bundesweit seinesgleichen sucht.

Dass Frau Blome überdies ein breiteres Publikum ans Institut heranführen möchte, gehört in derlei Fällen zur üblichen Rhetorik, die nicht nur von Ratsherren gern gehört wird. Es ist ihr aber durchaus zuzutrauen, dass sie an den richtigen Stellschrauben drehen wird.

Die auch didaktisch beschlagene Astrid Blome will nicht nur mehr Studenten ins Institut holen, sondern auch eng mit den anderen Dortmunder Kulturbetrieben (Museen usw.) und den Schulen zusammenarbeiten. Sie ist überzeugt, dass – allen Problemen zum Trotz – keineswegs das Ende der Zeitungen bevorstehe. Gerade der stete Wandel der Zeitungslandschaft verlange nach genauer Beobachtung und Einordnung. Auch Online-Medien dürften dabei verstärkt in den Blick geraten, wenngleich Frau Blome klarstellt, dass man diese bestenfalls ansatzweise speichern und bewahren kann.

Bibliotheksdirektor Borbach-Jaene überreichte Blome als kleine Willkommensgabe eine Kopie des ältesten Dortmunder Blattes („Dortmundische vermischte Zeitungen“) von 1769. Darin heißt es vielsagend, dass eine Zeitung in dieser Stadt eine gar seltene Erscheinung sei.

Es klingt fast wie Prophetie über Jahrhunderte hinweg, kommen hier doch im Grunde nur noch die Ruhrnachrichten heraus, während die seit Anfang 2013 redaktionslose Westfälische Rundschau (WR) lediglich ein Phantomprodukt mit zugelieferten Inhalten ist. Blomes Vorgesetzter, Kulturdezernent Jörg Stüdemann, blätterte denn auch etwas versonnen in einem WR-Sammelband von 1968. Ja, das waren noch ganz andere Zeitungszeiten…




In Gelsenkirchen Federn lassen: Die Kissenschlacht als (beinahe) neuester Schrei

Leute! Ihr seid in Disco-Schaumbädern versunken. Ihr habt euch über und über mit Farbe bepulvert – und was des Kitzels mehr war. Aber vergesst das alles. Schleunigst. Denn jetzt kommt der ultimative Kick, und der heißt:

Kissenschlacht !!!

Jetzt guckt ihr etwas enttäuscht und murmelt vielleicht, das sei doch ein Vergnügen aus Urgroßmutters Zeiten. Aber ihr ahnt ja gar nicht, wie krass das sein kann. Ihr habt ja noch nichts vom „Frau-Holle-Festival“ gehört, das am 2. Juli im Gelsenkirchener Amphitheater die hedonistisch enthemmten Massen begeistern soll. Ausgerechnet Gelsenkirchen…

Vielleicht doch nicht mehr ganz so neu? Diese öffentliche Kissenschlacht begab sich jedenfalls anno 2010 in Warschau. (Foto: Kuba Bozanowski from Warsaw, Poland - Wikimedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Vielleicht doch nicht mehr ganz so neu? Diese öffentliche Kissenschlacht begab sich jedenfalls anno 2010 in Warschau. (Foto: Kuba Bozanowski from Warsaw, Poland – Wikimedia Commons, Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Voll des anspielungsreichen Sprachwitzes, lässt der Regionalverband Ruhr (RVR) in seinem Nachrichtendienst idr wissen, beim besagten Festival müssten „die Besucher Federn lassen“.

Tatsache ist wohl, dass DJs (wer sonst?) elektronische Tanzmusik (was sonst?) auflegen werden und es dazu im Publikum „gigantische“ Kissenschlachten geben soll. Wir zitieren: „Und damit die Federn so richtig fliegen, werden sie regelmäßig aus Kanonen abgefeuert.“ Ob man sich auch mit Wattebäuschen bewerfen wird, ist noch nicht heraus.

Um es passend altmodisch zu sagen: Heißa, das wird ein Hauptspaß!

Denn was gibt es da nicht noch alles: Eine Gauklerbühne (was sonst?), „mittelalterliche“ Musik (was sonst?), eine Märchenbühne und ein Märchenspiel (bilingualer Titel: „Escape the Märchenwald“). Mit anderen Worten: Es ist offenbar das soundsovielte Festival, das sich an den erstaunlich langlebigen „Mittelalter“-Trend hängt und selbigen Aufguss mit Elektro-Pop und Märchen verrührt. Das mit dem Abspielen der „altertümlichen“ Musik sehen die Veranstalter freilich als Novum an: „Mit Sicherheit etwas Besonderes und mal was anderes“. Aha.

Auf der Festival-Homepage spricht „Frau Holle persönlich“, beispielsweise so wundersam authentisch: „Hier habe ich mich mit meinen Waldgeistern zusammengetan…“ Oder: „Mit dabei sind natürlich auch meine Gauklerfreunde aus dem fernen Nordland.“ Klar, dass auch die Besucher möglichst verkleidet erscheinen sollen. Bloß raus aus der unübersichtlichen Gegenwart mit Wahnwitz-Kapitalismus, Flüchtlingskrise(n), Terror und Brexit.

Auf dem Gelände gilt folglich nicht der schnöde Euro, sondern man zahlt mit Silber- und Kupfertalern, für die man allerdings zuvor Euros ausgegeben hat. Frau Holle weiß auch schon, wie man sie nutzbringend verwenden soll: „…kostet von meinen Speisen und eiskalten Getränken.“ Außerdem lässt sie („in meiner kleinen Manufaktur“ – ach, wie süß!) Entenfeder-Kissen sonder Zahl herstellen – „extrem umweltfreundlich und biologisch abbaubar“, versteht sich. Schade nur, dass nicht auch sprachlicher Unrat biologisch abbaubar ist.

Apropos Kissen. In der Märchenwald-Regel Nummer 6 wird klargestellt: „Die Kissen dürfen nicht mit voller Wucht auf eine Person geschlagen werden.“ Kissenschlacht light also, gewaltfrei und womöglich nachhaltig.

Frau Holle kennt sich übrigens auch mit den Finten der Juristerei aus. Regel 5 lautet: „Sobald mein Festplatz betreten wird, gilt mein Foto- und Videorecht. Das bedeutet: sämtliches Material von dir darf ich für Werbe- und Promotionszwecke nutzen…“

Och. Das hört sich ja plötzlich gar nicht mehr so altfränkisch an.

www.frau-holle-festival.de




Zum Tod von Götz George: Was für ein Kerl mit welch einem Herzen! – Wiedersehen mit „Schimanskis“ erstem Fall

Und schon wieder so eine zutiefst betrübliche Nachricht: Der Menschendarsteller Götz George ist, wie jetzt bekannt wird, bereits am 19. Juni mit 77 Jahren gestorben. Gewiss: Er hat auf der Theaterbühne, im Kino und im Fernsehen viele, viele Rollen eindrucksvoll verkörpert. Doch nicht nur uns im Revier bleibt er naturgemäß vor allem als „Schimanski“ in Erinnerung. Daher hier noch einmal der Rückblick auf seinen allerersten „Tatort“-Fall, wie er in den Revierpassagen am 22. Juli 2013 geschildert wurde:

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Von Zeit zu Zeit liebe ich ein Wiedersehen solcher Art. Darum habe ich mir jetzt den allerersten Schimanski-„Tatort“ noch einmal angeschaut. Untertitel: „Duisburg-Ruhrort“. Erstausstrahlung: 28. Juni 1981. Damalige Zuschauerzahl: 15,38 Millionen.

Wenn ich mich recht entsinne, durfte ich den Film schon damals zur Erstausstrahlung rezensieren. Ich lese lieber nicht nach, was ich da geschrieben habe. So viel Wiedersehen muss denn doch nicht unbedingt sein.

Anlass der erneuten (leider nächtlichen) Sendung im WDR-Programm war natürlich der 75. Geburtstag von Götz George (23. Juli). Der Darsteller, der mit den Jahren zusehends die Statur eines – auch ohne viele Worte – allseits Respekt gebietenden Titanen angenommen hat, taucht dieser Tage häufiger auf; vor allem in der Rolle seines Vaters, des in die NS-Zeit verstrickten Schauspielers Heinrich George (arte, 22. Juli 2013, 20.15 Uhr und ARD, 24. Juli, 21.45 Uhr).

Handreichung: Götz George als Schimanski (rechts) und Eberhard Feik als Thanner. (© WDR)

Handreichung: Götz George als Schimanski (rechts) und Eberhard Feik als Thanner. (© WDR)

Als Kommissar Horst Schimanski dürfte Götz George das Ruhrgebiets-Image mindestens ebenso geprägt haben wie etliche Jahre zuvor Jürgen von Manger; und wahrscheinlich nachhaltiger, als selbst Herbert Grönemeyer, Herbert Knebel (alias Uwe Lyko) oder auch Frank Goosen dies vermocht haben. Da darf man also entschiedene Prägekraft konstatieren – und allein das ist schon eine Leistung für sich.

Der damalige Auftakt-Fall, der sich um Binnenschiffer und Waffenschmuggel drehte, soll hier nicht noch einmal aufgerollt werden. Doch die – seinerzeit ungewohnte – Machart des Krimis kann sich heute noch sehen lassen. Wie da gleich in der ersten Sequenz der Charakter der Hauptfigur zwischen Flüchen, Suff, Hafenmilieu und Pferdewetten anklingt, das ist schon verdammt gut und punktgenau gemacht. Von wegen „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“. Hier ist Dienst auch Schnaps. Und Bier. Und die eine oder andere Bettbekanntschaft. Im Verlauf einer solchen erfuhren wir auch, dass Schimi schon damals tätowiert war. Heute würde er damit einen faden Durchschnitt repräsentieren.

Regisseur Hajo Gies zeigte in fahlen, gleichsam längst abgeblätterten Farben ein wahrlich tristes Ruhrgebiet, stets Grau in Grau und nieselig. Und hinter jeder Straßenecke lauerte das Verbrechen. Das Bürgertum lebte sozusagen auf einem anderen Stern. Dafür war „Derrick“ zuständig. Schon „Normalos“ waren in den Schimanski-Filmen eine eher exotische Seltenheit.

In einem weiteren Punkt waren die Schimanski-Folgen geradezu Avantgarde: Lange vor dem Aufkommen von Begriffen wie „Prekariat“ und „Migration“ konnte man in diesen Filmen entsprechende sozialen Verhältnisse besichtigen. Wobei wir beides nicht miteinander vermengen wollen.

Herrlich übrigens die schon in der ersten Folge angerissene Kontrastzeichnung zwischen dem durchaus prügelfreudigen Weiberhelden Schimanski und dem eher feinsinnig veranlagten Thanner (Eberhard Feik), der gleich in einer der frühesten Szenen mit distinguierten Französisch-Kenntnissen glänzte.

Bei aller polternden „Raubeinigkeit“ (ein Wort, das seither quasi für ihn reserviert zu sein scheint) ist Schimanski freilich auch praktizierender Melancholiker. Und am Ende steht ohnehin immer die Erkenntnis: Was für ein Kerl mit welch einem Herzen!




Eine eher missmutige Zwischenbilanz zur Fußball-EM 2016 in Frankreich

Doch, doch: Vorab hatte ich mich aufs EM-Turnier in Frankreich gefreut. Allen Bedrohungen zum Trotz. Ich habe mir sogar eines dieser Vorschau-Hefte gekauft. Doch dann hat (nicht nur) mich das vielfach uninspirierte Ballgeschiebe ein ums andere Mal ziemlich abgeschreckt.

Ihr wisst schon, was ich meine: Dieses (vom dämlichen Austragungsmodus begünstigte) leidenschaftslose Taktieren, das inzwischen die allermeisten Spiele prägt, zersetzt den Geist des Fußballs. Findet ihr nicht?

Der kroatische Angreifer Ivan Perisic (vormals Borussia Dortmund & VfL Wolfsburg) mit Nationalfarben am Kopf. War's ein Pflaster oder ein Tattoo? War's aufgeklebt oder aufgebügelt? Egal. Es ist wohl ein Zeichen der Zeit. (Abgeknipst vom ZDF-Fernsehbild, Rechte wahrscheinlich bei der UEFA oder so)

Der kroatische Angreifer Ivan Perisic (vormals Borussia Dortmund & VfL Wolfsburg) mit Nationalfarben am Kopf. War’s ein Pflaster oder ein Tattoo? War’s aufgeklebt oder aufgebügelt? Egal. Es ist wohl ein Zeichen der Zeit. (Abgeknipst vom ZDF-Fernsehbild, Rechte wahrscheinlich bei der UEFA oder so)

Kleinmütiges Gekicke überwiegt. Jeder Einwurf und jede Ecke werden beiderseits reklamiert. Von Fouls ganz zu schweigen. Und immer sind die Anderen schuld. An allem. Keine filigrane Kunst, nur Bollwerk und Riegel. Keine Dramen, keine Tragödien. Und niemand, der bereit wäre, notfalls einmal mit fliegenden Fahnen „unterzugehen“.

Stand 25. Juni, nach Beendigung des ersten Achtelfinal-Spieltags am späten Abend: Wenn ich richtig gezählt habe, haben schon zwölf (!) Spiele nach 90 Minuten (plus x) mit dem gähnträchtigen Ergebnis 1:0 geendet, ein zumeist fades 2:1 gab’s in fünf, ein vielfach bräsiges 1:1 in sechs Fällen (davon eines, das per Elfmeterschießen entschieden werden musste), dazu kamen vier torlose Begegnungen. Das Prädikat „aufregend“ haben allenfalls zwei bis drei von bislang 39 Partien verdient.

Bestens bezahlte Jubler (vulgo: TV-Kommentatoren) reden die meisten Szenen dennoch schön oder suchen künstlich Spannung zu beschwören. Dieses pseudo-maskulin hervorgepresste Gefasel. Dieses dürftige Standard-Vokabular („geblockt“ für abgewehrt). Dieses immergleiche Crescendo, wenn einer mehr oder weniger gefährlich vor dem Tor auftaucht („Gommeeeeeez“).

Ansonsten sind sie als Künder des Offensichtlichen am Werk, ganz nach dem Muster: „Ronaldo kommt nicht ran.“ Oder: „Der Freistoß war gut. Aber nicht gut genug.“ Ach was. Man mag’s nicht mehr hören. Aber mit ihnen tauschen möchte man auch nicht, mit wohlfeiler Kritik vom Sofa aus ist es nicht getan. Hier müsste grundsätzlich etwas passieren. Lasst meinetwegen Lyriker ans Mikrofon. Oder Satiriker.

Wie auch immer: So manches Match schaue ich mir gar nicht mehr an oder lasse es nur nebenher mitlaufen. Das Fieber hält sich bis dato in engen Grenzen und übersteigt die 37-Grad-Marke nur äußerst selten.

Das Drumherum tue ich mir schon lange nicht mehr an. Mit dem Abpfiff zur Halbzeit wird sofort ausgeschaltet, ca. 15 Minuten später wieder ein und mit dem Schlusspfiff ist eben auch Schluss. Kein endloses Gelaber über „Packing“ und dergleichen. Erst recht keine spätabendlichen Gruseltreffs wie bei Beckmann, die ich gottlob nur vom Hörensagen kenne. Das reicht schon. Es ist offenbar der absolute Tiefpunkt des Fernsehjahres. Und das bei einem öffentlich-rechtlichen Sender. Zweckdienliche Verwendung der Gebühren sieht anders aus.

Aber jetzt beginnt das Turnier doch erst richtig, oder? Nun, falls man hoffnungsfroh auf die K.o.-Runde gesetzt haben sollte, wird man von den bisherigen Partien ebenfalls enttäuscht. Nun gut, die Schlussphase von Kroatien vs. Portugal hatte was. Schade ums kroatische Team.

Man soll den Fußball nicht immer gleich politisch interpretieren, aber insgesamt man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, bei dieser EM den sportlichen Elaboraten eines Kontinents in Erstarrung zuzusehen, Insel-Anhängsel inbegriffen. Wo wäre da ein befreites, seiner selbst gewisses oder auch nur unbekümmert frohgemutes Aufspielen? Nein, das womöglich liebenswerte Gewurschtel isländischer Prägung oder muntere irische Fangesänge können uns den wahren Spielzauber nicht ersetzen. Sorry.

Ach so. Heute (Sonntag) um 18 Uhr spielt die deutsche Elf gegen die Slowakei. Nein, nicht gegen Slowenien. Und auch nicht mit Gewinn-Garantie.

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P.S. am Sonntag, 26. Juni, 22:09 Uhr abends: Nun, das lässt sich schon besser an. Ein durchaus beachtlicher deutscher Auftritt gegen die (allerdings erbärmlich abwehrschwachen) Slowaken, dazu die phasenweise putzmunteren Belgier. Und Frankreich – Irland soll auch ganz nett gewesen sein, wie ich höre. In diesem Stile darf’s von nun an gern weiter gehen.

Aber jetzt bitte nicht gleich wieder in den altbekannten Modus der deutschen Titel-Euphorie wechseln! Italien oder Spanien wartet.




Ein paar atemlose Bemerkungen zum „Brexit“

An diesem Thema kann man einfach nicht achtlos vorüber gehen, nicht einmal als Kulturblog aus dem Revier: Großbritannien verlässt also die Europäische Union. Dazu hier ein paar atemlose Notizen des Augenblicks, der gegenwärtigen, durchaus diffusen Stimmung entsprechend. Man muss der beengten Brust ja auch Luft verschaffen.

In den bisweilen über Gebühr zitierten sozialen Netzwerken ist (neben mancherlei Scherz und Ironie) eine Art Schockzustand zu verzeichnen. Auch mancher wüste Vorschlag („Jetzt den Eurotunnel fluten“) lässt indirekt auf Beklemmung schließen.

Briten-Nostalgie aus dem Nippesregal: traditionelles Londoner Taxi und dito Telefonzelle vor Shakespeare-Büchern. (Foto: Bernd Berke)

Briten-Nostalgie aus dem Nippesregal: traditionelles Londoner Taxi und dito Telefonzelle vor Shakespeare-Büchern. (Foto: Bernd Berke)

Etliche Leute rechnen sich schon preiswerte England-Reisen aus oder bangen um den bisher noch halbwegs günstigen englischen Tee. In Frankfurt spekuliert man, ob man jetzt vollends zum neuen Finanzzentrum des Kontinents wird. Viele hegen halt ihre eigennützigen Erwartungen.

Bei Facebook und Twitter setzen unterdessen die üblichen Mechanismen ein. Es werden alle, aber auch wirklich alle Songs gepostet, die sich irgendwie auf den #Brexit beziehen lassen – von „Should I Stay or Should I Go?“ (The Clash) über „Anarchy in the U.K.“ (Sex Pistols) bis hin zu „Hello Goodbye“ von den Beatles.

Es jagen sich die Eilmeldungen. Pfund und DAX stürzen ab, David Cameron kündigt seinen Rücktritt an. Wer weiß, welche Nachrichten dieser denk- und merkwürdige Tag noch bringen wird. Nur eins interessiert uns nicht: ob Erdogan darob in schadenfrohen Taumel gerät. Soll er doch.

Mal ganz nebenbei. Zufällig habe ich gestern ein wenig nach der Ausstattung von Navigationsgeräten geforscht. Und siehe da: Viele Modelle bieten just 22 vorinstallierte Karten („Mitteleuropa“) – ohne die britischen Inseln. Ein Zeichen, ein Zeichen… Demnach müssten freilich auch die bislang verbliebenen skandinavischen Länder bald austreten.

Von der Fußball-EM ganz zu schweigen. Dort sind noch drei Mannschaften dabei, deren Landstriche vom Brexit unmittelbar betroffen sind: England, Wales und Nordirland. Von Rechts wegen müssten sie doch jetzt freiwillig abreisen, oder? Ehrlich gesagt, hat mich das Privileg schon immer gestört, dass sie derart viele Mannschaften entsenden können (Schottland käme im Qualifikationsfalle noch hinzu). Aber in Wahrheit möchte man sie ja allesamt nicht missen, insbesondere nicht die sangesfreudigen Fans.

Apropos Privilegien. Ich kann mir vorstellen, dass die Briten trotz des Austritts gewisse Vergünstigungen im Warenverkehr mit der EU für sich aushandeln werden. Man wird sehen. Lächerlich erscheinen jedenfalls die Insel-Phantasien, die auf „Rule, Britannia“ hinauslaufen, als könnte nun die alte Herrlichkeit des Weltreiches wieder beginnen. Man möchte (im Londoner Wettbüro?) beinahe auf das Gegenteil setzen.

Für den Brexit haben angeblich vor allem die Älteren und die Bewohner ländlicher Bezirke gestimmt. Es hat schon einen bitteren bis absurden Beigeschmack, dass vor allem sie über die Zukunft enscheiden. Schotten und Nordiren waren hingegen mehrheitlich für den Verbleib in der EU. Gut möglich, dass die Schotten nun noch einmal über die Loslösung von Großbritannien abstimmen werden.

Wenn man aber dann die triumphalen Schlagzeilen in den Extrablättern der britischen Boulevardzeitungen sieht (in Riesenlettern „See EU later“ usw.), zweifelt man am letzten Rest des pragmatischen Verstandes, der doch angeblich die Inselbewohner auszeichnet. Die britische Brüllpresse ist allerdings eh eine Welt für sich.

Ganz schlimm wäre es, wenn dies ein Anfang vom Ende wäre. Fliegt uns jetzt das ganze europäische Projekt um die Ohren? Muss es nicht völlig neu ausgerichtet werden, etwa als Union gegen Sozialdumping?

Oder lassen sich die Völker jetzt wieder gegeneinander in Stellung bringen, wie ehedem in finsteren Zeiten?

Macht euch auf lange Leitartikel gefasst. Und hoffentlich auf beherzte Entscheidungen. Auf Weisheit wagt man ja gar nicht zu hoffen.

Übrigens: Man wüsste doch nur zu gern, wie die Queen über all das denkt. Obwohl es nichts ändert.




Bochum, Buddy Holly und überhaupt: Zum Tod des Schriftstellers Wolfgang Welt

Durch eine Mitteilung des Schauspielhauses Bochum erfahren wir vom Tod des Schriftstellers Wolfgang Welt, der jetzt mit nur 63 Jahren gestorben ist. Wir zitieren im Wortlaut:

„Das Schauspielhaus Bochum trauert um Wolfgang Welt.
Wolfgang Welt war seit 1991 Nachtpförtner am Schauspielhaus Bochum und allen hier arbeitenden Kolleginnen und Kollegen vertraut. Er war im besten Sinne des Wortes ein ,Original‘ des Hauses, jedem Künstler bekannt, umgeben von einer geheimnisvollen Aura, nicht ganz zu durchschauen, mal abweisend beobachtend, dann wieder gesprächig, offen und interessiert.
Vor seiner Tätigkeit als Nachtpförtner war Wolfgang Welt bereits als Journalist und Autor erfolgreich tätig. In den späten 1980er war er einer der wichtigsten Musikjournalisten des Reviers, schrieb für „Sounds“, „Marabo“ und „Musikexpress“. Danach begann er Romane zu schreiben und galt mit Büchern wie „Peggy Sue“, „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“ oder „Doris hilft“ als Geheimtipp der deutschen Literatur-Szene. (…)
Wolfgang verstarb gestern Morgen nach kurzer schwerer Krankheit.
Wir werden ihn sehr vermissen.“

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Hier noch einmal ein Text über Wolfgang Welt, der am 23. November 2012 erstmals in den Revierpassagen erschienen ist:

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So einen gibt es nur in Bochum, also wird die Geschichte immer wieder gern aufgegriffen, wenn es um Wolfgang Welt geht: Der Mann ist Nachtportier im Schauspielhaus – u n d Autor des hochmögenden Suhrkamp-Verlages, seit der berühmte Peter Handke sich vor Jahren für ihn stark gemacht hat. So. Damit hätten wir das hinter uns gebracht.

Fürsprecher Handke hat jetzt auch ein kurzes Vorwort zu Welts gesammelten (vorwiegend journalistischen) Texten der Jahre 1979 bis 2011 beigetragen.

Der Band führt vor allem in Wolfgang Welts Frühzeit zurück, als er speziell Rockmusik, dann aber auch Literatur fürs Ruhrgebiets-Szenemagazin „Marabo“ besprochen hat. Später ging’s auch in Blättern wie „Musikexpress“ zur Sache.

Man erlebt gleichsam schreiberische Fingerübungen, zunächst vielfach noch unscheinbar oder gar unbedarft, gleichwohl schon vehement meinungsfreudig, ja manchmal sogar eminent präpotent.

Ich bin beileibe weder Grönemeyer- noch Müller-Westernhagen-Fan und gewiss auch kein Anhänger von Heinz Rudolf Kunze, doch darf man diese Leute so beleidigend wie folgt abkanzeln?

„Was sich (…) Grönemeyer (…) hier geleistet hat, ist wie schon bei seinem Debüt vor zwei Jahren unter aller Sau.“

Über das Lied „Von drüben“ von Marius Müller-Westernhagen („musikalisch armseliges Würstchen“): „Dieses Stück Scheiße ist an Erbärmlichkeit nicht zu übertreffen. (…) Hoffentlich verliert Müller-Westernhagen bald seine Stimme.“

„Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten.“

Ist da etwa ein Drecksack am Werk?

Das liest sich ganz so, als wolle da jemand die Kritisierten ein für allemal „erledigen“ und weghaben. Es hat schon gewisse Drecksack-Qualitäten, oder? Eigentlich kein Wunder, dass er auch schon mal als „Aufsatz-Ayatollah“ bezeichnet worden ist. Immerhin hat sich Welt, ausweislich eines viel späteren Textes, mit Grönemeyer nicht auf ewig zerstritten.

Auch wenn er lobte und pries, erging sich Wolfgang Welt (vielsagendes Power-Autorenkürzel „WoW“) vor allem in wuchtig vorgetragenen Gefühlsurteilen, die er gar nicht großartig begründen mochte, darin fast schon einem Reich-Ranicki vergleichbar. Buddy Holly war und ist demnach der Abgott aller populären Musik. Auch eher entlegene Größen wie Phillip Goodhand-Tait oder der Schlagersänger Willy Hagara gelten ihm viel. Vom „Abschaum“ haben wir ja schon gehört. Übrigens: Auch „Rockpalast“-Macher Peter Rüchel gehört zu den Schimpfierten, wohingegen dessen zeitweiliger Mitstreiter Alan Bangs… Aber lest selbst!

Ein häufig bemühtes, wahrlich dürftiges Hauptkriterium seiner frühen Musikbesprechungen ist, dass Künstler mit über 30 zu alt seien, um richtig zu rocken. Ach, du meine Güte! Auch ahnt man zunächst nicht, dass einem jemand mit abgegriffensten Formulierungen wie „Kafka lässt grüßen“, „Ein Buch, aus dem man viel lernen kann“ oder „Beide Scheiben waren weltweite Hits“ je etwas Wissenswertes mitzuteilen haben würde. Vereinzelte sprachliche Unfälle wie diesen hätte das Buchlektorat nachträglich korrigieren sollen: „Von seinem älteren Bruder hatte er bereits zuvor einige einfache Griffe beibekommen gekriegt…“

Hässlichkeit, Melancholie und Würde des Reviers

Jetzt aber endlich das Positive! Und das ist viel mehr.

Irgendwann, zunächst beinahe unmerklich, sodann mit steigender Frequenz, macht es in den assoziativ aufgeladenen Beiträgen („Ich will jetzt schreiben, was mir einfällt“) sozusagen „Klick“. Es beginnt mit Authentizität signalisierenden Bemerkungen: „Ich gebe zu, ich kann kaum verbalisieren, was ich beim Anhören dieser Platte empfunden habe, dazu hat sie mich viel zu sehr berührt.“ Auf einmal aber findet sich ein ungeahnt neuer Ton, der einen mäandernd mitzieht, der sich ganz eigen anhört. Und dieser Sound wird kräftiger! Es klingen chaotisch bewegte Ruhrgebiets-Nächte mit. Die Sätze nehmen wilde, sehnsüchtige Lebensfahrt auf, künden aber auch immer wieder von Hässlichkeit, Melancholie und Würde des vergehenden Reviers von einst.

Dabei zeigt sich unversehens: Buddy Holly und die Wilhelmshöhe (ehemaliges Zechenviertel in Bochum, Welts engere Heimat zwischen Maloche, Fußball und Suff) sind nicht sternenweit voneinander entfernt, sind keineswegs unvereinbare Gegensätze. Ich bin bestimmt nicht der erste, der das schreibt, doch Wahrheiten darf man gelegentlich wiederholen: Bei Wolfgang Welt findet sich das Ruhrgebiet unversehens als Gelände der weltweiten Bewegung im Gefolge des Rock’n’Roll wieder. Den sinnhaltigen Kalauer von der „Welt-Literatur“ haben auch schon andere losgelassen.

Wo anfangs noch Dilettantismus spürbar war, freilich oft schon von wacher Neugier angetrieben, da zahlt sich nun außerdem die zunehmende Repertoire-Kenntnis aus. Welt wird erfahrener, urteilsfähiger, wohl auch Zug um Zug geschmackssicherer.

Es ist frappierend zu sehen, in welchem Maße und wie schnell sich dabei sein Stil zum Guten und manchmal Genialischen hin verändert. Als jemand vom selben Jahrgang, der etwa zur gleichen Zeit mit dem beruflichen Schreiben begonnen hat, muss ich ihm erst recht Bewunderung zollen. Die Treibsätze seiner besseren Texte hätte man gern auch mal gezündet. Von den Romanen („Peggy Sue“, „Der Tick“) erst gar nicht zu reden.

„It’s better to burn out…“

Einlässlich und mit Gespür für Gewichtungen hat sich Wolfgang Welt mit Kultur-Gestalte(r)n aus der Region befasst. Mit Respekt werden Max von der Grüns Roman „Flächenbrand“ oder Jürgen Lodemanns Theaterstück „Ahnsberch“ besprochen, mit freundschaftlicher Sympathie wird der Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner erwähnt. Werner Streletz (Marl/Bochum), damals noch am Anfang seines literarischen Schaffens stehend, erhält sogleich das Prädikat „beachtlich“.

Dass Wolfgang Welts Lebensweg zwischenzeitlich auch in psychiatrische Behandlungen führte, könnte tatsächlich innigst mit seiner wildwüchsigen Art des Schreibens zu tun haben und den Titel der Sammlung beglaubigen: „Ich schrieb mich verrückt“. Alles hat seinen Preis. Doch wie sang jener (nicht mehr ganz junge) Rockstar: „It’s better to burn out than it is to rust…“

Neuerdings scheint Wolfgang Welt etwas ratlos und verloren um die alten Themen zu kreisen, ohne ihnen wesentlich Neues abzugewinnen. Ausdrücklich heißt es an einer Stelle, dass sein Interesse an Musik geschwunden sei. Da ist ein Feuer erloschen. Und das kann einen ziemlich traurig machen.

Wolfgang Welt: „Ich schrieb mich verrückt“. Texte 1979-2011 (Hrsg. Martin Willems). Klartext Verlag, Essen. 358 Seiten. 19,95 €

P. S.: In einem lakonischen Interview am Schluss des Bandes nennt Wolfgang Welt den Schriftsteller Hermann Lenz als Vorbild und äußert sich so zum Revier: „Weil ich illusionslos bin, was das Ruhrgebiet anbetrifft. Ich finde, es ist ein Haufen Scheiße.“

Ein weiteres Interview mit Wolfgang Welt (von www.bochumschau.de) findet sich hier.




Was man mit 1 Million Euro anfangen kann – zum Beispiel viele Menschen ins Museum holen

Kürzlich hat die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung auf einer ganzen Seite die Frage abgehandelt, was sich mit 1 Million Euro auf dem deutschen Immobilienmarkt anfangen ließe.

Gut ausgeschildert: freier Eintritt in die Sammlung. (Foto: © Museum Folkwang, 2016)

Weithin sichtbar ausgeschildert: freier Eintritt in die Sammlung. (Foto: © Museum Folkwang, 2016)

Befund: In abgelegenen Ecken Brandenburgs könnte man damit ein repräsentatives Anwesen erwerben, in Münchens gefragtesten Vierteln mitunter nur noch eine 70-Quadratmeter-Wohnung. Verrückt.

Man kann aber besagte Million auch ganz anders verwenden, nämlich nutzbringend für die Allgemeinheit. Just diesen Betrag hat die Krupp-Stiftung zur Verfügung gestellt, um im Essener Museum Folkwang fünf Jahre lang kostenfreien Zutritt zur ständigen Sammlung zu ermöglichen.

Vor ziemlich genau einem Jahr (19. Juni 2015) hat die löbliche Aktion begonnen. Wie jetzt bekannt wird, zeigt sie erwartungsgemäß ordentlich Wirkung. Denn seitdem und bis vorgestern haben exakt 103 763 Menschen das Angebot angenommen, das entspricht einer Steigerung der Besucherzahl um 141 Prozentpunkte. Bei Kindern betrug der Besucherzuwachs sogar exorbitante 186 Prozentpunkte.

Es gehört zur angenehmen Routine, dass sich angesichts solch erfreulicher Zahlen sowohl der Musumsdirektor (Dr. Tobia Bezzola) als auch die Kuratoriumsvorsitzende der Krupp-Stiftung (Prof. Ursula Gather, zugleich Rektorin der Dortmunder Uni) sehr angetan äußern. Wie auch sonst?

Und tatsächlich. Das ist mal ein kultureller Lichtblick. Weiß man, was vor allem bei Kindern die frühzeitige Berührung mit den Künsten fürs spätere Leben anstiftet? Man ahnt es ja und hofft das Beste.

Und die 70-Quadratmeter-Behausung in bester Münchner Lage? Soll kaufen, wer da will (und kann). Sympathie wird so jedenfalls nicht erworben.




Telekom-Fehler seit über einem Monat: Millionen Mailausdrucke ohne Ä, Ö, Ü und ß…

Gerade mal wieder mit der Telekom-Hotline gesprochen. Eines meiner Hobbys, dem ich recht häufig fröne; zähneknirschend frönen muss, um genau zu sein. Weil immer mal wieder etwas schief läuft.

Worum geht’s jetzt? Seit einiger Zeit kann ich meine t-online-Mails nicht mehr richtig ausdrucken. Es fehlen dann alle Umlaute, jegliche Akzente und das ß, die in der empfangenen Mail auf dem Bildschirm zu sehen sind. Doch im Ausdruck sind die Zeichen verschwunden. Im Deutschen wahrlich keine Kleinigkeit, im Französischen z. B. ebenfalls nicht. In jedem Falle ärgerlich.

Screenshot-Ausschnitt des Telekom-Mailprogramms

Screenshot-Ausschnitt des Telekom-Mailprogramms

Es liegt nicht etwa am Drucker, es nützt auch nichts, Einstellungen im Mailprogramm zu ändern, nein, die Telekom muss offen zugeben: Es liegt an ihren zentralen Servern. Das heißt: Alle Telekom-Mailkunden sind betroffen. Es dürften also viele Millionen sein, die sich seit Wochen mit diesem Fehler plagen.

Nun sind sie bei der Telekom gewiss Tag und Nacht fieberhaft zugange, um den peinlichen Fehler zu beheben?

Wohl weniger.

Schaut man in einschlägige Hilfeforen, so haben die Probleme bereits vor dem 13. Mai begonnen. Und welchen Rat erhalten die Kunden, die online um Hilfe nachsuchen? Ich zitiere aus der höchst unbefriedigenden Antwort des „Telekom hilft Teams“ auf eine just am 13. Mai gestellte Kundenanfrage:

„Bei dem von Ihnen beschriebenen Sachverhalt handelt es sich um einen bekannten Fehler, der seit kurzem auftritt. Er wird mit einem der nächsten Updates behoben – zurzeit kann ich noch keinen konkreten Termin nennen und bitte daher um Ihre Geduld.“

Inzwischen haben wir Mitte Juni und sie vertrösten einen bei der Hotline immer noch mit den gleichen Sprüchen auf „eines“ der nächsten Updates. Derweil zahlt man ihnen Monat für Monat seinen Obolus. Aber man ist ja nur Bestandskunde, den die Telekom sicher im Sack zu haben glaubt.

Klar, der Typ von der Hotline hat irgendwie recht: Man kann den Mail-Inhalt definieren, kopieren, in ein anderes Programm einsetzen und dann ausdrucken. Doch welch ein Umstand wäre das. Blöde Bemerkungen übers papierlose Büro möchte ich jetzt gleichfalls nicht hören. So manches Schriftstück braucht man eben als Ausdruck. Auch anno 2016.




Ein bisschen Schwund ist immer: Wie die Erinnerungen an die Rundschau verblassen

Nein, es ist gar kein „Jahrestag“. Die komplette Redaktion der Westfälischen Rundschau in Dortmund wurde zum 31. Januar 2013 entlassen – und das „rundet“ sich gerade mal nicht. Doch was soll’s. Die ganze Angelegenheit geht einem zwischendurch immer mal wieder durch den Kopf, wenn man dort Jahrzehnte seines Berufslebens zugebracht hat.

Alte Schriftzüge abmontiert: das frühere Rundschauhaus am Dortmunder Brüderweg. (Foto: Bernd Berke)

Alte Schriftzüge abmontiert: das frühere Rundschauhaus am Dortmunder Brüderweg. (Foto: Bernd Berke)

An trüben Tagen wie diesen kann es geschehen: So dachte ich mir neulich, dass einstige Rundschau-Redakteure und dito freie Mitarbeiter(innen), wenn sie nur lang genug dabei gewesen sind, vielleicht ein wenig nachvollziehen können, wie sich das mit der nachträglich gründlich abgewerteten „Lebensleistung“ (z. B. früherer DDR-Bewohner) anfühlen mag. Da haben viele, viele Leute Tausende von Stunden ihrer Arbeitskraft investiert (vom etwaigen Herzblut mal zu schweigen), um zu einem möglichst guten Blatt beizutragen – und dann wird eines Tages die ganze Chose kurzerhand über die Reling gekippt.

Was also ist übrig von all den täglichen Mühen, außer vergilbten Archivexemplaren, außer einer leeren Hülle, einer bloßen Phantom-Marke? So gut wie nichts. Jedenfalls nichts vom früheren Geist (oder sagen wir bescheidener: vom Spannungsfeld) einer Redaktion, die sich immerzu zwischen Kooperation und Konflikt bewegt hat, die auf ihre Art ein lebendiger Organismus gewesen ist. Es war grundlegend anders als jetzt, wo die Zeitung mit fremden Inhalten gefüllt wird wie eine Flasche mit einer lauwarmen Flüssigkeit undefinierbarer Herkunft, Konsistenz und Zusammensetzung.

Nun gut. Das mit der DDR war wohl ein schräger, etwas gesuchter Vergleich. Aber so ist das, wenn etwas dermaßen abrupt aufgehört hat. Dann greift man, weil es ein beispielloser, schwer benennbarer Vorgang war, auch mal zu weniger passenden Analogien. Und dabei war ich ja nicht einmal direkt vom plötzlichen Ende betroffen, weil ich die Zeitung schon fast vier Jahre vorher aus freien Stücken verlassen hatte. Aber egal. Es beschäftigt einen doch. Über den Tag hinaus.

Vor einigen Wochen sind endlich die längst sinn- und funktionslosen Schilder (Westfälische Rundschau / WAZ) vom vormaligen Rundschauhaus am Dortmunder Brüderweg abmontiert worden. Einerseits verschwinden so Signale der Verlogenheit, andererseits auch Zeichen der Erinnerung.

Apropos Erinnerung. Als vor einiger Zeit für den Bau eines (ziemlich misslungenen) neuen Innenstadtviertels die noch früher genutzten WR-Gebäude an der Bremer Straße abgerissen wurden, wussten jüngere Dortmunder gar nicht mehr, dass dort jemals die Zeitung herausgekommen war. Sie kannten allenfalls noch die Disco „Soundgarden“, die dort später für ein paar Jahre Betrieb gemacht hat.

Noch etwas kommt hinzu. In den Jahren seit 2013 sind einige Kolleginnen und Kollegen gestorben, die man aus der Redaktion gekannt hat. Es lässt sich nicht ausschließen, dass im einen oder anderen Fall auch nagender Kummer über den Schwund der beruflichen „Heimat“ das Leben verbittert oder gar verkürzt hat.

Als der Laden noch lief, konnte man sich bei Todesfällen in den Reihen der Redaktion allerdings noch gut zureden: Da kommt etwas nach, wir haben wieder gute Volontärinnen und Volontäre, sie werden die Fackel weiter tragen. Jetzt aber ist es Mal um Mal und Stück für Stück ein Absterben auch noch der letzten kleinen Überlieferung, die allmähliche Auflösung eines restlichen Zusammenhangs. Und dabei geht es wahrlich nicht nur um verblassende Anekdoten aus dem beruflichen Alltag.




Kreuzbrave Lektüre für EM-Pausen: Das Buch zum Deutschen Fußballmuseum

So. Die EM läuft also. Wie wär’s jetzt für die Pausen mit etwas Lektüre zur Geschichte der Nationalmannschaft – und dann auch noch mit gewissem Regionalbezug?

Kein Problem. Schließlich ist im letzten Jahr in Dortmund das Deutsche Fußballmuseum des DFB eröffnet worden. Und just dazu gibt es ein ziemlich üppiges Begleitbuch zum vergleichsweise günstigen Preis. Natürlich kommt auch die Edition aus dem Revier, nämlich aus dem Essener Klartext-Verlag.

9783837509731

Der gewichtige Band im Katalogformat heißt „Mehr als ein Spiel“ und ist selbstredend durchweg positiv gestimmt. Es geht vor allem um die Nachfeier der vier deutschen Weltmeistertitel (bekanntlich 1954, 1974, 1990, 2014). Es gibt weder Kritik am Nationalteam noch etwa an Finanzierung oder Architektur des Fußballmuseums und erst recht nicht am Gebaren des DFB, sondern Lob und Preis bis hin zur Devotionalien-Verehrung („Götzes goldener Schuh“ und dergleichen).

Gelegentliche Leistungstiefs von „La Mannschaft“ werden nicht verschwiegen, sie wirken aber in diesem Kontext nur wie bedauerliche Ausrutscher in der insgesamt triumphalen Historie. Das wesentliche „Narrativ“ (um das Modewort zu verwenden) dieses Buches läuft eben eher auf Girlanden, Gloriolen und Heldentaten hinaus. Freilich: Zwischenzeitliche tragische Momente passen hinein, sie verleihen ja den Siegen zusätzliche Tiefenschärfe.

Den in den letzten Jahren vielfach erfreulich verfeinerten und oft wunderbar ironisierten Fußballdiskurs (besonders gepflegt von der Zeitschrift „11 Freunde“, von Arnd Zeigler etc.) wird man vielleicht hie und da vermissen, aber derlei geistreiches Funkeln gehört wohl auch nicht in ein solch offizielles Buch und hat anderweitig Platz.

Immerhin ergeben die Textbeiträge und die Fotoauswahl ein doch recht großflächiges Gesamtbild, das deutlich über das Nationalteam hinaus reicht und z. B. auch die Entwicklung der Bundesliga, des Vereinsfußballs oder der Fankultur in den Blick nimmt. Weitere (kurze) Kapitel handeln beispielsweise von Frauenfußball, dem Fußball in der einstigen DDR, von Fußball und Kultur oder gar von der Basis des Sports, hier in Gestalt der C-Junioren des Essener Clubs Fortuna Bredeney. Pflichtgemäße Gespräche mit den deutschen Kickergrößen Uwe Seeler, Franz Beckenbauer, Lothar Matthäus und Philipp Lahm kommen sozusagen erschwerend hinzu.

So weit, so kreuzbrav und verbandsfromm. Aber wer will denn auch nachträglich mit errungenen Titeln hadern? Da meckert man doch (als einer von zig Millionen Bundestrainern) lieber zum Exempel ganz aktuell über die „unmögliche“ Aufstellung, die Jogi Löw jetzt gegen die Ukraine…

Manuel Neukirchner (Hrsg.): „Mehr als ein Spiel. Das Buch zum Deutschen Fußballmuseum“. Klartext-Verlag, Essen. 258 Seiten. 19,95 Euro.




Neues Design der Hörfunk-Nachrichten auf WDR 2: Das Dudeln höret nimmer auf

Zugegeben: Auf die Hörfunkwelle WDR 2 komme ich sowieso nur noch selten zurück. Schon die Musik missfällt mir, sie besteht größtenteils aus dem allgegenwärtigen Hitparaden-Mainstream.

Überhaupt biedert man sich dort zunehmend dem angeblichen Mehrheitsgeschmack an. Nur gut, dass es noch WDR 5 und WDR 3 bzw. Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur gibt. Selbst WDR 4, wo sie früher hauptsächlich Schlager abnudelten, liegt mir mit seiner Rock- und Pop-Nostalgie inzwischen näher.

Tja. Welche Frequenz soll man denn nun einstellen? (Foto: BB)

Tja. Welche Frequenz soll man denn nun einstellen? (Foto: BB)

Aber das wollte ich gar nicht hauptsächlich erzählen, es ist nur der dauerhafte Hintergrund meines Ärgers. Vielmehr geht es um dies:

Bei den heutigen Morgennachrichten auf WDR 2 habe ich meinen Ohren nicht getraut. Das konnte doch nicht wahr sein, oder?

Da gab’s eine unsägliche Neuerung, die offenbar schon am letzten Wochenende eingeführt wurde, nämlich ein „Musikbett“, das den Hauptnachrichten jetzt permanent unterlegt wird. Das undefinierbare, absolut identitätsfreie Muzak-Gedudel oder auch Gesäusel wird also gnadenlos durchgezogen; ganz egal, welcherlei Nachricht gerade verlesen wird. Mord und Totschlag? Terrorattentate? Katastrophen? Völlig einerlei. Das Dudeln höret nimmer auf.

Immer wenn Sprecherin oder Sprecher die Stimme zwischen zwei Nachrichten senken und Luft holen, kommt einem diese erbärmliche, fluchwürdige Klanguntermalung plötzlich lauter vor. Zwischendurch wabert sie in einer enervierenden Endlosschleife.

Wer hat sich das nur einfallen lassen? Nun ja, man muss wohl nur schauen, wer an der Spitze des WDR-Hörfunks steht. Die Dame heißt Valerie Weber, kam vom Privatfunk (Antenne Bayern) und schickt sich seit einiger Zeit nachdrücklich an, unsinnige Gepflogenheiten aus den dortigen Sphären zu übernehmen. In manchen Punkten fällt es bereits schwer, WDR 2 noch zweifelsfrei als öffentlich-rechtlichen Kanal zu erkennen.

Was will man denn mit der neuen Aufmachung der Nachrichten bezwecken? Soll diese läppische Maßnahme jetzt Hunderttausende von zusätzlichen Hörer(inne)n anlocken? Oder soll sie auch nur das Stammpublikum bei Laune halten? Rätsel über Rätsel. Nur auf der Chefetage glaubt man die Lösung ganz genau zu kennen. Also wird nach Gusto umgemodelt und durchregiert.

Eines der Grundübel der Berufswelt ist ja ohnehin, dass neue Chefs/Chefinnen immer meinen, sie müssten das Rad noch einmal erfinden. Dann doktern und wurschteln sie haltlos am Vorhandenen herum – bis der nächste Boss wieder eine Kehrtwende ausruft. Beim Radio wird dann das Stations-Design abermals geändert. Nur zur Substanz geht’s wohl leider nicht mehr zurück.

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Nachtrag am 11. Juni: Offenbar setzt WDR 2 das Wabern jetzt – nach wenigen Tagen – „nur“ noch als akustische Trennung zwischen zwei Nachrichten ein und nicht mehr als permanenten Klangteppich. Das macht die Sache zwar nicht grundsätzlich besser, deutet aber auf eine Experimentierphase hin.

Und noch ein Nachtrag (14. Juni): Kann es sein, dass vormittags ein durchgehendes Musikbett läuft, nachmittags ein zwischendurch gedämpftes? Um das zu verifizieren, müsste man wenigstens einen ganzen Tag die Nachrichten auf WDR 2 durchhören. Das möchte ich mir nicht antun.




90 Jahre „Kampfbahn Rote Erde“: Wenn Gerd Kolbe erzählt, wird die Geschichte lebendig

Eigentlich war das damals alles saugefährlich. Die Dortmunder „Kampfbahn Rote Erde“ war für 35000 Besucher ausgelegt, manchmal aber kamen 45000 oder gar 50000 und fanden notdürftig „Platz“, auch im Geäst der Bäume ringsum. Was da alles hätte passieren können!

Das Marathontor der 1926 eröffneten "Kampfbahn Rote Erde". (Foto: Bernd Berke)

Das Marathontor der 1926 eröffneten „Kampfbahn Rote Erde“. (Foto: Bernd Berke)

Nun, falls tatsächlich etwas Schlimmes geschehen sein sollte, so hat sich die damalige Presse offenbar nicht weiter darüber aufgeregt und es ist allenfalls mündlich in kleineren Zirkeln überliefert worden.

„Wellenbrecher“ erst in den 60ern

Erst in den 60er Jahren, als der BVB (frühe Meisterschaften anno 1956, 1957 und 1963 – es kamen später bekanntlich noch einige hinzu) hier auch im Europapokal spielte, wurden zwischen den Stehplätzen erstmals „Wellenbrecher“ installiert, die das wahnwitzige Gedrängel kanalisieren sollten. Heute würde kein Mensch mehr solch ein Stadion für Spitzenfußball genehmigen. Doch ehedem war es ein Stolz der Stadt und es bleibt ein längst denkmalgeschütztes Juwel.

Warum wir darauf kommen? Die Kampfbahn Rote Erde, bis 1974 auch das BVB-Stadion, ist soeben (am 6. Juni) 90 Jahre alt geworden – und das ist wirklich mal einen Rückblick wert; besonders, wenn er so kundig und unterhaltsam gerät wie jener des früheren Stadtpressesprechers Gerd Kolbe (71), der jetzt zum Jubiläum eine mit „Dönekes“ gespickte Stadionführung übernahm.

Einer der besten BVB-Kenner

Ein Kreis von rund 50 Interessenten hat Kolbe gebannt gelauscht. Die meisten hatten die Kampfbahn noch aus alten Zeiten in bester Erinnerung. Auch ich habe dort schon als Kind auf den Rängen gestanden. An dieser Stelle könnt ihr euch bitte einen wehmütigen Seufzer denken.

Gerd Kolbe bei seiner Stadionführung (Foto: Bernd Berke)

Gerd Kolbe bei seiner Stadionführung (Foto: Bernd Berke)

Was hier zu lesen steht, geht weit überwiegend auf Gerd Kolbes Vortrag zurück. Und wahrlich: Er dürfte einer der besten BVB-Kenner auf dem Erdenrund sein, darüber hinaus weiß er auch generell in der Sportgeschichte und in der politischen Historie Bescheid. Wohl mindestens bundesweit einmalig: Von 1976 bis 1981 war er sogar Stadtsprecher und BVB-Pressesprecher in Personalunion. 2006 fungierte er als Organisator des Dortmunder Parts der Fußball-WM.

Impulse vom Stadtplaner Hans Strobel

Nun aber schnell zurück zum Stadionbau. Impulse und Entwürfe stammten vom ebenso autoritären wie visionären Architekten und Stadtplaner Hans Strobel (1881-1953), nach dem heute die Strobelallee am Stadion benannt ist. Sein Studienort München hätte den Mann gerne behalten, doch er kam – auf Umwegen über Bremen und Leipzig – im Oktober 1914 nach Dortmund. Rund zehn Jahre später gab er die Anstöße zum Bau der „Roten Erde“ und der (alten) Westfalenhalle, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Der Nachfolgebau wurde 1952 eröffnet.

Die 1920er Jahre waren eine Zeit, in der die Realisierung von Großprojekten mitunter rasend schnell vonstatten ging. Kaum zu fassen: Vom Ratsbeschluss bis zur endgültigen Fertigstellung (!) dauerte es bei der Westfalenhalle gerade mal von März bis November 1925.

Syburger Ruhrsandstein bevorzugt

Die anfängliche Idee, das Stadion in den 1918 eingemeindeten Vororten Brackel oder Wambel zu errichten, wurde rasch verworfen. Strobel wollte in der Nähe des historischen Steinernen Turms bauen lassen. Und so kam es dann auch.

Beim Stadionbau, dessen Umsetzung nur unwesentlich länger dauerte als bei der Halle, wurden zahlreiche Arbeitslose eingesetzt. Ungeheure Erdmassen mussten zur Begradigung des Geländes bewegt werden, ganz zu schweigen von abertausend Tonnen Ruhrsandstein, die mit Pferdefuhrwerken aus der Gegend um die Hohensyburg herbeigeschafft wurden, welche damals weit vor den Toren Dortmunds lag. Ruhrsandstein prägt übrigens auch die mächtigen Bauten des Dortmunder Hauptfriedhofs, der ebenfalls von Hans Strobel geplant wurde.

Mieses Wetter zur ersten Eröffnung

Am 6.6.1926 wurde der elegant, aber stellenweise auch trutzig wirkende Stadionbau eröffnet. Es kamen allerdings nur rund 8000 Leute, weil das Wetter so mies war. Pech für die bürgerlichen Vereine, die sich mit den Arbeitervereinen auf keine gemeinsame Eröffnung einigen mochten und zuerst an der Reihe waren.

Eine Woche später brachten – bei ungleich besserer Witterung – die proletarischen Sportler 30000 Menschen zur Zweiteröffnung auf die Beine. Ein Höhepunkt der Großveranstaltung war jenes anspruchsvoll choreographierte Schachspiel mit verkleideten Menschen als lebenden Figuren. Mag sein, dass es das meistbesuchte Schachspiel aller Zeiten gewesen ist. Der revolutionäre Ausgang stand jedenfalls fest: Am Ende musste ein Bauer (stellvertretend für die Arbeiter) den König besiegen…

Heutiger Tribünenblick in der "Roten Erde" (Foto: Bernd Berke)

Heutiger Tribünenblick in der „Roten Erde“ (Foto: Bernd Berke)

Nachzutragen bliebe noch eine Anekdote der bürgerlichen Eröffnung, die Gerd Kolbe geradezu genüsslich vorträgt: Eine Dortmunder Stadtauswahl kickte gegen Wacker München und verlor haushoch mit 1:11. Das Ergebnis hätte freilich noch übler ausfallen können, hätte nicht der Münchner Rechtsaußen Karl(chen) Reiter seinen Aktionsradius auf etwa 10 Meter beschränkt. Er ließ sich auch durch seine Mitspieler nicht bewegen, selbigen zu erweitern.

Warum sich der Rechtsaußen kaum rührte

Schlimmer noch: Nach dem Seitenwechsel wollte Richter auf ähnlich Weise Linksaußen sein, also auf derselben Platzseite nahezu regungslos verharren. Des Rätsels Lösung: Er hatte sich in eine Frau aus Dortmund-Dorstfeld verliebt und wollte ihrem Tribünensitz möglichst nahe bleiben. Er ist denn auch der Liebe wegen in Dortmund geblieben. So holt man Spieler aus München hierher!

Ein eigenes Kapitel verdienen die Begegnungen mit Schalke 04 in der „Roten Erde“. In den 30er und 40er Jahren kassierte der BVB regelmäßig „Packungen“, wobei etwa das 0:7 aus der ersten Partie vom 7.3.1937 noch vergleichsweise glimpflich war.

Anfangs mit den Schalkern befreundet

Wie Gerd Kolbe zu berichten weiß, schauten die Dortmunder damals in aller Freundschaft und sehnsüchtig bewundernd zu den damaligen Schalker Serienmeistern auf. Den Titel des Jahres 1934 feierten die Schalker – aus Berlin kommend – sogar zuerst mit einem Corso in Dortmund, bevor sie nach Gelsenkirchen weiter reisten. So etwas ist seit vielen Jahrzehnten nicht mehr vorstellbar.

Impression vom Eingangsbereich des Stadions (Foto: Bernd Berke)

Ruhrsandstein: Impression vom Eingangsbereich des Stadions (Foto: Bernd Berke)

Am 14. November 1943 errang Borussia Dortmund mit 1:0 den allerersten Erfolg gegen Schalke. Es war nur drei Tage nach einem verheerenden Bombenangriff auf die Stadt. Trotzdem oder gerade deswegen war das Stadion voll. Die Menschen wollten einfach mal etwas anderes erleben als den Weltkriegsalltag.

Nur zwei Länderspiele

Die Rivalität oder später teilweise gar Feindschaft zwischen den beiden Revier-Vereinen sei just ab 1943 gewachsen, so Kolbe. Und seit dem Zweiten Weltkrieg hatten, man weiß es, zumeist die Dortmunder sportlich die Oberhand.

Der BVB ist also gebührend erwähnt worden. Doch die Kampfbahn Rote Erde (sprachliche Herkunft wahrscheinlich nicht farblich, sondern von „gerodeter“ Erde) war keineswegs allein die Domäne der Borussen und nicht einmal des Fußballs überhaupt. Es gab in der „Roten Erde“ auch nur mickrige zwei Länderspiele: 1935 gegen Irland und 1967 gegen Albanien.

Radrennen und legendäre Boxkämpfe

Dafür dominierten oft andere Sportarten. Hier fanden große Radrennen ebenso statt wie 1955 eine WM im Feldhandball. Nicht zu vergessen die spektakulären Boxkämpfe, beispielsweise am 20. Juli 1952 der Triumph des amtierenden Dortmunder Schwergewichts-Europameisters Heinz Neuhaus gegen den Hamburger Hünen Hein ten Hoff vor 50000 Zuschauern – durch K.o. in der ersten Runde.

Auch dabei soll, Gerd Kolbe zufolge, die Liebe buchstäblich den Ausschlag gegeben haben, denn der Hamburger hatte die Angewohnheit, zum jeweiligen Pausengong seine Gefährtin huldvoll aus dem Ring herab zu grüßen. Dies kriegten Neuhaus und seine Betreuer spitz – und Neuhaus setzte seine gefürchtete Rechte gezielt in dem Moment ein, als Hein ten Hoff mit den Gedanken schon wieder bei seiner Liebsten war…

Gigantisch: Heute überragt die Tribüne des Westfalenstadions (vulgo Signal-Iduna-Park) jene der Kampfbahn Rote Erde bei weitem. (Foto: Bernd Berke)

Gigantisch: Heute überragt die Tribüne des Westfalenstadions (vulgo Signal-Iduna-Park) jene der Kampfbahn Rote Erde bei weitem. (Foto: Bernd Berke)

1927 ging rund ums Stadion der Deutsche Katholikentag über die Bühne – allen voran mit dem päpstlichen Nuntius Eugenio Pacelli, der später (1939 bis 1958) ein politisch nicht unumstrittener Papst wurde. Und leider hatte auch Adolf Hitler in der Arena seinen Auftritt, als er SA-Paraden abnahm. Gerd Kolbe: „Ein Stadion kann sich nicht wehren.“ Stimmt sicherlich. Aber man darf ergänzen: Menschen hätten es vielleicht gekonnt.

Heute Regionalliga und Leichtathletik

Zur Fußball-WM 1974 wurde das zunächst als Zwillingsbau geplante Westfalenstadion direkt neben die Kampfbahn Rote Erde gesetzt, zunächst noch auf gleicher Traufhöhe, aber sehr viel moderner. Heute überragt der Gigant die „Rote Erde“ bei weitem und ist Deutschlands größte Fußballarena. Im alten Stadion tritt derweil die zweite Mannschaft des BVB in der Regionalliga West an, ansonsten regiert dort die Leichtathletik.

Aber jetzt haben wir noch gar nicht (nach)erzählt, warum der famose US-Leichtathlet Jesse Owens 1937 n i c h t in der Kampfbahn Rote Erde gelaufen und gesprungen ist. Und auch nicht, wie das zuging, als ein Polizeihund den Schalker Friedel Rausch am 6. September 1969 in der Kampfbahn in den Hintern biss, was noch heute ein Grinsen auf die Gesichter vieler BVB-Anhänger zaubert. Naja, dazu vielleicht ein andermal.




Boxlegende Muhammad Ali – mythische Momente auf der Frankfurter Buchmesse 2003

Muhammad Ali (ehedem Cassius Clay), der größte Boxer aller Zeiten, ist mit 74 Jahren gestorben. Dazu ein Artikel-Auszug als kleine Erinnerung von der Frankfurter Buchmesse 2003:

Gar keine Frage: Es war d e r Auftritt der Buchmesse überhaupt. Als die Boxlegende Muhammad Ali sich endlich zeigte, drängelten sich Hunderte von Journalisten aus aller Welt. Als er dann bedächtig in einen vorbereiteten Boxring stieg und durchs Geviert zwischen den Seilen tappste, jubelte ihm die Menge der Messebesucher zu wie einem Messias.

Da könnte einer wie Dieter Bohlen tausendmal „titanenhaft“ zur Tür `reinkommen – und hätte nicht den Bruchteil jenes Schauders ausgelöst, wie er sich gestern in Frankfurt unfehlbar einstellte. Man weiß nicht, wie und warum. Doch für Sekunden fühlte man sich plötzlich, als befinde man sich näher am Herzen der Dinge. So wirkt der geheimnisvolle Stoff, aus dem wirkliche Mythen sind.

Dabei war es eine überaus zwiespältige Angelegenheit. Der schwer kranke Ali, der bekanntlich seit Jahren unter Parkinson leidet, kann sich gleichsam nur noch in Zeitlupe regen – welch ein betrüblicher Kontrast zu seinen großen Boxerzeiten! Dennoch hat man ihn zwecks Werbung für ein sündhaft teures Huldigungsbuch eingeflogen. Es war gewiss eine Strapaze, als die zahllosen Kamera-Teams ihn und seine Frau zu immer neuen Posen animierten: Fäuste ballen, Küsschen geben usw. Doch vielleicht hat es seiner müden Seele auch noch einmal gutgetan. Wie aus einer anderen Sphäre herbeigezaubert, kam das eine oder andere Lächeln auf sein Gesicht…

Mehr Rummel geht nicht. Damit verglichen hat es auch Doris Schröder-Köpf, immerhin Ehefrau des Bundeskanzlers, schwer, die Aufmerksamkeit auf ihr Anliegen zu lenken. Im Lesezelt der Buchmesse startete sie gestern mit weiteren Prominenten (Amelie Fried, Petra Gerster) die Aktion „Deutschland liest vor“…

(Der komplette Bericht stand am 10. Oktober 2003 in der Westfälischen Rundschau, Dortmund)




„Grenzen soll man überschreiten“ – Gespräch mit „Klangvokal“-Chef Torsten Mosgraber

Mit dem 8. „Fest der Chöre“ steuert das Dortmunder Musikfestival Klangvokal an diesem Samstag (4. Juni) auf seinen besonders publikumswirksamen Gipfel zu. 140 Chöre mit rund 4000 Sängerinnen und Sängern treten in der gesamten Dortmunder Innenstadt auf.
Hier ein Gespräch mit dem Klangvokal-Direktor Torsten Mosgraber über Konzept und Zukunftspläne des Festivals, das vor allem Grenzbereiche zwischen verschiedenen Musikrichtungen auslotet:

Klangvokal-Direktor Torsten Mosgraber (© Jan Schürmann)

Klangvokal-Direktor Torsten Mosgraber (© Jan Schürmann)

Revierpassagen: Denkt man ans Konzerthaus, an die Oper, die Chorakademie, das Orchesterzentrum und nicht zuletzt an Ihr Festival, so muss man Dortmund inzwischen wohl als Musikstadt bezeichnen, oder?

Torsten Mosgraber: Auf jeden Fall. Hinzu kommen domicil, FZW, künftig die neue Pop-Halle auf dem Phoenix-Gelände, Veranstaltungen wie Juicy Beats und Mayday. Es ist sehr wichtig für eine Stadt, so ein ausgeglichenes Musikleben zu haben und Akzente in den unterschiedlichsten Bereichen zu setzen. Gerade in den letzten zehn Jahren hat sich hier vieles zum Guten entwickelt. Das Konzerthaus nimmt eine exzellente Entwicklung, die Oper hat jetzt wieder bessere Besucherzahlen, auch die Philharmoniker haben mehr Publikum als zuvor.

Große Gesangstradition der Stadt

Revierpassagen: Klangvokal hatte 2009 Premiere. Jetzt sind Sie beim 8. Festival angelangt. Wie ist das Konzept entstanden?

Mosgraber: Ich hatte das Glück, das Festival von Anfang an entwickeln zu können. 2010 war ja Dortmund als Teil des Ruhrgebiets Kulturhauptstadt Europas. In diesem Zusammenhang hat der Kulturdezernent Jörg Stüdemann mich gefragt: Was können wir hier Neues entwickeln? Ich bin dann sehr schnell auf die Gesangstradition in Dortmund gestoßen, zu der Bergmanns-Chöre und andere Chöre beigetragen haben. Diese Tradition wird bis heute wunderbar fortgeführt. Daher auch das „Fest der Chöre“ als Herzstück des Festivals.
Doch die Idee reicht weiter. Wir haben das erste Festival gegründet, das Vokalmusik aller Arten zusammenführt – von der Oper über hochqualitativen Pop und Jazz bis zur Weltmusik. Auf diese Weise können wir auch unterschiedliches Publikum ansprechen und beispielsweise Jazzfreunde für Klassik begeistern. Oder umgekehrt.

Revierpassagen: Gelingt diese Durchmischung des Publikums?

Mosgraber: Gestern ist die marokkanische Sängerin Hindi Zahra im domicil aufgetreten. Wir hatten ein unglaublich buntes Publikum. Die Künstlerin hat nachher gesagt, eine so tolle Publikumsmischung habe sie noch nie erlebt. Überhaupt sagen viele Künstler, gerade aus den südlichen Ländern: Ihr habt ein wahnsinnig tolles und offenes Publikum bei eurem Festival. Das finden wir europaweit nur ganz selten.

Musikalische Entdeckungsreisen

Revierpassagen: Wie erklären Sie sich diese Offenheit?

Mosgraber: Ich habe früher u. a. in Dresden gearbeitet. Dort ist man vergleichsweise weniger aufgeschlossen, gerade anderen Kulturen gegenüber. Das ist das Aufregende an Dortmund, dass es sich mit Einwohnern aus über 140 Nationen sehr weltoffen zeigt.
Wir erreichen mit unserem ungewöhnlichen Ansatz ein Publikum, das sich gemeinsam mit dem Festival weiter entwickelt hat.
Künstler und Publikum gehen gemeinsam auf musikalische Entdeckungsreisen. Irgendwann sind die Leute dann auch in Konzerte gegangen, um sich einfach überraschen zu lassen. Sie sind neugierig und hören sehr konzentriert zu. Das ist heute nicht mehr selbstverständlich.
Mir war übrigens auch immer wichtig, dass wir nicht gleich zu radikal werden. Die Kommunikation mit dem Publikum darf nicht abreißen. Und es ist wichtig, dass wir unsere moderaten Kartenpreise halten können.

Screenshot der "Klangvokal"-Homepage (© Klangvokal)

Screenshot der „Klangvokal“-Homepage (© Klangvokal)

Neue Spielstätten erschlossen

Revierpassagen: Das Festival hat sich also im Laufe der Jahre verändert?

Mosgraber: Ja. Nicht nur, was das Publikum anbetrifft. Wir haben nach und nach auch neue Spielstätten einbezogen, zum Beispiel mehrere Innenstadt-Kirchen. In Zukunft wollen wir weitere Orte bespielen, vor allem in den Dortmunder Außenbezirken. Wir wollen damit auch zeigen, wie viele Facetten diese Stadt hat.
Es ist mir generell wichtig, dass wir uns immer weiter entwickeln und nicht stehen bleiben. Auch musikalisch wollen wir immer wieder Neues erkunden.

Revierpassagen: Das alles setzt auch eine gewisse finanzielle Ausstattung voraus.

Mosgraber: Wir sind gerade in Gesprächen über die kommenden Jahre. Seit 2014 hatten wir eine relativ konstante Förderung. Jetzt müssen wir mit der Politik zusammen schauen, wie es weiter geht. Die Finanzen sind – wie in allen anderen Bereichen – sehr, sehr knapp.
Fest steht: Klangvokal ist längst ein fester Bestandteil des kulturellen und sozialen Lebens dieser Stadt. Und es ist ein Werbefaktor für Dortmund.

Besucher aus Berlin und Hamburg

Revierpassagen: Wie sehen Sie Klangvokal im kulturellen Zusammenhang des Ruhrgebiets, etwa mit ebenfalls grenzgängerischen Festivals wie der RuhrTriennale, den Jazztagen in Moers usw.

Mosgraber: Es gibt recht wenige Überschneidungen mit anderen Festivals. Wir hatten einige Künstler, die danach bei der RuhrTriennale aufgetreten sind. Insofern gibt es auch gewisse Verbindungen.
Grundsätzlich aber versuchen wir, etwas Eigenes, Individuelles zu entwickeln und damit auch ein Publikum anzuziehen, das – wie bei RuhrTriennale und Ruhrfestspielen – durchaus nicht nur aus der Region kommt. Wir haben immer wieder Besucher aus den Niederlanden und Belgien. Bei manchen Konzerten reisen nicht wenige Leute aus Berlin, Hamburg oder München an. Ansonsten kommen die meisten unserer Besucher aus einem Radius von 50 Kilometern rings um Dortmund.

Monteverdi trifft Gospel und Blues

Revierpassagen: Welche kommenden Klangvokal-Termine liegen Ihnen besonders am Herzen?

Mosgraber: Wir haben einige Projekte entwickelt, bei denen es um Dialoge verschiedener Musikrichtungen geht, so auch heute (Freitag, 3. Juni, 20 Uhr im domicil, Hansastraße – d. Red.), wenn die Popsängerin Mine und das Berliner Barockensemble Lautten Compagney ein Monteverdi-Programm gestalten – eine sehr spannende Konstellation.
Am Sonntag (5. Juni, 19.30 Uhr, Orchesterzentrum, d. Red.) gastiert das Ensemble Matheus aus Frankreich. Sie kombinieren Monteverdi mit traditioneller Musik des Mittelmeer-Raumes, außerdem mit Gospel und Blues. Klingt zunächst ein bisschen verrückt. Aber genau solche Begegnungen liegen mir am Herzen. Man kann und soll Grenzen überschreiten.
Das Motto unseres Festivals lautet ja auch „grenzenlos“. Es geht vorwiegend, aber eben nicht nur um musikalische Grenzen, sondern auch um Grenzen zwischen den Kulturen. Damit gewinnt das Festival gesellschaftliche Relevanz. Auch in diesem Sinne ist es gut, dass wir diesmal zum Beispiel Künstler aus Aserbaidschan und dem Iran im Programm haben.

Das Wetter im Blick behalten

Revierpassagen: Die Wetterlage verheißt allerdings nicht nur Gutes für eine Freiluftveranstaltung wie das „Fest der Chöre“.

Mosgraber: Wir haben einige Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. So steht die Kinderbühne nicht mehr unter freiem Himmel, sondern zieht kurzfristig in die Rathaushalle um. Falls es Gewitter gibt, werden die Open-Air-Bühnen unverzüglich geräumt.

Revierpassagen: Apropos. Wegen des Wetters fällt am Wochenende im Westfalenpark das A-cappella-Festival komplett aus, an dem Sie ebenfalls organisatorisch beteiligt sind.

Mosgraber: Ja, das war eine schwierige Entscheidung, aber die Wetterberichte besagen, dass es dort gefährlich werden könnte. Und die Sicherheit geht natürlich vor. Wir holen das Festival am 8. und 10. Juli nach. Nur die „Wise Guys“ können dann nicht dabei sein.

Beruhigt in die City kommen

Revierpassagen: Ganz leidiges Thema: In Dortmund kommt es an diesem Samstag zu einer Neonazi-Demo, zu der Rechtsradikale aus ganz Deutschland anreisen. Wird das „Fest der Chöre“ dadurch beeinträchtigt?

Mosgraber: Ich habe gerade eben die Information erhalten, dass hauptsächlich die westliche Innenstadt („Unionviertel“, d. Red.), Dorstfeld und Huckarde betroffen sein werden. Wir hatten viele Vorgespräche mit der Polizei und fühlen uns sehr gut geschützt und unterstützt. Die Menschen können beruhigt zum „Fest der Chöre“ in die Innenstadt kommen.

Festival-Infos / Karten: www.klangvokal.de




Nun jauchzet und frohlocket: Löw hat doch nicht alle Dortmunder aussortiert

Man möchte bitterlich auflachen. Von Borussia Dortmund, dem besten Tabellenzweiten seit Anbeginn der Bundesliga, nimmt „Jogi“ Löw gerade mal zwei Spieler mit zur Fußball-EM nach Frankreich: den 20jährigen Julian Weigl und Mats Hummels, der unterdessen eigentlich gar kein „richtiger“ BVB-Mann mehr, sondern quasi schon ein halber Bayer ist.

Sind alle BVB-Leistungen "für umme", wenn's nach Jogi geht? (Foto: BB)

Sind alle BVB-Leistungen „für umme“, wenn’s nach Jogi geht? (Foto: BB)

Zum Vergleich: Von Wolfsburg und Schalke, zwei Teams, die in der Liga zutiefst enttäuscht haben, fahren ebenfalls je zwei Spieler mit. Ja, da ist doch wohl etwas aus der Balance geraten. Und gezz ma‘ ährlich: Diese Ansicht hat zwar etwas mit einer gewissen Neigung zum BVB zu tun, aber beileibe nicht mit engstirniger Nibelungentreue zum schwarzgelben Verein. Engstirnig? Ich? Niemals!

Schon im 27 Spieler umfassenden, vorläufigen Kader standen n i c h t die hochtalentierten Dortmunder Abwehrkräfte Schmelzer, Ginter, Durm und Bender. Mindestens einen oder zwei von ihnen hätte man nach Lage der Dinge wenigstens im erweiterten Kreis erwarten dürfen. In Erwägung der jüngsten Torwartleistungen der Neuer-Stellvertreter Ter Stegen und Leno (bei der Testspiel-Pleite gegen die Slowakei) hätte man sich auch noch den BVB-Keeper Roman Weidenfeller wünschen können, obwohl er nicht mehr der Allerjüngste ist.

Aber nichts da! Löw hat’s anders gewollt. Man könnte argwöhnen, er hätte eine schlimme Farballergie gegen Schwarzgelb.

Pechvogel Ilkay Gündogan hatte sich bereits im Vorfeld verletzt; wie eigentlich immer, wenn es darauf ankommt. Und heute, ja heute hat Löw auch noch den BVB-Stürmer Marco Reus aus dem Aufgebot gestrichen – just wegen einer Verletzung. Die Blessuren von Hummels und vor allem von Bastian Schweinsteiger werden derweil viel optimistischer ausgelegt. Da bestünden baldige Heilungschancen, so dass die Turnierteilnahme nicht gefährdet sei, heißt es. Geht’s da etwa nach dem bloßen Prinzip Hoffnung? Wir werden ja sehen, ob der langjährige Bayern-Arzt Müller-Wohlfahrt mit seiner Einschätzung recht behält.

Doch nun jauchzet und frohlocket: Löw hat ja nicht alle Dortmunder aussortiert.

Ich gebe zu, dass mir als Dortmunder die Vorfreude auf die EM etwas vergällt worden ist und frage mich, ob wirklich Leistung das alleinige Auswahlkriterium gewesen ist – oder ob nicht doch auch Wohlverhalten und unverbrüchliche Loyalität zum Trainer eine gewichtige Rolle gespielt haben. Löw mag keine Widerspenstigen, sondern wohl eher brave Jasager.

Auch landsmannschaftlicher Sympathien und Antipathien ist der Bundesjogi ja nicht ganz unverdächtig. Es gibt eine interessante Aufstellung, die zeigt, von welchen Vereinen er die über 80 Debütanten seiner Amtszeit geholt hat. Gewiss, immerhin je zehn Dortmunder und Schalker waren zwischenzeitlich dabei. Aus Löws geliebtem Südwesten (Stuttgart 7, Freiburg 4) durften – fast ohne Rücksicht auf schlechte Tabellenplätze und Abstiegsnöte – elf Neulinge ran. Das erscheint einem doch etwas überproportional.

Überraschender Spitzenreiter ist übrigens Bayer Leverkusen mit 13. Ob’s daran liegt, dass Leverkusens Sportdirektor Rudi Völler das eine oder andere gute Wort eingelegt hat? Oder hat er andernfalls mit seinen gefürchteten Wut-Interviews gedroht?




Soziale Miniaturen (16): Peinlicher Moment

Ein Plastikbecher dieses Typs... (Foto: BB)

Ein Plastikbecher dieses Typs… (Foto: BB)

Dieser Tage im Empfangsbereich einer ärztlichen Praxis: Ein älterer Mann im typischen Beige möchte seine Urinprobe abgeben. Er hat nicht gemerkt, dass er den Becher diskret in eine Durchreiche hätte stellen sollen.

Doch so geräuschlos geht es nicht vonstatten. Jetzt tapert er mit dem hoch erhobenen, gegen das Licht gehaltenen Plastikbecher ratlos zum Rezeptionstisch und sagt zu den Arzthelferinnen – in einem Tonfall zwischen Verunsicherung und einem kümmerlichen Rest von mühsam verhohlenem Mannesstolz: „Ich weiß nicht, wie viel Sie jetzt brauchen. Das ist das, was ich gemacht habe.“ Fehlt noch, dass er den kühnen Bogenverlauf des Strahls beschrieben hätte. Was er vorbringt, klingt allerdings doch brüchig und kläglich, als wolle er belobigt werden wie ein Kleinkind. „Fein gemacht!“

Er hat offensichtlich keinen Begriff (mehr) davon, was überlicherweise frei heraus geäußert werden sollte. Das angrenzende Wartezimmer ist gerade nahezu leer. Besser so. Je nachdem, hätte ihn sonst vielleicht übler Spott ereilt.

Man könnte sein Verhalten debil nennen. Doch andererseits hat es auch etwas Unbefangenes, Unbekümmertes, von Grund auf Harmloses. O sancta simplicitas! Ist es nun kleinlich, das peinlich zu finden?

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Bisher in der losen Textreihe „Soziale Miniaturen“ erschienen:

An der Kasse (1), Kontoauszug (2), Profis (3), Sandburg (4), Eheliche Lektionen (5), Im Herrenhaus (6), Herrenrunde (7), Geschlossene Abteilung (8), Pornosammler (9), Am Friedhofstor (10), Einkaufserlebnis (11), Gewaltsamer Augenblick (12), Ein Nachruf im bleibenden Zorn (13), Klassentreffen (14), Zuckfuß (15)




Wer will mal zum Film? RuhrTriennale und ARD suchen fast 1400 Komparsen im Revier

Darüber nachgedacht, wie es wohl ist, wenn man in Paris, London oder New York lebt. Dann ist man sicherlich schon in mindestens 130 Filmen aufgetaucht, zumeist wohl unfreiwillig. Und wenn man nur ganz hinten zufällig durchs Bild gehuscht ist. Jaja, schon gut. In Berlin hätten sich im gleichen Zeitraum auch ca. 42 Gelegenheiten geboten.

Wie ich darauf komme? Nun, im Ruhrgebiet geht’s jetzt auch gaaanz langsam los damit. An zwei aufeinander folgenden Tagen wurden hier jetzt Komparsinnen und Komparsen für Dreharbeiten gesucht. Natürlich gibt es jeweils ein Auswahlverfahren (neudeutsch „Casting“), was wohl auch einige Möchtegerns anlocken dürfte.

Kulturelles Schwergewicht

Hochkulturell mutmaßlich viel gewichtiger ist dieser Aufruf: Die RuhrTriennale sucht 80 „StatistInnen“ (Originalschreibweise des Festivals) für ein filmisches Szenenbild zur Theaterproduktion „Die Fremden“. Triennale-Chef Johan Simons höchstselbst inszeniert die musiktheatralische Adaption des Romans „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“ von Kamel Daoud, der sich bemüht hat, Albert Camus’ „Der Fremde“ zu konterkarieren.

Der Filmdreh begibt sich dann am 1. und 2. Juli, jeweils ab 8 Uhr in der Kohlenmischhalle der Zeche Auguste Victoria in Marl. Notorische Spätaufsteher müssten sich also sputen…

Polizisten, Journalisten und Gaffer

Okay, 80 Plätze sind schnell vergeben. Aber gemach. Es gibt noch eine weitere, wahrscheinlich ungleich größere Chance, im Film aufzutauchen. Für den TV-Zweiteiler „Gladbeck“ (ARD / Produktion Ziegler Film) über das Gladbecker Geiseldrama im August 1988 werden etwa 1300 (!) weibliche und männliche Darsteller gesucht. Man scheint also mächtig auftrumpfen zu wollen. Zu besetzen sind u. a. die Rollen von Augenzeugen, Polizisten, Journalisten und Schaulustigen – die Letzteren anno 1988 noch ohne allzeit knipsbereites Handy. Werden sich wohl echte Gaffer melden, um Gaffer darzustellen?

Das entsprechende Casting der Agentur Eick ist bereits für Samstag, 28. Mai (11 bis 15 Uhr), in der Stadtbücherei Gladbeck vorgesehen. Nana, ob die Kapazitäten der Bibliothek und bloße vier Stunden dafür reichen? Kaum vorstellbar.

Schnauzbärte gern gesehen

Gesucht werden Leute „zwischen vier und 70 Jahren“ für (kleine) Sprech- und Komparsenrollen. Besonderheit, so die Casting-Agentur wörtlich: „Wer sich für eine Rolle interessiert, sollte sich nicht mehr die Haare schneiden lassen, damit authentische 80er Jahre-Frisuren gestylt werden können.“ Auch Schnauzbärte sind erwünscht. Richtig: Den Begriff Styling hätte man in dem Zusammenhang nicht so unbedarft verwenden müssen.

Die meisten Auserwählten werden übrigens mit ein bis drei Drehtagen auskommen. Doch je nach Rolle (rund 80 Mitwirkende müssen ein paar Worte sprechen) sind von einzelnen Leuten bis zu 17 Drehtage zu absolvieren. Das könnte also richtig in Arbeit ausarten. Ob dafür auch Mindestlöhne gezahlt werden?

Daten/Termine

RuhrTriennale, „Die Fremden“: Am 18. Juni Casting bei der Kultur Ruhr GmbH (Leithestr. 35, 45886 Gelsenkirchen). Voranmeldungen bis zum 15. Juni unter www.ruhr3.com/komparsen (Rückfragen unter 0209/60507143).

ARD-TV-Drama „Gladbeck“: Casting schon am Samstag, 28. Mai (11 bis 15 Uhr) in der Stadtbücherei Gladbeck, Friedrich-Ebert-Straße 8.




„Opi paddelt nach Panama“ – Komik und Poesie aus dem Grundschul-Übungsheft

Vor mir liegt ein Schreibschrift-Übungsheft für die 1. Klasse der Grundschule. Das heißt, man kann das viel gewichtiger sagen; so, wie es die Ruhrgebietszeitung WAZ gern tut, wenn sie betonen will, wie nah sie an den aufregenden Dingen dran ist: „Das Schreibschrift-Lehrbuch liegt den Revierpassagen vor…“ Klingt immer so, als hätte man sich Dokumente unter größten Recherche-Mühen besorgt. Aber ich schweife ab.

Mir geht’s eigentlich um die Poesie, die unversehens aus dem Umstand erwächst, dass man bestimmte Buchstabenfolgen eng zueinander zwingen muss, um taugliche Beispielsätze zu generieren. Sodann muss man nur alles hübsch aus dem eh nur losen linguistischen Kontext reißen, dann wird’s ziemlich komisch.

"Füchse fressen Frikadellen." - Manchmal ziehen sie aber auch arglose Hasen vor - wie hier bei Ikea in Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

„Füchse fressen Frikadellen.“ Manchmal ziehen sie aber auch arglose Hasen vor – wie hier bei Ikea in Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

Fügungen wie „Omi turnt an einem Ast“ und „Opi paddelt nach Panama“ klingen zwar wenig wahrscheinlich, haben aber noch eine gewisse Rest-Plausibilität für sich. Hoffentlich hat Opi keine Briefkastenfirma.

Bei „Lilo malt neun Läuse“ beginnt schon das weite Reich des Absurden und Surrealen, dessen Abglanz den Kindern gleichsam nebenher aus der Ferne gezeigt wird, wenn auch sicherlich nicht willentlich.

Angesichts der rätselhaften Aussage „Alis Laster rollt im Leim“ mögen korrekte Geister Diskriminierung wittern, doch es ist eine unschuldige Sprachübung, die nicht über ihren unmittelbaren Lernzweck hinaus weist. Obwohl Veganer den Lehrsatz „Wer will eine Wurst?“ wahrscheinlich auch als Affront betrachten. Tja, wer weiß. Später findet man ja auch noch die provokante Behauptung „Geier fressen kein Gemüse.“

„Hummeln heiraten nie.“ – „Lurche lachen nicht.“ – „Acht Chinesen tauchen.“ Das sind Feststellungen, die einfach keinen Widerspruch dulden. Es ist, wie es ist. Knallharter Realismus.

Je weiter die Übungen fortschreiten, umso mehr höherer Nonsens ist zu finden. „Mein Name ist Ente.“ – „Ich habe einen Rüssel.“ – „Ich bin ein Hosenknopf.“ – „Füchse fressen Frikadellen.“ – „Auf dem Zeh ist Zimt.“ – „Eine Nixe sitzt im Taxi.“ Nicht schlecht, wie?

Sogar die Abfalltonnen fangen an zu sprechen. Eine von ihnen sagt: „In mir ist der Müll.“ Da habe ich an Samuel Beckett denken müssen.

Aber was ist das? „Bernd bürstet seine Beine.“ Kann ich nicht bestätigen. Wirklich nicht. Nur zwei Seiten später: „Ich bin ein Brot.“ Schon wieder so eine Anspielung auf meinen Vornamen. Was soll das? Freilich bekommen auch andere ihren Spott ab: „Klara küsst einen Kobold.“

Für solche kleinen Ausrutscher entschädigen allerdings die wahrhaft dichterischen Sätze. Mal filigran: „Frankas Finken flöten fein.“ Oder vollends gewaltig: „Wale weinen in der Wüste.“

Wenn das nicht erhaben ist, dann weiß ich auch nicht.

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Alle zitierten Satzbeispiele aus: „Schreibschrift. Das Selbstlernheft in VA“. Jandorf Verlag, Brühl (8. Auflage, 2015)
(Im Schulbürokratendeutsch heißt die Schreibschrift offiziell VA = vereinfachte Ausgangsschrift).




Seine Songs waren immer da – und das wird auch so bleiben: Bob Dylan zum 75. Geburtstag

Der Blick ins Rocklexikon bestätigt es: Bob Dylan wurde am 24. Mai 1941 geboren, er wird also jetzt 75 Jahre alt. Geburtsort war Duluth/Minnesota, danach wuchs Dylan – bürgerlich bekanntlich Robert Zimmerman(n) – in der Grubenstadt Hibbing auf. Er hat, wenn man so will, Wurzeln in einem Bergbau-„Revier“. Auch darüber hat er ja den einen oder anderen Song gemacht.

Doch wir wollen etwaige Analogien zum Ruhrgebiet nicht weiter treiben, es wäre lächerlich. Jedenfalls war Dylan durch solcherlei Herkunft wohl „geerdet“, er hat gewusst, wie gewisse Härten des Lebens sich anfühlen. Dass er hernach für die Schwachen und Erniedrigten Partei ergriffen hat, war nur folgerichtig.

Der Blick ins Plattenregal zeigt: Von keinem Künstler (ausgenommen Neil Young) habe ich so viele Platten und CDs wie von Bob Dylan. Warum wohl? Die Antwort drängt sich wiederum beim Blick ins eigene Innenleben auf. Seine Musik und seine Wesensart haben mich, wie so viele aus meiner Generation, durch all die Jahre und Jahrzehnte begleitet, mal inniglich, mal auf Hörweite, mal etwas entfernt. Manche seiner Songs waren und sind immer da. Und das wird so bleiben, selbst wenn eines Tages… Nein, ich mag nicht daran denken.

Ein paar Sachen aus dem Plattenregal. (Foto: BB)

Beispielsweise: ein paar Dylan-Sachen aus dem heimischen Plattenfundus. (Foto: BB)

Dabei habe ich seine Anfänge damals gar nicht wahrgenommen, sondern ihn erst auf dem Umweg über die Beatles (mein musikalisches „Erweckungs“-Erlebnis schlechthin), Stones, Small Faces usw. kennen gelernt, als auch er (1965 beim Newport Folk Festival) die elektrischen Verstärker einstöpselte. Was immer er getan hat, hat die Fans – so oder so – gleichermaßen bewegt und oft erregt, wie die Musikerkollegen. Er ist wahrscheinlich der einflussreichste Protagonist der populären Musik überhaupt.

Man hat dann halt mehr oder weniger andächtig nachgeholt, was Dylan vorher so fabriziert hatte. Es war eine vielfältige Welt für sich, mit weit gespanntem Horizont: Da waren die so genannten Protestsongs, authentischer Blues, die allerschönsten Liebeslieder und zwischendurch mal etwas religiöser Kitsch. Auch das war verzeihlich. Kein Künstler ist immerzu auf gleicher Höhe. Nicht einmal diese mythische Gestalt.

Literaturnobelpreis – was soll’s?

Schon seit einigen Jahren ertönt die Forderung immer lauter, man möge ihm doch endlich den Literaturnobelpreis zuerkennen. Dann würde eine ganze Generation nicht nur ihn, sondern sich selbst feiern und abermals in „Forever Young“-Seligkeit schwelgen. Mit literarischen Legenden wie Rimbaud, Villon und William Blake hat man ihn vergleichen wollen, mit den Surrealisten, natürlich auch mit Dylan Thomas, von dem sich Dylans Künstlername herleitet. Und und und. Ganz ehrlich: Mir ist es einerlei, ob er den Nobelpreis erhält. Die meisten genialen Autoren haben ihn nicht bekommen.

Ist er nun in erster Linie Dichter oder Musiker? Auch das ist eine müßige Frage. All seine Antikriegs-, Liebes-, Freiheits- und auch Glaubensbotschaften sind zutiefst in seine Musik eingesenkt, diese hat ihren eigenen Goldstandard. Weil dann noch sinnstiftende (und kunstvoll sinnverweigernde) Poesie hinzu kommt und mit der Musik untrennbar verwoben ist, wird spätestens klar, dass Popmusik auf hochkulturelle Pfade führen kann. Doch wer wollte das noch bezweifeln? Derlei Debatten sind ja längst ausgestanden, nicht zuletzt dank Dylan.

Die endlose Tournee

Der nun doch schon etwas ältere Mann befindet sich weiterhin auf seiner „Never Ending Tour“, die er nur kurz unterbricht, um seinen Geburtstag zu feiern. Anschließend geht es wieder und wieder auf die Bühnen, derzeit kreuz und quer durch die USA. Wahrscheinlich hört er mit solchen Rundreisen erst auf, wenn sich eines seiner berühmtesten Lieder für ihn erfüllt: „Knockin’ on Heaven’s Door“.

Wer ihn je im Konzert erlebt hat, weiß, dass Dylan zwischen den Songs wahrlich nicht lange schwafelt, sondern nur die allernötigsten Ansagen macht. Wie seine Klassiker, die das Publikum immer und immer wieder hören will (am liebsten mit Mundharmonika), dann tatsächlich live klingen, das weiß man vorher nie.

Er richtet seine Kreationen stets wieder anders zu, zuweilen hat er sie den Zuhörern auch lustlos hingeworfen, als wären es wertlose Bruchstücke. Erwartungen zu bedienen, ist seine Sache noch nie gewesen. Ich hatte das Glück, bei seinen Auftritten auch erhabene, strahlende Momente wie für die Ewigkeit zu erleben. Naja, für die Lebzeiten-Ewigkeit. Und ein bisschen darüber hinaus.

Und er kann doch singen

Immer wieder haben Leute spöttisch behauptet, Bob Dylan könne nicht singen, sondern nur nuscheln und näseln. Das ist natürlich Quatsch. Er singt wie kein anderer, auf ureigene Art perfekt phrasiert und mit untrüglichem Gespür fürs richtige Wort im richtigen Augenblick. Er singt eben so, wie seine Songs gesungen werden müssen; auch dann, wenn er sie mal mit Ingrimm selbst verhunzt. Millionen haben es probiert, doch es ist blanker Unsinn, einen solchen Sound nachzuahmen. Es kann nie und nimmer gelingen. Und es geht bei all dem nicht um stimmliche Glockenreinheit.

Es gibt einen Film, der ein lang zurückliegendes Treffen zwischen Donovan (kürzlich 70 geworden) und Dylan zeigt. Irgendwo backstage spielen die beiden einander etwas vor. Zuerst Donovan. Sehr schön, fürwahr. Er war ja auch kein Stümper. Dylan selbst soll einmal gesagt haben, Donovan sei der bessere Gitarrist. Doch dann greift Dylan ungemein lässig zum Instrument – und vom ersten Ton an ist klar, dass seine Schöpferkraft, seine Präsenz und sein Charisma Donovans Habitus bei weitem übersteigen.

Welches sein allerbester Song sei? Darüber könnte man ebenfalls lange palavern. Ich halte es vor allem mit einigen früheren Titeln, darunter „Love minus Zero (No Limit)“, „All Along the Watchtower“, „Just Like a Woman“, „Shelter From the Storm“ oder „Lay Lady Lay“. Ach, jetzt könnte ich doch noch Dutzende nennen, nahezu unaufhörlich, aber ich lasse es bleiben. Wer will schon einzelne Sterne vom Firmament zupfen?




Termin vergeigt – gar nicht so schlimm…

Ich muss euch eben mal was erzählen, doch das bleibt jetzt bitte unter uns.

Zugegeben, ein bisschen ärgerlich war’s schon. Zuerst hab’ ich mich auf die „Navi“ verlassen, die einen eigentlich unmöglichen Weg vorschlug. Trotzdem bin ich brav ihren Vorschlägen gefolgt und eine halbe Stunde lang herumgegurkt. Auf diese Weise kam ich schon mal fünf Minuten zu spät zum Termin. Nicht weiter schlimm.

Mit diesem Fahrzeug war ich leider nicht unterwegs. Es gehört mir gar nicht und dient hier nur als Blickfang. (Foto: Bernd Berke)

Mit diesem Fahrzeug war ich leider nicht unterwegs. Es gehört mir gar nicht und dient hier nur als Blickfang. (Foto: Bernd Berke)

Dann aber ein noch schlechterer Witz. Die kulturelle Einrichtung, die ich erstmals aufsuchen wollte, hatte zwar in ihrer Einladung eine konkrete Adresse angegeben. Die freilich bezeichnet pauschal ein äußerst weitläufiges Areal mit etlichen großen Gebäuden; man könnte fast sagen, dass dieselbe Anschrift für einen ganzen Stadtteil gilt. Auf dem Gelände darf man nicht mit dem Auto fahren. Also dauert’s, bis man alles abgeschritten hat.

Vereinzelte Gestalten waren auch abends noch auf dem Gelände unterwegs. Doch niemand, wirklich niemand von ihnen kannte die Institution, die sich hinter der Generaladresse mehr verschanzt als zu erkennen gibt. Sie forschen dort wohl lieber in aller Ruhe vor sich hin, ungestört vom Lauf der Welt.

Ich also stracks durchs Quartier geirrt, inzwischen eine Viertelstunde zu spät. Irgendwann war ich es leid, habe die Suche verlangsamt und lieber etliche Fotos von den schönen Gebäudeensembles gemacht. Als die Verspätung 30 Minuten betrug, habe ich das unscheinbare Institut schließlich ganz am Rande vorgefunden. Jetzt noch in den angekündigten Vortrag hinein stolpern und alle Lauschenden stören? Ach was! Unsinn. Termin vergeigt. Und gut is’.

Als ich noch für eine (damals) große Regionalzeitung gearbeitet habe, bei der solcherlei Termine halt auf dem Plan für die nächst erreichbare Ausgabe standen, wäre das vielleicht ein gewisses Problem gewesen. Jetzt überhaupt nicht mehr. Entspannter als ich konnte man diese Stätte schwerlich hinter sich lassen. Ciao. Macht’s gut.

Und überhaupt. Ihr ahnt ja gar nicht (oder vielleicht ahnt ihr’s doch), wie wohltuend es ist, sozusagen sein eigener Chefredakteur zu sein – erst recht auf kulturellem Felde. Keiner sagt einem, was „lesernah“ oder (Netzfassung) „viral“ ist, keiner schreibt einem Zeilenzahl, Aufmachung oder Platzierung vor.

Besser noch: Aus den Versäumnissen stricke ich am Ende noch einen Extra-Artikel, nämlich dieses Machwerk hier. Ganz schön dreist, wie?

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P. S.: Die eingangs erwähnte Navi – durchaus kein Billigmodell – hat es bei der nächsten Fahrt schlichtweg abgelehnt, ein „Ö“ oder „Oe“ in der Adresse zu akzeptieren. Also konnte man den Zielort nicht ansteuern.
Sagte ich schon, dass ich Navigationsinstrumente von Herzen hasse?




„Schöne Scheiße“ im Dortmunder Museum: Die stets unfertige Welt des Dieter Roth

Es ist kein unflätiger Fluch und auch keine Lüge, wenn man sagt, man habe jetzt im Museum Ostwall (MO) im Dortmunder U „Schöne Scheiße“ zu sehen bekommen. Denn genau so haben die Macherinnen die Ausstellung mit Werken des Schweizers Dieter Roth (1930-1998) genannt.

Dieter Roth: Tagebuchseiten, 1967 (© Dieter Roth Estate, Courtesy hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Dieter Roth: Tagebuchseiten, 1967 (© Dieter Roth Estate, Courtesy hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Das Kraftwort mag zunächst haltlos provokant klingen, lässt sich aber immerhin auf Roths Schaffen beziehen. Der manisch-depressive Künstler, der stets zwischen Größenwahn und Selbstverdammung geschwankt haben soll, hat seine eigenen Arbeiten häufig als „Scheiße“ geschmäht und den rüden Ausdruck in zahlreichen Titeln variantenreich verwendet. Und wenn er beispielsweise einen Hasen aus „Hasenkötteln“ geformt hat, wurde Scheiße gar zum Material der Kunst.

Mit der festumrissenen Identität ist das mindestens seit etlichen Jahrzehnten so eine problematische Sache. Damit sind auch die künstlerische Autorschaft und das ganze Genie-Gehabe ins Schwimmen und Schlingern geraten. Dieter Roth hat diese unaufhörliche Unsicherheit auf so manchen Feldern durchgespielt. Er gab die alleinige Urheberschaft nicht nur in Gemeinschaftsarbeiten auf, sondern relativierte sie immerzu.

Meisterschaft im Scheitern

Das „Durchspielen“ darf man sich freilich keinesfalls als leichtfertige Handlung denken. Im Gegenteil. Es sind immer neue Anläufe, nicht selten auch (selbst)quälerische. Vielfach scheint allerdings ein fröhlicher Dilettantismus am Werk zu sein, der seiner selbst bewusst ist und – paradox genug – mit eigensinniger Beharrlichkeit hie und da an eigentlich nicht menschenmögliche Perfektion heranreicht. Aber dann ist es doch wieder nur eine Meisterschaft im Scheitern. Schöne Scheiße eben.

Dieter Roth: "Selbstbild als Hundehauf in Stuttgart am 27.10.73", 1973 (© Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Dieter Roth: „Selbstbild als Hundehauf in Stuttgart am 27.10.73“, 1973 (© Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Fluxus war, ungefähr seit den frühen 1960er Jahren, eine frei flottierende Kunstform, die gleichsam alle Richtung(en) mitsamt gefügten Formen hinter sich ließ und ihre Gegenstände oft genug in schiere Spontanität auflöste. Herkömmliche Vorstellungen von Schönheit wurden dabei wie von selbst obsolet.

Über 200 Dauerleihgaben

Das Dortmunder Museum Ostwall besitzt schon länger eine beachtliche Fluxus-Sammlung, zahlreiche Arbeiten von Roth inbegriffen. So kam es, dass der Dinslakener Horst Spankus seine reichhaltige Kollektion von Arbeiten des Dieter Roth, welcher just der Fluxus-Bewegung zugerechnet wird, schon anno 2003 der damaligen MO-Vizedirektorin Rosemarie Pahlke schmackhaft gemacht hat. Spankus erinnert sich: Schon wenige Tage später habe ihn Pahlke – gemeinsam mit dem Dortmunder Kulturdezernenten Jörg Stüdemann – besucht, um die Bestände näher in Augenschein zu nehmen. Dann aber geriet das Projekt für längere Zeit ins Stocken, weil Dortmund seinerzeit keine ausreichende Klimaanlage bieten konnte.

Dieter Roth: "Schimmelblatt", 1969 (@ Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Dieter Roth: „Schimmelblatt“, 1969 (@ Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Jetzt aber ist es endlich so weit: Über 200 Arbeiten Dieter Roths aus der Sammlung Spankus gehen als Dauerleihgabe ans Museum Ostwall. Das ist natürlich eine Extra-Ausstellung wert. Nicole Grothe und Daniela Ihrig haben die Schau kuratiert. Ohne ihre kundigen Erläuterungen würde man vor manchem Exponat zunächst wie der Ochs vorm Berge stehen. Besucher sollten den Parcours nicht im Schnelldurchgang absolvieren und sich am besten eine Führung gönnen.

Von Kameras beobachtet

Empfangen wird man auf der 6. Ebene des Dortmunder „U“ von einer monumentalen Wand mit 131 Monitoren. Dieter Roth hatte sich an verschiedenen Orten ohne Unterlass von Kameras beobachten lassen – bei der künstlerischen Arbeit, doch auch bei alltäglichen Verrichtungen teils privatester Natur. Hat er da etwa die permanente Selbstausstellung der Generation Facebook vorweggenommen? Mag sein. Aber seine Herangehensweise ist ungleich reflektierter.

Durchweg zerfließen die Grenzen zwischen Kunst und Leben. Im selben Raum finden sich zeichnerische Tagebuch-Skizzen, die das Biographische als nicht-linear, widersprüchlich und chaotisch erscheinen lassen. Restlos entziffern lässt sich das alles selbstverständlich nicht. Die Zurschaustellung erweist sich zugleich als Arbeit im Verborgenen.

Bildmagie mit Wurstscheibe - Dieter Roth: "Kleiner Sonnenuntergang", 1972 (© Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Bildmagie mit Wurstscheibe – Dieter Roth: „Kleiner Sonnenuntergang“, 1972 (© Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Es folgt ein Raum mit Selbstbildnissen. Eigentlich ein klassisches Thema der Malerei, doch bei Roth gerät es zum rätselhaften Vexierspiel. Oft zeigt er sich lediglich von hinten, so dass praktisch nur Ohren und Hut als Charakteristika sichtbar bleiben, sodann stellt er sich etwa als Wolke, Schokoladenlöwe oder Hundehaufen dar und „übersetzt“ sein Selbstgefühl auch schon mal in wilde Kreiselbewegungen. Eine Schlussfolgerung drängt sich auf: Da kreist einer buchstäblich um sich selbst, offenbar immer auf rastloser Suche nach seinem Platz im Dasein. In einer hintersinnigen Arbeit mit Postkarten von deutschen Städten jongliert Roth just mit dem Befund der Ortlosigkeit, indem er Sehenswürdigkeiten gezielt vertauscht.

Soll man es verfaulen lassen?

Konservatoren müssten eigentlich ihre liebe Not mit einigen Schöpfungen von Dieter Roth haben. Wie soll man denn zum Exempel mit allmählich verwitternden Bildern umgehen, auf die er einst Milch gegossen hat? Soll man der Auflösung freien Lauf lassen oder die Stücke erhalten? Der Wille des Künstlers lief wohl langfristig auf Vergänglichkeit und völlige Auflösung hinaus, Fäulnisbakterien und Käfer hat er als willkommene „Mitarbeiter“ begrüßt. Man lernt hier jedenfalls, dass sich mit einem Stück Wurst ein frappantes Sonnenbild zaubern lässt; unbändige Vorstellungskraft und handwerkliches Können gleichermaßen vorausgesetzt.

Doch Sammler und Museen verfolgen andere Interessen. Also sorgt man in Dortmund gewissenhaft dafür, dass die aus Lebensmitteln oder Abfällen bestehenden Exponate nicht weiter faulen und schimmeln. Der Verfallsprozess, der auch an althergebrachte Vanitas-Motive erinnert, soll behutsam angehalten werden. Mitunter muss man auch die zugehörigen Gerüche (z. B. von uraltem Schmelzkäse) versiegeln, sonst wäre es für die Betrachter nicht zum Aushalten.

Dieter Roth: München (aus der Serie "Deutsche Städte"), 1970 (© Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Dieter Roth: München (aus der Serie „Deutsche Städte“), 1970 (© Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Dieter Roth war nicht „nur“ bildender Künstler, er hat sich u. a. auch als Literat und Musiker betätigt. Ist es Versponnenheit oder unnachgiebig bohrendes Fragen, wenn er in zahlreichen Ansätzen zu erfassen sucht, was überhaupt ein Buch sei? Jedenfalls nichts Festgelegtes, wie denn überhaupt dieser Künstler wahrscheinlich niemals bei einer schnöden Festlegung zu ertappen ist. Typisch auch seine zeitweilige verlegerische Arbeit mit einer uferlosen „Zeitschrift für alles“, die wahllos jeden eingesandten Beitrag abdruckte – bis das Journal dermaßen anschwoll, dass es zu teuer wurde.

Katalog mit losen Blättern

Auch Musik war ihm nichts Abgeschlossenes. So gibt es eine Aufnahme von Roth zu hören, in der Gespräche und Geräusche zwischenzeitlichen Alkoholkonsums quasi gleichberechtigt neben den gesetzten Tönen auftauchen. Der Künstler hat auch hier alles offen gehalten. Das kommt einem lebensnäher vor als alles makellos Polierte.

Sogar der Katalog dieser Ausstellung wirkt auf passende Weise „unfertig“ und vorläufig, es ist ein Ordner mit Loseblattsammlung, die man nach Belieben umheften kann. Vorbilder für das allenfalls eingeschränkt regalfreundliche Produkt fanden sich in Roths Buchprojekten.

Also bitte: Wer es aushält oder sogar vorzieht, dass nichts, aber auch gar nichts feststeht, sollte sich diese Ausstellung sowieso anschauen. Alle anderen dürfen sich aber auch verunsichern lassen. Wer weiß, wofür es gut ist.

Dieter Roth: „Schöne Scheiße. Dilettantische Meisterwerke“. Museum Ostwall (MO) im Dortmunder „U“, 6. Etage. 21. Mai bis 28. August. Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So 11-18 Uhr, montags geschlossen. Eintritt 5 Euro, ermäßigt 2,50 Euro. Katalog-Ordner mit Werkverzeichnis 28 Euro. Führungen sonntags 15-16.30 Uhr (nicht am 22. Mai/28. August). Umfangreiches Begleitprogramm. Info-Telefon: 0231/50-247 23. Internet: www.museumostwall.dortmund.de




Was die Alten Römer konnten – eine Mitmachausstellung für Kinder in Hamm

Ach, wie gediegen geht es doch gemeinhin bei Ausstellungsterminen für die Presse zu: eine überschaubare Anzahl von Menschen, daher recht freier Blick auf die Exponate. Dazu in der Regel kein ungebührlicher Lärm, sondern zumeist gepflegte Konversation.

Hätte ich die Hammer Ausstellung „Hightech Römer“ zur Pressekonferenz gesehen, dann hätte ich also einen völlig falschen Eindruck bekommen. So aber empfängt uns als zahlende Besucher (drei Erwachsene, zwei Kinder) im Gustav-Lübcke-Museum ein ordentlicher Krach, zu dem unsere Sechs- und Siebenjährigen sogleich selbst kräftig beisteuern werden. Und das ist in gewissen Grenzen auch erwünscht. Es geht ja ums lustvolle Entdecken.

Katapultieren nach altrömischem Vorbild... (Foto: Bernd Berke)

Katapultieren nach altrömischem Vorbild… (Foto: Bernd Berke)

Eingangs läuft ein Einführungsfilm, der das Interesse an Erfindungen der Alten Römer wecken soll, indem er jene längst vergangene Welt zwischen Kolosseum und Pantheon dreidimensional „auferstehen“ lässt. Doch der Kino-Bereich ist leider nicht schallisoliert, deshalb versteht man die Tonspur kaum. Denn in den Räumen dahinter dürfen und sollen Kinder an insgesamt 35 Stationen alles selbst ausprobieren – inklusive Schussapparaturen wie Katapult und Balliste. Auch wenn da nur Plastikbällchen fliegen, klackert der Mechanismus doch ganz erheblich. Ich appelliere an die akustische Vorstellungskraft der Leserinnen und Leser und rate zum Besuch an ganz normalen Werktagen.

Wie hält der Triumphbogen?

Für Leute ab etwa 5 Jahren (happiger Eintrittspreis für die Kleinen: auch schon 7 Euro) ist die anregende Ausstellung mit einigen Themenschwerpunkten (Architektur, Militär, Handwerk, Rechnen, Straßen, Reisen, Luxus, Maschinen, Kommunikation) gedacht. Tatsächlich vermittelt sie allererste Eindrücke von manchen technischen Leistungen der Römer – vom Flaschenzug bis zur Fußbodenheizung und zum ausgeklügelten System der Wasserleitungen (Stichwort Aquädukt). Letztere kann man im einfachen Modell ebenso nachbauen wie eine Brücke oder einen Triumphbogen. Wie kriegt man bloß den obersten Stein so hingesetzt, dass der ganze Bogen hält?

Dachdecken auf antike Art (Foto: © Museum Het Valkhof Nijmegen)

Dachdecken auf antike Art (Foto: © Museum Het Valkhof Nijmegen)

Nur noch ein paar weitere Beispiele: Kinder dürfen sich hier als Dachdecker nach Art der Antike betätigen, sie können ein Bodenmosaik legen, frühe Entfernungsmesser erproben, mit Holz bauen, altrömische Statuen per Bildschirm bunt anmalen und einander zwischen zwei Türmen mit Flaggen Signale senden. Zwischendurch sieht man wenige originale Fundstücke in Vitrinen. Sie werden hier eher zur Nebensache. Weitaus empfänglicher sind Kinder für anschauliche Details aus der römischen Sklavenhaltergesellschaft.

Selbst auf der Galeere rudern

Besonders belagert sind der Schießstand, an dem man mit althergebrachter Technik auf Scheiben zielen kann, und die „Galeere“. Vom Bildschirm her gibt ein fieser Trommler die rhythmischen Kommandos, die natürlich allesamt auf „Schneller, schneller“ hinauslaufen. Gerudert wird freilich nicht virtuell, sondern schweißtreibend analog. Am Ende kann das jeweilige Vierer-Trüppchen vom Bildschirm ablesen, welche Strecke es geschafft hat. Der Rekord (Highscore) lag an unserem Besuchstag schon bei unfassbaren 61,5 Seemeilen. Was wir geschafft haben? Och, das tut nichts zur Sache.

Die Wanderschau ist eine Koproduktion des LVR-Landesmuseums Bonn mit Museen in Den Haag und Nijmegen (Holland) sowie Mechelen (Belgien). Den Einführungsfilm und die Beschriftungen gibt’s denn auch auf Deutsch, Niederländisch, Englisch und Französisch. Doch damit nicht genug. Themengerecht kann man die Ausstellungstexte via Homepage auch auf Lateinisch herunterladen.

Was von all dem emotional und gedanklich andauern wird, lässt sich scherlich vorhersagen. Vielleicht erinnern sich die Kinder später an einzelne Anstöße, wenn sie etwas übers Altertum lesen oder hören. Vielleicht wird der gar eine oder andere Besucher (Besucherin) später einmal hochgelahrter Antike-Spezialist. Und wenn dann jemand fragt, wie alles begonnen hat, dann heißt es womöglich: „Damals in Hamm…“

„Hightech Römer“. Mitmachausstellung im Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Bis 30. Oktober 2016, geöffnet Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr, montags geschlossen..
Am Sonntag, 22. Mai (Internationaler Museumstag), ist das ganze Haus kostenlos zugänglich. Sonst: Erwachsene 9 Euro, Kinder ab 5 Jahren 7 Euro, Familienkarte (bis 2 Erwachsene und 3 Kinder) 22 Euro.




Ab 2018: Stefanie Carp und Christoph Marthaler sollen die RuhrTriennale leiten

Ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler beim Pressetermin in der Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: Bernd Berke)

Ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler beim Pressetermin in der Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: Bernd Berke)

Für die Kulturszene, zumal im Ruhrgebiet, ist dies eine Nachricht von größerem Kaliber: Von 2018 bis 2020 werden die Dramaturgin Stefanie Carp (Jahrgang 1956) und der Schweizer Theatermacher Christoph Marthaler (64) an der Spitze der RuhrTriennale stehen. Zwei hochkarätige Namen, fürwahr.

Die Entscheidung war gestern noch ziemlich frisch. Man hatte sie, so gut es eben ging, geheim gehalten. Und so konnte NRW-Kulturministerin Christina Kampmann in der Bochumer Jahrhunderthalle tatsächlich den allermeisten Medien eine Neuigkeit verkünden. Der zum Scherzen aufgelegte Christoph Marthaler flunkerte gar, ihm selbst sei das alles auch neu. Die Einladung nach Bochum hätte er demnach einfach mal so als schicksalhaft hingenommen…

„Das schönste aller Festivals“

Gleichfalls anwesend war der jetzige Triennale-Intendant Johan Simons, der hier – beim „schönsten aller Festivals“ (Simons) – noch zwei Spielzeiten vor sich hat. Der Niederländer versicherte glaubhaft, dass er die Entscheidung für Carp und Marthaler sehr begrüße („Eine richtig gute Wahl“), denn gerade die Mischformen zwischen Theater, Musik (und anderen Künsten), die die RuhrTriennale prägen, lägen den beiden „Neuen“ am Herzen.

Kennzeichnend für die Triennale sind auch die teilweise monumentalen Spielstätten mit industrieller Vergangenheit. „Das ist meine Welt“, rief Christoph Marthaler aus. Er habe als Künstler in Garagen und Fabriken begonnen.

Geschichte der monumentalen Räume

Marthaler schwärmt noch heute von unvergesslichen Revier-Ortsbesichtigungen im Gefolge des Triennale-Gründungsintendanten Gerard Mortier und leidet offenbar am herkömmlichen Guckkasten-Theater: „Auf Bühnen verkümmere ich.“ Neue, ungeahnte Räume erfassen und entwerfen, darum ist es ihm zu tun. Es gelte, auch die Geschichte dieser Räume aufzunehmen und fortzuführen, die nicht zuletzt eine Geschichte der Arbeit sei.

Natürlich verrät das künftige Führungs-Duo (Carp fungiert als Intendantin bzw. Direktorin, Marthaler sozusagen als „Chefregisseur“) noch nichts Konkretes über Planungen und weitere Personalien; erst recht nicht, weil Johan Simons ja noch in seiner Festivalarbeit steht, bevor er 2018 die Leitung des Bochumer Schauspielhauses übernimmt. Carp und Marthaler betonten, sie hätten bislang nicht einmal ihre engste berufliche Weggefährtin, die Regisseurin und Bühnenbildnerin Anna Viebrock, eingeweiht. Man darf aber – bei aller Vorsicht – wohl davon ausgehen, dass sie auch bei der Triennale zum engeren Kreis zählen wird.

„Zwischenzeiten“ als Leitmotiv

Stefanie Carp, die vor allem in Hamburg, Zürich, Wien (Festwochen) sowie Berlin (Castorfs Volksbühne) gewirkt hat und mehrfach als Dramaturgin des Jahres ausgezeichnet wurde, blieb also notgedrungen eher allgemein und vage, als sie „grenzgängerische und hybride“ Produktionen als Mischformen zwischen den Künsten in Aussicht stellte. Dazu gebe es schon etliche Ideen, die aber noch reifen müssten.

Jedenfalls, so Carp, vertrage gerade die RuhrTriennale kein Verharren im Konventionellen. Gefragt seien Experimente, und zwar „im großen Format“. Ein übergreifendes Motto für die Spielzeiten 2018-2020 schwebt ihr und Marthaler auch schon vor: „Zwischenzeiten“. Das Dazwischen sei nicht nur zeitlich zu verstehen, sondern beispielsweise auch kulturell. Allerdings könne sich die Leitidee in den nächsten Jahren noch wandeln.

Große Erwartungen geweckt

In einem unscheinbaren, aber vielleicht bezeichnenden Nebensatz erklärte sich Stefanie Carp vorwiegend fürs Pragmatische zuständig, während Marthaler offenbar vor allem als künstlerischer Anreger wirken soll; was aber sicherlich nicht heißt, dass sie das Kreative allein ihm überlässt. Als Leitungsteam haben sie schon gemeinsam in Zürich bewiesen, welch reiche Früchte ihre Zusammenarbeit tragen kann. Sie sind bestens aufeinander eingespielt. Und wir wagen mal die beherzte Prognose, das vom neuen Duo tatsächlich einige Großtaten zu erwarten sind.

Kurz zurück in die Niederungen. Über die finanzielle Ausstattung der RuhrTriennale und die Dotierung der Leitungsposten mochte man im Überschwang nicht reden. Kulturministerin Kampmann sagte, das sei noch kein Thema gewesen. Christoph Marthaler gab sich unterdessen zuversichtlich: „Wir werden uns schon einigen.“

Sie freue sich besonders, dass erstmals eine Frau das renommierte Festival leiten werde, befand die Direktorin des Regionalverbands Ruhr (RVR), Karola Geiß-Netthöfel. Schmerzliche Einschränkung: 2006 war Marie Zimmermann bereits als Triennale-Chefin für 2008 bis 2010 vorgestellt worden. Sie starb im Jahr 2007. Man hat also nie erfahren dürfen, was sie bewirkt hätte.




Werbung hinterrücks? – Och nö…

Gewissermaßen ein unmoralisches Angebot (Screenshot)

Gewissermaßen ein unmoralisches Angebot (Screenshot)

Und wieder mal erreicht uns eine aber auch gar zu freundliche kommerzielle Anfrage.

Damit die Leser(innen) der Revierpassagen Wort für Wort nachschmecken können, wie das nach Ansicht mancher PR-Fuzzis so laufen soll, dokumentieren wir das Ansinnen als Screenshot.

Ach so, übrigens: Die Antwort lautet NEIN. Und nochmals NEIN. Denn wir publizieren selbstverständlich lieber nach eigenem Gusto und mit offenem Visier.

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Hinweis / Bedienungsanleitung
Den Screenshot vergrößert man so wie alle Bilder, die hier erscheinen:
Ein erster Klick aufs Bild isoliert das Motiv vom zugehörigen Text. Es steht also allein für sich. Ein weiterer Klick auf dieses Motiv ruft sodann eine vollformatige Darstellung auf.




Spießig sein – aber genüsslich!

Auf der nach oben offenen Spießigkeits-Skala habe ich weitere Trittstufen erklommen.

Wie konnte das nur geschehen?

Nun, da war zuerst der Umzug aus dem Innenstadt-Quartier in einen halbwegs stadtnahen Vorort. Egal. Das Umfeld ist nun jedenfalls weniger urban und mehr so… naja, ihr ahnt es sicherlich. Man hört hier halt schon mal den einen oder anderen Rasenmäher. Auch wird an wärmeren Wochenenden – man denke nur – hie und da gegrillt.

Immer diese Sonderangebote... (Foto: BB)

Immer diese Sonderangebote… (Foto: BB)

Es wird aber noch krasser.

Der Edeka steckt jeden Samstag Prospekte mit den Angeboten der kommenden Woche in die Briefkästen. Während ich bisher recht freihändig eingekauft habe, achte ich neuerdings zusehends auf wöchentlich wechselnde Sonderangebote. Kaffee für die Hälfte? Katzenfutter stark herabgesetzt? Lieblingsbutter deutlich reduziert? Günstiges Weinchen? Ha! Da bin ich dabei.

Neulich bin ich gar in Versuchung geraten, Rabattmarken zu sammeln und einzukleben. Hier müsste jetzt ein „horribile dictu“ eingestreut werden. Doch wenn man dann zum Lohn den Akkuschrauber viel billiger kriegt? Oha, am Ende wird man noch einer von diesen Schnäppchenjägern.

Apropos sammeln. Man sollte mal alle Anzeichen auflisten, die einen zum Spießer stempeln. Desgleichen entlastende Faktoren. Bausparvertrag? Hab’ ich nicht. Wöchentliches Autowaschen? Mach’ ich nicht. Das sind dann wieder vermeintliche Pluspunkte im linksliberal getönten Diskurs.

Doch was nützen derlei Relativierungen, Beschönigungen, Beschwichtigungen? Nix. Drum muss man wohl lernen, genüsslich ein Spießer zu sein. Wie damals in der Sparkassen-Werbung.




Der Sound des Aufbruchs im Revier: Ruhr Museum zeigt 60 Jahre „Rock & Pop im Pott“

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Essens Kulturdezernent Andreas Bomheuer erinnert sich: Essener Songtage 1968, ein singuläres Ereignis in der neueren Musikgeschichte des Ruhrgebiets. Der legendäre Frank Zappa entstieg auf der Bühne einem Sarg und fragte das Publikum schlankweg: „How do you feel?“ Dann legte er los. – Bomheuer ist heute noch ergriffen von dem Moment: „So etwas vergisst man nie.“

Just in Essen, im Ruhr Museum auf dem Gelände des Weltkulturerbes Zeche Zollverein, schickt sich jetzt eine Ausstellung an, derlei kostbare Erinnerungen en gros zu wecken: „Rock & Pop im Pott“ erzählt die Geschichte der populären Musik im Revier über 60 Jahre hinweg. Dazu bietet man die immense Fülle von rund 1500 Exponaten auf (etwa die Hälfte davon Schallplatten).

Historischer Startpunkt sind die damals bundesweit beispiellosen Dortmunder Jugendkrawalle im Spätherbst 1956. Deutsche Radiosender spielten seinerzeit keinen Rock’n’Roll, also musste man sich die Schaffe im Kino „reinziehen“. Es lief der Film „Rock Around the Clock“ (deutscher Titel „Außer Rand und Band“) mit Bill Haley.

Dortmunder Jugendkrawalle

Nach dem Lichtspiel waren nahezu 2000 Jugendliche tatsächlich dermaßen aufgekratzt, dass gar Scheiben zu Bruch gingen – ein in jenen Jahren ungeheuerlicher Vorgang, über den etwa der „Spiegel“ breit berichtete und der schon die Energien ahnen ließ, die sich in dieser Musik Bahn brachen. Fotos und aufgeregte Zeitungsartikel erinnern daran. Interessanter Nebenaspekt: In den Anfangszeiten war – neben dem Kino – auch die Kirmes ein Ort, an dem Rock’n’Roll zur Geltung kam. Auch hier konnte man für ein paar Stunden aus der landläufigen Spießigkeit der Adenauer-Ära ausbrechen.

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Die Schau beginnt mit markanten Songzitaten und dem Durchgang durch einen Sound-Raum, in dem Highlights des Ruhrgebiets-Rock zur 15minütigen Bild- und Toncollage komprimiert sind. Eine Ausstellung über Musik geht halt nicht ohne Musik. Es ist freilich eine Gratwanderung: Man kann Rock & Pop zwar nicht nur in Vitrinen einsperren, doch andererseits muss man im Museum weit übers bloße „Zuballern“ mit Musik hinaus gelangen.

Sperrholzkisten-Ästhetik

Das Rock-Spektrum im Westen der Republik reicht von Nena bis Herbert Grönemeyer, von Phillip Boa bis Extrabreit (die heute zur längst überbuchten Eröffnung der Ausstellung spielen), von Franz K. bis Geier Sturzflug, von Grobschnitt bis Bröselmaschine. Auch die Humpe-Schwestern Inga und Annette stammen aus dem Ruhrgebiet, genauer: aus Hagen. Die berühmte Schlagzeile „Komm nach Hagen, werde Popstar“ brachte ein neues Selbstbewusstsein zum Ausdruck.

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe "The Kepa Beatles" in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe „The Kepa Beatles“ in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

Nach dem akustischen Einstieg wird man über einen Boden mit starken Farben (nach passender Maßgabe der Pop Art) durch die Jahrzehnte geleitet, unterwegs waltet eine dem Gegenstand angemessene Sperrholzkisten-Ästhetik. Bloß nicht zu schick und gediegen werden, lieber ein wenig „schmutzig“ bleiben! Einige Seitenkabinette vertiefen die Themen des Hauptstrangs, da geht es beispielsweise um veränderte Tanzstile und vielfach ausdifferenzierte Moden.

Das Team unter Leitung des Museumschefs Prof. Heinrich Theodor Grütter hat kaum eine Facette ausgelassen, die Ausstellung entfaltet ein wahres Kaleidoskop, sie trumpft hie und da mit raumgreifenden „Leitobjekten“ (Kinokasse, Jukebox, Synthesizer) auf, lässt aber nebenher auch manche Zwischentöne anklingen.

Wenn Rock historisch wird

Grütter hält dafür, dass eine solche Ausstellung erst jetzt wirklich sinnvoll sei, weil nun manche Entwicklungen abgeschlossen und somit „historisch“ sind. Mitten im Strom der Ereignisse wäre eine museale Aufarbeitung kaum möglich gewesen. Am Konzept beteiligt war übrigens das Dortmunder Archiv für populäre Musik im Ruhrgebiet. Eine Einrichtung, die sicherlich größere Beachtung verdient.

"Schmutzige" Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von "Eisenpimmel". (Ruhr Museum)

„Schmutzige“ Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von „Eisenpimmel“. (Ruhr Museum)

Zur besseren Gliederung gibt es eine Außen- und eine Innenperspektive, sprich: Hier geht es sowohl um Gastspiele internationaler Rock- und Pop-Stars im Revier, allen voran Beatles (25. Juni 1966) und Stones (12. September 1965) in der Essener Grugahalle, als auch um die zahllosen Bands, die im Ruhrgebiet selbst entstanden sind.

Heinrich Theodor Grütter selbst erinnert sich gern an die Jungs aus seiner Heimatstadt Gelsenkirchen, die als „German Blue Flames“ Furore machten und als eine der ganz wenigen deutschen Gruppen im „Beat Club“ des Fernsehens spielen durften.

Zu großen Teilen ist die Ausstellung eine Angelegenheit für „Best Agers“, wie Grütters selbstironisch anmerkt. Erkennbar ist aber auch das Bemühen, denn doch ein paar jüngere Leute aufs Zollverein-Gelände zu locken, beispielsweise durch Live-Konzerte und musikalische Workshops.

Hymnen aufs Revier

Hunderte, ja Tausende Formationen sind seit Ende der 50er Jahre im Revier entstanden. Zunächst spielten sie Rock’n’Roll und Beat, es folgten z. B. Protestlieder, Krautrock, Neue Deutsche Welle, Punk und Heavy Metal, schließlich Techno und HipHop, wobei in letzterer Stilrichtung Migranten den Ton angeben. Gar nicht mal so erstaunlich: Von den Kindern der Zugewanderten stammen, wie Experten versichern, neuerdings auch die treffendsten „Hymnen“ aufs vielfach geschundene Revier.

Eine regional zugespitzte These der Schau lautet, dass das proletarisch geprägte Revier für Beatmusik fast so prädestiniert gewesen sei wie die Gegend um Liverpool. Immerhin hat ja der Dortmunder Manfred Weissleder den Star Club in Hamburg gegründet, in dem die Beatles frühen Ruhm erlangten. Auch in späteren Jahrzehnten kann man dem (zuweilen rebellischen) Geist der Ruhrregion nachspüren. So hat das einst stählerne Industriegebiet buchstäblich seine eigenen Spielarten des Heavy Metal hervorgebracht.

Weitere Leihgaben gesucht

Die Essener haben den strammen Ehrgeiz, möglichst die gesamte Band-Landschaft des Ruhrgebiets zu kartographieren. Bereits jetzt zeugen über 700 Tonträger-Exponate von ungeheurer Vielfalt. Und die bis Februar 2017 dauernde Schau soll unentwegt wachsen: Wer selbst noch dergleichen Schätze hortet, soll sich melden und womöglich zum Leihgeber werden. Auch Bands, die schon Tonträger veröffentlicht haben (im Zweifelsfalle reichen Demo-Kassetten), werden aufgefordert, Laut zu geben. Das Ganze könnte zur Unternehmung von geradezu enzyklopädischen Ausmaßen anschwellen…

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs "Fantasio", 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs „Fantasio“, 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Man sollte sich jedenfalls für diese Schau reichlich Zeit nehmen, am besten (ganz im Sinne der Veranstalter) mehrmals kommen, sonst entgehen einem vielleicht Feinheiten wie etwa die Catering-Listen von Rockstars (welchen Saft wollten sie trinken?) oder rare Plakate wie jenes der vom Niederländer Ruud van Laar begründeten Dortmunder Kultstätte „Fantasio“ von 1971, das einen Auftritt des famosen Gitarristen Rory Gallagher avisierte. Oder ein hübsches Detail auf dem Plakat von 1967, das die Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle ankündigte und den Eintrittspreis mit schlappen 7 Mark angibt. Man vergleiche, was heute für die Crew von Mick Jagger aufgerufen wird.

Königsweg der Kultur

Rock & Pop haben auch im Revier etliche neue Auftrittsorte (neudeutsch Locations) entstehen lassen, dies ist natürlich gleichfalls Thema im Ruhr Museum, ebenso wie Fanzines, Szene-Zeitschriften und Devotionalien, das technische Equipment (vor allem zahlreiche Gitarren) oder die großen Festivals von „Rockpalast“ bis „Juicy Beats“, wobei die in Duisburg katastrophal beendete Loveparade nur diskret gedämpft zur Sprache kommt.

Glasklar wird allerdings, dass die anfangs so misstrauisch beäugte und niedergehaltene Rock- und Popkultur in den letzten Jahrzehnten recht eigentlich der Haupt-und Königsweg der Kultur gewesen ist. Wer damals jung war, hat es eh im Innersten gespürt.

„Rock & Pop im Pott“. 5. Mai 2016 bis 28. Februar 2017. Geöffnet Mo-So 10 bis 18 Uhr. Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Kohlenwäsche (Gebäude A 14), kostenlose Parkplätze A 1 und A 2, Zufahrt über Fritz-Schupp-Allee. Eintritt 7 Euro, ermäßigt 4 Euro. www.tickets-ruhrmuseum.de Audioguide 3 Euro. Katalog 304 Seiten, 33 Abbildungen (Klartext Verlag) 24,95 Euro. Info-Telefon/Buchung von Führungen: 0201 / 24 681 444.




Print, du hast mich wieder! – Warum ich die Tageszeitung doch auf Papier lesen möchte

Jetzt ist es doch passiert. Ich habe das Online-Abo (m)einer überregionalen Tageszeitung wieder in ein Print-Abo umgewandelt. Dabei habe ich mich doch an dieser Stelle vor fast genau vier Monaten länglich darüber ausgelassen, welche Vorteile die elektronische Ausgabe habe.

Nun aber die Kehrtwende. Und warum?

Manchmal scheint einen die gedruckte Zeitung geradewegs anzuschauen. (Foto: Bernd Berke)

Manchmal scheint einen die gedruckte Zeitung geradewegs anzuschauen. (Foto: Bernd Berke)

Weil man eh schon viel zu viel im Netz herumhängt. Weil man, wie seinerzeit schon ahndungsvoll angedeutet, als nicht mehr ganz junger Mensch denn doch das quasi naturnahe Rascheln und den Geruch des Papiers vermisst. Weil das Blättern seit jeher ein sinnlicher Akt ist, weitaus körpergerechter als das Klicken. Weil Print die Augen und wohl auch die Nerven schont – von ärgerlichen Inhalten jetzt einmal abgesehen. Weil das Gedruckte nicht die bodenlose Ungeduld des Alles-sofort-haben-Wollens befördert, sondern ruhiges Abwarten lehrt.

Ja doch: Ich möchte wieder bis zum anderen Morgen warten können. Akute Neugier wird dann eben notfalls kurz im Netz gestillt, der Hauptanteil der Zeitungslektüre hingegen anderntags genüsslich absolviert, hin und wieder auch zelebriert. Geht mir weg mit euren atemlosen Live-Tickern. Immerhin macht die Zeitung, um die es hier geht, diesen Unsinn eh nicht mit.

Ich hätte es wissen können: Nach ein paar Wochen der verstärkten Nutzung hat sich der Reiz des Online-Abos recht schnell von selbst erledigt. Die Zahl der Zugriffe ist zusehends gesunken. Jetzt möchte ich wieder Inhalt statt Content. Jawohl, das ist ein Unterschied und hat auch mit der Art des Zugangs zu tun, nicht nur mit dem Wortlaut der Zeilen.

Freilich habe ich mich auch schon an die Nachteile der Papierlieferung erinnern müssen. Bei Regen ist die Zeitung nicht immer ansehnlich, manchmal auf Stunden hinaus unbenutzbar. Und die Zustellung klappt auch nicht immer. Gleich zum erneuten Beginn des Print-Abos fehlte das Blatt im Kasten, auch die zugesagte Nachlieferung am selben Tag klappte nicht. Dabei hat sich die Zeitung für die Änderung des Abonnements rund drei Wochen (!) Zeit gegönnt. Wofür ist eigentlich der Computer erfunden worden?

Dennoch bleibt es jetzt dabei. Vielleicht hängt die Rolle rückwärts indirekt damit zusammen, dass ich kürzlich auch die Musik auf Vinylplatten wiederentdeckt habe. Wenn das so weiter geht, werde ich am Ende wieder der analogen Fotografie frönen, in der Dunkelkammer herumtapern und Texte wieder mit mechanischer Schreibmaschine oder Füllfederhalter zu Papier bringen. Yesterday, all my troubles seemed so far away…

Gerade merke ich, dass ich den letzten Sätzen andauernd das Wort „wieder“ aufgetaucht ist. Man geht ja längst hinterdrein. Phantasien der Wiederholung, ein allseitiges Festhaltenwollen. Ob das wohl mit der Angst vor tödlichem Schwund zu tun hat? Welch eine Frage.




Soziale Miniaturen (15): Zuckfuß

Krankenhausflur (Foto: Bernd Berke)

Krankenhausflur (Foto: Bernd Berke)

Nein, es ist eigentlich gar nicht komisch – und doch…

In der Arztpraxis. Etwa einen Meter vor dem Empfangs-Tresen ist die übliche Linie auf den Boden gezeichnet, die da bedeuten soll: Bitte Diskretion!

Die ältere Dame im Kamelhaarmantel, die jetzt an der Reihe ist, spricht allerdings so laut, dass man nichts überhören kann. Sie muss einmal recht elegant gewesen sein, doch heute achtet sie wohl nicht mehr so sehr auf sich.

Was sie der Arzthelferin mitteilen möchte, gestaltet sich schwierig. Immer und immer wieder diese Nachfragen. Ein zäher Dialog. Die Warteschlange wird währenddessen nicht kürzer.

Es geht um eine Klinik-Einweisung. Ja, wieso denn? Welche Klinik? Nach längerer Wechselrede scheint schließlich einigermaßen festzustehen, dass es sich um ihren „Zuckfuß“ handelt.

Zuckfuß. Dieses gleichsam selbst zuckende Wort wird sie fortan wie eine neckische Formel einstreuen. Vielleicht hat sie gelernt, durch hartnäckige Wiederholung aus einer gewissen Verzweiflung für sich selbst etwas distanzierende Komik zu schöpfen? Sie kokettiert geradezu damit.

Doch weiter geht’s mit der Befragung. Warum hat sie diesen Zuckfuß? Gibt es schon eine tragfähige Diagnose? Endlich rückt sie mit der Sprache heraus: „Ja, vom Kopf her.“ Das müsse näher untersucht werden. Also soll sie in die Neurologie gehen? Offenbar ja. Es steht wohl eine MRT-Untersuchung an. Wirklich nicht witzig.

„Ach. Und da wäre noch etwas.“ – „Ja? Was denn?“ – „Ja, diese Botox-Sache.“ – „Wie bitte?“ – „Ja, ich soll doch – äh – gebotoxt werden.“ – „Warum denn das?“ – „Ja, wegen dem Zuckfuß…“ Jetzt muss sie selbst leise lachen. Und auch die Arzthelferin glaubt, nun endlich herausprusten zu dürfen. Diskret war das alles nicht. Aber dann doch lustig. Irgendwie.

P. S.: Nachher habe ich „Zuckfuß“ in eine Suchmaschine eingegeben und erfahren, dass es sich vorwiegend um eine Pferdekrankheit handelt und man auch „Hahnentritt“ dazu sagt. Steigert oder mindert das nun die Komik?

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Mit diesem Beitrag soll die 2011/2012 begonnene und dann abgebrochene Textreihe „Soziale Miniaturen“ sporadisch wieder aufleben. Die bisherigen Folgen:

An der Kasse (1), Kontoauszug (2), Profis (3), Sandburg (4), Eheliche Lektionen (5), Im Herrenhaus (6), Herrenrunde (7), Geschlossene Abteilung (8), Pornosammler (9), Am Friedhofstor (10), Einkaufserlebnis (11), Gewaltsamer Augenblick (12), Ein Nachruf im bleibenden Zorn (13), Klassentreffen (14)