Verloren in Blödigkeit – mit dem Smartphone im Konzerthaus

Spontaner Besuch im Dortmunder Konzerthaus. Nicht für Geigen-, Klavier- oder Orchesterklang, auch nicht zwecks Rezension, sondern ganz privat zum (anregenden) Auftritt des Kabarettisten Andreas Rebers. Bei solchen Anlässen sind Kleiderordnung und Sitten etwas legerer als in der edleren Klassik-Gemeinde. Doch was zu weit geht, geht zu weit.

Im nahezu ausverkauften Saal ist ausgerechnet der junge Platznachbar zu meiner Linken offenbar heillos süchtig. Von Anfang an nervös auf seinem Sessel hin und her rutschend, hält er es schon nach ein paar Minuten Programm nicht mehr aus und zückt sein Smartphone mit dem ziemlich großen Bildschirm. Der flackert fortan so grell und unstet auf, dass es ringsum im dunklen Zuschauerraum einfach irritiert – siehe Beweisfoto.

Ertappt: So sieht das aus, wenn jemand im abgedunkelten Konzertsaal sein Smartphone eingeschaltet hat. (Foto: BB)

So sieht das aus, wenn jemand im abgedunkelten Konzertsaal sein Smartphone eingeschaltet hat. (Foto: BB)

Hei, wie die Däumchen hin und her fliegen, wie sie immer neuen Content aufrufen und flugs gegeneinander verschieben. Ein Ende ist und ist nicht abzusehen.

Man fragt sich, was dieser Mensch hier eigentlich verloren hat. Er schaut schon längst nicht mehr zur Bühne und hört auch gar nicht hin. Dabei müsste er für diesen Platz immerhin 39 Euro bezahlt haben.* Ein Fall von Fehlkauf? Hat er die Karte geschenkt bekommen oder bei einer Tombola gewonnen und sitzt sie nun widerwillig ab? Egal. Er zeigt jedenfalls keinerlei Regung. Worüber denn auch? Er nimmt ja – außerhalb des Bildschirm-Gevierts – nichts wahr.

Schließlich spreche ich ihn leise an. Ob er denn bitte das Gerät abschalten könne. Es störe doch sehr. Tatsächlich schaltet er gleich wort- und blicklos aus. Aber um welchen Preis der Seelenqual! Schon nach wenigen Sekunden traktiert er mit beiden Daumen einen Programmzettel, als wäre der ein Smartphone. Unentwegt. Verloren in Blödigkeit.

Zur Pause hat der Däumling das Haus verlassen. Dagegen hatte ich nichts einzuwenden.

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* In diesem Zusammenhang noch einmal besten Dank an den freundlichen Mann, der sich eigens aus Essen nach Dortmund bemüht hatte, um seine beiden Karten günstig abzugeben, damit sie nicht verfallen.




Eine Peter-Rühmkorf-Allee oder Kippenberger-Straße in Dortmund – warum eigentlich nicht?

Irgendwo da unten müssten doch ein paar passende Straßen zu finden sein. Hie und da entstehen ja auch Neubauviertel. (Foto von 2012, vom Florianturm herab: Bernd Berke)

Irgendwo da unten müssten doch ein paar passende Straßen zu finden sein. Hie und da entstehen ja auch Neubauviertel. (Foto von 2012, vom Florianturm herab: Bernd Berke)

Zuweilen hat man den Eindruck, dass zum Beispiel Dortmund einige seiner Straßen im Rahmen eines engeren Horizonts benannt hat. Jedenfalls sagen einem viele, viele Namen herzlich wenig – und oft genug fehlen erläuternde Hinweise auf den Schildern. Lokale und regionale Verdienste in allen Ehren. Doch manches mutet provinziell an.

Aber gibt es denn nichts Dringlicheres im Gemeinwesen? Sicherlich. Jedoch…

Wenn schon ortsbezogene Namen: Warum bringt es die Kommune dann nicht fertig, Straßen oder Plätze nach wirklich bedeutsamen Kulturschaffenden jüngerer Zeit zu benennen, die immerhin in Dortmund geboren wurden? Zwar sind sie nicht ihr Leben lang hier geblieben (was leider von mangelndem Kultur-Magnetismus des Ortes zeugt), doch siehe: Weder Karl Marx noch Rosa Luxemburg, weder Goethe noch Haydn oder Arndt haben hier je gelebt oder auch nur den Flecken besucht, sie sind nicht einmal gebürtige Dortmunder gewesen. Dennoch sind hiesige Straßen nach ihnen benannt, so wie vielerorts und allüberall.

Wen ich nun meine? Wen ich da vorschlagen möchte? Nun, da hätten wir beispielsweise Peter Rühmkorf (geboren am 25. Oktober 1929 in Dortmund), einen der wichtigsten Nachkriegsdichter deutscher Sprache überhaupt. Ginge es nach seiner Bedeutung, so müsste ihm eine Allee von gehöriger Breite gewidmet werden.

Gleich drei Namen von erheblicher Geltung drängen sich auf dem Gebiet der Bildenden Kunst auf: Bernhard Johannes Blume (geb. 8. September 1937), Norbert Tadeusz (geb. 19. Februar 1940) und nicht zuletzt Martin Kippenberger (geb. 25. Februar 1953); allesamt „Söhne der Stadt“, wie es ehedem so feierlich hieß, allesamt verstorben, was ja wohl eine Voraussetzung ist, um eine Straße nach jemandem zu benennen.

Auch der Dadaist Richard Huelsenbeck (Jahrgang 1892), der zwar nicht hier geboren wurde, aber in Dortmund (und Bochum) aufgewachsen ist und auf dem Dortmunder Südwestfriedhof begraben liegt, wäre ein gewichtiger „Anwärter“ auf einen Straßennamen in der Stadt – erst recht genau 100 Jahre nach Begründung der Dada-Bewegung.

Falls ich Künstler(innen) von vergleichbar hohem Rang vergessen haben sollte, bitte ich um ergänzende Mitteilung.

So. Und jetzt müsste man „nur noch“ ein paar Leute im kommunalpolitischen Raum überzeugen.

Bislang habe ich noch nichts von Bestrebungen gehört, einen der Genannten posthum zu ehren. Dabei liegt das Gute doch so nah. Man sollte die nächsten Gelegenheiten beherzt ergreifen. Es tut nicht weh und ist nicht allzu teuer. Aber bitte nicht irgend eine unwirtliche Sackgasse weit außerhalb…

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Es stand in den Revierpassagen

Über Peter Rühmkorf
Über Bernhard Johannes Blume
Über Norbert Tadeusz
Über Martin Kippenberger
Über Richard Huelsenbeck




Games und Gaffer – das tägliche und manchmal tödliche Elend mit den Smartphones

Eigentlich sollte man alle „Smartphones“ in den Orkus werfen. Dann Deckel drauf. Fertig. Und keine Wiederkehr. Warum ich so wütend bin? Abwarten. Kommt gleich.

Manchmal sind die Dinger nützlich, gewiss. Doch sie richten immensen Schaden an.

Nein, es geht nicht in erster Linie zum 1000. Mal darum, dass so viele Zeitgenossen (nein: zeitabwesende, geisterhafte Gestalten) ständig auf die lächerlichen Bildschirmchen stieren und starren, um sich aller wirklichen Umgebung zu entziehen. Nähme man ihnen die Handys weg, wüssten gar manche wohl nicht, was sie mit sich und der Welt noch anfangen sollten.

Man hat ja selbst auch so'n Zeug. (Foto: BB)

Man hat ja selbst auch so’n Zeug. (Foto: BB)

Auch geht es jetzt nicht um Autofahrer, die durch „Simsen“ oder sonstigen Handy-Gebrauch werweißwieviele Unfälle verursachen.

Hier dreht es sich vielmehr um zwei Nachrichten der vergangenen Tage, die einem gleichermaßen Schrecken einjagen:

Zum einen besteht der dringende Verdacht, dass der Fahrdienstleiter, unter dessen Aufsicht (Aufsicht?) das schreckliche Zugunglück von Bad Aibling geschehen ist, durch ein Online-Game auf seinem Handy abgelenkt war. Der 39-Jährige sitzt deshalb in U-Haft, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Elf Tote und 85 Verletzte wegen eines läppischen Computerspielchens? Ach, wäre es doch nicht wahr…

Weiter nordwärts, in Hagen am Rande des Ruhrgebiets, gab es am letzten Mittwoch eine unfassbare Steigerung des ohnehin schon elenden „Gaffens“. Ein zehnjähriges Mädchen war von einem Auto angefahren worden, ein Rettungshubschrauber musste es in eine Spezialklinik bringen.

Die Helfer hatten eigens Tücher aufgehängt, welche das schwerverletzte Mädchen vor neugierigen Blicken schützen sollten. Tatsächlich hat ein ungebetener Zuschauer eines der Tücher weggerissen, um die Szenerie mit seinem Smartphone besser ablichten zu können. Angeblich soll er es auch so idiotisch begründet haben: „Das muss ich so machen, ich kann sonst nicht richtig filmen.“ Was für ein armseliger Wicht.

War’s ein selbsternannter „Bürgerreporter“, der den Film womöglich noch verkaufen wollte? Egal. Er war wahrscheinlich der übelste, aber beileibe nicht der einzige Schaulustige, der im Umkreis des lebenswichtigen Einsatzes die Grenzen allen Anstands überschritten hat. Auch andere haben nach Kräften Film- und Fotoaufnahmen gemacht. Ob sich andere Passanten dagegen gewendet haben? Davon ist leider nichts zu lesen.

Aber hat denn die Polizei gar keine richtige Handhabe gegen solche ruchlosen Leute? Offenbar blieb ihr nichts übrig, als das schäbige Verhalten im Internet zu brandmarken. Wenigstens das.

Für einen unmissverständlich formulierten „Gaffer-Paragraphen“ wäre ich sofort zu haben. Statt dessen steht bei uns immer noch „Majestätsbeleidigung“ unter Strafe…

Spontan möchte man also am liebsten die Geräte einstampfen und sich für immer davon verabschieden. Mir ist schon klar, dass das vollkommen illusorisch ist. Auch der innige Wunsch, dass man die hochgerüsteten Handys einiger Funktionen beraubt, so dass man mit ihnen nicht mehr ins Netz gehen oder fotografieren könnte, sondern nur – wie ehedem – telefonieren; auch dieser Wunsch wird ein frommer bleiben. Es ist ein Jammer.

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Mit Nachrichtenmaterial von www.spiegel.de (Bad Aibling) und www.derwesten.de (Hagen)




Das Museum soll sich ändern: Jens Stöcker als neuer Leiter des MKK in Dortmund

Dortmund muss ja doch etwas Verlockendes an sich haben – oder war’s speziell diese hochinteressante Stelle? Rund 80 Fachleute hatten sich um die Leitung des Dortmunder Museums für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) beworben. Die Entscheidung fiel dann einmütig. Heute wurde der neue Kopf des Hauses offiziell den Medien vorgestellt: Dr. Jens Stöcker kommt aus Kaiserslautern, wo er bislang die Städtischen Museen und das Stadtarchiv leitet.

Im Präsentkorb für den "Neuen" war auch ein schwarzgelber Schal: Kulturdezernent und Stadtkämmerer Jörg Stüdemann (li.), der neue Museumsleiter Jens Stöcker (Mi.) und Elke Möllmann, Geschäftsleiterin der Dortmunder Museen. (Foto: Bernd Berke)

Im Präsentkorb für den „Neuen“ war auch ein schwarzgelber Schal: Kulturdezernent und Stadtkämmerer Jörg Stüdemann (li.), der neue Museumsleiter Jens Stöcker (Mi.) und Elke Möllmann, Geschäftsleiterin der Dortmunder Museen. (Foto: Bernd Berke)

Mit 42 Jahren ist der Vater zweier kleiner Töchter noch relativ jung. Just das war – neben allen fachlichen Qualifikationen – auch gefragt, denn es gilt, in Dortmund einige Langzeitprojekte zu stemmen, wie Kulturdezernent Jörg Stüdemann klarstellte. Dazu brauche es nicht zuletzt langen Atem und Wagemut. Womöglich „teuren Wagemut“, fügte Stüdemann an, der in Personalunion auch Stadtkämmerer ist.

Sammlung in anderem Licht

Besonders die Dauerausstellung zur Stadtgeschichte, so Stüdemann weiter, sei in die Jahre gekommen. Der jetzige Horizont reicht nur bis zur Schwelle der 1960er Jahre, die Abteilung muss also wesentlich ergänzt werden, aber beileibe nicht nur im Sinne einer zeitlichen Anstückelung: Denn es hat sich in den letzten Jahrzehnten Grundlegendes in der Geschichtswissenschaft getan. Das wirkt sich auch auf die Gewichtung älterer Exponate und somit letztlich der gesamten Bestände aus. Sozialhistorische Aspekte bis hin zur Migrationsgeschichte sind immer wichtiger geworden. Beispielsweise. Ergo, mit dem Modewort gesagt: Fürs Museum müsse ein neues „Narrativ“ her, also quasi eine neue Erzählweise.

Dem Populären nicht abgeneigt

Am Vorabend (schmerzliche BVB-Niederlage gegen Klopps FC Liverpool) hatte Jens Stöcker in Dortmund miterlebt, wie sehr hier das Fußballfieber grassiert. Immerhin: Auch in Kaiserslautern ist Kicken keine Nebensache. Dass in Dortmund das Deutsche Fußballmuseum des DFB in Sichtweite des MKK liegt, dürfte ein Ansporn sein. Der neue Mann, der sein Amt im Sommer antreten wird, kann sich durchaus vorstellen, im MKK auch an fußballhistorische Phänomene anzuknüpfen, wie er denn überhaupt dem Populären nicht abgeneigt zu sein scheint.

Stöcker will die Türen des Museums „weit öffnen“ und auch bei subjektiven Alltagserfahrungen der Menschen ansetzen. So schwebt ihm etwa eine Umfrage vor, die zu einem Stadtplan mit Lieblingsorten der Bürger führen könnte.

„Traumhaft schöne Objekte“

Ansonsten ist es für konkrete Pläne noch zu früh. Stöcker glaubt aber schon jetzt, dass die Neuausrichtung des Museums weit über die Stadtgrenzen hinaus Aufmerksamkeit erregen werde – zunächst wohl vornehmlich in Fachkreisen. Aber vielleicht schlägt sich der Umschwung ja irgendwann auch in einem Besucherplus nieder.

Jens Stöcker fremdelt nicht mit den Medien, er war vor seiner Museumskarriere zeitweise selbst Pressereferent. Überdies beherrscht er den Jargon des Kulturmanagements zwischen „Vernetzung“ und „Modulen“ recht geläufig. Man kann sich vorstellen, dass er – auch in Kooperation mit anderen Museen – einiges in Bewegung setzen wird.

Ein besonderes Augenmerk dürfte auf der besuchernahen Vermittlung liegen, digitale Möglichkeiten inbegriffen. Zudem will Stöcker neue Beziehungen zwischen den Exponaten stiften, ungewohnte Blickachsen und Querbezüge schaffen, zumal auch ein behutsamer Umbau des Hauses auf der Agenda steht. Die Sammlung gebe jedenfalls manches her, sie enthalte „traumhaft schöne Objekte“ und sei weitaus umfangreicher als das pfälzische Pendant in Kaiserslautern.

Vielfalt der Studienfächer

Das Dortmunder Haus mit der repräsentativen Fassade und der charakteristischen Rotunde hat Stöcker schon vor der Stellenausschreibung gekannt und geschätzt, wie er sagt. Der nahezu lexikalischen Vielfalt der Sammlung entspricht ziemlich passgenau die breite Palette seiner Studienfächer. Hauptsächlich hat er sich an der Mainzer Uni mit Kunstgeschichte befasst (Promotion auf kulturanthropologischem Gebiet), als Nebenfächer kamen Mittlere und Neue Geschichte, Volkskunde, Klassische Archäologie und Musikwissenschaft hinzu. Er hätte vielleicht auch als Jazzmusiker (Schwerpunkte Schlagzeug und Klarinette) reüssieren können. Kontrabass spielt er ebenfalls. Klingt doch schon mal gut.

Schwarzgelbe Erdung

Übrigens: Während Stöckers vor einiger Zeit verabschiedeter Vorgänger Wolfgang E. Weick gleichzeitig Chef aller städtischen Museen war, kann sich der Neue ganz aufs MKK konzentrieren. Geschäftsleiterin der Dortmunder Museen ist und bleibt Frau Dr. Dr. Elke Möllmann.

Kulturdezernent Stüdemann überreichte dem künftigen Neu-Dortmunder Stöcker schließlich einen Präsentkorb, der zwischen BVB-Schal, Dortmunder Bier und Pumpernickel symbolträchtige, vorwiegend stadt- und landestypische Schmankerl aus Westfalen enthielt. So ist das hier eben. Ohne schwarzgelbe Erdung geht auf Dauer so gut wie nichts.




Ins Innere der Dinge vordringen – die Wuppertaler Werkschau des Tony Cragg

Tony Cragg (Foto Mart Engelen)

Tony Cragg (Foto Mart Engelen)

Eine dermaßen weit ausgreifende Einzelausstellung hat es im Wuppertaler Von der Heydt-Museum noch nie gegeben: Für diesen Künstler hat Museumschef Gerhard Finckh gleich alle drei Etagen des Hauses freiräumen lassen. Der 1949 in Liverpool geborene Bildhauer Tony Cragg, so Finckh, sei ein „Weltstar“ der Kunst. Noch dazu lebt der Brite seit den 1970er Jahren in Wuppertal.

Nun also richtet ihm seine Wahlheimat die erste umfassende Retrospektive aus – und nicht etwa London oder Paris. Gar üppig, ja geradezu ausufernd füllt skulpturale Formenvielfalt mitsamt begleitenden Arbeiten 26 Räume. Cragg und sein 20köpfiges Team haben die aufwendige Aufstellung weitgehend selbst besorgt. Rund 120 dreidimensionale Arbeiten, manche um die 800 Kilogramm schwer, breiten sich jetzt aus, dazu Fotografien und Zeichnungen. Hier ist tatsächlich ein facettenreiches Lebenswerk zu besichtigen.

Tony Cragg: "Castor & Pollux", 2015, Holz. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Castor & Pollux“, 2015, Holz. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg, der auf dem Titel des schwergewichtigen Katalogs korrekt mit vollem Namen Anthony Cragg heißt, hat wahrlich seine großen Meriten. Er ist Träger so renommierter Auszeichnungen wie Turner-Preis und Praemium Imperiale, auch war er (bis 2013) Rektor der weltweit geachteten Kunstakademie in Düsseldorf. Die Liste der Verdienste und Ehrungen ließe sich länglich fortführen.

Mit Vorgefundenem und Vorhandenem, vorzugsweise mit „ärmlichem“ Material hat es in aller Bescheidenheit begonnen. Craggs frühe Fotos im Geiste des Minimalismus und der Land Art hängen am Beginn der Schau, gruppiert um ein imposantes Stapel-Kunstwerk, das so etwas wie eine schichtenhafte „Geologie der Dinge“ vor Augen führt.

Tony Cragg: "Secretions", 1998, Plastikwürfel. (Sammlung Deutsche Bank - © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Dave Morgan)

Tony Cragg: „Secretions“, 1998, Plastikwürfel. (Sammlung Deutsche Bank – © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Dave Morgan)

Nach und nach hat Cragg dann die vielfältigen Möglichkeiten und Eigenarten so mancher Stofflichkeiten von Glas bis Holz, Metall und Plastik erkundet. Jedes Material verlangt eine andere Herangehensweise, einen anderen Prozess. Vielfach gibt es – nicht nur mit Glas – zunächst Bruch und Chaos, bevor schließlich die angestrebte Form entsteht.

Wenn man erlebt, wie nervös und ruhelos, aber vor allem ständig inspiriert Tony Cragg zwischen seinen Schöpfungen erläuternd hin und her geht, erahnt man sein demiurgisches Wesen, das sich so viele Formen und Materialien bezwingend anverwandelt. „Abenteuer mit dem Material“ nennt er das und man darf wohl glauben, dass es dabei aufregend zugeht.

Tony Cragg: "Versus", 2012, Bronze. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Versus“, 2012, Bronze. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Schöner noch: Mit britischem Humor und feinsinnigem Understatement weiß er einem seine Kunst auf sympathische Weise nahezubringen. Schlecht habe er übrigens in den letzten Tagen geschlafen, denn gerade diese Ausstellung am Wohnort müsse besonders gelingen. Er wolle auch künftig ohne Gewissensbisse durch Wuppertal gehen…

1966-68, noch vor seinen Kunststudien, hat Cragg als junger Mann zeitweise als Techniker in einem Chemielabor gearbeitet. Vielleicht hat ihn diese Erfahrung dazu gebracht, gleichsam ins verborgene Innere der Dinge vordringen zu wollen, um möglichst sichtbar zu machen, was die Welt im Innersten zusammenhält oder auch antreibt? Die Wissbegier reicht sozusagen bis hinab zur molekularen Ebene. „Parts oft the World“ (Teile der Welt) heißt ja auch die ganze Schau.

Tony Cragg: "Making Sense", 2007, Fiberglas. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Making Sense“, 2007, Fiberglas. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Doch die Wissenschaften, so Craggs Überzeugung, tragen zwar zahllose Erkenntnisse zusammen, die allerdings emotional blass bleiben und einen nicht ergreifen. Erst die Künste verwandelten ihren Gehalt in spürbare Emotionen. In einer Zeit, in der sich die Welt mit theoretischen Konstrukten anfüllt, begreift er ein umfassendes Sichtbarmachen offenbar als seine Mission.

Und so wirken etliche seiner Werke einerseits, als basierten sie auf minutiösen Form-Analysen, die dann freilich wieder zur Synthese gelangt sind und jeweils ein (vielfältiges) Ganzes ergeben, um das man staunend herumgeht, immer neue Aspekte wahrnehmend. Diese Art der Bildhauerei erweist sich – durch die Jahrzehnte hindurch – als ständige Erfindung ungeahnt neuer Formen. Damit entstünden auch neue Begriffe und neue Freiheiten, sagt der Künstler selbst.

Tony Cragg: "Runner", 1985, Plastik. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Runner“, 1985, Plastik. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Faszinierend ist es zu sehen, wie zunächst abstrakt anmutende, beispielsweise wirbelsäulenförmige Figurationen, auf frappante Weise lebendige Körperlichkeit enthalten und vitale Zeitabläufe energiereich „speichern“. Diese Arbeiten oszillieren zwischen organischen und geometrischen Impulsen. Ein spannender Widerstreit.

Oft ist es, als seien Dinge und Körper zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder anders gewendet, besehen und geformt worden, so dass sie schließlich gar nicht mehr recht zu fassen sind. Herkunft verpflichtet: Auch eine überdimensionale Teekanne hat der Brite auf solche Art gestaltet, indem er simultan verschiedenste Ansichten derselben vorführt.

Neuerdings bedient sich Cragg auch der Möglichkeiten des Computer Aided Design (CAD), doch wird er seine schier unendlichen Formfindungen gewiss nicht von digitaler Technik beherrschen lassen. Dazu hat er wohl einfach zu viele Phantasien im Kopf und im Herzen, die ihn zum (un)steten Schaffen drängen. Der Computer bleibt Hilfsmittel.

Die Werkgruppen, die in Wuppertal präsentiert werden, reichen bis hin zu neuesten, bisher noch nicht gezeigten Skulpturen. Selbstverständlich hat sich im Laufe der Jahre manches entwickelt, was anfangs noch nicht da war. Doch gerade im Rückblick zeigt sich, dass sich dieses Lebenswerk wie ein Baum verzweigt hat und auch immer wieder zum Angestammten zurückkehrt.

Tony Cragg: „Parts oft he World“ – Retrospektive. 19. April bis 14. August 2016 im Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Mo geschlossen. Himmelfahrt, Pfingstsonntag und Fronleichnam geöffnet, 1. Mai und Pfingstmontag geschlossen. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Katalog 38 Euro, DVD 15 Euro. Internet: www.tonycragg-ausstellung.de




Bonus für Euch: Auch heute wieder ohne Kommentar zur „Causa Böhmermann“!

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(Foto: BB)

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In eigener Sache: 5 Jahre „Revierpassagen“

Nach Maßstäben des Netzes ist das bereits ein Weilchen: Auf den Tag genau seit 5 Jahren sind die „Revierpassagen“ heute online.

„Established 2011“. Das hört sich noch nicht nach altehrwürdiger Tradition an, deutet aber schon auf eine gewisse Kontinuität und Beharrlichkeit hin. Fünf Jahre sind nicht mehr so ganz „kurzlebig“. Bei vielen Kulturveranstaltern haben wir uns denn auch inzwischen einen Namen gemacht.

Das Logo der Revierpassagen (© Thomas Scherl)

Das Logo der Revierpassagen (© Thomas Scherl)

Nur wer sich ändert, bleibt sich treu: Das Erscheinungsbild unseres Kulturblogs hat sich seit den Anfängen mehrmals leicht verändert. Vor allem sind heute teilweise andere Autorinnen und Autoren dabei als zu Beginn. Im Gefolge haben sich auch thematische Schwerpunkte mehr oder weniger merklich verschoben.

Der Gesamtumfang der Revierpassagen ist mittlerweile stattlich: Knapp über 2200 Beiträge (!) befinden sich insgesamt auf der Seite, Archivtexte aus der Zeit vor 2011 inbegriffen. Über die Jahres-, Monats- oder Stichwortsuche lässt sich so manches aufstöbern.

Wie schon zur Gründung gesagt, können und wollen wir nicht die Kulturseite(n) einer Tageszeitung ersetzen, hin und wieder aber sinnvoll ergänzen, überdies den einen oder anderen Gegenakzent setzen. Auch kommt es immer wieder vor, dass wir Themen in einer Ausführlichkeit aufgreifen, wie es die Regionalpresse nicht (mehr) vermag.

Einiges bleibt zu wünschen übrig. In den Bereichen des Kinos und der Popmusik sind wir mäßig bis gar nicht „aufgestellt“, wie man so unschön sagt. Aber bevor wir in den – gerade in diesen Sparten – landläufigen Chor PR-affiner Journalisten einstimmen, lassen wir solche Gebiete lieber beiseite. Entweder fundierte Berichte und Rezensionen – oder gar keine. So jedenfalls unsere Leitlinie.

Da die Revierpassagen leider keine Autorenhonorare zahlen können und auf konsequenter Selbstausbeutung basieren, sind wir auch nicht in der Lage, Termine nach Belieben zu „besetzen“. Folglich sind wir eher punktuell bzw. sporadisch präsent und nicht flächendeckend. Wenden wir’s positiv: Schon deshalb hat bei uns bloße Termin-Routine keine Chance…

Bleibt und bleiben Sie uns bitte auch in den kommenden Zeiten gewogen.

Bernd Berke
(für die Autorinnen und Autoren der Revierpassagen)




Eier gut, Milch böse oder: Was gestern galt, kann morgen schon verworfen werden

Wer gehört noch zur Generation, die damals permanent und penetrant mit Lebertran abgefüllt worden ist? Das eklige Zeug sollte angeblich urgesund, ja nahezu lebenswichtig sein. Irgendwann war es dann nicht mehr die herrschende Lehrmeinung.

Heute wissen wir auch noch nicht richtig Bescheid. Neulich brachte die überregionale Sonntagszeitung meines (nicht ganz uneingeschränkten) Vertrauens in einer Ausgabe zwei vermeintlich eherne Ernährungs-Gewissheiten zur Sprache, die nun nicht mehr gelten sollen.

Lebensmittel im Bedeutungswandel: vorne die Guten, hinten der Bösewicht? (Foto: BB)

Lebensmittel im Bedeutungswandel: vorne die Guten, hinten der Bösewicht? (Foto: BB)

Punkt eins: Eier, die bislang im Verdacht standen, uns mit „schlechtem“ Cholesterin in Gefahr zu bringen, wurden erster Klasse von dieser Anklage „freigesprochen“. Überhaupt werde die Bedeutung des Cholesterins weit überschätzt, hieß es weiter. Das alles stand in einer nachösterlichen Nummer, kam also eigentlich etwas zu spät.

Punkt zwei: Milch hingegen, die über viele Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte für ein unentbehrliches Grundnahrungsmittel (noch immer ist Schulmilch die Regel) gehalten wurde, soll neuerdings schädlich sein. Stichwort Laktose. Und überhaupt. Hier nahm das Blatt freilich Partei für die Milch.

Es bleibt der Eindruck, den man schon oftmals haben konnte: Zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse haben keinen Bestand. Die Forschung sagt heute „Hü“, morgen „Hott“; gerade, wenn es um Gesundheit und Ernährung geht. Die nächste Kehrtwende kommt bestimmt. Wenn ich allfällige Wortfolgen wie „Eine neue Studie hat ergeben, dass…“ oder „Experten raten zu…“ lese, werde ich sogleich misstrauisch.

Auch Naturwissenschaften unterliegen offenbar Trends und Moden und sind nicht so objektiv, wie ihre Protagonisten gern vorgeben. Mit einer steilen These, die gegen alle bisherige Überzeugung sich wendet, kann man wohl schneller Bekanntheit innerhalb und außerhalb der Fachwelt erlangen, als mit drögen Bestätigungen. Und wenn nun auch noch wirtschaftliche Interessen hinein spielten? Gar nicht auszudenken.

Sobald dann in der Grundlagenforschung eine kritische Masse erreicht ist, bequemen sich auch die Mediziner zum Umdenken. Was gestern gesund war, wird heute verworfen – und umgekehrt. Manchmal werden dabei Schwenks um 180 Grad vollzogen.

Einmal zum Skeptiker geworden, möchte man sich am liebsten überhaupt nicht mehr in die Hände von Ärzten begeben. Wenn’s denn anginge. Und Kliniken möchte man gänzlich meiden, am besten lebenslänglich. Mag auch die Ursprungskrankheit kuriert werden, so geht man vielleicht an den Krankenhaus-Keimen ein. Oder an Milch.




Aus dem Ressort „Kulturlosigkeit“: Die windigen Methoden eines Schlüsseldienstes

Wer länger bei einer Zeitung gearbeitet hat, hat das vielleicht mal erfahren: Wenn einen Chefredakteur etwas ärgert, was rings um seinen privaten Dunstkreis geschieht, spricht er entweder auf kurzem Weg den (Ober)-Bürgermeister bzw. den zuständigen Dezernenten der Kommune an – oder er gibt „seiner“ Redaktion die „Anregung“, doch mal kritisch über die hochinteressante Begebenheit zu berichten. Im Interesse aller Leserinnen und Leser. Was haben Sie denn gedacht?

Wie komme ich nur darauf? Weil ich jetzt auch eine Chose aus dem eigenen Umfeld ausbreite. Die hat zwar reinweg gar nichts mit Kultur zu tun, ist aber womöglich punktuell lehrreich und kündet nebenbei von einer gewissen Verwilderung der Sitten. Also geht’s doch um Kultur. Oder besser: um deren Abwesenheit. Irgendwie.

Die sollte man möglichst bei sich haben... (Foto: BB)

Die sollte man möglichst bei sich haben… (Foto: BB)

Zum Thema: Immer mal wieder ist in diversen TV-Sendungen vor unseriösen Schlüsseldiensten gewarnt worden. Man denkt, nur unbedarfte Omas fielen darauf herein – so kennt man’s ja von damals aus Ede Zimmermanns „Vorsicht Falle! Nepper, Schlepper, Bauerfänger“ (un)seligen Angedenkens. Doch manche Firmen haben seither ihre Masche verfeinert. Hier also die detaillierte Chronologie eines tatfrischen Dortmunder Vorfalls, einstweilen ohne direkte Nennung von Ross und Reiter. Denn es ist gleichsam noch ein schwebendes Verfahren.

Unter falscher Flagge
1. Das Elend beginnt damit, dass die Firma unter falscher Flagge segelt. Sie erweckt den Anschein, familiär und lokal in Dortmund verwurzelt zu sein („Familienbetrieb seit…“ – es folgt eine weit zurückliegende Phantasie-Jahreszahl). Tatsächlich versteckt sich häufig bundesweit ein und dieselbe Firma hinter solchen lokalen Trugbildern. Natürlich soll man durch die behauptete lokale Nähe Vertrauen schöpfen. Ein offenbar weit verbreiteter Täuschungs-Trick. Man könnte auch Adressschwindel dazu sagen.

Anschein des Seriösen
2. Der angeblich örtliche Anbieter, mit dem wir es zu tun bekamen, gibt sich in Branchenbuch- und Internet-Einträgen den Anschein besonderer Seriosität, indem er frechweg mit derselben Adresse auftritt wie die Handwerkskammer. „Ehrbares Handwerk“ also. Soll man jedenfalls denken. Seltsam nur: Der vermeintliche Chef sieht auf verschiedenen Internet-Seiten immer wieder ganz anders aus. Das Ladenlokal sollte man lieber gar nicht erst aufsuchen, denn es wird – wie es online weiter heißt – derzeit „gründlich renoviert“. Das kann lange dauern. Sehr lange. Eine Überprüfung an Ort und Stelle ergibt denn auch, dass dort kein lokaler Schlüsseldienst seinen Sitz hat.

Dreiste Anmaßung
3. Erhöhte Dreistigkeit: Die Dortmunder Fake-Anschrift stimmt auch noch mit jener der Verbraucherzentrale NRW e. V. überein. Ausgerechnet. Es sieht fast so aus, als hätte da jemanden der Hafer gestochen. Etwa nach dem Motto: „Ihr kriegt uns sowieso nicht“.

Nahezu anonyme Hotline
4. Man wählt also jene (Dortmunder) Telefonnummer, wird aber hernach per Computerstimme aufgefordert, noch eine weitere Ziffer einzutippen. Die schaltet einen dann sonstwohin. Weiß der Teufel. Die Mitarbeiter der Hotline, die nun hinter der lokalen Nummer stecken, melden sich nur mit „Schlüsseldienst“ oder mit einem (erfundenen?) persönlichen Nachnamen, aber nicht als konkret benannte Firma. So sind die Herrschaften nicht so recht fassbar, sie bleiben nahezu anonym. Es lässt sich überdies bezweifeln, dass es mit dem schließlich auf der Quittung angegebenen Hauptsitz seine Richtigkeit hat. Von Briefkastenfirmen ist ja neuerdings viel die Rede.

Preise sind Geheimsache
5. Besagte Hotline gibt auf Anfrage keinerlei Auskunft über Preise, nicht einmal über den ungefähren Kostenrahmen. Das könne erst „vor Ort“ beurteilt werden. Hört sich plausibel an, ist aber eine Ausflucht.

Druck und Einschüchterung
6. Sobald man auch nur skeptisch nachfragt oder gar widerspricht, beschweren sie sich harsch über den „unverschämten Tonfall“ des widerspenstigen Kunden. Und zwar alle Mitarbeiter, samt und sonders. Es ist ganz offenkundig – wie alles andere auch – Teil einer bewussten Strategie, die den Mitarbeitern gewiss in internen Schulungen eingetrichtert wird. Druck und Einschüchterung gehören wesentlich zur ausgeklügelten Methode.

„Ich hab’ Polizei…“
7. Es wird am Telefon versichert, der Handwerker, der die Tür öffnen soll, werde schon in etwa 10 Minuten eintreffen. Dann dauert es eine Dreiviertelstunde, bis er kommt – ohne jegliche Entschuldigung. Auf Nachfrage heißt es nur kryptisch, er habe kurzfristig noch „für die Polizei“ tätig werden müssen. Da denkt man unwillkürlich an Jan Böhmermanns Song „Ich hab’ Polizei“… Eine Aussage, die auf jeden Fall Eindruck schinden soll. Allerdings ist es nur schwer vorstellbar, dass die Polizei wirklich mit einer solchen Firma kooperiert. Außerdem dient das Wartenlassen zumindest der Verschärfung der auszunutzenden Notlage derjenigen, die nicht in ihre Wohnung gelangen. Sie sollen auf diese Weise noch ein wenig „weichgekocht“ und zermürbt werden.

Zwei Minütchen Arbeit
8. Der Schlosser (oder was er nun ist) mahnt vorab, wenn er bohren müsse, könne es richtig teuer werden. Auch könne es sein, dass man das ganze Schloss ersetzen müsse. Als er ans Werk geht, dauert der eigentliche Vorgang etwa 2 Minuten. Er zieht ein eingeschweißtes Stück Papier durch den Schlitz zwischen Türblatt und Rahmen – und klick! Die Tür ist auf. Man ist erleichtert und vielleicht sogar einen Moment lang dankbar fürs glimpfliche Davonkommen. Denn er hat ja gar nicht gebohrt…

Mondpreis sofort bezahlen!
9. Umso überraschender dann der Preis für die ausgesprochen kurze und leichthändig absolvierte Arbeit. Mit Mehrwertsteuer und Anfahrt sind in diesem Falle satte 260 Euro fällig – und das kurz nach 16 Uhr, am Nachmittag eines gewöhnlichen Werktages. Einzige Zahlungsmethoden: Sofort in bar oder sofort per EC-Karte. Und ab dafür… Dass man im Gegenzug keine ordentlich ausgeführte Rechnung, sondern nur einen notdürftig ausgefüllten Wisch erhält, versteht sich fast schon von selbst.

Hätte man doch nur verglichen
10. Nachträglicher Vergleich: Ein tatsächlich ortsansässiger Anbieter, der übrigens die Schließanlagen für Reichstag und Kanzleramt erstellt hat, nimmt für die Türöffnung tagsüber (bis 17 Uhr) lediglich 69 Euro (inklusive Anfahrt und Steuern), von 17 bis 22 Uhr dann alles in allem 109 Euro. Diese Preise sind kein Dumping, sondern reelle, faire Beträge, durchaus marktüblich bei seriösen Anbietern. Und wie soll man dann die 260 Euro nennen? Etwa „Wucher“?

Hoffentlich versichert
11. Damit man die fette Kröte leichter schluckt, hat der Handwerker zwischendurch behauptet, die Hausversicherung übernehme derlei Kosten. Ach so, na dann… Freilich ist es in Wahrheit nicht die Gebäude-, sondern die Hausratversicherung und auch nur dann, wenn man sich gegen solche Wechselfälle – über den Standardtarif hinaus – eigens mitversichert hat. In aller Regel ist es also nichts mit der Übernahme durch die Versicherung. Schade eigentlich.

Ein klitzekleiner Betrugsversuch
12. Übler noch: Der Mann will einen auch noch zu einer milden Form des Versicherungsbetrugs anstiften. Er schlägt vor, man solle doch behaupten, Kinder hätten die Tür beim Spielen zugeschlagen. Das komme bei den Versicherungen immer gut an. All diese Finten sollen die überhöhte Summe erträglicher erscheinen lassen.

Nachbesserung nötig
13. Nun nimmt die Sache noch eine andere Wendung. Als der Security-Mitarbeiter eilends abgezogen ist, stellt man sogleich fest, dass sich die Tür nunmehr einfach widerstandslos aufdrücken lässt und nicht mehr einrastet. Als technischer Laie weiß man vielleicht nichts vom kleinen Häkchen namens „Schnapper“, das wieder zurückgestellt werden muss. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Schnapper beim Türöffnen durch den Handwerker (absichtlich?) verstellt und so belassen worden ist, erscheint außerordentlich hoch. Selbstverständlich ruft man die Firma sofort noch einmal an, um Nachbesserung zu verlangen.

Widerwillige Rückkehr
14. Das sei mit erneuten Kosten verbunden, heißt es daraufhin. Jeder Einwand wird in unfreundlichem Ton niedergebügelt. Ein Telefonist bricht das Gespräch kurzerhand ab, weil er keine Widerrede erdulden mag. Beim nochmaligen Anruf muss man schon sehr entschieden auftreten, um die Leute zur Rückkehr zu bewegen und bereits anzudeuten, dass man einen etwaigen Aufpreis nicht bezahlen wolle. Denn es muss ja der ursprüngliche Zustand der Tür wiederhergestellt werden.

„Geld mitnehmen!“
15. Der Mitarbeiter, der noch im unmittelbaren Umkreis des Einsatzortes gewesen sein muss, trifft alsbald erneut ein, stellt mit einer Handbewegung den „Schnapper“ zurück auf die Ausgangsposition – und verlangt dafür unglaubliche 189 Euro netto, sofort fällig. Zahlungsverweigerung ist die einzig richtige Antwort darauf. Der Mann ruft daraufhin bei eingeschaltetem Handy-Lautsprecher die Zentrale an und fragt „Wie sollen wir jetzt vorgehen?“ Die Frau am anderen Ende der Leitung schnappt nur: „Geld mitnehmen!“ Erneute Weigerung. Nun lässt er sich mit seinem Chef verbinden (kurze Irritation, weil der offenbar die Kollegin überhaupt nicht kennt). Der Boss wird pampig und besteht ebenfalls auf Sofort-Zahlung. Und natürlich droht er bereits mit einer Inkassofirma. Deren oft rüde Methoden sind berüchtigt.

Und jetzt?
16. Und jetzt? Nun, der Rest muss notfalls juristisch geregelt werden. Mal sehen… Wobei der erwähnte Schlüsseldienst-Boss schon postuliert hat: „Sie haben keine Chance! Wir gewinnen jedes Verfahren!“ — Und künftig? Zweitschlüssel bei netten Nachbarn hinterlegen und schon jetzt eine seriöse Schlüsseldienstnummer notieren. Was sonst?




Apps mit Adolf

Schock beim Download: "Er ist wieder da..." (Screenshot: BB)

Schock beim Download: „Er ist wieder da…“ (Screenshot: BB)

Hat das eigentlich noch niemand bemerkt und gegeißelt?

Wie, was, wo, warum? Ja, was, ich werd‘ euch sagen, was: Immer dann, wenn man eine App herunterlädt und beim Vorgang warten muss, taucht zwischendurch unversehens ein Hitler-Piktogramm auf – mit stilisierter Andeutung des berüchtigten Haarschnitts und des widerlichen Schnauzbarts. Wer’s nicht glaubt, sehe selbst. Man erlebt sein blaues Wunder. Screenshots lügen nicht.

Da hört sich doch alles auf! Gibt es denn wirklich keine unverfängliche Zeichensprache für den Download?

P.S.: Man macht mich darauf aufmerksam, dies sei ein reines Apple-Phänomen und komme so nur bei iPhone und iPad vor. Mag sein. In der Android-Welt bin in nicht daheim. Dann können wir aber auch schon ein Zusatzthema herbeiquälen. Apple hatte sich – aus welchen Motiven auch immer – jüngst geweigert, den US-Behörden beim Hacken eines Handys zu helfen, das einem toten Terroristen gehört hatte. Somit drängt sich die Frage auf: Was ist los in Cupertino?




Neckische Gewinnspiele und sonstige PR-Aktionen? – Nö, hier jedenfalls nicht!

Nur noch mal zur kurz Klarstellung:

Nein, die Revierpassagen werden keine Pressemitteilungen zum „Speed-Dating“ „ausgeben“, wie es ein unbedarfter Anrufer uns jetzt angesonnen hat.

Diese aufgekratzten PR-Fuzzis halten es nicht für nötig, sich auch nur ansatzweise über ihre Ansprechpartner zu informieren. Sie wollen nur, dass man begeistert, ja womöglich ekstatisch mitmacht, bei welchem Humbug auch immer. Und sie verstehen es gar nicht, wenn jemand ablehnt. Ihr Anliegen ist doch so cool, krass und fantastisch. Welches Zeug haben sie nur genommen? Vielleicht Speed?

Hauptsache Speed... (aber hier mal in sympathischer Ausprägung). (Foto: BB)

Hauptsache Speed… (aber hier mal in sympathischer Ausprägung). (Foto: BB)

Mag sein, dass ich in solchen Fällen am Telefon manchmal etwas ruppig geworden bin. Tschuldigung. Aber auf längere Dialoge hat man da einfach keine Lust. Speed-Dating? Nö. Höchstens Speed-Bashing! Oder besser noch: rapides Wegdrücking nutzloser Gespräche.

Schweigen wir lieber von jenen PR-Mäuschen, die schon mit passend naiven Stimmchen ihrem Job nachgehen. Jederlei Rückfrage irritiert sie in ihrem Tun. Im Pop-Bereich duzen sie einen sogleich frechweg. Einfach zurücksiezen, heißt die Devise.

Genug der sexistisch behauchten Boshaftigkeit. Was ich eigentlich sagen wollte: Wie jede(r) wissen kann, der/die ab und zu auf diese Homepage schaut, machen wir beispielsweise auch keine neckischen Gewinnspiele oder Kartenverlosungen, um zweit- bis drittklassige Bands zu promoten. Trotzdem kommen immer mal wieder Anfragen dieser Güteklasse. Mögen andere auf solch korrumpierende Weise Klicks generieren. Sicher, das ist hochkultureller Hochmut, was sonst?

Aber wie lautet noch jene goldene Grundregel des Journalismus, geprägt vom legendären TV-Moderator Hanns Joachim Friedrichs? Genau, man soll „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten…“

Aber derlei Weisheit kursiert heute wohl nur noch in längst eingeweihten Kreisen. So hoch wollen wir ja auch gar nicht greifen. Es reicht fürs Erste schon, wenn etwas weniger Unsinn verzapft wird. Dann sehen wir weiter.




Knickstellen, Übersäuerung, Datenflut – Archivare haben’s auch nicht leicht

Archivalien und Archivare gelten den Medien offenbar nicht als sonderlich „sexy“. Ganze zwei Journalisten (meine Wenigkeit inbegriffen) waren heute zugegen, als beim 68. Westfälischen Archivtag in Lünen eine Zwischenbilanz skizziert wurde. Die hiesige Presselandschaft ist arg überschaubar geworden. Hier also ein nahezu exklusiver Bericht:

Die Leute vom Fach sind jedenfalls zahlreich erschienen. Über 280 Archiv-Expert(inn)en aus Westfalen und darüber hinaus treffen sich am 15. und 16. März im Lüner Hansesaal. Als sich die Fachwelt vor 25 Jahren hier einfand, waren es nur 170. Würde es nicht so albern klingen, könnte man schlussfolgern, Archivieren liege doch im Trend. Jedenfalls ist es eine durch mancherlei Gesetze geregelte öffentliche Aufgabe von wachsender Bedeutung. Und das Metier hat sich zunehmend ausdifferenziert.

Das dürftige Lokalteil-Foto kann man bei uns auch kriegen (von links): Lünens Bürgermeister Jürgen Kleine-Frauns, LWL-Archivamtsleiter Dr. Marcus Stumpf, Lünens Stadtarchiv-Leiter Fredy Niklowitz und Michael Pavlicic (stellv. Vorsitzender der Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe), versammelt um eine Stellwand mit alten Lüner Plakaten. (Foto: BB)

Ein Lokalteil-Aufsteller-Foto landesüblicher Machart kann man bei uns auch kriegen (von links): Lünens Bürgermeister Jürgen Kleine-Frauns, LWL-Archivamtsleiter Dr. Marcus Stumpf, Lünens Stadtarchiv-Leiter Fredy Niklowitz und Michael Pavlicic (stellv. Vorsitzender der Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe) – neben einer Stellwand mit alten Lüner Plakaten. (Foto: BB)

Schwerpunktthema ist diesmal der sachgerechte Umgang mit Plänen, Karten und Plakaten. Fredy Niklowitz, Leiter des Stadtarchivs Lünen, beschreibt die spezifischen Probleme. Sie bestehen vor allem in der schieren Größe dieser Archivobjekte. So sammelt sein Archiv z. B. auch kommunale Wahlplakate bis zur Größe DIN A0 (841 x 1189 mm).

Pläne und Karten können durchaus ähnliche Größen erreichen. Früher wurden sie in Akten eingenäht, so dass man sie heute kaum noch unbeschadet aufblättern kann. An den Knickfalten sind mit der Zeit meist Bruchstellen entstanden. Dennoch: Um ihnen Informationen abzugewinnen, muss man sie aufklappen und auf Dauer flach und eben auslegen. Solche großen Dokumente muss man erst einmal liegend unterbringen.

Wir reden nicht von Petitessen. Zahlreiche Inhalte, etwa von Bauplänen und Katastern (einst häufig aus empfindlichem Pergamin), sind noch heute rechtsverbindlich. Also sucht man sie nach Kräften zu restaurieren und zu digitalisieren, wobei man die Originale natürlich behält, um selbst bei einem elektronischen Datenverlust abgesichert zu sein.

Der Landschaftverband Westfalen-Lippe (LWL) steht den Stadtarchiven beratend zur Seite. Gegen Gebühr übernimmt er auch kompliziertere Teile der Digitalisierung. Ein Scanner, der das genannte Format A0 schonend und berührungslos verarbeiten kann, kostet leicht über 100000 Euro, gibt Dr. Marcus Stumpf, Leiter des LWL-Archivamtes, zu bedenken. Das übersteigt die Finanzkraft vieler Gemeinden, deren Archive übrigens auch lohnende Bestände von Unternehmen und Vereinen, zuweilen auch von Privatleuten sichten und ordnen.

Mit Plakaten, die auch für Ausstellungen taugen, hat man die Aufarbeitung begonnen. Derweil liegen viele Karten noch brach. Da wartet Arbeit für Jahrzehnte, denn nach der Digitalisierung müssen Findbücher erstellt und systematisch mit Schlagworten versehen werden. Diese Findbücher werden allgemein im Internet zugänglich sein, das Einstellen von Abbildungen scheitert hingegen in der Regel an Urheberrechtsfragen.

Unterdessen hat sich das Berufsbild des Archivars grundlegend verändert. Etliche Dokumente werden heute ausschließlich digital und gar nicht mehr auf Papier erstellt. Sie müssen freilich „im Original“ aufbewahrt werden. Dass dieser Begriff seine Tücken hat, kann man sich als Computernutzer denken. Es gilt, Metadaten und den Modus der Übernahme genau festzuhalten, um möglichen Manipulationen vorzubeugen. Der pensionierte Studienrat, der in etlichen ländlichen Orten fleißig archiviert, ist damit wohl heillos überfordert. Es sollten sich schon hauptamtliche Fachkräfte darum kümmern.

Noch einmal kurz zurück zum Papier. Welcher Laie weiß schon, dass die alten Papiersorten von vor 1840 sich als ungleich haltbarer erweisen als jene neueren Datums. Seit Papier aus Holz und nicht mehr aus leinenen Lumpen gefertigt wird, seit es also vielfach übersäuert ist, bereitet es den Archivaren Sorgen. Auch Umweltpapier neigt zum zeitigen Zerfall.

Entsäuerungsmaßnahmen allein reichen nicht. Alles spricht für zügige Digitalisierung, die freilich ein weiteres Problem birgt. Jeder, der schon einige Zeit mit PCs arbeitet, kennt es auch: Ständig wechseln die Systeme, Dateiformate und Datenträger. Schon heute ist es kaum noch möglich, manche Disketten zu lesen, denn irgendwann gibt auch der letzte alte Computer seinen „Geist“ auf.

Lünens Stadtarchivar Fredy Niklowitz nennt ein berüchtigtes Beispiel für Datenschwund durch Systemwechsel: „Die Daten der ersten Mondlandung von 1969 kann heute kein Mensch mehr entziffern. Auch nicht bei der NASA.“ Mag sein, dass dieses Manko auch zu den Verschwörungstheorien (die Mondlandung wurde demnach „nur im Studio nachgestellt“ und ist niemals wirklich erfolgt) beigetragen hat. Es war allerdings wohl auch eine Art Initialzündung modernen Archivierens. Im Gefolge ist man hellhöriger und vorsichtiger geworden.




Unstillbare Begehrlichkeit der Bessergestellten – eine verbreitete Form der Barbarei

Um niemanden bloßzustellen, will ich nicht so deutlich werden. Sagen wir also, notgedrungen etwas gestelzt: Wir reden von einer Institution, die sich einem Zweig der kulturellen Bildung widmet. Irgendwo im Ruhrgebiet. Bundesweit renommiert.

Um das hohe Niveau zu halten, wählen sie ihre Schülerinnen und Schüler nach strengen Maßstäben aus. Ohne Ansehen des sozialen und finanziellen Hintergrunds. Gut so.

Darf's noch etwas mehr sein? (Foto: Bernd Berke)

Darf’s noch etwas mehr sein? (Foto: Bernd Berke)

Doch gerade das bringt Höhergestellte auf die Palme. Wie man hört, gibt es immer wieder Fälle, in denen sich prägende Gestalten des „öffentlichen Lebens“, zumal aus Wirtschaft und Politik, mit ihren maßlosen Ansprüchen an besagte Institution wenden: Warum denn ihre (selbstredend allesamt hochbegabten) Kinder die Hürden der Vorprüfungen nicht genommen hätten? Da müsse man doch wohl schleunigst nachjustieren…

Doch auch wenn die Sprösslinge es durch eigene Begabung geschafft haben, sind manche Besserverdiener nicht zufrieden. Es gibt nur einige wenige Förderplätze für die wirklich Bedürftigen. Von denen trauen sich manche nicht, sich zu bewerben – aus falscher Scham oder sonstigen traurigen Beweggründen. Wer sich aber traut, sind manchmal just jene, die überhaupt nicht gemeint sind. So hatte etwa ein Paar mit rund 10000 Euro Monatseinkommen die Stirn, einen Antrag auf soziale Beihilfe auszufüllen.

Beiderlei Begehrlichkeiten sind Anzeichen eines widerwärtigen Klassenkampfs von oben. Gewiss: Etliche Angehörige der gehobenen Mittelschicht haben mehr Anstand und Fairness im Leibe. Aber man mag nicht so recht glauben, dass deren Anzahl zunimmt. Eher scheint es so, als ob die Hässlichkeit wüchse und Entsolidarisierung sich rotzfrech ausbreite. Mit Kultur hat das nichts zu tun. Umso mehr mit Barbarei.




Bochumer Ausstellung über Polens „Wilden Westen“: Als in Wroclaw die Kultur aufblühte

Wroclaw (früher Breslau) hat einen historischen Wandel sondergleichen hinter sich. Die einst deutsche Stadt mit bis zu 1 Million Einwohnern wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs polnisch. Die Deutschen wurden vertrieben, Polen aus anderen Teilen des Landes sollten statt dessen in der zerstörten Stadt „heimisch“ werden. Doch wie sollte das ohne weiteres möglich sein? Mit einer bloßen Umsiedlung und einem Austausch der Bevölkerung war es ja nicht getan.

Um Identifizierung – gleichsam aus dem Nichts – zu stiften, sorgte Polens kommunistische Regierung ganz gezielt dafür, dass sich in Wroclaw nicht zuletzt Künstler aller Sparten ansiedelten. Tatsächlich blühten die Künste gerade an diesem Ort seit Mitte der 1960er Jahre so auf wie an keiner anderen Stelle des Landes.

Natalia LL: "Consumer Art" (1972), Schwarzweiß-Fotografien. (© Collection of the Lower Silesian Society for the Encouragement  of the Fine Arts - Foto: Matgorzata Kujda)

Nach Art von Andy Warhol: Natalia LL „Consumer Art“ (1972), Schwarzweiß-Fotografien. (© Collection of the Lower Silesian Society for the Encouragement of the Fine Arts – Foto: Matgorzata Kujda)

In Wroclaw durfte und konnte sich – trotz eines diktatorischen Regimes – das kulturelle Leben ungleich freier entfalten als etwa in Warschau oder Krakau. Und siehe da: Es wurden nicht nur ein paar kleine Freiräume in der Diktatur ausgelotet, das Zwangssystem wurde vielmehr beherzt überschritten. Alsbald konnte man die kreativen Hervorbringungen in Wroclaw kaum noch von den wesentlichen Strömungen der westlichen Welt unterscheiden.

Eine Ausstellung im Museum Bochum, das in den letzten Jahrzehnten immer mal wieder polnische Kunst präsentiert hat, dokumentiert und illustriert nun einige Aspekte dieser erstaunlichen Vorgänge. Der Titel der Schau lautet „Wilder Westen“, er spielt an auf die herrlich „wildwüchsige“ Entwicklung der Kultur in einer Stadt, die eben im polnischen Westen liegt. Es geht hierbei nicht so sehr um einzelne Künstler, sondern vorwiegend um die Zeitstimmung.

Krzysztof Zarebski: "Autohemo", Farbfoto. (© Sammlung Galeria Bielska BWA - Foto mit freundlicher Genehmigung von Leszek Fudusiewicz und der Galerie Monopol)

Krzysztof Zarebski: „Autohemo“, Farbfoto. (© Sammlung Galeria Bielska BWA – Foto mit freundlicher Genehmigung von Leszek Fudusiewicz und der Galerie Monopol)

Wie gut, dass in Wroclaw das Bewusstsein für die eigene Avantgarde der 60er bis 80er Jahre wachgehalten wird. Beredt und geradezu entflammt weiß Dorota Monkiewicz, Gründungsdirektorin des seit 2011 bestehenden Zeitgenössischen Museums Wroclaw, aus jenen Blütezeiten zu berichten. Aus ihrem Hause stammt die überwiegende Zahl der rund 500 Exponate, die nun in Bochum gezeigt werden. Sie selbst fungiert als leitende „Kommissarin“ der Ausstellung, gleich sieben Kuratoren haben zudem ihre Spezialkenntnisse eingebracht. Der ausführliche Katalog dürfte auch bei einem etwaigen Besuch in Wroclaw gute Dienste als Kulturführer leisten.

Vor allem anhand zahlreicher Fotografien und Videos spürt man nun in Bochum den Geist des Aufbruchs, der damals geherrscht haben muss. Wenn nicht hie und da polnische Schriftzüge auftauchten, fiele es schwer, eine Ortsbestimmung vorzunehmen. Gar manches könnte sich ebenso gut in Düsseldorf, Köln oder London abgespielt haben.

Man befand sich in Wroclaw durchaus auf der Höhe des internationalen Zeitgeistes. Nicht alle künstlerischen Arbeiten in Bochum lösen diesen Anspruch ein, doch gibt es etliche Belege für das lebendige, inspirierende Klima, das nicht nur Künstler, sondern auch Theaterleute, Filmemacher und Musiker in die Stadt lockte. Und auch die Auseinandersetzung mit Architektur war eine gehörige Triebkraft.

Da entfalteten sich – beispielsweise – Konkrete Poesie, feministische Kunstansätze, Konzeptkunst, Videokunst, Happening und Performance, ja, eigentlich alle avantgardistischen Richtungen. Von Vorgaben oder Gängelung ist nichts zu bemerken. Freilich: Anders als im Westen, gab es keine (bürgerlichen) Kunstsammler, also richteten sich Künstler aller Sparten oftmals direkt an die breitere Öffentlichkeit. Was ja gewiss kein Fehler ist.

Vitales öffentliches Interesse: "Les Comediants". Aufnahme vom 6. Internationalen Treffen der Theater und der Offenen Kunst, Wroclaw, 1978. (Foto: Bronislaw Szubzda/Staatsarchiv Wroclaw)

Vitales öffentliches Interesse: „Les Comediants“. Aufnahme vom 6. Internationalen Treffen der Theater und der Offenen Kunst, Wroclaw, 1978. (Foto: Bronislaw Szubzda/Staatsarchiv Wroclaw)

Die Gattungsgrenzen, zumal zwischen Kunst und Theater (auch der große Theatermacher Jerzy Grotowski wirkte in Wroclaw), wurden offenbar mit Verve überwunden. So ansteckend kann Kultur sein, wenn die Zeit gekommen ist: Faszinierende Fotografien zeugen von leuchtenden Momenten, zeugen von einer grundsätzlichen Offenheit, die anscheinend alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen erfasst hat. Es muss – wider allen grauen Alltag – eine Lust gewesen sein…

Es waltete wohl ein Genius loci. Die Künste waren seinerzeit Vorboten und Statthalter einer Freiheit, die sich in ganz Polen und anderen Ländern des europäischen Ostens erst mit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ auch politisch manifestieren konnte.

Schon damals, so möchte man meinen, hätte es Wroclaw verdient gehabt, Europäische Kulturhaupstadt zu sein, doch da gab es diese Ehrung noch nicht – erst recht nicht für osteuropäische Städte. 2016 aber trägt Wroclaw (gemeinsam mit dem spanischen San Sebastian) den Titel. Mithin vermittelt Bochum auch in dieser Hinsicht erhellende Rückblicke.

Viele Impulse wurden erstickt, als Ministerpräsident Jaruzeski 1981 in Polen das Kriegsrecht verhängte. Von den harschen Restriktionen waren auch die Künstler in Wroclaw betroffen.

Bekanntlich gibt es in Polen neuerdings wieder ein gesellschaftliches Rollback, das die Künste einzuschränken droht. Auch gegen solche fatalen Tendenzen bezieht diese Ausstellung unversehens Position. Als sie geplant wurde, wusste man noch nicht, wie dringlich das sein würde. Ausstellungs-Kommissarin Dorota Monkiewicz möchte auf diesen Zusammenhang nicht explizit eingehen. Sie findet allerdings, dass Wroclaw im Vergleich zu früher wohlhabend geworden sei – und damit auch etwas langweiliger.

„The Wild West – Wilder Westen. Die Geschichte der Avantgarde in Wroclaw“. 5. März (Eröffnung um 17 Uhr) bis 8. Mai 2016. Museum Bochum, Kortumstraße 147. Öffnungszeiten: Di-So 10-17, Mi 10-20 Uhr. Katalog 25 €. Eintritt 5 € (jeden ersten Mittwoch im Monat frei). Weitere Infos: www.kunstmuseumbochum.de

Die Ausstellung wurde zuvor schon in Warschau und Kosice (Slowakei) gezeigt. Nach Bochum folgen noch die Stationen Zagreb und Budapest.




„Hallo!“ – der Gruß für alle Fälle

Wie kam das nur und wann hat das eigentlich angefangen: dass alle Leute einander mit „Hallo“ grüßen?

Mh. Das fragt sich doch heute längst niemand mehr. Was aber so selbstverständlich anmutet, verdient es – frei nach Lichtenberg * – vielleicht gerade, nochmals zur Sprache zu kommen. Wobei wir uns einigermaßen kurz fassen wollen.

Ist es aus dem Englischen zu uns gewandert? Sehr wahrscheinlich. Ging es schon im Laufe der 1980er Jahre los, war es nach der „Wende“ oder erst in den Zweitausendern? Man weiß es nicht mehr so recht, obwohl man den Wandel doch erlebt haben muss. Ein blinder Fleck der Zeitgeschichte. Nicht, dass mir noch jemand behauptet, das „Hallo“ sei parallel mit der Hal(l)ogenleuchte aufgekommen. Je nun. Kalauer sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.

Auch das Skelett grüßt noch mit "Hallo". (Foto: Bernd Berke)

Auch das Skelett grüßt noch mit „Hallo“, sofern es nicht „Tschüssikowski“ sagt. (Foto: Bernd Berke)

Ziemlich plötzlich war es da und auch schon bald allgegenwärtig. „Hallo“ hat sich sozusagen hinterrücks eingeschlichen und nahezu grenzenlos ausgebreitet, als wäre es gasförmig. Kaum vorstellbar, dass diese sprachliche Gewohnheit eines Tages wieder verschwindet. Die ganz Cleveren grüßen seit einigen Jahren mit „Moin“. Ob sich das einmal auf breiter Front durchsetzen wird? Eher jedenfalls als „Grüß Gott“.

Übrigens: In vielen Fällen geht das „Hallo“ mit der Sitte des allgemeinen Ikea-Duzens einher. Ob es auch mit der Zunahme veganer Lebensweise zu tun hat, wird bei anderer Gelegenheit noch zu prüfen sein. Oder auch nicht. Abschweif-Schleife vorerst beendet.

Früher, in den analogen Zeiten, war das unscheinbare, wenig bedeutsame Wörtchen „Hallo“ eher auf Telefongespräche beschränkt. Nur selten gab es ein „großes Hallo“. Allenfalls taugte es als gezielter Zuruf, nicht aber als allgemein gültige Wortmünze für fast alle Wechselfälle des Alltags.

Wenn wir mal von den superlustigen Versionen „Hallöchen“ und „Halli hallo“ absehen, können wir feststellen: Wohin man auch kommt, überall schallt und schwallt einem „Hallo“ entgegen, das heißt: Oft wird es auch nur lustlos gemurmelt oder notdürftig hervorgequetscht. Zumeist aber soll es wohl immerzu wache Munterkeit signalisieren. Und junge oder jung geblieben sich wähnende Lockerheit (vulgo: Coolness) sowieso. Man beachte das geradezu adornitisch nachgestellte „sich“ im vorherigen Satz.

Aber wo war ich stehen geblieben? Ach so, ja:

„Hallo“ ist praktisch universell verwendbar, in allen Ländern kann man es – mitunter leicht variiert – einsetzen. Es will ja auch, wie schon angedeutet, gar nicht viel besagen. Das altbackene „Guten Tag“ mag ich vielleicht nicht jedem Deppen entbieten, aber mit „Hallo“ vergebe ich mir nichts. Es entbehrt jeder näheren Verbindlichkeit. Es ist ungefähr so wenig profiliert wie das weltweit häufigste Wort „okay“.

Allerdings kann selbst dieses Wörtlein verschiedene Tonfälle und Färbungen annehmen. Mit fragend intonierter Endsilbe heißt „Hallo“ ungefähr „Bist du noch bei Trost?“ Doch derlei zeitraubende Ausformulierungen ersparen wir uns heutzutage. Aber hallo!

P.S.: Jetzt, da der Text fertig ist, merke ich, dass ich das hingehauchte, hingeschluderte, ungemein lässige „Hi“ nicht gewürdigt habe… Wie konnte ich das nur vergessen?

P.P.S.: Über Abschiedsformeln zwischen „Servus“, „(uuund) Tschüs(s)“, „Tschüssikowski“ und Ciao (Tschau) reden wir eventuell ein andermal.

Und nun das Wetter…

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* Das berühmte Zitat von Georg Christoph Lichtenberg lautet: „Die gemeinsten Meinungen und was jedermann für ausgemacht hält, verdient oft am meisten untersucht zu werden.“




Die Sache mit den Schokoriegeln oder: Jetzt zittern die Konzerne vor uns!

Ich bin kein sonderlicher Freund des unbeschränkten Unternehmertums. Gar zu gern wittere ich in diesen Bereichen Lobbyismus, Korruption und Durchstecherei. Dazu muss man kein „Kommunist“ sein.

Manchmal aber denke ich, man sollte die Hersteller nicht so sehr bedrängen, wie es inzwischen üblich ist. Neuester Fall: Mars.

Hilfe! Wir haben auch welche gekauft. Was jetzt? (Foto: Bernd Berke)

Hilfe! Wir haben auch welche gekauft. Was jetzt? Müssen wir jetzt alle sterben? (Foto: Bernd Berke)

Da will eine einzige Kundin ein Plastikteilchen in Schokoriegeln gefunden haben – und schon ruft der Konzern seine Erzeugnisse in 55 Ländern zurück. Man beachte die Verhältnismäßigkeit.

Sämtliche Formate von Mars, Snickers und Milky Way sollen betroffen sein, die Mindesthaltbarkeitsdaten der Rückruf-Artikel reichen vom 19. Juni 2016 bis zum 8. Januar 2017 (Quelle: Süddeutsche Zeitung online).

Preisfrage: Wer hat denn wohl k e i n e Süßigkeiten aus diesen umfangreichen Chargen gekauft? Menschen mit Kindern dürften wohl fast durchweg „in der Verlosung“ sein.

Bevor die ideologisch korrekte Gegenfrage kommt: Nein, ich will nicht verantwortlich sein, wenn etwa Kleinkinder die Plastikteile verschlucken. Gleichwohl denke ich, dass die juristischen Bedenken hier mal wieder überwogen haben und dass das wirkliche Risiko verschwindend gering ist. Wie wär’s denn, wenn man den Verbrauchern ein wenig Eigenverantwortung überließe?

Wenn ich wollte, könnte ich also eine große Firma an den Rand der Pleite führen. Müsste ich nicht nur ein beliebiges Plastik- oder Metallteil ins Lebensmittel-Produkt pressen und sodann hysterisch Alarm schlagen, am besten mit einer Internet-Petition unterfüttert? Einige Juristen und sonstige „Experten“ würden mir sicherlich schnell beipflichten.

Aber – pssst, pssst! – müsste man denn gleich alles an die große Glocke der Öffentlichkeit hängen? Könnte man nicht ein wenig andeuten und mit sanftem Nachdruck fordern…? Ach, das wäre eine Handlungsweise am Rande der Erpressung? Nun, dann wollen wir mal ganz schnell davon Abstand nehmen.




Randale für den Rapper

Dies vorangeschickt: Mit Rap habe ich so gut wie nichts im Sinn, noch weniger mit Gangsta-Rap. Das ist auch, aber nicht nur eine Generations- und Schichtenfrage. Ich mag nicht glauben, dass Musik zur Feier von Gewalt und Verbrechen erfunden wurde. Auch besinnungsloses Auskotzen ist nicht ihr Wesenskern.

Nun aber konkreter: Einer dieser Typen, die für eine leider ziemlich zahlreiche Anhängerschaft als Gangsta-Rapper posieren, nennt sich Kurdo. Sein äußerst schmales Textrepertoire kreist kraftwortreich um Phantasien wie („sinn“-gemäß) „Ich-bin-ein-richtiger-harter-Verbrecher-ihr-alle-seid-schwule-Weicheier-mit-Scheiß-Abitur“ sowie „Ich **ck deine Mutter, ich **ck deine Schwester“. Also richtig bodenloser Mist der weithin üblichen Art.

Zu einer Autogrammstunde dieses begnadigten, äh ich meine natürlich begnadeten Künstlers hatte ein Saturn-Markt im Dortmunder Vorort Eving eingeladen. Es erschienen rund 4000 (!) Fans und es kam zu heftigen Tumulten, die ein polizeiliches Großaufgebot erforderten. Leute, die bedeutend näher dran waren, sagen, dass die Polizei strategisch überfordert war.

Die Autogrammstunde fand schließlich nicht statt, sie soll aber angeblich nachgeholt werden. Warum eigentlich? Soll die wahrlich anderweitig schon mehr als genug geforderte Polizei abermals kostspielig und riskant eingreifen müssen, damit dieser längst zum Kommerz-Heini mutierte Ghetto-Brüller noch mehr Publicity bekommt? Gut denkbar, dass Kurdo und seine Spießgesellen jede Randale als willkommene Werbung bejubeln. Aus diesem Grund scheut man sich ja schon, ihn überhaupt zu erwähnen. Aber sei’s drum.

Anderntags musste dann auch in Hamburg die Polizei einschreiten, als Kurdo auftauchte. Und es waren beileibe nicht die ersten Vorfälle dieser Art. Schön wär’s, wenn man Kurdo, den Veranstaltern und/oder Managern die Kosten der Polizeieinsätze in Rechnung stellen könnte. Dann müsste er noch ein paar Verbrecher-Liedchen mehr singen.

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P.S.: Wenn wir schon beim Thema sind: Ja, ich bin auch dafür, die Bundesliga-Vereine an den Kosten für Polizeiaufgebote wenigstens zu beteiligen.




5. Mai 1966 – Dortmund – Liverpool: Da gibt’s doch ein Jubiläum zu feiern, und zwar zünftig!

Ist das eigentlich schon jemandem so richtig aufgefallen? Am 5. Mai 2016 jährt sich der wohl legendärste sportliche Erfolg einer Dortmunder Mannschaft zum 50. Mal.

Na klar. Hunderttausende von Fußball-Statistikern haben solche Daten allemal im Archiv und im Sinn, wenn auch vielleicht nicht aktuell „auf dem Schirm“: Am 5. Mai 1966 holte Borussia Dortmund im Hampden Park zu Glasgow als erstes deutsches Team einen Fußball-Europapokal – mit einem seinerzeit sensationellen 2:1-Sieg gegen den FC Liverpool.

Diesen Aufkleber bekam ich vor wenigen Tagen von einem Trödelhändler auf dem Flohmarkt in Dortmund-Wambel. Er beschwor die Echtheit und Originalität. Ich habe meine Zweifel. Egal. Jedenfalls erinnert der Sticker an 1966. (Foto: Bernd Berke)

Diesen Aufkleber bekam ich vor wenigen Tagen von einem Trödelhändler auf dem Flohmarkt in Dortmund-Wambel geschenkt. Er beschwor die Echtheit und Originalität. Ich habe meine Zweifel. Egal. Jedenfalls erinnert der Sticker an 1966. (Foto: Bernd Berke)

Eine ganze Generation von Fußballfans erinnert sich lebhaft an das Match und an den entscheidenden Treffer, die unglaubliche „Bogenlampe“, die Libuda in der Verlängerung (106. Minute) vollbrachte. Die Betagten erzählen heute noch ihren Kindeskindern davon.

Moment mal. Liverpool? Da klingelt doch neuerdings wieder etwas. Genau. Seit ein paar Monaten ist dort bekanntlich die BVB-Kultfigur Jürgen Klopp Trainer.

Ich weiß ja nicht, was der BVB so vorhat, um das Jubiläum angemessen zu begehen. Tages- oder wochengenau geht’s eh nicht so richtig. Am 7. und 14. Mai stehen Bundesliga-Partien gegen Frankfurt und Köln an. Am 21. Mai steigt in Berlin das DFB-Pokalfinale, womöglich mit Dortmunder Beteiligung. Schon am 10. Juni beginnt die Fußball-EM in Frankreich. Auch dort dürften ein paar Borussen gefragt sein.

Es wird also zeitlich ganz engmaschig, zumal auch die Liverpooler Spieler etliche Partien vor sich haben.

Und doch, und doch: Es ist zumindest eine schöne Vorstellung, zum 50. Jahrestag des Europapokalsiegs die Spielpaarung von 1966 zu wiederholen – mit den besten Teams von Klopp und Tuchel und allem Drum und Dran. Und mit Spielern von „damals“ auf der Ehrentribüne. Vielleicht könnte man’s ja gegen Ende der Sommerpause nachholen? Quasi als Teil der Vorbereitung auf die nächste Saison?

Mit der Organisation solcher Ereignisse von der ersten Tuchfühlung bis zur Realisierung kenne ich mich wahrlich nicht aus. Aber mal im Konjunktiv gesprochen: Wie wär’s denn, wenn nun die richtigen Leute ein paar Gedanken darauf verschwendeten und auf kurzen Dienstwegen kommunizierten? Dann würde die Idee vielleicht schneller reifen, als man jetzt denkt. Das Stadion, sofern man in Dortmund spielte, wäre jedenfalls proppenvoll. Das Fernsehen würde sich auch nicht lange bitten lassen. Sprich: Einnahmen garantiert.

Wie bitte? Diese ganzen Traum- und Planspiele seien überflüssig? Weil es ja eh zur Begegnung BVB – FC Liverpool komme, und zwar am 18. Mai im Baseler St.Jakob-Park beim Wunschfinale der Europa League. Rein theoretisch jedenfalls…

Ja dann. Dann würde ich mal nix gesagt haben wollen. Andernfalls sollten wir auf die Idee aber doch noch zurückkommen. Und zwar ganz fix.

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Hier noch ein rund zehnminütiger Spielausschnitt vom 5.5.1966 (falsche Datierung in der YouTube-Überschrift) mit englischem Kommentar. Der Sprecher über den Dortmunder Siegtreffer: „What a ridiculous goal !“




Eingezäunte Kindheit und Jugend: Durs Grünbeins Erinnerungen „Die Jahre im Zoo“

Der Fischladen. Die immergleichen Spaziergänge mit dem schweigsamen Großvater. Der Bahnhof als Trutzburg und Durchgangsstation in wechselnden Zeiten. Die Elbe. Der Schlachthof. Die Straßenbahn. Der Zoo.

Wenn einer wie der Lyriker Durs Grünbein seine Kindheit und Jugend in Dresden beschreibt, geht es nicht um die üblichen Sehenswürdigkeiten wie Frauenkirche, Zwinger oder Semperoper, sondern um lang nachwirkende Sinn-Bilder, Sehnsüchte und Träume. Im allgegenwärtigen Gefühl der Beengung und des Umzäunt-Seins schwillt die Elbe dann auch schon mal zum Möchtegern-Mississippi an, denn Grünbein schildert in „Die Jahre im Zoo“ Dresden als entlegene und gründlich geschundene Provinzstadt der DDR.

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Der im Titel erwähnte Zoo kommt – eher unauffällig – gelegentlich zwischendurch und wirklich explizit erst gegen Schluss vor, und zwar als Ort der Ambivalenz: Auch die dort lebenden exotischen Tiere wecken, ebenso wie die nordwärts fahrenden Schiffe auf der Elbe, die Sehnsucht nach anderen Gegenden. Die Tiere sind jedoch eingesperrt und verkörpern somit just ebenso die Unfreiheit im damaligen realen Sozialismus.

Germanisten werden künftig manche Vergleiche anstellen: Während der viel beachtete Roman „Der Turm“ von Uwe Tellkamp (Jahrgang 1968) aus dem Geist des Dresdner Ortsteils „Weißer Hirsch“ hervorgegangen ist, bewegte sich Durs Grünbein (Jahrgang 1962) in seinen jungen Jahren durch die Dresdner Gartenstadt Hellerau, die im beginnenden 20. Jahrhundert für hoffnungsvolle Lebensreform-Bewegungen gestanden hatte, welche sich auch baulich fortschrittlichen Ausdruck verschafften.

Welch eine zukunftsgerichtete Zeit, die zahlreiche Künstler und Schriftsteller in die Stadt zog, allen voran Rilke, Gottfried Benn und Franz Kafka, der freilich auch schon die Ängste und Traumata der kommenden Epoche vorausahnte. Zu DDR-Zeiten war Kafka gleichsam nur noch ein Phantom, dessen Schriften äußerst schwer zu bekommen waren, wie denn überhaupt die große kulturelle Vergangenheit längst erstickt war – im Kern bekanntlich schon vor Entstehung der DDR. Grünbein blickt mit Schrecken zurück auf die Zeit, als die NS-Ideologie so lange einsickerte, bis es zu spät war.

Und noch weiter zurück: Schon mit dem Zerfall Europas im Ersten Weltkrieg „waren auch für Hellerau, das kleine Hellas am Hellerand, die leuchtenden Tage gezählt“. Die Stimmung des schmerzlichen Verlustes kulminiert bei Durs Grünbein in der Wiederentdeckung eines offenbar höchst lesenswerten Autors, der zwischen Italien und Hellerau gelebt hat: Paul Adler habe die Reform-Jahre wie kein anderer auf den Begriff gebracht. Besonders seinen 1915 im Hellerauer Verlag Roman mit dem lakonischen Titel „Nämlich“ muss man sich wohl unbedingt vormerken. So zeugt eine Lektüre die nächste. Und so soll es ja auch sein.

Vom heutigen Dresdner Pegida-Unwesen ist in diesem Buch übrigens mit keiner Silbe die Rede, es reicht ja auch nicht bis heute, sondern im Wesentlichen „nur“ bis zum NVA-Militärdienst des Erzählers; eine Zeit, die mit seiner Bewusstwerdung und erwachendem Oppositionsgeist einherging.

Doch auch ohne Pegida-Schelte (die dem erinnernden Duktus des Buches geschadet hätte) fragt man sich bei der Lektüre unwillkürlich, ob sich die Aussichten Dresdens durch fortwährende Unfreiheit nicht für sehr lange Zeit verdustert und vergiftet haben – letztlich auch weit über die „Wende“ von 1989/90 hinaus. Wie überaus betrüblich ist das, gerade angesichts der kosmopolitischen und avantgardistischen Vergangenheit Helleraus.

Von all dem wussten Grünbein und seine Schulfreunde seinerzeit nichts, auch hatten sie als Kinder keinen Blick für ihre geschichtsträchtige architektonische Umgebung, sondern suchten jeden Nachmittag ihre kleinen, altersgemäß anarchistischen Abenteuer.

Sehr fein destilliert Grünbein das Aroma dieser Kindheit, die spürbar auch ein Gutteil jeglicher Lebens-Frühzeit enthalten hat. Wer könnte beispielsweise derlei Sätze, unabhängig vom jeweils herrschenden Politbetrieb, nicht unterschreiben: „Dieses Schulgebäude werde ich nie vergessen. Ich trage es mit mir herum wie den Grundriß zum Eingang in mein persönliches Labyrinth. Wir begruben unsere Vormittage dort und auch manche der Nachmittage in jener kostbaren Zeit, da man sechs Jahre alt war, dann sieben, dann acht und so weiter.“

Und doch konnte es genau diese Kindheit nur in der DDR und im Dresden der 1960er Jahre geben. Auch diese besondere Beimischung wird im Buch deutlich. Ein Exkurs gilt der Sachsen-spezifischen Neigung zu Wildwest- und Indianer-Romantik im Gefolge des berühmten Landsmannes Karl May. Und selbstverständlich findet, wo es doch um (vielfach verschüttetes) kulturelles Erbe der Region geht, auch der Dresdner Erich Kästner gebührend Erwähnung.

Auf den alles überragenden Kafka kommt Grünbein verschiedentlich zurück, die vielleicht spannendste Episode verknüpft Kafkas Dresden-Aufenthalte mit dem „denkenden Pferd von Elberfeld“, der generellen Dezimierung europäischer Pferdebestände und Nietzsches legendärer Pferde-Umarmung in Turin. Solch aus- und abschweifende Passagen gehören zum Allerbesten dieses durchweg lesenswerten Buches.

Durs Grünbein nennt seine Erinnerungen denn auch im Untertitel „Ein Kaleidoskop“. Tatsächlich wechseln nicht nur Phänomene und Betrachtungsweisen – mal nüchtern, mal wehmutsvoll -, sondern auch die Stilformen. Mitunter klingt es nahezu anekdotisch, dann wieder finden sich historisch reflektierende Betrachtungen oder auch lyrische Einschübe, in denen Befunde über die Stadt Dresden nochmals verdichtet und kunstvoll rhythmisiert werden.

Nur hätte man sich die Wiedergabe der Fotografien aus der Sammlung des Autors ein wenig großzügiger gewünscht. Wären es nicht solche „Briefmarken“, hätten sie eigene Wirkung entfalten können.

Durs Grünbein: „Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop“. Suhrkamp Verlag, 400 Seiten. 24,95 Euro.




Rätsel des Alltags (6): Katzenumriss

Die Reihe der rätselhaften Phänomene reißt nicht ab. Diesmal führt sie dazu, dass auch hier – wie so oft in „sozialen Netzwerken“ – so genannter Katzen-Content auftaucht. Aber wie geheimnisvoll!

Die Sache ist die: Am denkbar profanen, freilich durch Helge Schneider kulturell erhobenen, ja geradewegs geadelten Ort, einem Katzenklo also, hat sich im Katzenstreu ein deutlicher Katzenumriss abgezeichnet. Mehr Katze geht nicht. *

Katzenbild macht die Katze froh. (Foto: BB)

Katzenbild macht die Katze froh. (Foto: BB)

Unverkennbar die Ohren und der etwas übergewichtige Korpus. Wenn das keine Katze ist, fress‘ ich Whiskas.

Nun aber zum Eigentlichen, Hintergründigen, das sich unsere Schulweisheit nicht träumen lässt: Es schwören alle menschlichen Wesen, die Zugang hatten, sie hätten einen solchen Umriss nie und nimmer absichtlich gezeichnet. Aber wie kann einem so etwas zufällig unterlaufen, ohne dass man es merkt? Ist es denn die Möglichkeit?

Nach etwas Gründeln und Grübeln beschleicht einen wie auf Katzenpfoten die Frage: Sollte etwa unser Kater Freddy beim Sch… eine Art Selbstbildnis verfertigt haben? Daher also das scharrende Geräusch? Ist dieser kreative Kater seiner eigenen Gestalt derart bewusst, dass…?

Hier erschaudern wir und schweigen fürderhin. Denn hier rühren wir offenbar an die tiefsten Mysterien.

Denkt mal drüber nach. Gerade am Aschermittwoch.

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* Nur gut, dass dies kein Hörfunkbeitrag ist, sonst würde noch jemand verstehen: „Meerkatze geht nicht“, hehe.

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Die bisherigen Rätsel des Alltags: Stöpsel-Spuk (1), Brezelschwund (2), Problemkasse (3), Spinnenkleber (4) und Das Ungeheuer von Topf Ness (5)




RuhrTriennale-Chef Johan Simons soll ab 2017 das Bochumer Schauspielhaus leiten

Dieser überraschenden Personalie dürfte nicht mehr allzu viel im Wege stehen: Wie WAZ und WDR übereinstimmend berichten, soll der renommierte holländische Theatermacher Johan Simons ab 2017 Intendant des Bochumer Schauspielhauses werden.

Am Freitag dieser Woche (5. Februar) muss der Verwaltungsrat des Schauspielhauses noch zustimmen. Das Plazet gilt jedoch als sicher. Damit scheint eine längere Hängepartie beendet zu sein, in der sich die Stadt mit der Suche nach einem neuen Theaterchef recht schwer getan hat. Zwischenzeitlich war dabei auch Kritik am Bochumer Kulturdezernenten Michael Townsend geäußert worden.

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons (Foto: Stephan Glagla)

Wird vermutlich Chef des Bochumer Schauspielhauses: Triennale-Intendant Johan Simons. (Foto: Stephan Glagla/RuhrTriennale)

Johan Simons könnte damit jedenfalls ganz in der Nähe seiner jetzigen Wirkungsstätte(n) bleiben. Just bis 2017 ist er bekanntlich Intendant der RuhrTriennale. Er verfügt somit nicht nur über überregionale, sondern auch über regionale Netzwerke. Beste Voraussetzungen also.

Die Nachricht von Simons’ höchstwahrscheinlicher Berufung ist denn auch eine erfreuliche – nicht nur für Bochum, sondern fürs Revier insgesamt. Endlich bekommt das ehedem weitaus wichtigste Schauspiel der Region, das in goldenen Zeiten u.a. von Peter Zadek und Claus Peymann geleitet wurde, wieder einen Chef mit bundesweiter, ja internationaler Ausstrahlung. Bei allem Respekt vor seiner Leistung: Anselm Weber, der 2010 von Essen nach Bochum geholt wurde und 2017 nach Frankfurt wechselt, hat das Haus nicht in die allererste Reihe führen können.

Das Bochumer Schauspielhaus (Foto: Bernd Berke)

Das Bochumer Schauspielhaus (Foto: Bernd Berke)

Der vielfach preisgekrönte Simons (69), der seine Ursprünge im freien Kollektivtheater hatte, hat an etlichen deutschen Bühnen inszeniert, außerdem u. a. in Zürich und beim Festival in Avignon. Von 2010 bis 2015 war er Intendant der Münchner Kammerspiele.

Schon lange vor seiner Triennale-Intendanz hat Simons ab 2002 Regiearbeiten bei diesem Ruhrgebiets-Festival gezeigt, so auch seine geradezu legendär gewordene Produktion „Sentimenti“ (2003), von der noch heute viele Theaterfreunde mit freudig funkelnden Augen sprechen. Simons vermag es, neben allen anderen Fähigkeiten, die Magie von Spielstätten zu wecken und auch musikalische Mittel höchst wirksam einzusetzen. Man darf davon ausgehen, dass Bochums Schauspiel unter seiner Leitung die Kategorie „routiniertes Stadttheater“ bei weitem überschreiten wird.

Simons, der im kommenden September 70 Jahre alt wird, ist zwar nicht mehr der Allerjüngste, doch bringt dieser erfahrene Mann sicherlich die Energie und Leidenschaft mit, um das Bochumer Theater zu einer mindestens bundesweit bedeutsamen Kulturstätte zu machen. Vielleicht erscheint dann ja auch wieder mal öfter der eine oder andere Rezensent aus Berlin, München, Hamburg oder Frankfurt, um davon zu künden.




„Das Lachen der Täter“: Klaus Theweleits Gedanken zur monströsen Mordlust

Wir erinnern uns schemenhaft: Damals, ab 1977, haben praktisch alle links bewegten Leute Klaus Theweleits „Männerphantasien“ gelesen oder wenigstens darin geblättert und sich die Köpfe heiß geredet.

Da ging es um soldatisch zugerichtete Männerkörper und ihre Panzerungen, um ihre psychophysische Angst vor Fragmentierung und Auflösung, die sie dann als entgrenzte Gewalt nach außen kehrten – nicht nur in beiden Weltkriegen. So ungefähr. In zwei Bänden mit 1174 Druckseiten war das natürlich alles ungleich differenzierter und vielfältiger ausgeführt.

Klaus Theweleit bei seiner Lesung in Dortmund. (Foto: BB)

Klaus Theweleit bei seiner Lesung in Dortmund. (Foto: BB)

Klaus Theweleit (73) ist sich offenkundig treu geblieben. Noch immer wandelt er konsequent auf den Spuren seines einstigen Kultbuches, dessen Grundlinien er mit neuen Akzenten bis in unsere Gegenwart fortführt. Jetzt war er zu Gast in der „Blackbox“, einer an- bis aufregenden Lese- und Gesprächsreihe im Dortmunder Schauspielstudio, wo er seinen im März 2015 erschienenen Band „Das Lachen der Täter“ vorstellte, der bis zum Attentat auf das Pariser Satiremagazin „Charlie Hebdo“ (Januar 2015) reicht. Theweleit wirkte dabei nicht so sehr wie ein funkelnder, sondern eher wie ein bedächtiger, bedachtsamer Intellektueller.

Universelle Gültigkeit

Ein Ausgangspunkt des Buches ist das Gelächter des Anders Breivik, der 2011 in Oslo und vor allem auf der norwegischen Insel Utoya 77 Menschen erschoss und dabei immer wieder lauthals lachte. Ein wahnwitziger Einzelfall? Gewiss nicht. Denn Theweleit zeigt, dass das Phänomen des lachenden (Massen)-Mörders geradezu universell gilt. In allen Weltgegenden und vielen historischen Zusammenhängen lassen sich solche monströsen Ausbrüche verfolgen.

Klaus Theweleit hat denn auch zahllose abgründige Vorfälle gesammelt, bei denen einem der Atem stockt. Wem ist schon gegenwärtig, dass in den 60er Jahren in Indonesien Hunderttausende, ja Millionen bestialisch als „Kommunisten“ ermordet wurden – mit staatlicher Lizenz und Billigung, vielfach ausgeführt von „ganz normalen“ Zivilisten. Später haben sie solche straffreien Massaker lachend gefeiert.

Wähnten sich SS-Schergen unter ihresgleichen, so haben auch sie einander lachend mit ihren Untaten geprahlt. Ganz ähnlich im mörderischen Konflikt zwischen Hutu und Tutsi in Ruanda, wo der massenhafte Mord an der Tutsi-Minderheit zuweilen regelrecht als Unterhaltungsprogramm der totalen Enthemmung inszeniert wurde. Und so weiter, kreuz und quer über den Globus, vor- und rückwärts durch die Zeiten.

„Volksfeste des Tötens“

Theweleit schildert natürlich nicht nur die bloßen Phänomene, sondern sucht eine Theorie zu entwickeln, die in Dortmund freilich nur in Stichworten anklingen konnte: „Volksfeste des Tötens“, völlige Absorbierung durch die eigene Tat, Berufung auf ein „höheres Recht“, Entstehung eines schier unverletzlichen kollektiven „Überkörpers“, Durchbruch zu einer „neuen Körperlichkeit“, Grenzüberschreitung und gesteigertes Leben durch den Tötungsakt…

Wer es genauer wissen will, lese am besten im Buch nach. Wobei Theweleit, zumal in der von Alexander Kerlin (Dortmunder Schauspiel-Dramaturg) moderierten Fragerunde mit Publikum, auch schon mal punktuelles Nichtwissen eingesteht. Nicht alle Zusammenhänge sind wirklich zweifelsfrei geklärt; sofern das überhaupt menschenmöglich ist.

Erektion im Blutrausch

Jedenfalls stellt Theweleit auch äußerst schmerzliche Fragen, wie beispielsweise die, warum Täter bei Vergewaltigungen, die mit grausamsten Verstümmelungen einhergehen, überhaupt eine Erektion haben. Nicht Sexualität, sondern der Blutrausch unumschränkter Machtausübung scheint in solchen Extremfällen den tödlichen Trieb zu steigern. Eine wahrlich finstere Erkenntnis.

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Nach all den schrecklichen Beispielen hätte man meinen können, Theweleit sehe keinerlei Ausweg aus der ubiquitären Gewalt. Doch gegen Schluss warf er doch noch einen Hoffnungsanker aus. Er hält dafür, dass wir Heutigen und Hiesigen im Großen und Ganzen doch etwas beherrschter und zivilisierter seien als frühere Generationen – nicht zuletzt, weil Kleinkinder viel seltener durch Prügelstrafen fürs Leben verängstigt werden.

Auch beklagt Theweleit zwar das lachlustige „Happy Slapping“ (genüsslich mit Handy gefilmte Schüler-Gewalt), glaubt aber, dass etwa Schulhofschlägereien in den 50er und 60er Jahren viel härter und häufiger gewesen seien als jetzt. Da hört man schon die Skeptiker raunen: Alles nur Firnis, im Zweifelsfalle nicht haltbar…

Wie bitte? Ob Theweleit auch die unvermeidliche Frage nach Silvester in Köln gestellt worden sei? Aber ja. Doch da wich er wohlweislich aus und ließ lediglich vernehmen, dort habe sich ein ungutes Machtvakuum aufgetan.

Klaus Theweleit: „Das Lachen der Täter. Breivik u.a. – Psychogramm der Tötungslust“. Residenz Verlag. 248 Seiten, 22,90 Euro.




Klüngel um Kunst: Wenn die Pressesprecherin den Artikel gleich selbst schreibt…

Seit einiger Zeit steht fest, dass das einstige Dortmunder Museum am Ostwall, dem schon der Abriss drohte, zum Baukunstarchiv umgewidmet wird. Ein durchaus erfreulicher Vorgang. Hier aber geht’s um einen weniger erfreulichen Randaspekt.

Blick aufs frühere Museum am Ostwall, das künftig zum Baukunstarchiv wird. (Foto vom Oktober 2013: Bernd Berke)

Blick aufs frühere Museum am Ostwall, das künftig zum Baukunstarchiv wird. (Foto vom Oktober 2013: Bernd Berke)

Gelegentlich gibt es am Ostwall jetzt schon kurze Ausstellungen, ausgerichtet vom Bund Deutscher Architekten (BDA Dortmund Hamm Unna). Und damit sind wir beim Thema: Jüngst erreichte uns die Einladung zur Pressevorbesichtigung der Schau „Thomas Kesseler, Skulptur – Farbe – Raum“ (16. Jan. bis 14. Feb.). Kein Wort zur Qualität der Ausstellung, ich habe sie bislang nicht gesehen. Wohl aber ein paar Worte zu einem Vorgang, der mit medialen Gepflogenheiten bricht.

Besagte Einladung ist unterzeichnet von einer Kollegin, die ich aus früheren Zusammenhängen kenne. Den Namen wollen wir hier gnädig verschweigen, es geht – jawohl – ums Prinzip. Diese Kollegin also lud im Namen der BDA-Geschäftsstelle zum besagten Pressetermin ein. So weit, so gut. Sie agiert also, wie man so sagt, „auf der anderen Seite des Schreibtischs“, nicht bei den Berichtenden. Dachte man zumindest.

Nun aber schlage man heute (15. Januar) den WAZ-Kulturteil auf. Der großflächig überdimensionierte Aufmacher (!) im Mantelteil handelt just von der Kesseler-Ausstellung. Und jetzt kommt’s: Als Autorin firmiert eben jene Kollegin, die für den Veranstalter zur Pressekonferenz eingeladen hat. Mag ja sein, dass die WAZ-Kulturredaktion den Zusammenhang nicht glasklar vor Augen hatte und halt aufs Text-Angebot eingegangen ist.

Das Verfahren scheint jedenfalls nicht redlich – und schon gar nicht transparent. Klingt eher nach Klüngel. Wo kämen wir hin, wenn Pressesprecher(innen) oder sonstige Beauftragte der Veranstalter über die von ihnen vertretenen Belange in der Presse selbst berichteten? Dann gäbe es nur noch unkritischen Jubel. Sollen etwa Partei- oder Unternehmenssprecher Artikel über die weisen Entscheidungen ihrer großartigen Bosse verfassen? Natürlich nicht. Bei einer Ausstellung mag die Verquickung der Interessen noch vergleichsweise harmlos anmuten. Doch auch hierbei werden die Leser getäuscht.




Über alle Gegensätze hinweg – Andreas Maiers Huldigung „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“

Da schreibt ein viel beachteter Belletrist im hochrenommierten Suhrkamp-Verlag ein ganzes Buch über – Udo Jürgens. Ja, ist der Schlagermann denn überhaupt literarisch themenwürdig?

Das fragt sich Andreas Maier (zuletzt: „Die Straße“, „Der Ort“) auch selbst unentwegt, der gelinde Zweifel ist konstitutiver Bestandteil des Buches „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“. Doch zugleich erfahren wir von einer Art – nun, nennen wir es ruhig beherzt „Erweckung“, die den am 21. Dezember 2014 gestorbenen Musiker mehr und mehr als quasi überzeitliches, dem Alltag enthobenes Phänomen wahrnimmt, in dem gleichsam alle Gegensätze aufgehoben sind… Nanu?

42519Als Kind hatte Andreas Maier noch Jürgens’ Erfolgslied „Siebzehn Jahr, blondes Haar“ vernommen. Dann setzte eine langjährige Pause ein, in der derlei Klänge nur noch peinlich waren. Die meisten von uns dürften wohl in dieser Phase verharren, wenn nicht sich darin verschanzen.

Bei Andreas Maier setzt jedoch irgendwann eine zunächst zögerliche Rückkehr ein, deren Fortgang man beinahe als reuiges Konvertitentum bezeichnen könnte. Maier hebt freilich nicht völlig ab, sondern verankert diese Bewegung in seiner heimatlichen Region, bezieht sie innig auf die Stimmungslage in gewissen Frankfurter Äppelwoi-Wirtschaften, wo Jürgens’ allzeit radikale Emotion im rechten Moment auf ein – alkoholisch befeuertes – kollektives großes „Ja“ treffen kann.

Und so singt denn auch die gesamte Kneipe hingebungsvoll seine Lieder, als sich die Nachricht von Jürgens’ Tod verbreitet. Welch’ eine gefüllte Gegenwart, wie sie wohl kein zweiter Künstler dieses Genres hervorrufen könnte. Ja, man muss sagen: Diese Stunden hätte man wohl auch gern miterlebt. Wer sonst stiftet schon derlei Gemeinschaft?

Also gut. Werden wir erst mal wieder nüchtern.

Maier schickt sich an, nicht nur etliche populäre Mythen seiner jüngeren Jahre (z. B. zwischen Asterix, Beatles, Perry Rhodan und Raumschiff Enterprise) anklingen zu lassen, er arbeitet auch heraus, wie Udo Jürgens hinter und neben all diesen Hervorbringungen immer und immer da gewesen ist. Einzelne Songs werden deutend herauspräpariert, teilweise mikrostrukturell bis kurz vor die Parodiegrenze, also Zeile für Zeile (besonders „Merci Chérie“), bis sich tatsächlich so etwas wie ein beständiges „Narrativ“ des Udo Jürgens ergibt.

Obwohl er so angetan ist, muss Maier doch immer wieder innehalten, etwa so: „Aber wodurch wurde er wichtig? Es war ja nicht mein Ziel und Vorsatz, diesen Chansonnier und, in seinen kommerziellsten Augenblicken, Gassenhauser-Wodka-Trallala-Unterhalter Einzug in mein Leben halten zu lassen.“

Der Autor kommt zu dem Schluss, dass Jürgens wie kaum ein anderer geeignet sei, eine bestimmte Art des Weltzugangs zu eröffnen, etwas ganz und gar Offenes und Allgemeines zu verkörpern – jenseits aller sonstigen Zersplitterung. Nach und nach sucht Maier diesen Erzählzusammenhang zu (re)konstruieren.

Verblüfft stellt er dabei fest, dass diejenigen, die Udo-Jürgens-Konzerte besucht haben, im Umkreis der Hallen gar nicht identifizierbar waren – anders als praktisch alle anderen Fans: „Hier aber war nichts charakteristisch, abgesehen von einem gewissen Glanz, der auf allen Gesichtern lag.“ Vielleicht lag’s auch an der allgemeinen Vorfreude, habe doch nach solchen Konzerten die „Koitalquote“ enorm hoch gelegen, wie Maier mutmaßt. Lassen wir die These mal so stehen. Auch eine Formel wie die vom Klassizismus des Nichtssagens setzt ja etwas in Gang. Und dass niemand die Musik des Udo Jürgens adäquat nachspielen kann, hat doch wohl gleichfalls etwas zu bedeuten.

Jedenfalls sind wir uns nun in Maiers Gefolge zum Hymnus vorgedrungen. Diese Musik sei nicht cool oder hip, sie bewege sich weit außerhalb solcher bequemen Geschmacksurteile. Bei einem Jürgens-Auftritt fühlt sich Maier nach jedem Lied, als habe er „fünfmal hintereinander Doktor Schiwago geschaut“. Ganz großes Kino der Emotionen also. Erschöpfend in jedem Sinne.

Nun. Man kann in derlei Gefilde nicht so ohne weiteres folgen. Man erlebt, wie da einer „in Zungen“ redet. Unter der Hand ist dies denn wohl ein selbsterfüllendes Buch geworden. Das Projekt war nun einmal eingestielt, die Verlagsmaschinerie angeworfen, also musste eine inhaltliche Entsprechung her. Dennoch ist es mehr als nur das.

Dass dieser Text unsere Geschmacksbildung (nicht nur) auf dem Pop-Sektor hinterrücks gründlich infrage stellt, ist nämlich ebenso wahr. Rechthaberisch oder auch nur einfordernd ist Andreas Maier bei all dem an keiner Stelle. Soll man deshalb sagen, dies sei ein angenehmes Buch? Oder ist es nicht vielmehr auf einschmeichelnde Weise unbequem?

Andreas Maier: „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“. Suhrkamp Verlag. 218 Seiten. 17,95 €.




Wenn’s beim Lesen nicht mehr raschelt – meine Erfahrungen mit dem E-Paper

Glaube niemand, ich hätte das alles einfach so gemacht. Nein, ich habe mich rundum abgesichert. Bevor ich mein Print-Abo einer überregionalen Tageszeitung in ein tägliches E-Paper umgewandelt habe, habe ich mir jederzeitige Rückkehrmöglichkeit zusagen lassen. Wenn ich wollte, könnte ich schon morgen wieder Druckerschwärze an den Fingern haben…

Außerdem liegen nach wie vor zwei andere Blätter morgens papieren auf dem Tisch, so dass der Entzug ohnehin nicht total ist.

Nun habe ich schon eine etwas längere Geschichte mit dem bedruckten Zeitungspapier. In meinen journalistischen Berufsanfängen habe ich noch Mettage und Bleisatz kennen gelernt, habe noch etliche Jahre auf herkömmlichen Schreibmaschinen gehackt, bevor dann nach und nach all die technischen Neuerungen Einzug hielten. Anfangs kamen einem selbst Faxe vor, als stammten sie von Zauberhand. Dann der blitzsaubere Lichtsatz mit allerliebst zurechtgeschnittenen Textfähnchen – und, und, und. Bis man dann schließlich im Internet wühlte, wie es alle anderen Berufsgruppen auch taten.

Die FAZ-Titelseite vom 6. Januar 2016

Die FAZ-Titelseite vom 6. Januar 2016

Als Kunde desgleichen. Eine lange Geschichte. Kein Frühstück war denkbar ohne Kaffeeduft und Blätterrauschen. Vor der Lektüre habe ich oft die Zeitungen genommen und hingebungsvoll am Seitenschnitt gerochen – mhhhhh. Erst dann ging’s genüsslich an die Inhalte. Wer das nicht kennt, hat was verpennt. Und so ganz möchte man’s auch heute noch nicht missen. Gibt es derlei Nostalgie nicht schon als App?

Jetzt aber doch „Neuland“ betreten. Jüngere Leute werden gar nicht wissen, was ich meine. Andere schon.

Ein kardinaler Vorteil: Bereits abends um 20 Uhr kann man die Ausgabe des nächsten Tages lesen, damit schließt man für Stunden beinahe zum Netztempo auf, allerdings nicht mit wuseligen Web-Gehechel, sondern mit einer gediegenen, durchredigierten Ausgabe, erstellt von einem vertrauten Team, mit Schwerpunkten und Gewichtungen, wie man es seit jeher schätzen gelernt hat; selbst dann, wenn einem diese Gewichtungen mitunter gewagt oder gar falsch erscheinen.

Und was soll ich sagen. Zumindest in den ersten Monaten nutze ich die Zeitung intensiver als vorher, lese jeden Tag mehr Beiträge, schaue auch schon mal in Ressorts und Rubriken hinein, die ich vorher mit einem Schwung beiseite gelegt habe. Beim E-Paper aber geht ja ein Zeitungsbuch quasi bruchlos ins andere über. Man empfindet die Zeitung eher als Einheit.

Nanu? So still hier?

Gewiss. Das Rascheln fehlt. Natürlich ist das ein sinnlicher Aspekt des Lesens. Und wahrscheinlich tut es den Augen auf Dauer wohler, wenn sie über leselampensanft illuminiertes Papier gleiten, als wenn sie digital angeleuchtet werden. Ich weiß nicht, ob ich da Langzeitwirkungen zu spüren bekommen werde. Fragen Sie Ihren Arzt… Mir ist übrigens nicht klar, ob ich E-Paper-Inhalte ebenso gut im Gedächtnis behalte wie althergebrachte Lektüre. Aber auch dafür lasse ich mir den Kopf jetzt nicht durchleuchten.

Es gibt mehrere Zugriffsmöglichkeiten. Am komfortabelsten über den PC/Mac, wo man sich – neben der kompletten Seitenansicht – auch jeden einzelnen Artikel in typographischer Original-Anmutung aufrufen kann. Sodann lässt sich die Lektüre herabstufen auf Tablet-Qualität (auch noch ganz gut erträglich) oder auf Smartphone-Quälerei, wovon denn doch abzuraten ist; es sei denn, man wollte nur ganz kurz ein Resultat nachschlagen.

Veranschlagt man nun noch die diversen Such- und Sortier-Optionen, wie sie bei Print eben nicht zur Verfügung stehen, sowie den etwas günstigeren Monatspreis, so spricht doch einiges für ein E-Paper. Überdies kann man sich ein besseres Öko-Gewissen machen, entfallen doch Abholzungen, Transporte sonder Zahl und schließlich die Entsorgung der Papiermüllberge. Stromverbrauch? Hat man bei der Produktion von Print-Produkten auch. Und nicht zu knapp. (Psssst: Bei Bedarf habe ich mir auch schon mal einzelne E-Paper-Texte ausgedruckt).

Inzwischen hat sich die 20-Uhr-Marke (Download der nächsten Ausgabe und danach auch Offline-Lektüre möglich) wie von selbst in die Tagesstruktur eingefügt; fast wie ganz früher mal der Beginn der „Tagesschau“. Doch Vorsicht, Vorsicht! Hier wird anderes Gelände berührt. Denn ehedem waren die Abendstunden den Büchern vorbehalten – und nicht mehr den Zeitungen. Hier muss ein Riegel vorgeschoben oder sogar ein Bann gesprochen werden.

Ach, übrigens: Kindle und dergleichen Gerätschaften kommen mir nicht ins Haus. Literatur bleibt auf Papier. Und falle der Umzug mit Büchern noch so schwer.




Lachen über „kuriose Kundschaft“

Gewiss: Meine grippale Fieberkurve steigt kontinuierlich. Doch noch schreibe ich dies bei klarem Verstand. Zur Sache:

Über Amazon kann man sagen, was man will. Beispielsweise, dass der Riesenkonzern seine Mitarbeiter nicht immer gut behandelt, um es mal vornehm auszudrücken. Als Versandkunde hingegen kann man sich kaum beklagen. Da orientiert sich die Weltfirma am Servicegedanken, wie nur je im US-amerikanischen Handelsgeiste üblich.

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Wie ich darauf komme? Was hinter den Kulissen geschieht, weiß ich nicht. Aber nie und nimmer würde sich Amazon öffentlich über seine Klientel lustig machen. Das überlassen sie beispielsweise einer Klamotten-Klitsche wie www.WeAre.de, die ihren neuen (gedruckten) Katalog damit einleitet, dass sie aus Mails und Briefen an den „Kundenservice“ (och!) zitert, in denen sprachlich und/oder semantisch etwas schief gegangen ist. Ha-ha-ha, wie überaus lustig.

Das Ganze läuft unter der Zeile „Auszüge aus dem WeAre.de Kuriosenordner“.

Also, Folks. Entweder „aus dem kuriosen Ordner“ oder „aus dem Kuriositätenordner“. Die selbstgefälligen Schlaumeier, die offenbar selbst linguistische Dilettanten sind, zitieren anschließend aus Zuschriften einiger Leute, die vielleicht nicht die ganz großen Bildungschancen hatten oder sich als Migranten vielleicht sehr um die deutsche Sprache bemühen, z. B. so: „Ich wollte fragen ob meine Bestellung ist schon im weg“. Will man einen solch unschuldigen Satz, bei dem man doch wohl weiß, was gemeint ist, dermaßen bloßstellen, muss man schon ziemlich zynisch sein.

Ein paar verschrobene Beschwerden über geliefertes Schuhwerk werden sodann ebenso weidlich ausgekostet wie kleine bis mittlere Sprachschnitzer oder Ungeschicklichkeiten im Umgang. Hie und da scheint es auch Menschen zu geben, die den Versand bei Retouren und dergleichen übers Ohr hauen wollen. Doch selbst solche Befunde sollte man nicht offen zu Markte tragen; erst recht nicht in einem Höker-Verzeichnis, das als schickes Trendmagazin aufgemacht ist.

Das Fazit scheint zu lauten: Seht her, auch so beschränkte und impertinente Leute kaufen bei uns. Die so hämisch angesprochenen (klügeren?) Kunden sollen wohl gemeinsam mit der Firma lachen. Doch worüber eigentlich?

Ganz früher hätten sie uns ermahnt: Das gehört sich einfach nicht. Manchmal, heute, schätze ich solche altmodischen Sätze.




Die Revierpassagen wünschen frohe Weihnachten und ein ersprießliches neues Jahr

Liebe Leserinnen und Leser der Revierpassagen, bleibt und bleiben Sie uns auch im nächsten Jahr gewogen. Ihnen und Euch allen schöne Feiertage!

© Stella Berke (6)

© Stella Berke (6)

© Stella Berke (6)

© Stella Berke (6)




Rückkauf für Dortmund – ein lange verschollenes Gemälde und viele Geschichten

„Wir sind jetzt heiß geworden“, sagt Klaus Fehlemann mit leicht ironischem Beiklang. Wenn ein distinguierter Mensch wie Dortmunds ehemaliger Stadtdirektor sich so kräftig ausdrückt, dann muss wohl etwas besonders Erfreuliches, ja Herzwärmendes geschehen sein; etwas, das möglichst eine Fortsetzung finden sollte…

Heinrich Nauens Bild "Sonnenblumen mit welker Kresse" (1924) enthüllt: Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann mit der Provenienzforscherin Dr. Ulrike Gärtner und Klaus Fehlemann (re.), Vorsitzender der Freunde des Museums Ostwall. (Foto: Bernd Berke)

Heinrich Nauens Bild „Sonnenblumen mit welker Kresse“ (um 1924), enthüllt: Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann mit der Provenienzforscherin Dr. Ulrike Gärtner und Klaus Fehlemann (re.), dem Vorsitzenden der Freunde des Museums Ostwall. (Foto: Bernd Berke)

Fehlemann ist heute Vorsitzender des Vereins Freunde des Museums Ostwall, welches sich bekanntlich im Dortmunder „U“ befindet. Dem Freundeskreis ist es jetzt gelungen, ein lange verschollenes, doch staunenswert gut erhaltenes Bild für Dortmund zurückzukaufen: Bis 1937 hatte Heinrich Nauens Gemälde „Sonnenblumen mit welker Kresse“ (entstanden um 1924) zur Sammlung des damaligen Dortmunder Museums für Kunst und Kulturgeschichte am Ostwall gehört.

Unverhofft wieder auf dem Markt

Doch im August 1937 wurde das Stillleben des rheinischen Expressionisten Nauen (1880-1940) – wie so viele andere Kunstwerke in ganz Deutschland – von den Nazis im Rahmen einer schändlichen Maßnahme als „Entartete Kunst“ beschlagnahmt und aus dem Museum entfernt. Nach einem erfolglosen Verkaufsversuch im Auftrag des NS-Propagandaministeriums verlor sich die Spur des Bildes für viele Jahrzehnte. Irgendwann muss es in niederrheinischen Privatbesitz gelangt sein.

Just im November 2015, also etwas über 78 Jahre nach der Beschlagnahme, tauchte das Werk unverhofft wieder auf dem Kunstmarkt auf. Der wertvolle Hinweis aufs Angebot einer Düsseldorfer Kunsthandlung kam von einem aufmerksamen Nutzer der Internet-Seite www.alfredflechtheim.com.

Zweifelsfrei echt

Dann ging alles sehr rasch: Sehr zügig konnte die erfahrene Dortmunder Provenienzforscherin Dr. Ulrike Gärtner das Bild zweifelsfrei identifizieren und zuordnen. Eine Schwarzweißfoto von 1926 wies die Richtung, auf der Gemälde-Rückseite war die passende, allzeit unveränderte Inventarnummer zu finden, auch die Signatur und weitere Merkmale stimmten.

Flugs handelten daraufhin auch die Freunde des Museums, die das – auch von anderen Interessenten ins Auge gefasste – Bild binnen 98 Stunden für eine Summe erwarben, über die Stillschweigen vereinbart wurde. Sie liegt „im unteren fünfstelligen Bereich“.

Heinrich Nauen: "Sonnenblumen mit welker Kresse", um 1924 (Museum Ostwall/Foto: Sascha Fuis Photographie, Köln)

Heinrich Nauen: „Sonnenblumen mit welker Kresse“, um 1924 (Museum Ostwall/Foto: Sascha Fuis Photographie, Köln)

Man mag unter ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten darüber sinnieren, warum für die Stadt ein Werk zurückgekauft werden muss, das ihr doch eigentlich gehört hat. In der Praxis geht es wohl nicht anders. Apropos Legalität: Die NS-Machthaber hatten die Beschlagnahmung der als „entartet“ verfemten Kunstwerke rein formaljuristisch durch ein Gesetz vorbereitet. Kaum zu glauben, was im Namen des (gebeugten) Rechts möglich war…

Alfred Flechtheims Verbindung zur Stadt

An das Bild knüpfen sich noch weitere Geschichten, beispielsweise diese: Es kam durch den damals wohl wichtigsten deutschen Kunsthändler nach Dortmund. Alfred Flechtheim betrieb avancierte Galerien in Düsseldorf und Berlin. Er war mit dem damaligen Dortmunder Museumsdirektor Prof. Braun befreundet, dem er auch manche Schenkung zukommen ließ.

Was wahrlich nicht allgemein bekannt ist: Sowohl Flechtheims Mutter als auch seine Frau stammten aus Dortmund. Da kann man geradezu in lokalen Zusammenhängen schwelgen: Ursprünglich Getreidehändler, hatte Flechtheim häufig an der Dortmunder Getreidebörse zu tun, der größten des Ruhrgebiets. Hier lernte er das Regionalgericht Pfefferpotthast schätzen. Auch zählte der Förderer des zeitweise weltmeisterlichen Boxers Max Schmeling Sportereignisse in der Dortmunder Westfalenhalle zu seinen liebsten Freizeitvergnügen.

Weitere Werke auf der Verlustliste

Zurück zu Heinrich Nauens farbkräftigem Bild, das sich bestens zum expressionistischen Schwerpunkt des Museums Ostwall und speziell zu vier bereits vorhandenen Nauen-Zeichnungen fügt. Dortmunds Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann sowie Regina Selter (kommissarische Leiterin) und Dr. Nicole Grothe (Sammlungsleiterin) vom Ostwall-Museum zeigten sich denn auch hoch erfreut übers vorweihnachtliche Bildergeschenk, das heute mit gemessener Feierlichkeit in der Restaurierungswerkstatt des Dortmunder „U“ enthüllt wurde. Medienleute mögen solche Momente. Irgendwie.

Thema erschöpft? Nein, immer noch nicht ganz: Schon lange zuvor sind drei Gemälde von Christian Rohlfs in die Stadt zurückgekehrt. Doch auf der Liste der 1937 beschlagnahmten und seither verschollenen Kunstwerke aus Dortmunder Besitz stehen noch weitere 7 Gemälde, 81 Grafiken, 25 Grafikmappen und eine Skulptur. Besagte Provenienzforscherin Dr. Ulrike Gärtner spürt übrigens nicht nur detektivisch den verschlungenen Wegen dieser Bilder nach, sondern versucht auch zu ermitteln, welche „Raubkunst“ die Stadt ihrerseits eventuell an rechtmäßige Besitzer bzw. deren Erben zurückgeben muss. Ein weites Feld.

So. Nun aber genug der vielfältigen Verzweigungen. Jetzt wollen Sie das Werk von Heinrich Nauen wahrscheinlich bald in Dortmund besichtigen, nicht wahr? Schade, aber das wird nicht gehen. Zuerst muss es restauriert und neu gerahmt werden. Es soll, so die bisherigen Pläne, erst nach der nächsten Umsortierung der Schausammlung zu sehen sein, so ungefähr im Frühjahr 2017. Vielleicht geht’s ja doch ein bisschen früher?

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Ein Hinweis zur genaueren (vergrößerten) Betrachtung des Gemälde-Fotos findet sich hier.




3000 Liebesschlösser bitte im Stadion abholen – In Oberhausen dürften viele Tränen fließen…

Über die Emschergenossenschaft und den Regionalverband Ruhr erreicht uns eine bemerkenswerte Nachricht: Für die illuminierte Oberhausener Emscherkunst-Brücke („Sinky Springs to Fame“) soll ein neues Brückengeländer für rund 100.000 Euro errichtet werden.

Das allein wäre ziemlich normal. Aber die Begründung lässt aufmerken. Anscheinend tragen die Liebenden und wohl vor allem die Entliebten mit den mutmaßlich etwas schlichteren Gemütern Schuld am Erneuerungsbedarf. Sie haben am bisherigen Brückengeländer mehr als 3000 (!) so genannte „Liebesschlösser“ angebracht. Leute mit Geschmack sehen diese Dinger ohnehin stets mit einer Mischung aus Seufzen und Stöhnen. Oder so.

Vergleichsweise harmlos: "Liebesschlösser" an einer Brücke im Dortmunder Rombergpark. (Foto: Bernd Berke)

Vergleichsweise harmlos: „Liebesschlösser“ an einer Brücke im Dortmunder Rombergpark. (Foto: Bernd Berke)

Doch schlimmer noch: In Oberhausen ging es offenbar ziemlich rabiat zu. Vielleicht im Suff und Zorn über zerbrochene „Beziehungen“ wurden zahlreiche Schlösser gewaltsam entfernt. Die dadurch entstandenen Schäden am Geländer sollen, so heißt es, schon eine Gefahr für die Sicherheit gewesen sein. Wobei die Schwelle des Unsicherheitsgefühls in Deutschland ja weltweit die niedrigste sein dürfte.

Jedenfalls zieht man jetzt in Oberhausen zwei Konsequenzen: Erstens erneuert man das Geländer und zweitens ist es künftig verboten, dort Liebesschlösser anzubringen. Vor allem Punkt zwo klingt vernünftig, doch fragt man sich, wie das Verbot überwacht und durchgesetzt werden soll. Kameras? Wachleute? Hunde?

Den letzten Satz der Pressemeldung zitieren wir wörtlich, die verbliebenen Schlösser vom alten Geländer werden nicht einfach fortgeworfen, sondern: „Besitzer eines Liebesschlosses können dieses am 12. Dezember, ab 16 Uhr, im RWO-Stadion auf der Emscherinsel abholen.“ Das muss man sich mal vorstellen: im Stadion! Es ist zu und zu schön. Hach.

Ich sehe schon die Boulevard-Fotografen dort herumlungern, denn das dürfte ein – um im bunten Redaktions-Jargon zu reden – „emotionaler“ Termin werden, bei dem (so oder so) manches Tränchen fließen wird, ob nun der Rührung oder der Wut. Doch auch dabei fragen wir uns, ob man für die Aushändigung eines Schlosses die Ausweise vorzeigen muss, damit wenigstens die Vornamen stimmen (hat da jemand „Chantal & Kevin“ gesagt?). Mag aber sein, dass treuherzige Blicke reichen.




Nein, die ausgelutschte Überschrift „Bücher für den Gabentisch“ machen wir aus Prinzip nicht…

Beileibe keine Stapelware, doch stapelbar: die hier vorgestellten Bücher, unterschiedslos aufgetürmt. (Foto: Bernd Berke)

Beileibe keine Stapelware, doch stapelbar: die hier vorgestellten Bücher, unterschiedslos aufgetürmt. (Foto: Bernd Berke)

Das Fest der Bücher naht. Daher hier und jetzt (statt ausführlicher Besprechungen, für die jetzt eh kaum jemand Zeit hat) noch schnell einige adventliche Kurzvorstellungen. Wir beschränken uns ausnahmsweise auf Empfehlungen, „Verrisse“ wird man hier also vergebens suchen. Die gibt’s demnächst wieder. Versprochen. Auf geht’s, zunächst und zuvörderst mit gehobener Belletristik, vorwiegend für versierte Leser(innen):

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Jürgen Becker: „Jetzt die Gegend damals“. Journalroman (Suhrkamp, 162 Seiten, 19,95 Euro). Der gebürtige Kölner, Büchner-Preisträger von 2014, verfasst beileibe keine leichten, aber sehr eindringliche Lektüren. Es ist abermals sein Alter ego namens Jörn Winter, mit dessen Hilfe Jürgen Becker auf produktive Halbdistanz zur eigenen Lebensgeschichte geht. Dabei entsteht erneut jene ganz eigene Prosa, die sich still und leise über etwaige Grenzlinien zwischen Erzählung, Lyrik und Tagebuch hinweg bewegt und in diesem ungesicherten Gelände gar manches aufspürt, was sonst unbeachtet geblieben wäre.

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Noch ein hochdekorierter Autor und ebenfalls ein (auto)biographischer Impuls: Patrick Modiano erhielt 2014 den Literaturnobelpreis. Sein kurzer Roman, im französischen Original just 2014 erschienen, heißt auf Deutsch „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ (Hanser, 160 Seiten, 18,90 Euro). Die Geschichte beginnt wie ein Krimi. Jean Daragane hat sich in seiner Pariser Wohnung von aller Welt zurückgezogen. Da spürt ihn ein rätselhafter Fremder auf, der einem Mordfall auf der Spur zu sein scheint. So absurd das zunächst anmuten mag, bringt es Daragane doch auf einige längst vergessene Menschen aus seiner Vergangenheit – und auf Schlüsselszenen seines Lebens…

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Jonathan Franzen: „Unschuld“ (Rowohlt, 830 Seiten, 26.95 Euro). Dieser Roman zählt zweifellos zu den Schwergewichten der Saison – in jeglicher Hinsicht. Dass der amerikanische Großautor sich literarisch auch in die DDR und die Zeit des Mauerfalls begibt, darf wahrlich als (riskante) Besonderheit gelten. Zwischen Stasi, Internet und Mutter-Tochter-Drama reißt Franzen ungemein viele Themen und Thesen an, allein die Recherche-Arbeit muss äußerst mühevoll gewesen sein, von der Bändigung des schier ausufernden Materials ganz zu schweigen. Dass der Roman sich freilich weit über thematische Vorgaben erhebt, hat man von diesem Autor nicht anders erwartet. Er wirft Schuldfragen in vielerlei Gestalt auf. Ein souverän konstruiertes Buch, das weite Bögen schlägt und einen lange beschäftigt – nicht nur wegen der Seitenzahl.

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Vladimir Sorokin „Telluria“ (Kiepenheuer & Witsch, 414 Seiten, 22,99 Euro). Eurasien Mitte des 21. Jahrhunderts. Die Welt, wie wir sie noch zu kennen glauben, ist zerfallen, zwischen Hochtechnologie und Archaik schildert der russische Schriftsteller in staunenswerter Formen- und Stilvielfalt eine (um das Modewort dieser Jahre zu verwenden) grandiose Dystopie, also eine ins negative gewendete Utopie. Im Zentrum der verwirrend unschönen neuen Welt steht eine Glücksdroge, die zu Nägeln verarbeitet und den Menschen in den Kopf gehämmert wird. Und so nennt sich denn auch das achtköpfige (!) Übersetzerteam selbstironisch „Kollektiv Hammer und Nagel“. Ein wahnwitziger Roman in 50 äußerst disparaten Kapiteln.

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Franz Hohler „Ein Feuer im Garten“ (Luchterhand, 128 Seiten, 17,99 Euro). Kurze Erzählungen, die mit wunderbarer Leichtigkeit daherkommen. Abenteuer und Überraschungen wohnen hier gleich nebenan und werden bestaunt wie in Kindertagen. Man kann das nicht schnöde nacherzählen, man muss halt lesen, wie unprätentiös und zugleich virtuos Franz Hohler das gemacht hat.

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Max Goldt „Räusper“ (Rowohlt Berlin, 172 Seiten, 19,95 Euro). Der Titel deutet auf Comics hin. Und tatsächlich: Unter dem Label „Katz & Goldt“ sind in den letzten Jahren herrlich abgedrehte Comics entstanden. Hier lesen wir das, was die Figuren in den Strips sagen, ohne jegliche Bildbegleitung – quasi als Minidramen mit oft abstrusen Dialogen, allerdings gegenüber dem Originaltexten vielfach abgewandelt, denn Mediengrenzen lassen sich nicht einfach mal so überspringen. Die Resultate sind oft verdammt lustig – und doch: Man vermisst die eigentlich zugehörigen Zeichnungen hin und wieder schmerzlich. Mögen Germanistik-Doktoranden dereinst ermitteln, was die reinen Texte an Qualität hinzugewinnen – und um welchen Preis.

Nun noch ein paar Sachbuch-Hinweise:

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So vielfältig kann man sich (aus)bilden: Erwin Seitz war zunächst gelernter Metzger und Koch, dann studierte er Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. Er ist also prädestiniert, um die „Kunst der Gastlichkeit“ (Insel Verlag Berlin, 252 Seiten, 22,95 Euro) in Geschichte und Gegenwart aufzublättern. Seitz richtet sein Augenmerk in 22 Kapiteln auf die Entwicklung der Gastlichkeit in Deutschland und somit auf (allzeit brüchige) Kultivierung und Zivilisierung der Menschen, die in den hiesigen Landstrichen gelebt haben. Diese besondere Sittengeschichte zeichnet vielerlei Einflüsse nach, die hier nach und nach auf ganz spezielle Weise zusammengekommen sind. Das Spektrum reicht von klösterlicher Gastfreundschaft über Staatsbankette, bürgerliche Verfeinerung, Menüwahl und Tischsitten bis hin zur Kunst des Tischgesprächs. Ein Buch, das seinerseits zum Tischgespräch werden sollte.

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Basis des Buches „Stulle mit Margarine und Zucker“ (Klartext Verlag, 172 Seiten, 13,95 Euro) sind persönliche Erinnerungen, überwiegend von älteren Ruhrgebietsbewohnern. Vor allem geht es um Kindheit und Jugend im Revier – vom Bombenkrieg bis hin zum Strukturwandel der 70er und 80er Jahre. Damit nicht alles gar zu uferlos mäandert, haben die Historikerinnen Susanne Abeck und Uta C. Schmidt die vielfältigen Erinnerungen sortiert, geordnet und zueinander in Beziehung gesetzt. So kristallisieren sich einige lebensweltliche Erscheinungen heraus, die auch für den allmählichen Mentalitätswandel im Ruhrgebiet stehen. Ein Zeitzeichen unter vielen: Etwa seit den 70er Jahren musste das Lehrlingsgehalt nicht mehr zu Hause abgegeben werden. Kindheit im Revier hatte für lange Zeit ihre Konstanten, war jedoch auf Dauer auch wandelbar. Prägnante Schwarzweißbilder, ein Glossar, ein ausführliches Nachwort und Literaturhinweise runden den Band ab.

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Der ausgesprochen liebevoll gestaltete und illustrierte Band „Botanik für Gärtner“ (DuMont, 224 Seiten, 29,99 Euro) gibt mit mehr als 3000 Stichworten Auskunft über wissenswerte Hintergründe des Metiers. Das aus dem englischen übersetzte Buch von Geoff Hodge ist jedoch nicht alphabetisch aufgebaut, sondern kapitelweise, so dass man sich auch über längere Strecken ein- und festlesen kann. Hier erhält man eben nicht nur Gärtnertipps, sondern erfährt eine Menge über die Grundlagen pflanzlichen Lebens überhaupt, über die Systematik des Pflanzenreichs, Formen des Wachstums, Fortpflanzung, Schädlinge, Krankheiten – und über die Sinneswahrnehmungen der Pflanzen. Ergänzend werden zudem einige berühmte Botaniker und botanische Illustratoren vorgestellt. Grüner geht’s nimmer.

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Mehr für die tägliche praktische Arbeit zwischen Bäumen, Beeten, Sträuchern, Stauden und Hecken gedacht ist „Das Gartenjahr“ (Verlag Dorling Kindersley, 352 Seiten, 19,95 Euro). Der Untertitel weist schon die Richtung: „Die richtige Planung Monat für Monat“. Genau so ist das im besten Sinne übersichtliche wie reichhaltige Buch auch strukturiert – von Januar bis Dezember gibt es nützliche Hinweise, ausgerichtet an den jahreszeitlichen Erfordernissen. Sodann schließt sich noch ein kleines Pflanzenlexikon an. Das Buch von Ian Spence wurde im englischen Original von der „Royal Horticultural Society“ herausgebracht. Es dürfte auf diesem Gebiet schwerlich eine bessere Empfehlung geben.

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Zum guten Schluss ein Kunstbildband: „Welten der Romantik“ (Hatje Cantz, 304 Seiten Großformat, zahlreiche Abb., 45 Euro) gehört als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Wiener Albertina (noch bis zum 28. Februar 2016). Ein opulent illustriertes Buch zum Schwelgen, das seine Tiefenschärfe dadurch gewinnt, dass – grob gesprochen – die protestantische Romantik des Nordens der katholischen Romantik des Südens gegenüber gestellt wird. Ein schlüssiger und vilefach fruchtbarer Ansatz.




Kriminelle Taten oder unglückliche Fluchten? Rätselhaftes Tiersterben im Dortmunder Zoo

Früher besaßen gewisse Tierfreunde gern mal knorrige Holzschilder mit dem eingebrannten Spruch: „Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere.“ Doch auch heute gibt es nicht wenige, die sich beim Tod eines Tieres mehr grämen, als wenn Menschen umkommen.

Auch in diesem verqueren Sinne sorgt der Dortmunder Zoo in letzter Zeit für Boulevard-Schlagzeilen. Eine der neuesten Headlines lautet: „Tier-Dramen im Dortmunder Zoo häufen sich – Zoo-Direktor ratlos“. Was geht da vor?

Abermals ist ein Zootier verendet, zwei weitere sind spurlos „verschwunden“, und zwar erneut „unter ungeklärten Umständen“, wie die Nachrichtenagentur dpa fürs bundesweite Publikum berichtet. Diesmal handelt es sich um bei Kindern besonders beliebte Humboldt-Pinguine. Das tote Tier wurde weit außerhalb seines Geheges aufgefunden – bei den Flamingos; was immer das bedeuten mag.

Aufnahme von 2014: Humboldt-Pinguin im Dortmunder Zoo. (Foto: Bernd Berke)

Aufnahme von 2014: Humboldt-Pinguin im Dortmunder Zoo. (Foto: Bernd Berke)

Kürzlich war schon die Seelöwin „Holly“, bei öffentlichen Fütterungen ein „Star“ des Zoos, auf ähnlich mysteriöse Weise gestorben. Obwohl die Polizei die Ermittlungen ergebnislos eingestellt hat, glaubt Zoochef Frank Brandstätter nach wie vor, dass Eindringlinge das Tier brutal erschlagen haben. Spuren von Gewalteinwirkung wurden bei einer tierärztlichen Obduktion entdeckt, doch gab es keinerlei Hinweise auf Einbrecher. Auch daraus ließen sich diverse Schlüsse ziehen.

Im August waren bereits drei Zwergseidenäffchen und zwei Zwergagutis spurlos aus dem Zoo verschwunden; ganz offensichtlich ein rätselhafter Tierdiebstahl – für den lukrativen Schwarzmarkt?

Eine etwas unheimliche Serie, fürwahr. Fast scheint es, als walte da ein Fluch. Doch vermutlich gibt es ja fassbare Erklärungen, auf die man nur noch nicht gekommen ist und auf die man mangels Spuren eventuell auch nicht mehr kommen kann. Vielleicht reden wir ja bloß von einer Unfallserie, von tierischen Fluchten und Fluchtversuchen mit erhöhter Verletzungsgefahr. Auch die Regionalblätter Ruhrnachrichten und WAZ können da nur spekulieren.

Schlagzeilenträchtiger wären allerdings wilde Vermutungen: Sollte da etwa ein verrückter Tiermörder unterwegs sein? Gehen da gar irrwitzige Tierschützer kriminell gegen den Tierpark vor? Sind (ehemalige) Mitarbeiter des Zoos verwickelt? Ist Erpressung im Spiel? Seltsame Vorgänge wecken seltsame Gedankenspiele. Wie wir aus etlichen Krimis zu wissen glauben, darf man anfangs nichts ausschließen. Jetzt aber Schluss mit der Unkerei.

Unterdessen wurden und werden die Sicherheitsmaßnahmen rund um den ausgesprochen weitläufigen Zoo von Mal zu Mal verschärft, wie es jeweils nach den Vorfällen heißt. Details werden natürlich nicht verraten. Doch reichen die Maßnahmen (Sicherheitsdienst rund um die Uhr) bislang offenkundig nicht aus. Oder sie zielen ins Leere.

Zwischenzeitlich waren Tiere des Dortmunder Zoos noch auf ganz andere Arten gestorben: Ein Löwe biss seine eigene Mutter tot, und ein Giraffenbulle überstand den Transportweg nach Portugal nicht. Da kann man höchstens fragen, ob es unumgänglich war, das Tier auf diese Reise zu schicken.

Zuvor war es für Jahre recht ruhig gewesen um den Zoo. Lediglich eine Reihe von männlichen Aktfotos, die mit Billigung des Direktors in den parkähnlichen Zoo-Anlagen entstanden war, galt der örtlichen Presse als peinlicher Aufreger.

Zyniker könnten nun also sagen: „Jedenfalls bleibt der Dortmunder Zoo permanent im Gespräch…“ – Aber doch bitte nicht so!

Und jetzt alle: „Haben wir denn eigentlich keine anderen Sorgen?“




Musik-Erlebnisse im Halbschlaf: Johnny Halliday und Nive Nielsen & The Deer Children

Hier mal ganz außer der Reihe einen herzlichen Dank an die Redaktion des Kulturmagazins „Fazit“ im Deutschlandfunk bzw. Deutschlandradio Kultur. Natürlich auch für den einen oder anderen Bericht zu den künstlerischen Zeitläuften. Doch just jetzt habe ich anderes zu verdanken, nämlich zwei Hinweise auf unverhofft grandiose Musik.

Auf den französischen Altrocker Johnny Halliday habe ich nie sonderlich geachtet, also habe ich auch nichts auf ihn gegeben. Seit Jahrzehnten ist er zugange – und ich habe kaum jemals richtig hingehört. Ich Ignorant habe ihn für den französischen Peter Kraus gehalten. Ein arges Missverständnis und Versäumnis?

Da braucht es wohl besondere Umstände: ein reifes Alterswerk – und die Stunde zwischen Tag und Traum. So kann’s gehen: Mitternacht ist vorbei, man ist beim Radiohören unversehens eingeschlafen und merkt plötzlich auf: Da haben halb verwehende Klänge ins Verdämmern hinein gespielt. Und nun ist man auf einmal wohlig wach und wird gewahr, wer da singt.

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Zwischen den Wortbeiträgen spielt „Fazit“ das eine oder andere Musikstück. Man muss sagen: Es sind oft ausgesuchte Interpreten und Stücke darunter. An jenem späten Abend war es eben das neue, am 12. November herausgekommene Halliday-Album, das so heißt wie jenes berühmte Buch von Stendhal: „De l’amour“ („Über die Liebe“). Man höre zur Einstimmung vor allem in den krass lautenden Titel „L’amour me fusille“ (etwa: „Die Liebe erschießt mich“) hinein.

Etwa 24 Stunden später hatte ich – ohne allzu große Übertreibung – ein noch größeres Erweckungs-Erlebnis. Buchstäblich. Denn wieder war ich eingenickt und bin erwacht, als eine wahrhaftige Sirenenstimme sang. Gottlob wurde angesagt, was da zu hören war – und man kann halt die entsprechende Playlist im Internet aufrufen. Das sind so Angelegenheiten, für die man früher eigens Briefwechsel mit dem Sender beginnen musste…

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Wer da gesungen hat? Nun, eine Frau aus Grönland. Ja, richtig gelesen. Nive Nielsen und ihre Band „The Deer Children“ (ungefähr: Rehkinder/Kitze) sind ein veritables Ereignis. Das Allerfeinste, was mir in letzter Zeit zu Ohren gekommen ist. Herzschmelze sehr wahrscheinlich.

Schon ist die Platte („Feet First“, erscheint am 27. November) bestellt, schon habe ich probehalber in andere Produktionen mit ihr reingelauscht. Und ich weiß: In dieser Musik kann man sich verlieren, wenn man denn bereit ist. Und das sollte nicht nur im Halbtraum der Fall sein. Obwohl: Wahrscheinlich hat eben dieser trancehafte Zwischenzustand die ästhetischen Sinne weiter geöffnet.

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P.S.: Die Links zum Versand jpc sind nicht als Empfehlung zu verstehen, sondern als Option. Allerdings sind die Leute aus Georgsmarienhütte vor allem auf dem Gebiet der Tonträger eine Alternative zu Amazon und anderen Weltherrschern…




Vorzeige-Ruhri kann auch anders: Grönemeyer traut Journalisten nicht über den Weg

Vor Äonen hat der Rock- und Popsänger Herbert Grönemeyer mal eine Langspielplatte mit dem Titel „4630 Bochum“ herausgebracht. Doch halt! Wir wollen nicht gleich gar so polemisch sein, es war im August 1984. Noch nicht so lang her, wenn man’s mal erdgeschichtlich betrachtet…

Seither gilt der Mann, der in grauer Vorzeit vorwiegend musikalisch am Bochumer Schauspielhaus gewirkt hatte, jedenfalls als Vorzeige-Ruhrgebietler. Wenn es hier ums große Ganze der Region geht, kommt er immer wieder ins Spiel. So auch am 9. Januar 2010, als er zur Eröffnung des Europäischen Kulturhauptstadt-Jahres seine Revier-Hymne „Komm zur Ruhr“ schmetterte.

Kaum einer, so scheint es, gilt gegenwärtig als „ruhriger“. Dabei hat der mit vielen Preisen dekorierte Grönemeyer der Gegend längst den Rücken gekehrt und seit vielen Jahren hauptsächlich in London gelebt. Es sei ihm natürlich gegönnt, aber was genau ist daran jetzt so ruhrverbunden?

Steht diese Bank etwa an dem Weg, über den Grönemeyer den Journalisten nicht traut? Keine Ahnung. (Foto: Bernd Berke)

Steht diese Bank etwa an dem Weg, über den Grönemeyer den Journalisten nicht traut? Keine Ahnung. (Foto: Bernd Berke)

Doch das nur nebenbei. Auch dass ich – ehrlich gesagt – seine Gesangskünste nur selten sonderlich gemocht habe, soll hier zwar erwähnt werden, aber hübsch im Hintergrund bleiben. Es tut nichts zur folgenden Sache.

Beim Pressetermin fand ich ihn vor Jahren menschlich recht sympathisch und entspannt. Doch er und sein Management können auch anders. So jedenfalls muss man wohl die schmallippige Mitteilung der WAZ-Kulturredaktion verstehen, die ihm vorwirft, er wolle auf ungebührliche Weise in die Berichterstattung der Medien eingreifen.

Das behauptet die WAZ: Anlässlich einer Vorab-Pressekonferenz über einen Grönemeyer-Auftritt (27. Mai 2016, Arena Gelsenkirchen) sollten Journalisten unterzeichnen, dass Zitate vor Veröffentlichung durchgehend autorisiert (also von ihm und seinen Presseleuten gestattet) werden müssten; nicht nur im Interviewtext (wie gelegentlich vor allem bei brisanten Politthemen üblich), sondern auch „in der Überschrift und in Bildunterschriften“. Ein starkes Stück. Überdies wollte Grönemeyer laut WAZ kontrollieren, welche Fotos in der Berichterstattung verwendet werden. (Drum verwenden wir hier ein ganz und gar unverfängliches Foto aus völlig anderem Zusammenhang, hehe!).

Angesichts solcher Ansprüche bzw. Zumutungen verzichtete die WAZ auf einen Bericht über das Hintergrundgespräch. Gut so. Sich auf Grönemeyers Bedingungen einzulassen, hätte bedeutet, einen möglichen Eingriff in die redaktionelle Unabhängigkeit hinzunehmen. Gegenbeispiel: Die „Rheinische Post“ hatte damit anscheinend weniger Probleme und berichtete wohlwollend.

Man fragt sich, was Grönemeyer so Weltbewegendes zu erzählen hat. Soweit mir bekannt ist, ist er weder Kanzler noch Minister der Bundesrepublik Deutschland, ja nicht einmal Präsident oder König des Ruhrgebiets. Man würde seine Worte gewiss nicht allzu sehr auf die Goldwaage legen. Er selbst scheint das allerdings anders sehen zu wollen. Da kann man nur appellieren: Komm zur Ruhe.

Grönemeyer scheint derzeit auf Krawall gebürstet zu sein. Soeben hat er den NDR harsch kritisiert , weil der Sender beim ESC-Schlagerwettbewerb doch nicht an Xavier Naidoo festhalten mochte (ansonsten kein Wort mehr über den insgesamt verkorksten Vorgang). Er wird bestimmt nicht den vergifteten Kampfbegriff „Lügenpresse“ im Munde führen. Dann soll er aber auch bitte nicht den Eindruck erwecken, die Journalisten würden ihm allzeit das Wort im Munde herumdrehen.




Man entkommt ihnen nicht: „Die Roboter“ – Dortmunder Schau über Mensch & Maschine

Am Eingang der Ausstellung „Die Roboter“ heißt uns ein gewisser Jemand willkommen – dreimal darf man raten, wer…

Richtig. Ein Roboter namens „RoboThespian“ macht die Honneurs und sagt artig Guten Tag. Manchmal hat er dabei sogar blinkende Herzchen in den Augen. Putzig, nicht wahr? Doch die kurzweilige Ausstellung hat etliche ernstere Aspekte. Schließlich geht es in mancherlei Facetten um das komplexe Verhältnis von Mensch und Maschine.

"RoboThespian" begrüßt die Besucher. (Foto: Bernd Berke)

„RoboThespian“ begrüßt die Besucher. (Foto: Bernd Berke)

Man entkommt ihnen nicht: Auch im weiteren Verlauf der Schau in der Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA begegnen einem solcherlei Wesen. Manchmal begleiten sie einen auch, wenn man denn mag. Mehrere Gestalten, nicht ganz menschenhoch, etwas unförmig rundlich geraten, gleiten durch die Räume. Man kann sie nach bestimmten Exponaten fragen – und sie fahren schon mal voraus, bevor sie die Ausstellungsstücke erläutern. Aber keine Angst, es gibt auch noch menschliches Personal.

Der kleine Nao steht auf und tanzt

Liebling aller Besucher dürfte indes der kleine Nao werden, dem man (einstweilen nur auf Englisch und ohne höfliche Floskeln wie „bitte“) einfache Anweisungen geben kann: „Sit down“, „stand up“ und so weiter. Nach kurzer Rückfrage (Du willst, dass ich mich hinsetze?) tut er’s tatsächlich. Er kann auch – etwas ungelenk, doch irgendwie ausdrucksvoll – ein wenig tanzen. Falls er dabei mal unsanft auf den Rücken fällt, rappelt er sich mühsam wieder hoch, und zwar ganz ohne Anweisung, wie aus eigenem Antrieb.

Roboter "Nao" hat sich nach entsprechender Anweisung hingesetzt. (Foto: Bernd Berke)

Roboter „Nao“ hat sich nach entsprechender Anweisung hingesetzt. (Foto: Bernd Berke)

Für Unterhaltung ist also gesorgt. Doch die von Dr. Philipp Horst kuratierte Schau fächert – zwischen Faszination, Reflexion und Besorgnis – mit rund 200 Belegstücken in fünf Abteilungen die Geschichte der Werkzeuge und der rasant fortschreitenden Automatisierung auf, gleichsam seit Steinzeit und Antike. Man erkennt: Schon seit geraumer Zeit wird die Phantasie der Menschen von Vorstellungen beflügelt, die irgendwann auf künstliche Wesen hinauslaufen mussten.

Im ersten Raum geht’s wie im Fluge vom Hammer über Fahrrad, Dampf- und Schreibmaschine bis zum Maschinengewehr aus dem Ersten Weltkrieg. Immer entschiedener bewegten sich die Maschinen (wie von) selbst.

Ein Thema auch für die Künste

Mechanische Automatenmenschen des 18. Und 19. Jahrhunderts, zunächst viel bestaunte „Wunder“, hernach auch Jahrmarkts- und Werbeattraktionen, stehen für eine Übergangszeit. Da sieht man etwa einen automatischen Clown, ein mechanisches Krabbelkind und einen orientalischen Raucher, aus konservatorischen Gründen leider samt und sonders im Stillstand.

"Nao" tanzt wie in Trance... (Foto: Bernd Berke)

„Nao“ tanzt wie in Trance… (Foto: Bernd Berke)

Die Entwicklung konnte die Künste nicht unberührt lassen. Ausschnitte aus Filmen wie Fritz Langs „Metropolis“ und Seitenblicke auf Dadaisten oder Surrealisten, welche die zunehmende Automatisierung teils freudig und fiebrig begrüßten, geben eine Ahnung davon.

Mit dem tschechischen Schriftsteller Karel Čapek kam dann 1921 der Begriff „Roboter“ erstmals in die Welt. Werke der Science-Fiction wie Isaac Asimows „I Robot“ (1950) setzten diese Tradition auf hohem Niveau fort.

Apparate für Leib und Seele

Im Laufe des Rundgangs wird deutlich, wie sehr die Robotertechnik unsere Welt bereits durchdringt, beispielsweise in der Medizin, beginnend mit Prothesen (eiserne Hand von 1530, Exemplare aus dem Ersten Weltkrieg). Heute wird der menschliche Körper auf vielfältige Weise repariert, technisch unterstützt und auch von innen her „optimiert“.

Überdies gibt es Roboter für die Seele: Eine interaktive Stoffkatze („JustoCat“) mit technischem Innenleben kommt in der Pflege zum Einsatz, sie kann miauen und schnurren und lässt sich stundenlang streicheln. Gedacht ist sie als Trösterin dementer Menschen, die sich dank der simplen Schlüsselreize wohlig an frühere Zeiten mit wirklichen Haustieren „erinnern“ sollen.

Mimik-Nachahmung mit Hindernissen: Der Roboterkopf hat offenbar noch nicht "erkannt", dass die Frau den Mund geöffnet hat - und schaut etwas begriffsstutzig drein.

Mimik-Nachahmung mit Hindernissen: Der Roboterkopf hat offenbar noch nicht „erkannt“, dass die Frau den Mund geöffnet hat – und schaut etwas begriffsstutzig drein. (Foto: Bernd Berke)

Derweil sind ganze Fertigungslinien ohne Industrie-Roboter nicht mehr denkbar; vom Einsatz im Weltraum, im Krieg (Fernlenkwaffen, Drohnen usw.) und bei Katastrophen (fernsteuerbare Bombenentschärfer, Brandbekämpfer, AKW-Roboter) ganz zu schweigen. Für all diese Bereiche sieht man Beispiele in der wohlüberlegt zusammengestellten Schau. Man ist aus gutem Grund am Puls der Zeit, denn auch in der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (sozusagen das Mutterinstitut der DASA) wird avancierte Roboterforschung betrieben.

Und wie sieht die Zukunft aus? War eine direkte Begegnung zwischen menschlichen Mitarbeitern und Robotern lange Zeit zu gefährlich, so hat sich die Technik immer feingliedriger angepasst und gleichsam vermenschlicht, so dass gemeinsames Arbeiten von Mensch und Maschine immer üblicher wird.

Ist Sex mit Robotern denkbar?

Auch beginnen die Apparate allmählich in die Bezirke der Kreativität und der Emotionalität vorzudringen. Da findet sich z. B. ein Roboter, der menschliche Mimik (noch etwas grobschlächtig) nahezu in Echtzeit nachahmt und einen anderen, der einen zunächst per Kamera aufnimmt und danach – allerdings auch noch recht zittrig und unperfekt – ein Porträt zu zeichnen beginnt. Der Stift wurde heute übrigens von zwei Wäscheklammern gehalten. Solch improvisatorischer Behelf wirkt in diesem Kontext irgendwie erfreulich, wie ein wohltuend retardierendes Moment.

Roboterhand beim zittrigen Zeichnen eines Porträts. (Foto: Bernd Berke)

Roboterhand beim zittrigen Zeichnen eines Porträts. (Foto: Bernd Berke)

Doch wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis es zur Vermischung und wechselseitigen Grenzüberschreitung kommt: Wird man eines Tages nicht mehr zwischen humanen und humanoiden Existenzen unterscheiden können? Für uns Heutige wohl noch eine grausige Vorstellung. Aber wer weiß, wie unsere Nachfahren damit umgehen.

Um die gemischten Gefühle der Besucher zu erkunden, hat man der Schau eine (unwissenschaftliche) Umfrage beigesellt. Nach dem heutigen Stand, der wohl noch überwiegend Journalisten und DASA-Mitarbeiter erfasst hat, konnten sich 57% nicht vorstellen, Sex mit einem Roboter zu haben. Die womöglich erschütternde Nachricht lautet also: 43% können sich Sex mit einem Roboter vorstellen. Nun ja, imaginieren kann man dies und jenes. Aber will man’s dann auch?

„Die Roboter. Eine Ausstellung zum Verhältnis von Mensch und Maschine“. 21. November 2015 bis 25. September 2016. DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1-25. Geöffnet Mo-Fr 9-17, Sa/so 10-18 Uhr. Weitere Infos: www.dasa-dortmund.de




Ratlos in Hannover – und überhaupt

Ich möchte kein Politiker sein. Ich möchte kein Polizist sein. Ich möchte kein…

Ist Deutschland ein feiges Land? Das überaus gefährdete Fußballspiel England – Frankreich im Wembley-Stadion wird ausgetragen. Die Begegnung Deutschland – Niederlande in Hannover wird hingegen rund 90 Minuten vor Beginn abgesagt. Aber wer möchte verantwortlich sein, wenn Hinweise auf einen Anschlag vorliegen? Und diese Hinweise müssen schon sehr konkret gewesen sein. Wer weiß.

Screenshot vom Spiel England - Frankreich im Wembley-Stadion.

Screenshot vom Spiel England – Frankreich im Wembley-Stadion.

Bemerkenswerte Einlassung des Bundesinnenministers Thomas de Maizière in seiner Hannoveraner Pressekonferenz: Wollte er alle Journalistenfragen wahrheitsgemäß beantworten, so könnten manche Antworten die Bevölkerung verunsichern…

Was sollen wir nun denken?

Während ich im NDR die Pressekonferenz mit de Maizière, dem niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius (SPD) und dem Dortmunder Bundesliga-Chef Reinhard Rauball verfolge, schaue ich im Netz aus den Augenwinkeln auf Szenen der Begegnung in London. Wie nebensächlich der Fußball geworden ist, fast schon ein sinnfreies Gehampel!

Und schon fragt man sich, ob nicht die gesamte Bundesliga gefährdet sein könnte. Und die Premier League. Und die Primera Division. Das alles darf doch nicht wahr sein. Damit wären diverse Geschäftsmodelle bedroht. Und damit ginge es ans Eingemachte des Westens.

Gänsehaut-Bekundungen aller Arten mag ich eigentlich nicht. Aber als Franzosen und Engländer in London gemeinsam die Marseillaise („Aux armes, citoyens, formez vos bataillons“) gesungen haben, war das schon wahrlich „something to be“… Ach, Europa!

Wie ich gerade sehe, läuft im NDR schon wieder ein alter „Tatort“. Na, dann. Kann man ja wohl beruhigt schlafen, oder?




Ratlos in Paris

Fußball: Frankreich – Deutschland, aus Paris übertragen in der ARD. Zwischendurch hört man ein paar Detonationen. „Wieder diese elende Pyrotechnik“, denkt man zuerst. Doch es war lauter als sonst. Deutlich lauter. Furchtbar laut.

Menschen im Stade de France (Screenshot ARD)

Menschen im Stade de France (Screenshot ARD)

Und dann erfährt man, nach und nach: Es hat Tote gegeben. Viele Tote. Furchtbar viele Tote. So dass man gar keine Zahlen mehr nennen mag.

Derart unübersichtlich ist die Lage, dass sie auch im Fernsehen gar nichts Genaues wissen. Die versammelten Sportreporter sind eh grässlich überfordert, sie ahnen, dass jetzt eine andere Agenda gilt, doch sie senden zwischendurch noch Zusammenfassungen anderer Spiele des Abends, wiewohl sie selbst immer wieder betonen, dass man nun nicht mehr über Sport reden dürfe. Um 23:55 Uhr wird immer noch in Kickerei gemacht: Belgien gegen Italien. Welch ein Kracher! Hauptsache: auf Sendung bleiben, Bilder haben. Wie nichtssagend sie auch immer sein mögen.

Die Paris-Korrespondentin, die in Extra-Ausgaben der Tagesschau immer wieder einvernommen wird, ist ebenfalls hilflos. Wie soll sie auch den Überblick haben?

Man beneidet niemanden an diesem Abend. Weder die Fernsehleute. Noch die Fußballer oder Zuschauer im Stadion. Und erst recht nicht die Menschen, die direkt betroffen sind.




Rohstoff des Lebens – das intime „Kronos“-Tagebuch des Witold Gombrowicz

Vom polnischen Weltautor Witold Gombrowicz („Ferdydurke“, „Trans-Atlantik“, „Pornographie“) gibt es zwei Tagebücher. Eines war für die Öffentlichkeit bestimmt, ein anderes eigentlich nur für den eigenen Gebrauch. In der Ausgabe des Hanser Verlags tragen diese Aufzeichnungen den Titel „Kronos. Intimes Tagebuch“. Doch wer da nach Enthüllungen lechzen sollte, wird unweigerlich enttäuscht werden.

Gombrowicz (1904-1969) hat von 1939 bis 1963 im argentinischen Exil gelebt. Vor allem um diesen Zeitraum und um die Jahre seit der Rückkehr nach Europa (vorwiegend Frankreich) geht es im vorliegenden Tagebuch. Das gewichtige Wort „Kronos“ deutet aufs Vergehen der Zeit hin. Und auf dem Titelumschlag steht „Gombrowicz“ ohne Vornamen; ganz so, als wäre das ein Markenzeichen sondergleichen. Was ja auch stimmt.

Wuchernde Fußnoten

Es handelt sich hierbei größtenteils um wahrhaft rudimentäre Notizen, mit denen der Schriftsteller sozusagen den Rohstoff des Lebens festzuhalten suchte, für die früheren Jahre aus gehörigem zeitlichen Abstand. Vielfach sind die Aufzeichnungen so knapp und kryptisch, dass die Erschließung in Fußnoten den Primärtext bei weitem überwiegt und überwuchert. Man muss schon ein sehr spezielles Interesse an Gombrowicz’ Leben aufbringen, um hier jede einzelne Wendung nachzuschmecken.

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Immerhin lässt selbst diese lückenhafte Materialsammlung erahnen, wie entbehrungsreich das Leben im Exil über viele Jahre hinweg gewesen sein muss. Immer wieder werden Geldnöte skizziert, auch spielen gesundheitliche Sorgen eine zunehmende Rolle.

Weitere, häufig wieder aufgegriffene Bemerkungen betreffen etwa Gombrowicz’ Leidenschaft fürs Schachspiel und besonders das Ringen um Publikationsmöglichkeiten in der anfangs so ungewohnten Fremde. Zuweilen reiht er lediglich lauter Namen aneinander – überwiegend Begegnungen und Kontakte, die dem Schriftsteller vielleicht einmal nützlich werden konnten. Doch häufig verzeichnet er auch das Gegenteil, nämlich mit wem er gerade wieder auf immerdar gebrochen hat.

Lektüren (u.a. Thomas Mann) und politische Verhältnisse kommen hier hingegen eher stichwortartig vor – und das in jenen wahrlich bewegten Zeiten. Doch darüber konnte man sich ja öffentlich äußern.

Sexuelle Bilanzierung

Gar nicht so geheimes Gravitationszentrum ist allerdings der offenbar überaus rege Sexualtrieb, den der Autor höchst wechselhaft ausgelebt hat – mit Angehörigen beider Geschlechter. Auch in seinen jeweiligen Jahresbilanzen bewertet er stets summarisch die erotischen Erlebnisse („Ero – nicht schlecht“), hin und wieder allerdings im Modus der Unzufriedenheit.

Zwischendurch finden sich zahllose Erwähnungen und Kürzel, die das Geschehen eher bemänteln als darlegen. Es waren Zeiten, in denen homo- oder bisexuelle Neigungen durchaus die Polizei auf den Plan rufen konnten. Auch das ist Gombrowicz nicht selten passiert.

Gombrowicz scheint jedenfalls sexuelle Erfüllung häufig auch bei Huren (und Strichern) in der brodelnden Metropole Buenos Aires gesucht zu haben. Zitat von eher untypischer Deutlichkeit, ja lakonisch-abgründiger Drastik: „Die Nutte. Tripper. Das Mädchen, das ich nicht vergewaltigen konnte.“ Oder so, ganz nüchtern nachhaltend: „Ich schlafe mit einer Tänzerin sowie mit einem Dienstmädchen.“ Editorisches Problem(chen) nebenher: Ob mit dem Buchstaben M im Einzelfalle muchacho (männlich) oder muchacha (weiblich) gemeint war, lässt sich nicht immer hinreichend klären. Sei’s drum.

Aufwertung durch zahlreiche Fotos

Und wie sind diese Tagebücher zur Publikation gelangt? Nun, Gombrowicz’ Gefährtin und Witwe Rita Labrosse, selbst Literaturwissenschaftlerin (Promotion über Colette), hat das Konvolut zur Verfügung gestellt und mit herausgegeben. Ob sie Blätter, auf denen von ihr selbst die Rede war, zurückgehalten oder modifiziert hat? Das zu mutmaßen, wäre pure, fast schon unanständige Spekulation. Nicht nur angesichts der oft kruden Passagen in diesem Tagebuch darf man wohl von einer redlichen Übergabe ausgehen.

Eine enorme Aufwertung erfährt dieses Buch durch zahlreiche Schwarzweißfotos aus Gombrowicz’ Biographie, darunter auch Faksimiles seiner Schrift.

Das Titelbild zeigt Witold Gombrowicz im Mai 1966 mit der erwähnten Rita, die er 1964 kennen gelernt hatte, bei einer Fahrpause auf dem Pass von Vence (Südfrankreich). Die ausgesprochen attraktive Frau scheint sich darum zu kümmern, was unter der Motorhaube der Citroën-„Ente“ vorgeht, während Gombrowicz anscheinend die Haltung eines ungeduldig Wartenden eingenommen hat. Aber daraus ziehen wir jetzt natürlich keinerlei Schlüsse.

Fragen wir uns lieber, was die (literarische) Welt von all dem hat. Bei einem Autor vom überragenden Format des Witold Gombrowicz mag wohl jede noch so unscheinbare Äußerung von Interesse sein; möglichst nichts darf verloren gehen, kein Wort soll vergessen werden.

Freilich zeigt sich hier nicht der Schriftsteller, sondern quasi der (allerdings fiebrige) Buchhalter eigener Lebenstatsachen. Anhand solcher Aufzeichnungen kann man vielleicht ermessen, wie sehr sich dann die große Literatur über das tagtäglich Gelebte erhebt – und es dennoch zuinnerst betrifft.

Gombrowicz: „Kronos.“ Intimes Tagebuch. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Carl Hanser Verlag. 359 Seiten. 27,90 €.




Halloween – Aaaaargh!

Es reicht!

Ungelogen 17 (!) marodierende Kindergruppen mit cirka 90 bis 100 erschröcklich verkleideten Blagen haben heute zwischen 18 und 20 Uhr bei uns im Namen von „Süßes oder Saures“ angeschellt – einschließlich der wilden Horde unserer Tochter, die in der Nachbarschaft Halloween gefeiert hat.

Der beste Spruch fing so an: „Ich bin eine Mörderpuppe, / ob ihr Angst habt, ist mir schnuppe…“

Aaaargh!

Das Vampirkostüm lag schon seit Tagen bereit. (Foto: BB)

Das Vampirkostüm lag schon seit Tagen bereit. (Foto: BB)

Ich schwöre: Ich habe wandelnde Skelette, grässliche Hexen, beißwütige Vampire, Mumien, Scharfrichter, Aliens, Zombies und Darth Vader gesehen. Um nur einige Gestalten zu nennen. Es wird gewiss eine Alptraumnacht werden.

Zu dumm, dass vor unserer Tür drei Laternen und ein ausgehöhlter Kürbis in die Dunkelheit geleuchtet haben. Das hat die Gespenster wohl unfehlbar angelockt.

Wie gut, dass wir tonnenweise Süßigkeiten gebunkert hatten. Sonst wäre es uns womöglich schlecht ergangen. Aber wer weiß, was uns noch bevorsteht.

P.S.: Immerhin haben sich manche der bösen Geister ganz artig bedankt. Andere aber wankten nahezu grußlos in die beginnende Nacht.




Diese Weite, diese Stille – „Sehnsucht Finnland“ im Hammer Gustav-Lübcke-Museum

Was wissen wir eigentlich über finnische Kunst? Die aufrichtige Antwort dürfte wohl lauten: nichts.

Jetzt kann man solchen Mangel ein wenig beheben, denn das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm gibt mit beachtlichen Leihgaben einen Einblick ins Werden der finnischen Moderne zwischen 1880 und 1920.

Der Titel „Sehnsucht Finnland“ hat gleich mehrfache Bedeutung. Zum einen wecken besonders die Landschaftsbilder aus dem hohen Norden Sehnsucht nach unberührter Natur und sind vielleicht geeignet, manche Reisepläne für den nächsten Sommer zu beeinflussen.

Akseli Gallen-Kallela: "Landschaft in Kuhmo" (1890). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Akseli Gallen-Kallela: „Landschaft in Kuhmo“ (1890). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Vor allem aber haben die meisten damaligen Maler ihre Kunst nicht zuletzt als sehnsüchtige Suche nach einer finnischen Identität verstanden, denn ihr Land hatte vom Mittelalter bis 1809 schwedische und dann noch fast 100 Jahre russische Fremdherrschaft ertragen. Erst 1917 wurde Finnland eine unabhängige Nation. Zuvor hatten Künstler Finnland sozusagen erfunden.

Es war eine Zeit, in der kulturelle Schöpfungen – zumindest mittelbar – politisch einiges bewirkt haben: Tatsächlich zählten die Künstler zur Spitze der finnischen Bewegung (so genannte „Fennomanen“), die auf Selbständigkeit aus war. Und wahrhaftig vermochten sie es, in ihren Bildern glaubhaft einigen Grundlinien dessen nachzuspüren, was just die finnische Besonderheit ausmacht. Dabei entstand eine angenehm unaufgeregte Kunst, die so gar nicht imponieren will und niemals auftrumpft.

Akseli Gallen-Kallela: "Gewitterwolken" (1897). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Akseli Gallen-Kallela: „Gewitterwolken“ (1897). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Die Einsamkeit und schier endlose Weite der nordischen Natur mit ihren Wäldern und Seen war das bevorzugte Feld derartiger Erkundungen, zumal auch in den langen harten Wintern. Sagt man manchen Sprachen nach, sie hätten etliche, fein differenzierende Begriffe für Schnee und Eis, so findet man derlei Vielfalt ebenso in den Bildern finnischer Maler.

Hie und da dringen die Maler mit ihren Schneebildern gar schon unversehens in die Gefilde der Abstraktion vor. Die große Leere der größtenteils noch wirklich unberührten Landschaften kann ebenso Beglückung wie Melancholie hervorrufen. Welche Stille solche Bilder atmen – und wie verhalten die Farben sind! Doch den finnischen Frühlingsbildern merkt man an, wie sehnsüchtig man dort droben auf die Blüte gewartet hat. Auch nicht nur nebenher: Ein Seitenblick zeigt, dass auch das Genre der Sauna-Bilder zur finnischen Identitätsfindung beitrug.

Akseli Gallen-Kallela: "Frühling" (1902). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Akseli Gallen-Kallela: „Frühling“ (1902). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Rund 70 Tafelbilder hat man in Hamm beisammen, die so bislang nur in Stockholm und Paris zu sehen waren. Eigentlicher Hort dieser Fülle ist die finnische Gösta Serlachius Stiftung, deren Kunstschätze seinerzeit von der Industriellenfamilie Serlachius (Forstwirtschaft und Papierfabriken) erworben wurden. Heute gilt das Konvolut als finnisches Nationalerbe und wird sonst allenfalls vereinzelt ausgeliehen.

Die Familie Serlachius unterstützte auch einen befreundeten Künstler, der seinen ursprünglich schwedisch lautenden Namen zu Akseli Gallen-Kallela finnisierte. Seine Bilder ragen, wie sich beim Rundgang mehrmals zeigt, mit ihrer vielfältig delikaten Malweise aus der ohnehin sehenswerten Schau (mit nur wenigen Schwachpunkten) noch einmal deutlich heraus.

Wäre Gallen-Kallelas Name bei uns bekannter, hätte man seine Werke durchaus in einer Einzelausstellung zeigen können, so aber ist die allgemeiner gehaltene „Sehnsucht Finnland“ natürlich zugkräftiger. Sein geheimnisvoll symbolistisch aufgeladenes Bild „Symposion“ (1894) zeigt beim Künstlertreffen in der Kneipe auch den berühmten finnischen Komponisten Jean Sibelius, es vereint mehrere Stilrichtungen und erinnert in einer Partie gar schon an die zur Kenntlichkeit verzerrenden Darstellungen eines George Grosz.

Und weiter: Vor Gallen-Kallelas grandioser karelischer „Landschaft in Kuhmo“ kann man lange schweigend und schwelgend verweilen, sein Bild „Gewitterwolken“ (1897) erweist sich gleichfalls als famose Naturdarstellung. Das in der Fabrik angesiedelte, realistische Porträt des Industriellen Adolf Serlachius (1887) gemahnt nahezu an Adolph von Menzel. „Matti, der Luchsjäger“ (1905) zeigt einen kernigen Mann, der für den idealtypischen Finnen schlechthin gestanden haben mag. Ein Mädchenbildnis von 1895/96 ist hingegen ein Inbild der Traurigkeit und wohl das bewegendste Stück der ganzen Ausstellung. Kurzum: Dieser Künstler kann auch im europäischen Vergleich mit seinen Zeitgenossen bestehen.

Hugo Simberg: "Tanz auf dem Anleger" (1903). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Hugo Simberg: „Tanz auf dem Anleger“ (1903). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Um wenigstens ein paar weitere Namen zu nennen: Albert Edelfelt, der auch noch für bildnerische Huldigungen an die russische Zarin einsteht, besticht mit einem hintergründigen Hafenstück und dem Bildnis eines strickenden Mädchens, irritiert heutige Gemüter freilich mit einer „Gitane“ („Zigeunerin“). Doch Vorsicht! 1881 war ein solches Motiv noch längst nicht als Massenware diskreditiert. Dann wieder die unentrinnbaren Blickfänge: Hugo Simbergs eigentümlich verhalten leuchtendes Tanzbild auf einer Seebrücke, Victor Westerholms Robbenjäger…

Dass die Bilder auch schon in Paris zu sehen waren, ergibt übrigens auch speziellen Sinn, manche sind damit gleichsam an den Ort ihrer Inspiration zurückgekehrt. Denn zahlreiche finnische Künstler gingen ab 1880, wie ihre Kollegen aus ganz Europa, in die Weltkunstmetropole Paris, um dort Strömungen wie Realismus oder Impressionismus und das Phänomen der Freilichtmalerei kennen zu lernen. In der Hammer Schau lassen sich zudem die finnischen Anfänge einer flächigen Malweise und kubistischer Formfindung studieren.

Albert Edelfelt: "Am Ankerplatz in Kopenhagen" (1890). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Albert Edelfelt: „Am Ankerplatz in Kopenhagen“ (1890). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Die Ausstellung zeugt überdies von einer weiteren Besonderheit in der finnischen Kunst. Wie damals nirgendwo sonst, haben Frauen die Entwicklung mitbestimmt. Zwar waren sie anfangs auf den häuslichen Kreis und somit überwiegend auf Kinderbilder eingeschränkt, doch schon relativ früh haben sie dann mehr als die Hälfte aller Kunstpreise erhalten und zwischenzeitlich auch die Mehrheit in den (vergleichsweise spät gegründeten) finnischen Kunstakademien gestellt. Beispielhafte Bilder, etwa von Maria Wiik und – noch eindrücklicher – Helene Schjerfbeck, lassen ahnen, welche Begabungen da am Werk gewesen sind.

Jammerschade nur, dass diese Ausstellung, die auch weitere Anreisen lohnt, nicht durch einen Katalog bewahrt wird.

„Sehnsucht Finnland“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Bis zum 20. März 2016. Geöffnet Di-Sa 10-17 Uhr, So 10-18 Uhr. Eintritt 9 Euro (ermäßigt 7 Euro). Kein Katalog. Weitere Infos: www.museum-hamm.de




Als Nashörner und Elefanten hier lebten – Ausstellung „Wildes Westfalen“ in Herne

Die ältesten Exponate sind rund 465 Millionen Jahre alt. Man kann sie allerdings schwerlich erkennen, jedenfalls nicht mit bloßem Auge.

Es sind drei so genannte Trilobiten, Gliederfüßler, die mit Krebsen und Insekten verwandt sind. Gefunden wurden die winzigen, in Gestein eingeschlossenen Urzeit-Zeugnisse in Herscheid (Märkischer Kreis). Also zählen auch diese unscheinbaren Wesen zur Ausstellung mit dem forciert populären Titel „Wildes Westfalen“ (gemeint: wild lebende Tiere in Westfalen), die im LWL-Museum für Archäologie in Herne einige Zeugnisse aus der zoologischen Vergangenheit dieser Region in Vitrinen präsentiert.

"Wildes Westfalen" - Titelumschlag des Begleitbuchs (© LWL)

„Wildes Westfalen“ – Titelumschlag des Begleitbuchs (© LWL)

In Jahrmillionen haben auch auf dem Gebiet, das heute Westfalen heißt, die unterschiedlichsten klimatischen Bedingungen geherrscht, Eis- und Warmzeiten wechselten einander ab, Vegetation und Landschaftsgestalt wandelten sich desgleichen. So darf es im Prinzip eigentlich gar nicht so sehr verwundern, dass hier zeitweise Flusspferde, Krokodile und Elefanten gelebt haben. Saurier selbstverständlich auch.

Es finden sich ein paar staunenswerte Belegstücke in dieser Ausstellung. Etwa 1,8 bis 2,2 Millionen Jahre alt (auf zwei bis drei Tage kommt es da ja nicht an) ist jener Block mit drei Zähnen eines „Südelefanten“, der damals aus Afrika in die hiesigen Breiten einwanderte und als Vorfahre späterer Mammut-Arten gilt. Man vermutet, dass die Tiere, deren Überreste man am Haarstrang in der Nähe von Soest gefunden hat, bei einer Flutwelle im schmalen Flussbett ertrunken sind.

1,8 bis 2,2 Mio. Jahre alt: Block mit drei Zähnen von Südelefanten, gefunden am Haarstrang bei Soest (Foto: Bernd Berke)

1,8 bis 2,2 Mio. Jahre alt: Block mit drei Zähnen von Südelefanten, gefunden am Haarstrang bei Soest (LWL-Museum für Naturkunde, Münster – Foto: Bernd Berke)

Kaum minder imposant ist der Schädel eines raren Waldnashorns, der in der Dechenhöhle bei Iserlohn zum Vorschein kam. Mit über 200.000 Jahren ist er jedoch vergleichsweise „jung“.

Das zeitliche Spektrum der recht übersichtlichen Ausstellung (90 archäologische Objekte in 17 Vitrinen) reicht bis in die Frühneuzeit. Man bekommt nicht nur Überreste von Tieren zu sehen, sondern auch einzelne menschliche Schöpfungen mit kultischem Charakter oder alltäglichem Gebrauchswert, beispielsweise einen hirschförmigen Kerzenleuchter oder Spielzeug in Pferdegestalt.

Manche Gegenstände zeugen zudem vom sich ändernden Verhältnis der Menschen zu Tieren. So wurden Rinder zunächst vor allem gejagt und hernach allmählich domestiziert. Das prägte natürlich auch Wahrnehmung und Darstellung.

So ganz haben die Museumsleute der alleinigen Aussagekraft der Fundstücke offenbar nicht getraut, auch galt es wohl, den optischen Umfang etwas zu erweitern. Und so hat sich eine halbwegs charmante Notlösung ergeben: Der Zufall wollte es, dass langjährig tätige und also gewiefte Amateurfotografen des örtlichen Naturschutzbundes (NABU) ohnehin Kontakt zu den Fachleuten gesucht hatten. Ihre Aufnahmen, 70 an der Zahl, ergänzen und spiegeln nun die vorzeitliche Tierwelt, machen sie ein bisschen fassbarer und holen sie ans Heute heran; wenn auch in Einzelfällen um den Preis verzeihlicher „Schummelei“.

So tritt im Foto die Kellerassel als Verwandte der eingangs erwähnten Trilobiten auf. Und für die blühenden Phantasien, die sich Menschen früher aus Tieren gemacht haben, mussten eben Bildbearbeitungsprogramme herhalten, mit deren Hilfe täuschend „echt“ wirkende Bilder von Einhorn, Pegasus und Drachen entstanden sind.

Ausstellung und Begleitbuch sind zu gewissen Teilen noch das Werk des 2014 verstorbenen Altertumsforschers Prof. Torsten Capelle. Einige seiner Freunde und Schüler haben die Anregungen des Doyens verwirklicht. So knüpft man Traditionsstränge in der Wissenschaft.

Dennoch, ganz ehrlich: Ein Besuch lohnt eher bei speziellem Interesse, wenn man ohnehin in der Gegend um Herne zu tun hat oder wenn man weitere Abteilungen des Hauses besichtigt. Auch ist es eine Option, sich das Begleitbuch zu besorgen, denn richtig gesetzte Worte erschließen die Objekte womöglich getreulicher, als Fotografien heutiger Tiere.

„Wildes Westfalen“. Tierische Fotos und Funde. 1. November 2015 bis 29. Mai 2016. LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Tel.: 02323 / 94 628-0. Geöffnet Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr. Freier Eintritt (freiwilliger Obolus kann am Ausgang in ein Sparschwein gesteckt werden). Weitere Infos: www.lwl-landesmuseum-herne.de